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Vergiftete Liebe

Zuerst hing der Himmel voller Geigen, doch dann entpuppte sich die große Liebe als Albtraum. Wie Leonie Hoffmann nach einer furchtbaren Erfahrung innere Freiheit gefunden hat, beschreibt sie hier.

Nicht alles, was sich richtig anfühlt, ist auch das Richtige! Das musste ich auf die harte Tour erfahren. Das, was Menschen Liebe nennen, kann die schönste, aber auch die zerstörerischste Macht des Universums sein. Gerade hatte ich mein Abitur abgeschlossen und war beflügelt von einem nie da gewesenen Freiheitsgefühl. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ihn, der mir diese große Freiheit mit all ihren Möglichkeiten innerhalb weniger Monate wieder nahm – und beinahe mein junges Leben.

Ich traf ihn auf einer Sommerparty in meiner Heimatstadt: Alex. Dieser Mann gab mir alles, wonach sich mein junges Herz gesehnt hatte. Tiefe Liebe – und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Die ersten Monate mit ihm schwebte ich im siebten Himmel. Ich glaubte, in ihm tatsächlich den Richtigen gefunden zu haben.

Rasend vor Eifersucht

Seine „abgöttische Liebe“ zu mir hatte jedoch eine unangenehme Begleiterscheinung. Was ich anfangs als schmeichelhaftes Nähebedürfnis interpretierte, entwickelte sich zunehmend zu einer besitzergreifenden Eifersucht. Wenn mein Blick zufällig den eines anderen Mannes streifte, konnte dieses „Vergehen“ ausreichen, um einen schönen Abend in hitzigen und tränenreichen Diskussionen enden zu lassen. Irgendwann waren es nicht nur andere Männer, auf die er eifersüchtig war, sondern auch Gott. Tatsächlich war seine Eifersucht auf Gott die einzige berechtigte. Denn ja, ich liebte Jesus – sehr sogar! Schon als Teenagerin hatte ich ihm mein Leben gegeben.

Mit der Zeit rutschte ich, ohne es zu merken, immer tiefer in eine emotionale Abhängigkeit von Alex. Denn er schaffte beides: meine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung zu stillen und gleichzeitig durch subtile Kritik meine Selbstzweifel zu nähren. So wurde ich süchtig nach dem guten Gefühl, das scheinbar nur er mir geben konnte. Ich gab nach und nach alles für ihn auf – sogar meinen Glauben an Gott, von dem Alex mich durch seine Manipulation und esoterischen Lügenkonstrukte bewusst immer weiter entfernte. Er selbst drängelte sich an die Stelle Gottes und ich wurde ihm hörig.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion zog ich nach nur drei Monaten Beziehung in seine spärlich eingerichtete Wohnung. Er sagte, es sei die einzige Chance, unsere Beziehung zu retten, nachdem ich mit einer Lappalie „sein Vertrauen endgültig zerstört“ hatte. Um mir wieder vertrauen zu können, wollte er mich eine Zeit lang kontrollieren – und ich ließ mich darauf ein. Denn der Gedanke, ihn sonst zu verlieren, versetzte mich in blanke Panik.

Vom Traummann zum Monster

Ein paar Tage später eskalierte die Situation zum ersten Mal bei einem seiner nun täglichen Verhöre. Er war der festen Überzeugung, ich hätte in meinem gerade begonnenen Studium einen anderen Mann kennengelernt. „Sag mir endlich die Wahrheit!“, schrie Alex mich immer wieder an. Seine Augen waren weit aufgerissen, eisblau und eiskalt. Dieselben Augen, in denen ich früher so viel bedingungslose Liebe gesehen hatte. Zunächst packte er mich nur fest an den Schultern und drückte mich gegen die Wand. Dann schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch mal. Und noch mal. Immer fester. Schließlich ballte er seine Hand zur Faust. In meinem Kopf begann es zu hämmern.

Irgendwann ließ er von mir ab und brach in Tränen aus – scheinbar entsetzt über sich selbst. Nach wenigen Augenblicken kehrte jedoch die Anklage zurück: „Du hast dieses Monster aus mir gemacht! Das gerade wäre niemals passiert, wenn du ehrlich zu mir gewesen wärst! Ich bin zu so etwas nur fähig, weil ich dich unendlich liebe.“ Damit hatte er mich. Vielleicht habe ich es ja verdient, so behandelt zu werden?, fragte ich mich. Vielleicht liebt er mich tatsächlich mehr als ich ihn – wenn ich ihn so zum Ausrasten bringen kann?
Heute weiß ich, dass nichts davon wahr ist. Nichts, gar nichts rechtfertigt Gewalt in einer Beziehung. Damals zog ich es dennoch ernsthaft in Erwägung. Eine Tatsache, die mich im Nachhinein schockiert – genauso wie der Umstand, dass sich meine Gefühle für diesen Mann offensichtlich nicht totschlagen ließen. So traf ich die größte Fehlentscheidung meines Lebens: Ich blieb. Monate später sagte mir meine Therapeutin: „Wenn man nach dem ersten Schlag nicht geht, geht man auch nicht nach dem zweiten oder dritten.“ Das ist die traurige Wahrheit.

Zwischen Küssen und Schlägen

Die sechs Monate zwischen dem ersten und dem letzten Schlag vermischen sich in meiner Erinnerung zu einer zähen grauen Masse. Meine beängstigende Erkenntnis aus dieser Zeit: Man gewöhnt sich an alles. Erschreckenderweise gab es zwischendurch sogar Momente, in denen es mir gelang, mich so in den Augenblick zu versenken und alles andere auszublenden, sodass unsere „Liebe“ die einzige Realität war. Der ganze Horror schien dann unwirklich. Es waren jene Momente, in denen ich sein wahres Ich wiederzuerkennen glaubte, den Mann, der „die Liebe meines Lebens“ war. Immer noch. In diesen Momenten fühlte ich mich darin bestätigt, dass er „eigentlich ja ganz anders“ war. Doch die Hände, die mich eben noch so zärtlich streichelten, konnten sich jederzeit wieder zu Fäusten ballen und brutal auf mich einschlagen. Es passierte. Immer wieder. In immer kürzeren Abständen.

