Wer bin ich? Expertin erklärt, was unsere Identität ausmacht
Die Frage „Wer bin ich?“ ist eine der Kernfragen unseres Lebens. Pädagogin Julia Otterbein erklärt, wie sich unsere Identität formt und wie sie sich verändert. Und sie gibt Tipps, wie wir uns selbst auf die Schliche kommen.
Wer bin ich? Die zentrale Frge der Identität lässt sich von zwei Perspektiven aus betrachten: einmal von innen heraus (Wie sehe ich mich selbst?) und einmal von außen (Wer bin ich für andere? Wie sehen/erleben mich andere?). Die Außenperspektive ist für viele Menschen oft die leichtere, denn im Außen nehmen wir verschiedene Rollen ein, die sich klar benennen lassen: Mutter oder Vater sein, der Beruf, den wir ausüben, das Ehrenamt in der Gemeinde …
An diese und andere Rollen werden häufig bestimmte Erwartungen geknüpft, deren Erfüllung uns die Sicherheit gibt, anerkannt und zugehörig zu sein. Weil soziale Zugehörigkeit ein Grundbedürfnis ist und wir vor allem als Kind auf sie angewiesen sind, achten Menschen auch als Erwachsene noch sehr darauf, sich so zu verhalten, dass sie anderen gefallen. Sie bemühen sich, nicht zu sehr anzuecken, um ihre soziale Sicherheit nicht zu gefährden.
Wenn äußere Erwartungen zu „Identitätszwängen“ werden, führt das aber nicht nur dazu, dass Menschen sich für andere verbiegen – sie verlieren auch den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und zur eigenen inneren Identität. Denn wir sind selbstverständlich mehr als nur unsere Rollen oder das, was von uns im zwischenmenschlichen Miteinander sichtbar wird.
Wer bin ich von innen?
Zur Identität eines Menschen gehört immer auch eine Innenperspektive, die sich dadurch auszeichnet, was wir (über uns) denken und wie wir uns fühlen. Die Gedankenschleifen über uns selbst werden durch innere Stimmen genährt, die wiederum durch unsere Lebenserfahrungen mit engen Bezugspersonen geprägt sind. Stimmen Innen- und Außenperspektive überein, erleben wir das als Authentizität.
Manchmal setzen wir aber auch bewusst eine Maske im Außen auf, um unsere Identität im Innen zu schützen. Zum Beispiel, wenn wir Menschen begegnen, zu denen wir nicht das nötige Vertrauen haben, um uns so (verletzlich) zu zeigen, wie wir uns im Inneren fühlen. Das ist okay. Jeder kann entscheiden, wem sie oder er sich wie zeigt, mit welchen Aspekten und aus welcher Perspektive.
Kinder begleiten
Auch Kinder haben schon eine Identität, selbst wenn diese noch nicht vollständig ausgereift ist. Einige ihrer Eigenschaften sind in ihnen angelegt. Andere werden durch biografische Erfahrungen beeinflusst, seien es prägende Lebensereignisse oder das Miteinander mit ihren engsten Bezugspersonen. Dieses Miteinander wird wiederum durch die Identität der Bezugspersonen beeinflusst. Als Eltern prägen wir mit unserer Identität die Identität unserer Kinder. Gleichzeitig ist es für uns Eltern wichtig, offen zu sein für die sich entwickelnden Eigenschaften unserer Kinder, die anders sind als unsere eigenen.
Die Würde eines Menschen zu achten, ist das Zugeständnis, ihn so sein zu lassen, wie er ist. Für mich bedeutet würdevolles Erziehen, dem Kind die Erlaubnis zu geben, das, was in seinem Inneren ist, nach außen sichtbar werden zu lassen. „So wie du bist, bist du okay!“ Eine schöne Möglichkeit, den Kindern diese Botschaft zu vermitteln, sind Lieder wie „Vergiss es nie“ oder auch „Ich bin ich“ von der Kinderlieder- und Hörspielmacherin MIRA.
Wer bin ich – Wer werde ich? – Identität im Wandel
Identität ist eine Momentaufnahme: Manche Aspekte bleiben das ganze Leben über bestehen, andere entwickeln oder verändern sich. Und das ist gut so! Unsere Identität verändert sich gerade an den Schwellenübergängen des Lebens: in den unterschiedlichen Autonomiephasen eines Kindes, beim Erwachsenwerden, wenn wir einen Beruf ergreifen, wenn wir Mutter oder Vater werden, beim Begleiten der verschiedenen Entwicklungsphasen der eigenen Kinder bis hin zum Loslassen der Kinder, wenn sie als Heranwachsende eigene Wege gehen. Aber auch die sogenannte „Midlife-Crisis“, ein Jobwechsel oder das Beschäftigen mit der eigenen Endlichkeit haben Einfluss auf unser Identitätsgefühl.
Auch das bewusste Beschäftigen mit der eigenen Identität, das Ergründen, warum man heute so ist, wie man ist, verändert das Erleben des eigenen Selbst. Das kann durch eine persönliche Reflexion geschehen, zum Beispiel mit den Fragen am Ende des Artikels. Man kann sich in einem solchen Prozess aber auch von einem Coach oder einer Therapeutin begleiten lassen. So eine Innenschau kann hilfreich sein, prägende Erfahrungen, die unseren Charakter geformt haben, nachträglich neu zu bewerten. Dies kann die Entwicklung der eigenen Identität ermöglichen, um zum Beispiel Schüchternheit loslassen zu können.