Im Gefängnis seiner Liebe

Das alles ist zwölf Jahre her. Wie oft habe ich seitdem an diese Zeit zurückgedacht und mir immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Wie konntest du nur? Wie konntest du nur – so dumm, so verblendet, so schwach sein, dass du dir von einem Mann alles hast nehmen lassen: deine Freiheit, deine Familie, deine Träume, deine Freunde, deinen Glauben und beinahe dein Leben?“

Mittlerweile habe ich meine Antwort gefunden. Ich konnte mir alles nehmen lassen, weil ich eigentlich alles hatte – außer einem gesunden Selbstvertrauen. Ich sehnte mich nach einem Partner, der mir genau das geben könnte – der mich sehen und erkennen würde, wie ich wirklich war, und mich genauso lieben würde. Und dann traf ich ihn und hielt viel zu lange daran fest, dass er tatsächlich „mein wahrer Seelenverwandter“ war.
Das Ende dieser Schreckenszeit kam dann wie ein Wunder: Es war Karfreitag. Alex hatte mir erlaubt, den Fernseher anzuschalten, und es lief „Ben Hur“ mit der Kreuzigungsszene Jesu. Die Karfreitags-Tradition meiner Familie! Seit Monaten hielt Alex mich inzwischen in seiner Wohnung gefangen und hatte mir alle Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt genommen. Ich ging ins Bad und schaute durch das kleine Dachfenster in den strahlenden Frühlingshimmel. Er wirkte friedlich und gleichzeitig erschreckend leer. Ich wagte seit Langem wieder ein Gebet an den Gott der Bibel: „Gott, wenn du mich mittlerweile nicht ganz abgeschrieben hast, dann bitte hole mich hier raus, und ich will dir mein Leben lang dienen!“ Wenig später klingelte es. Nach allen gescheiterten Rettungsversuchen standen sie noch einmal vor unserer Wohnungstür: meine Eltern. Ich weiß nicht warum, aber an diesem Tag stand die Haustür sperrangelweit offen, sodass sie bis zur Wohnungstür kommen konnten. Alex drohte mir mit einem Besenstil und befahl mir, leise zu sein. Sie sollten denken, niemand sei zu Hause. Dann schubste er mich ins Schlafzimmer und schlug auf mich ein. Meine Eltern hörten, dass wir da waren. „Wir wollen euch nur zu einem Eis einladen und reden“, sagte mein Vater in unfassbarer Sanftmut. Da platzte Alex der Kragen. Er ließ von mir ab, riss die Wohnungstür auf und ging auf meine Mutter los. Ich rannte ihm hinterher.
Mein Vater gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich diesen kurzen Augenblick, in dem die Tür offen war, nutzen sollte. Während er zwischen Alex und meine Mutter ging, drängelte ich mich an ihnen vorbei. In die Freiheit. Meine Eltern eilten hinterher. „Wenn du jetzt gehst, siehst du mich nie wieder!“, rief Alex mir nach. Was früher seine schlimmste Drohung war, wurde nun zur Befreiung. Ostern verbrachte ich mit meiner Familie. Die Sonne schien. Die Welt blühte. Und wir feierten nicht nur Jesu Auferstehung von den Toten.
Nun war ich zwar körperlich wieder frei, aber der Weg in die innere Freiheit sollte noch ein langer werden. Viele Therapie- und Seelsorgegespräche, Gebete und die fürsorgliche Liebe meiner Familie und meiner Freunde halfen mir Schritt für Schritt beim Wiederaufbau meines Lebens.

Was mich mein dunkelstes Kapitel gelehrt hat

Ich habe erlebt, dass es wirklich nichts gibt, was Gott nicht wiederherstellen könnte – egal, ob es ein noch so geschundenes Herz oder eine abgebrochene Beziehung zu ihm ist. Es hat sich für mich bestätigt, was Jesus über die Freiheit sagt: nämlich, dass es die Wahrheit ist, die frei macht (vgl. Johannes 8,32). Konkret: die Wahrheit über uns selbst. Die Wahrheit über unsere Beziehung und die Wahrheit über den (Ex-)Partner, der sich allen wilden Hoffnungen und Versprechungen zum Trotz nicht einfach ändert und der genauso wenig einfach aufhören wird, gewalttätig zu sein, wenn die Abwärtsspirale der Gewalt erst einmal begonnen hat. Ich will nicht ausschließen, dass Gott dieses Wunder vollbringen kann, aber in diesem Fall würde ich tatsächlich davon abraten, fest mit einem solchen zu kalkulieren!

Aber vor allem ist es die Wahrheit über meinen gottgegebenen Wert und meine Würde, die mich freigemacht hat – auch von der Angst, noch einmal in so eine zerstörerische Abhängigkeit geraten zu können.
Heute ist mein Leben schöner, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Gott hat mich zurück ins Leben und in die Freiheit geführt – eine Freiheit, die nirgendwo sonst zu finden ist. So habe ich die befreiende Kraft der Vergebung erfahren und inzwischen nicht nur mir selbst, sondern auch Alex von ganzem Herzen vergeben können, auch wenn ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm möchte. Ich kann wieder unbeschwert leben – sogar lieben und vertrauen, was ich niemals für möglich gehalten hätte.
Mein Tipp an Betroffene ist so simpel wie schwer: Bitte brecht das Schweigen und holt euch Hilfe, solange es noch möglich ist! Kämpft euch zurück in die Freiheit, die euch zusteht und für die ihr geboren wurdet, erinnert euch an euren gottgegebenen Wert und eure unantastbare Würde, die euch nichts und niemand nehmen darf, und glaubt den Worten Gottes, der sagt: „Bei mir gibt es keine hoffnungslosen Fälle!“
Und allen Angehörigen möchte ich ans Herz legen: Egal, wie fremd die Tochter, Mutter, Freundin, Schwester auch erscheint, gebt niemals auf und versucht unbedingt, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Haltet ihr keine belehrenden Vorträge und macht ihr keine Vorwürfe, denn das tut sie selbst ohnehin schon genug. Zeigt ihr vielmehr, dass es wirklich bedingungslose Liebe gibt – und dass offene Arme auf sie warten, wenn sie es wagt, sich aus den zerstörerischen Armen zu lösen.

Leonie Hoffmann ist ein Pseudonym. Die vollständige Geschichte und ausführliche und konkrete Tipps für Betroffene und Angehörige sind im Buch „ÜberWunden“ aufgeschrieben, das im Verlag Gerth Medien erschienen ist.

Auf das, was da noch kommt!

Das „leere Nest“ schenkt Freiräume für Beziehungen, die mal nichts mit den Kindern zu tun haben. Irina Ort mit Anregungen, wie alte Freundschaften wiederbelebt und neue gewonnen werden können.

Zwischen Geburt und Loslassen der Kinder stecken jede Menge Erlebnisse, Geschichten und Erfahrungen. Durch oder wegen der Kinder haben sich ein paar von den damals bereits bestehenden Freundschaften gefestigt. In der Kleinkind- und Kindergartenphase sind aber auch neue Freundschaften entstanden. Ich erinnere mich an unzählige Male, wo wir uns mit oder wegen unserer Kinder trafen und zwischen uns Erwachsenen eine Freundschaft begann. Diese Freundschaften waren praktisch, alltagstauglich und gleichzeitig Gold wert. Wir trafen uns auf Spielplätzen, unternahmen gemeinsame Ausflüge und halfen uns gegenseitig mit dem Babysitten aus. Wenn wir uns als Paar ein paar kinderfreie Tage gönnen wollten, vertrauten wir uns gegenseitig die Kinder an. Kinder waren ein großer gemeinsamer Nenner unserer Freundschaften.

Jetzt sind die Kinder erwachsen. Die Lebensschwerpunkte verlagern sich. Ich stelle fest, dass ich und wir als Paar immer mehr Freiräume haben. Wir haben mehr Zeit. Ich habe mehr Zeit. Doch wie sieht es eigentlich mit meinen und unseren Freundschaften aus? Ich stelle auch fest, dass ich mich nun tatsächlich weniger mit Freunden treffe und gefühlt auch weniger Freunde habe. Das bringt mich dazu, über das Thema Freundschaft nachzudenken.

Freundschaft zu mir selbst

 

In dieser Umbruchzeit wird es mir besonders wichtig, mir selbst eine gute Freundin zu werden oder wieder zu sein. Eine Freundschaft zu mir selbst bedeutet, bewusst „Ja“ zu mir zu sagen, mich selbst annehmen zu können, meine Begrenzungen und Schwächen zu kennen und meinen Stärken mehr Raum zu geben. Ich darf neugierig werden, auf Entdeckungsreise gehen und Neues mit meinen bereits erworbenen Erfahrungen kombinieren. Ich darf aber auch lernen, das Älterwerden zu akzeptieren. Die einzige Konstante ist bekanntlich die Veränderung. Wie begegne ich ihr in diesem neuen Lebensabschnitt?

Freundschaft zu meinem Mann 

 

Schon am Anfang unserer Ehe war uns beiden klar: Wenn wir eines Tages Kinder bekommen, werden diese nach einer gewissen Zeit unser Nest verlassen. Genauso klar war und ist es, dass wir beide bleiben werden. Für jedes Paar ist es eine besondere Herausforderung, sich zwischen den Wäschebergen, den beruflichen Weiterbildungen, dem Hausbau, dem Ehrenamt und vielem mehr nicht aus den Augen zu verlieren. Für uns beide war die Wochenendbeziehung, der wir beruflich bedingt fünfeinhalb Jahre ausgesetzt waren, ein zusätzlicher Spagat.

Jetzt, in dieser neuen Lebensphase mit den neuen Freiräumen, stellen wir uns bewusst diese Fragen: Was wollen wir in unserer Beziehung wiederbeleben? Was wollen wir neu entdecken? Welchen Traum (den wir durch die intensive Familienphase auf Eis gelegt haben) wollen wir weiterverfolgen?

Die Anschaffung eines Fahrradanhängers macht es uns möglich, unsere fast vergessene Leidenschaft des gemeinsamen Fahrradfahrens wiederzubeleben und auszuweiten. Mit dem wöchentlichen Terminblocker „unsere Zeit“ halten wir uns bewusst die Zeit füreinander frei. Auch wenn das nicht immer klappt, wissen wir: Wer nicht plant, der wird vom Alltag überrollt und verplant. Wir beide haben Träume, einer davon ist es, ein Sabbat(halb)jahr im Ausland zu verbringen.

Alte Freundschaften wiederbeleben

 

Beim Gedanken an die alten Freundschaften habe ich bestimmte Gesichter vor Augen. „Wenn dir etwas wichtig ist, gibt es kein ABER“ – dieser Spruch auf einer Karte, die ich bei mir zu Hause entdeckt hatte, brachte mich auf den Gedanken, selbst aktiv zu werden.

Mir ist klar, dass eine Freundschaft kein Selbstläufer ist. Freundschaften sind enorm wichtig und wollen, ja sollten gepflegt werden. Dann kommt das ABER: Wenn die räumliche Distanz nicht wäre … Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesprochen … Wir leben in ganz unterschiedlichen Welten … Es ist schwierig, einen gemeinsamen Termin zu finden … Die könnte sich auch mal melden … Diese Gedanken verhindern häufig das Wiederbeleben alter Freundschaften.