In Beziehungen wachsen
Wir werden geprägt von den Menschen in unserem Umfeld. Oft umgeben wir uns auch mit Menschen, die uns ähnlich sind. Das kann auf der einen Seite schön und angenehm sein, denn dieser Umstand sorgt dafür, dass wir uns in unserem Umfeld zugehörig fühlen. Aber es kann auch dazu führen, dass wir unsere Identität limitieren und sich bestimmte Seiten unserer Identität in diesem Umfeld nicht entfalten können.
Es lohnt sich also, genauer in sich hineinzuhorchen, ob es eine Diskrepanz zwischen dem inneren Identitätsgefühl und den äußeren Verhaltensweisen innerhalb meines sozialen Umfeldes gibt. Es ist gut und richtig, dass wir an Begegnungen und in Beziehungen mit anderen wachsen und ein Stück weit auch geformt werden. Aber es ist nicht richtig, wenn sich das für uns einengend anfühlt und wir das Gefühl haben, so sein zu müssen wie unser Umfeld. Dann ist es vielleicht Zeit für ein anderes Umfeld und neue Beziehungen, die Facetten unserer Identität stärken, die bisher nur in uns schlummerten.
Bewusste Prägungen
Manche Prägungen, vor allem die, die früh in unserem Leben gewirkt haben, konnten wir uns nicht selbst auswählen. Sie haben unsere Identität geprägt, ohne dass wir es kontrollieren konnten. Heute als Erwachsene können wir uns diesen Prägungen gezielt zuwenden und reflektieren, warum sie in unserem bisherigen Leben wichtig, wenn nicht sogar überlebenswichtig waren. Aber wir können uns auch bewusst entscheiden, uns ab jetzt von anderen Menschen und neuen Einflussfaktoren prägen zu lassen, korrigierende Erfahrungen machen und unsere Identität dadurch neu erblühen lassen.
Während manche Menschen mit einer Haltung von „Ich bin halt so“ durch ihr Leben gehen, wird an anderer Stelle mit dem Slogan geworben: „Du kannst alles werden.“ Ich persönlich denke, dass die individuelle Wahrheit für jede und jeden irgendwo dazwischen liegt. Manche Facetten von uns sind sehr tief in uns verankert. Wir wollen sie vielleicht auch gar nicht ablegen. Gleichzeitig dürfen wir belastende Prägungen mutig hinterfragen: Soll ich mich ein Leben lang limitieren? Oder gibt es Möglichkeiten, diese Prägung hinter mir zu lassen?
Identität sollte in erster Linie für uns selbst und nicht für andere sein. Sie ist ein dynamisches Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, das sich im Laufe des Lebens ständig weiterentwickelt. Indem wir unsere Prägungen reflektieren und den Mut aufbringen, belastende Muster loszulassen, schaffen wir Raum für persönliches Wachstum und Authentizität. Wichtig ist dabei, auch unsere Kinder in ihrer individuellen Identitätsentwicklung achtsam zu begleiten. Ein erster Schritt könnte die ehrliche Auseinandersetzung mit den Impulsfragen unter dem Artikel sein.
Julia Otterbein ist Dipl.-Sozialpädagogin und Coach für friedvolle Elternschaft i.A. (FREL®-Coach). Sie lebt mit ihrer Familie in Süderbrarup. familywithlove.de
Impulsfragen zur Identitätsentwicklung
1 Welche Erfahrungen aus meiner Vergangenheit haben mich geprägt?
Oft hinterfragt man solche Erfahrungen gar nicht mehr. Deshalb lohnt es sich, einmal gezielt darüber nachzudenken: Haben diese Erfahrungen „das Recht“, mich dauerhaft in dieser Art und Weise zu prägen? Es gibt die Chance auf eine Neubewertung dieser Erfahrungen, insbesondere wenn sie durch Scham geprägt sind. Es muss sich auch nicht um formal große Ereignisse handeln. Wie wäre es gewesen, wenn diese Erfahrungen anders gewesen wären? Sogenannte korrigierende Erfahrungen können wichtig für den Heilungsprozess sein.
2 Wie würde ich mein Leben gestalten, wenn ich keine Angst vor dem Urteil anderer hätte?
Diese Frage wirft einen Blick auf die Erwartungen an uns in verschiedenen Rollen und Kontexten, in denen wir agieren. Inwiefern limitieren sie uns? Die Bewertung von anderen Menschen hat sehr viel Macht, weil sie unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit betrifft. Nach wessen Urteil soll man sich richten? Eigentlich nur nach dem eigenen. Was bleibt von einem, wenn man die Bewertung der anderen subtrahiert? Wie viel Erlaubnis gebe ich mir?
3 In welchen Momenten fühle ich mich lebendig, verbunden und im Einklang mit mir?
Diese Momente sind oft mit körperlichen Reizen verbunden, zum Beispiel mit Gänsehaut oder einem warmen, wohligen Gefühl. Es sind die Momente, wenn man am meisten im Hier und Jetzt ist. Eine ergänzende Frage könnte sein: Wofür begeistere ich mich?