Ich habe mich meinem ABER in den Weg gestellt, indem ich den Kontakt zu der Tochter meiner Freundin aufnahm. Ich erklärte ihr mein Vorhaben, ihre Mutter – meine Freundin – zu überraschen und beauftragte sie, ein paar wichtige Dinge für mich in Erfahrung zu bringen. Bevor ich mir ein paar Tage freinahm, musste ich ganz sicher sein, dass meine Freundin an dem Tag keine weiteren Termine und tatsächlich Zeit hätte. Nachdem ich von der Tochter grünes Licht bekam, reservierte ich auf den Namen meiner Freundin einen Tisch für uns zwei. Meine Vorfreude und die Aufregung wuchsen. Ich würde die Freundin bald wiedersehen, die ich durch den Kindergarten unserer Kinder kennen- und schätzen gelernt hatte. Wir beide sind wie Hanni und Nanni durch dick und dünn gegangen. Ganz zufällig bekamen wir zeitgleich eine Mutter-Kind-Kur genehmigt. Gemeinsam mit unseren sechs Töchtern (wir haben jeweils drei) verbrachten wir eine unvergessliche Zeit in Cuxhaven. Lang ist es her. Ich wollte diese Freundschaft auf jeden Fall wiederbeleben.

Zwei Tage vor unserem gemeinsamen Date erfuhr meine Freundin von ihrer Tochter, dass sie an dem besagten Donnerstag ein Date habe. Sie teilte ihr auch mit, dass der Tisch auf ihren Namen reserviert sei und sie sich auf das Date freuen könne. Nun wuchs die Spannung auch bei meiner Freundin. Sie fragte sich, wen sie dort wohl antreffen würde. Endlich kam der Tag unseres Treffens. Ich war absichtlich etwas früher im Lokal. Meine Freude war groß, auch, weil wir einen tollen Tisch abseits, mit einem Ausblick, bekamen. Nachdem ich mit der Kellnerin gesprochen und ihr von meinem ganz besonderen Date erzählt hatte, war sie gerührt und auch bereit, „mitzumachen“. Ich bat sie, meine Freundin zum Tisch zu führen (währenddessen stand ich in einem „Versteck“, von dem aus ich alles beobachten konnte). Ich bat die Kellnerin außerdem da-rum, meiner Freundin die Speisekarte und auch die Karte mit dem Spruch „Wenn dir etwas wichtig ist, gibt es kein ABER“ zu überreichen. Ich wartete etwas, um die Spannung noch mehr aufzubauen. Dann ging ich zum Tisch …

Mit einer gelungenen Überraschung, einer unbezahlbaren Erinnerung und unendlich dankbar fuhr ich wieder nach Hause. Es war so wie früher gewesen – unbeschreiblich wertvoll und schön. Jetzt bin ich gespannt, wann und wo die Karte, die ich nach unserem Treffen mit dem Datum versehen habe und diese als „Wanderpokal“ meiner Freundin überlassen habe, in meine Hände zurückkommen wird.

Das beste Mittel, alte Freundschaften wiederzubeleben, ist, sich bewusst Zeit zu nehmen. Übe Gastfreundschaft, lade alte Freunde einfach mal wieder zu dir ein. Vielleicht ist auch ein neutraler Ort eine bessere Variante, zum Beispiel ein ganzes Wochenende gemeinsam in einem Ferienhaus. Zusammen kochen, reden, spazieren gehen, spielen, lachen – das wie in früheren Zeiten zu erleben, tut so gut!

Nicht alle Freundschaften, die ich versucht habe wiederzubeleben, ließen es tatsächlich zu. Einige musste ich schweren Herzens loslassen. Die Erkenntnis, dass es Freundschaften für eine bestimmte Zeit gibt und diese nicht lebenslang halten müssen, befreite mich von einer falschen Erwartungshaltung. Beziehungen baut man nicht, man sät sie. Diese Tatsache machte mir klar, dass ich in der neuen Lebensphase auch neue Beziehungen säen will.

Neue Freundschaften säen

 

Die erste Frage, die sich beim Säen stellt: Geht da überhaupt etwas auf? Wird da tatsächlich eine Freundschaft entstehen? Wenn ja, was wird da wohl wachsen? Ich möchte keine Freundschaft erzwingen, vielmehr einen Freiraum für die einzigartige Entfaltung geben.

Eine gemeinsame Israelreise ist der Ursprung einer neuen Freundschaft gewesen. Diese flüchtige Urlaubsbekannte war eine der ersten Frauen, die ich als Teilnehmerin beim Body-Spirit-Soul-Kurs, den ich für Frauen anbiete, begrüßen durfte. Nach dem Kurs sprang der Freundschaftsfunke über. Heute sind wir Freundinnen und mit einem großen Herzen für die Arbeit mit Frauen gemeinsam unterwegs.

Wenn wir säen, haben wir keine Garantie, dass etwas aufgehen und wachsen wird. Wir können mit einer einjährigen Blume, einem Begleiter für eine bestimmte Zeit, beschenkt werden. Wir können aber auch mit einem Baum, der Jahr für Jahr Früchte tragen wird, überrascht werden. Bei beidem ist es wichtig, aktiv zu werden, sich auf Menschen einzulassen, zu geben und abzuwarten, ob dies erwidert wird.

Die gemeinsamen Nenner der neu entstehenden Freundschaft werden jetzt sicherlich nicht mehr die Kinder sein. Vielleicht ist es zuerst der gemeinsame Kaffee, das gemeinsame Wandern, die Leidenschaft fürs Nähen oder eine Weiterbildung. Für den Beginn einer neuen Freundschaft können es ganz unterschiedliche gemeinsame Nenner sein. Hüte nicht nur die Schätze der Vergangenheit: Werde aktiv, öffne dich, öffne dein Haus für neue Freundschaften.

Irina Ort lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Heidelberg. Sie arbeitet als Lebensberaterin, DISG-Trainerin und Lebe-leichter-Coach in ihrer eigenen Praxis. www.einblick-schafft-durchblick.de

Lass mich in Ruhe und sei mir nah!

Was Teenager brauchen. Von Stefanie Diekmann

„Meiner Mutter ist es total egal, was ich am Wochenende mache!“, wirft Ella (16) in die Diskussion um einen möglichen Termin für die Besprechung in der Kirche ein. Auf den fragenden Blick ihrer Freundin ergänzt sie: „Echt! Sie will nur ihre Ruhe. Ob ich nachts nach Hause komme oder nicht – das merkt sie gar nicht!“ Schnell sind wir vom eigentlichen Thema abgelenkt, denn Sophie (18) wendet sich ihr zu: „Das glaube ich nicht! Eltern haben doch immer irgendwie Sorgen um uns. Bei meinen Eltern muss ich abends sagen, wenn es später wird. Immer noch.“

Ellas Blick ins Leere und ihr Schulterzucken berühren mich. Ich kann mich in das fast tägliche Ringen um Freiheit des Teens und die besorgten Regeln der Eltern gut einfühlen, denn zu Hause übe ich das Gleiche. Nicht selten gibt es bei mir Dissonanzen mit meinem Sohn (16), um das Türenknallen und Ausflippen mal mit einem gepflegten Wort zu beschreiben.

EINEN KAKTUS UMARMEN

Bei Ellas Anblick muss ich an einen Kaktus denken. „Von der Kunst, einen Kaktus zu umarmen“ ist der Untertitel eines Buches über die Pubertät. Er skizziert den Versuch der Eltern, ihrem Kind nah zu kommen und durch sein schmerzhaftes Abwehrverhalten an einen Kaktus erinnert zu werden. Eltern stehen bei Annäherung an den emotionsgeladenen jungen Menschen immer in der Gefahr, sich durch sein Augenrollen, seine stichelnde Abwehr, spitze Bemerkungen oder Ignoranz zu verletzen.

Eltern sind dabei oft schwer verwirrt und verletzt. In einem Seminar stellte ein Teenager-Vater mir seine Meinung deutlich dar: „Ich habe es ein paar Mal versucht, aber so … Nein, so lasse ich nicht mit mir reden. Dann ist halt Funkstille!“ Funkstille zwischen Eltern und Teenagern ist wie Nährstoffentzug für den Kaktus. Nach den Jahren der Zuwendung in Grundschule und Früh-Pubertät verunsichert die Distanz der Eltern den persönlichkeitssuchenden Stachelträger. Diese Verunsicherung kann zu weiteren Stufen des Dramas führen. Die abgelehnten Jugendlichen distanzieren sich, verlieren das Vertrauen zu den Eltern und zu sich und suchen woanders Rat und Anerkennung.

UNNÖTIGES DRAMA

Für einen Heranwachsenden sind viele Äußerungen und Abwehrhandlungen unbewusst wie Testballons, um das eigene Ich zu erleben. Das Erlebte ist Tatsache. Die eigene Meinung ist unantastbar, revolutionär. Die Allmachtsphase ist psychologisch der Schutz in diesem Alter, um sich neuen Aufgaben selbstbewusst zu stellen. Hätten die jungen Menschen diesen inneren Dünger nicht, würden alle Menschen in gleichen Bahnen leben und sich nicht weiterentwickeln. Nicht erst seit Greta Thunberg haben Jugendliche mit ihren radikalen Ideen, Gebeten und Hoffnungen uns bewusst gemacht, wie sehr wir uns an Grenzen gewöhnt haben, ohne gegen sie zu kämpfen. Junge Menschen denken: „Das geht! Das ist nicht gefährlich!“ Die Eltern stecken dagegen oft in der Realismus-Phase: „Das geht nur mit zu viel Aufwand. Die Gefahr besteht und ist zu hoch!“ In dieser Spannung bewegen sich fast alle Themen zwischen Eltern und Teens: Partys besuchen, allein im Ausland Urlaub machen, das Zimmer mit Freunden renovieren, nachts mit dem Rad von einem Geburtstag zurückfahren …

Für mich als Mutter erscheint das, was dem Teenager wichtig ist, häufig als unnötiges Drama. In meinem Leben geht es um Fristen der Steuererklärung, Teamprobleme im Job, Zahnschmerzen. In meinen vollen Kopf passt die geballte Präsenz des Stachelgewächses nicht rein. Abwenden und Beenden – das scheint manchmal für mich die Lösung in solchen Begegnungen mit meinem Sohn. Erst mit Distanz kann ich verstehen, wie mein „Reg dich nicht auf!“ auf den Teenager abwertend wirken kann. Und ich verstehe, wie sein „Denk mal nach, Mama!“ aus seiner Sicht wirklich ein Ausruf voller Empörung ist.

STACHELIGE MONATE

Ich bin erschrocken, wie empfindlich ich reagiere, wenn meine Tochter meine Unordnung kommentiert, mein Sohn mich auffordert, mehr in meinen christlichen Glauben zu investieren und nicht so lahm zu sein. Es betrifft mich. Ich bin gemeint. In dieser Phase – der letzten vor dem Erwachsenwerden – diene ich meinem Teenager als Gegenüber und als erwachsene Testperson. Immer wieder nehme ich mir vor, den Schmerz auszuhalten und nicht trotzig „Aua!“ zu rufen, wenn mich ein Katktusstachel empfindlich trifft.

Mein Mann und ich haben einige Umgangsideen für die stacheligen Monate gesammelt:

  • Wir wollen auf das grüne, sehr sanfte Wesen unter den Stacheln sehen: unser wundervolles Kind!
  • Wir warten ab. Sortieren unsere Gefühle, legen uns Argumente zurecht, atmen durch.
  • Wir lassen uns zurechtweisen. Wir geben in geeigneten Momenten nach, um dem Testballon zum Erfolg zu verhelfen. Es hilft uns zu wachsen, wenn wir den Argumenten unseres Teenagers zuhören. Oft geben wir später dazu noch eine Rückmeldung: „Danke, dass du uns erinnert hast, mehr Strom zu sparen, ich war da nachlässig geworden.“
  • Wir zeigen Interesse. Wir wollen wissen, wo wer wann ist und auch mit wem und warum. Weil wir Interesse an unserem Kind behalten.
  • Wir üben, Unrecht haben zu dürfen und weisen in ruhigen Momenten auf Schieflagen hin, ohne den Jugendlichen zu beschämen. Es ist okay, seine Meinung zu ändern. Für mich, für ihn.

Nähe zu Teenagern ist also neben Orientierung die Hauptaufgabe für Beziehung in dieser Lebensphase von Familie. Das Angebot des Gesprächs, kleine Gesten des Interesses, klare Grundlagen, die auch hinterfragt werden dürfen, kommen dazu. Klingt so einfach. Während meine Seele sich noch manchen Stich am Kaktus holen wird, suche ich täglich nach Wegen, um unserem Sohn nah zu sein. Was gestern gelang, wird heute vielleicht nicht gut möglich sein. Und ich freue mich über Nähe-Überraschungen: die Umarmung meines Sohnes, eine liebevolle Nachricht im Smartphone – wie eine Blüte am Kaktus!

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

Tor zur Freiheit?

Wenn die Kinder ausziehen, eröffnen sich neue Freiräume für die Eltern? Ja und nein, meint Birgit Weiß. Tatsächlich verändert sich ihre Rolle als Mutter und Ehefrau.

Als ich vor zwei Jahren eine ehemalige Schulfreundin traf, die das Führen ihres „Hotels Mama“ so gründlich satthatte, dass sie es ihren zwei erwachsenen Töchtern nahelegte, doch endlich auszuziehen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, ob ich das eigentlich noch alles will. Denn im Grunde war ich noch mitten im Thema. Unsere Kinder waren 18, 22 und 24 und wohnten alle noch zu Hause. Die älteste Tochter und der Sohn studierten, die Jüngste ging noch zur Schule. Bei meiner ehemaligen Schulfreundin merkte ich jedenfalls ganz deutlich, dass ihre Seele extrem nach Freiheit lechzte. Dass sie nicht mehr länger bereit war, für erwachsene Kinder zu kochen, zu putzen und zu waschen, sondern dass sie nun endlich auch etwas von dem ihr „noch übriggebliebenen Leben“ für sich in Anspruch nehmen wollte.

WENIG ZEIT ZU ZWEIT

Einerseits konnte ich sie verstehen, andererseits empfand ich nicht genauso. Das Führen meines „kleinen Familienunternehmens“ betrachtete ich immer als wertvolle Aufgabe. Auch wenn ich mich um das Familienmanagement weitgehend allein kümmern musste, da mein Mann aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit nicht viel Zeit hat. Glücklicherweise befindet sich sein Büro aber in unserem Haus, sodass wir uns dennoch in einigen Bereichen ergänzen können. Ich kümmere mich zum Beispiel um die Buchführung, während er mir bei körperlich schweren Arbeiten in Haus und Garten hilft, sofern keins der Kinder da ist, das mit anpacken kann. Seine Selbstständigkeit brachte uns trotz allem aber auch schon immer den klaren Vorteil, dass wir als Familie alle zusammen am Esstisch sitzen konnten. Da allerdings bestimmten die Kinder weitgehend die Gesprächsthemen.

Unsere gemeinsamen Zeiten als Ehepaar dagegen hielten sich eher in Grenzen. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir uns einen regelmäßigen Ausgeh-Samstag freischaufeln konnten, an dem wir zum Schwimmen und anschließend zum Essen gehen. Aber selbst da ereilte uns beim Verlassen des Hauses so manches Mal noch die schnelle Frage: „Könnt ihr mir etwas mitbringen?“, und das haben wir dann auch meistens gemacht. Man kann die Kinder eben doch nicht ganz ausklammern, auch wenn man sich gerade mal etwas für sich gönnt.

FAMILIENZEIT GENIESSEN

Dass sich das auch jetzt, wo die Kinder erwachsen sind, nicht maßgeblich geändert hat, mag dem einen oder anderen übertrieben erscheinen, liegt aber vermutlich zumindest bei mir an dem Umstand, dass ich als Kind durch die Scheidung meiner Eltern, den frühen Tod des Vaters und die Alkoholkrankheit meiner Mutter kein normales Familienleben hatte. Deshalb schätze ich die Gemeinschaft mit meinem Mann und den Kindern umso mehr und bin bereit, eigene Wünsche zurückzustecken. Was natürlich trotz allem nicht heißt, dass ich mir nicht auch an manchem Tag ein freies Haus gewünscht hätte. Oder zumindest ein Plätzchen, an dem man nicht gestört werden kann. Mein Traum war immer ein eigenes Arbeitszimmer innerhalb der Wohnung, in dem ich die Buchführung sowie Schreibarbeiten in Ruhe erledigen kann, ohne dabei allzu weit von Herd und Waschmaschine entfernt zu sein. Da es sich aber aus Platzmangel nicht einrichten ließ, arbeite ich weitgehend im Wohnzimmer, und dort ist es eben äußert schwierig mit der Ruhe. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kinder während ihrer Schul- und Studierzeiten sehr viel zu Hause und damit auch immer irgendwie um mich herum waren. Aber: Kann man als Mutter überhaupt erwarten, ungestört zu sein, solange die Kinder im Haus sind? Müssen nicht erst alle ausziehen, damit man sich auch einmal auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren kann?

NAHTLOS IN DIE OMAPHASE?

Wenn ich mich im Bekanntenkreis umsehe, so kann ich feststellen, dass auch der Auszug der Kinder durchaus nicht immer das Tor zur Freiheit öffnet. Da begegnen mir beim Einkaufen Frauen meines Alters, die bereits mit ihren Enkelkindern unterwegs sind. Bei denen die Mutterphase nahtlos in die Omaphase übergegangen ist. Oftmals versorgen sie ihre Enkelkinder stundenweise, damit ihre Töchter oder Schwiegertöchter arbeiten können. Auch wenn einige von ihnen dies durchaus gern so handhaben, kann ich mir das im Moment noch nicht vorstellen. Ich würde mir zwischen Mutterphase und Omaphase doch einige Zeit Leerlauf wünschen, um mich wieder auf eigene Interessen besinnen zu können. Denn obgleich ich immer noch gern Mama bin, mache ich mir Gedanken darüber, was ich mit dem Leben „danach“ noch so anfangen könnte. Ein Besuchsdienst für ältere Menschen, den ich bereits im kleinen Rahmen begonnen habe, läge mir da zum Beispiel am Herzen. Ich empfinde den Kontakt zu älteren Menschen als Ausgleich, da sowohl Eltern als auch Schwiegereltern bereits verstorben sind und wir folglich keinen von ihnen mehr besuchen können.

Dass wir aus diesem Grund aber auch niemanden mehr haben, um den wir uns in den nächsten Jahren kümmern müssten, eröffnet gleichzeitig auch einen gewissen Freiraum für die Zukunft, den andere Ehepaare unseres Alters weniger haben. Die Fürsorge für die eigenen Eltern ist da ein Riesen-Thema und kann auch mal zu einer großen Last werden, wenn man die pflegerische Betreuung übernehmen muss, so wie das bei einer guten Bekannten der Fall ist. Sie hat auch jetzt, da ihre Kinder aus dem Haus sind, keine Zeit für sich. Sie habe das Gefühl, sagt sie mir, dass das Leben an ihr vorbeizieht. Dass sie selbst alt bei der Pflege wird und dass sie es als sehr frustrierend empfindet, dass niemand etwas von ihrer Leistung, die sie da im Stillen treu und täglich erfüllt, wahrnimmt. Obwohl ich sie nicht persönlich unterstützen kann, kann ich sie mit dem Gedanken trösten, dass Gott ihre Mühe sehr wohl sieht und ihre Fürsorge in seinen Augen sehr wertvoll ist. Jesus sagt ja: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40), und genau das hat mich persönlich getröstet, als mich vor über 25 Jahren die Sorgen um meine alkoholkranke Mutter selbst an den Rand der Erschöpfung brachten. Aber auch wenn diese Zeiten lange vorbei sind und unsere Ehe in Sachen „alternde Eltern“ keine Last zu tragen hat, leiden wir im Gegensatz darunter, dass sie viel zu früh verstorben sind. Wir vermissten sie im Laufe der Jahre nicht nur bei Familienfeiern oder den ersten Schultagen unserer Kinder, sondern generell. Wir hatten keinerlei Entlastung bei der Erziehung unserer Kinder. Und diese waren oft sehr traurig darüber, keinen Opa und keine Oma zu haben.

KINDER IN DER FERNE

Und während wir unsere Eltern vermissen, vermissen andere bereits ihre erwachsenen Kinder, weil es diese sehr weit in die Ferne gezogen hat. Denn auch das gibt es ja, dass Kinder nicht nur um die Ecke ziehen, sondern plötzlich Tausende von Kilometern weit weg sind, so wie das bei einer anderen Bekannten der Fall ist, deren junge Leute Hals über Kopf ausgewandert sind. Eigentlich kannte ich sie ja nur als unzertrennliches Gespann, nahe beieinander wohnend – und nun das! Keiner hatte damit gerechnet, die betroffene Mutter am allerwenigsten! Nun sieht sie ihre Lieben nur noch über Skype, hat schreckliche Sehnsucht und wird demnächst ihre Flugangst überwinden müssen, um sie besuchen zu können.

Als Elternpaar kennen auch wir das Spannungsfeld, in dem man sich befindet, sobald die Kinder aus der unmittelbaren Nähe verschwunden sind. Einerseits möchte man sie loslassen, gönnt ihnen und auch sich selbst die neue Freiheit, andererseits macht man sich trotzdem seine Gedanken und ist folglich doch nicht so ganz frei. Aktuell fühlen wir uns immer noch mitverantwortlich, weil unsere Kinder aufgrund ihres Studiums oder ihrer Ausbildung noch nicht ganz auf eigenen Füßen stehen.

Daneben kennen wir auch das Damit-Zurechtkommen- Müssen, dass sich Dinge plötzlich ganz anders entwickeln, als man sich das so gedacht hätte. Auch wir konnten uns nicht immer gleich mit allen Entscheidungen unserer Kinder anfreunden, sind aber im Laufe der Zeit flexibler geworden. Wir haben durch eigene und durch die Erfahrungen in unserem Bekanntenkreis erkannt: Es ist nicht gut, sich in gewisse Vorstellungen über die Zukunft zu verbeißen. Viel besser ist es, sich mit den jeweiligen Gegebenheiten bestmöglich zu arrangieren und in allem das Positive zu suchen.

LOSLASSEN EINGEÜBT

Um immer wieder über den häuslichen Tellerrand hinausschauen zu können, helfen meinem Mann seine Aktivitäten als Hobby-Musiker. Mir dagegen helfen Freundschaften, mein kleiner Besuchsdienst und vor allem mein Glaube an Gott. Ich merke immer wieder, wie der Herr mir beim Vergeben hilft, neue Kraft schenkt und meinen Liebestank treu auffüllt. Was ich immer schon als Privileg erachtet habe: Ich darf meine Lieben zu jeder Zeit und egal, wo sie sich gerade befinden, im Gebet begleiten. Zu wissen, dass der allmächtige Schöpfer des Universums höchstpersönlich auf sie Acht gibt, lässt mich am Abend ruhig einschlafen, auch wenn ich nicht weiß, wie sich alles weiterentwickeln wird.

Im Moment sieht es bei uns so aus: Unser Sohn ist in ein Studentenheim gezogen, das eine Autostunde von uns entfernt ist. Die Älteste kam kürzlich von einem halbjährigen Freiwilligendienst in Israel zurück nach Hause, um ihr Studium zu beenden, und die Jüngste lebt noch zu Hause, sucht aber nach einer Wohnmöglichkeit, um näher an ihrem Ausbildungsplatz zu sein. Der Gedanke, dass wir als Ehepaar auch bald zu zweit sein könnten, macht uns keinen Kummer. Zum einen hatten wir schon zwölf gemeinsame Jahre vor den Kindern, zum anderen haben wir das Loslassen inzwischen ja ein bisschen eingeübt.

Birgit Weiß lebt mit ihrer Familie in Oberfranken.

 

 

Viel zu viel gekocht – oder viel zu wenig…

Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, verändert sich auch der Familienalltag. Herausforderungen und Chancen schildert Roswitha Wurm.

Die Haustürglocke surrt. Mein Mann öffnet. Ich höre die Stimme unseres ältesten Sohnes. Ein Blumenstrauß verdeckt sein Gesicht. Er überreicht mir feierlich meine Lieblingsblumen, weiße Rosen. Dann umarmt er mich, Küsschen rechts, Küsschen links auf die Wange. In diesem Moment begreife ich: Unser Großer ist jetzt nicht mehr hier zu Hause. Oder wie es unsere Jüngste so treffend formulierte: Wir sind jetzt die „Little Family Wurm“. Einige Wochen nach dem Auszug unseres Ältesten setzten wir uns mit unseren beiden bei uns verbliebenen Kindern zusammen und planten das Projekt „Wohngemeinschaft Wurm“. Es war tatsächlich so: Wir mussten uns neu sortieren. Eine neue Zeitrechnung war angebrochen: die „Kinder gehen aus dem Haus“-Phase. Gott sei Dank nicht alle auf einmal! Die Worte des weisen Königs Salomos wurden uns neu verständlich: „Alles hat seine von Gott bestimmte Stunde. Und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit“ (Prediger 3). Frei übersetzt können wir bestätigen: Kinder großziehen hat seine Zeit, und Kinder loslassen hat seine Zeit. Und: Kinder betreuen, behüten und bekochen hat seine Zeit. Kinder sich selbst versorgen lassen, hat auch seine Zeit.

VERANTWORTUNG ABGEBEN
Letzteres wurde bei mir als Mutter mit dem Flüggewerden unserer Drei zur Herausforderung. Zeitgleich mit dem Auszug unseres älteren Sohnes schloss die Jüngste die Schule ab und begann ihr Studium. Von heute auf morgen fiel nicht nur ein Esser aus, es war plötzlich gar nicht mehr gefragt, dass pünktlich um 14 Uhr ein frisch gekochtes Mittagessen auf dem Tisch stand. Jedenfalls nicht täglich. Da unsere Kinder sehr gastfreundlich sind und über einen großen Freundeskreis verfügen, kann es sein, dass an manchen Tagen kein Essen benötigt wird und ein anderes Mal fünf oder mehr hungrige junge Erwachsene verköstigt werden wollen. Da unsere Kinder auch sehr spontan und aktiv sind, hatte ich stets entweder viel zu viel oder viel zu wenig gekocht. Da bekam ich von meiner Freundin Klaudia einen guten Tipp. Bei ihr gelten folgende Regeln, die wir übernommen haben: Verantwortlich für den Gast ist immer derjenige, der ihn eingeladen hat. Wer spontan jemanden mitbringt, fragt zu Hause nach, ob für den Tag ein Essen geplant ist. Wenn zu wenig Essen vorbereitet ist, nimmt derjenige von einem Laden noch eine Kleinigkeit mit. Klaudia hat zudem immer ein paar Fertiggerichte vorrätig, um spontan das Essen zu verlängern. Letzteres fiel mir als Verfechterin gesunder, frisch gekochter Speisen anfangs schwer. Mittlerweile sehe ich das entspannter. Noch wichtiger als gesundes Essen sind gesunde Beziehungen!

TRADITIONEN UND RITUALE
Jede gut funktionierende WG hat einen Dienstplan. So weit sind wir als Familie nicht gegangen, einige Arbeitsbereiche haben wir jedoch eher zwanglos neu definiert: Unser Zweitgeborener kristallisiert sich immer mehr als begabter, kreativer Koch heraus. So kommen wir immer öfters in den Genuss leckerer Currys und Salatkreationen. Unsere Tochter dekoriert sehr gern und ist für die musikalische Untermalung in unserem Zuhause zuständig. Außerdem gilt die Regel: Jeder ist aufgerufen, für ein ordentliches, sauberes und gemütliches Zuhause zu sorgen. Zudem haben wir begonnen, gemeinsame Traditionen und Rituale zu pflegen. Unsere Kinder äußerten den Wunsch, auch zukünftig eine Woche gemeinsam Urlaub mit uns zu verbringen und regelmäßig einen Koch- und Spieleabend sowie eine Zeit des gemeinsamen Singens christlicher Lieder einzuplanen. Diese familiären Fixzeiten machen die neue Situation entspannter, und wir haben viel Spaß und Freude mit- und aneinander.

UNGEWOHNTE FREIHEIT
Ich finde die „Kinder gehen aus dem Haus“- Zeit sehr spannend, aber auch herausfordernd. Plötzlich entstehen Freiräume, von denen ich vor ein paar Jahren nicht einmal zu träumen gewagt habe. Durch eine längere, schwere Krankheit eines unserer Kinder, meine Tätigkeit als Lerntrainerin von zu Hause aus und die häufige beruflich bedingte Abwesenheit meines Mannes sowie die fehlende Verwandtschaft in der Nähe, war ich lange Jahre mehrheitlich an unsere vier Wände gebunden. Es gab Tage, an denen ich nicht einmal für ein paar Minuten das Haus verlassen konnte. Wie tief dieses Schema in mir verankert ist, bemerkte ich, als ich vor einiger Zeit zu einem beruflichen Event ins Ausland eingeladen wurde. Ich antwortete: „Leider kann ich nicht kommen. Schade. Aber die Kinder …!“ Mein Mann erinnerte mich vorsichtig daran, dass unsere Kinder bereits erwachsen wären. Tatsächlich: Eine neue Ära ist in meinem Leben angebrochen! Ich bin frei, einfach in den Zug zu steigen und irgendwo hinzufahren! Davon hatte ich jahrelang geträumt, als ich meinte, zwischen Schulaufgaben, Wäschebergen und Pausenbroten unterzugehen. Doch nun kam keine Begeisterung bei mir hoch. Ich verfiel in Panik! Was sollte ich nur mit all der Freiheit anfangen? Plötzlich war ich wieder als eigenständige Person gefragt und nicht nur als Ehefrau und Mutter. Beschämt musste ich zugeben, dass ich mich in den letzten Jahren so manches Mal hinter meiner Mutterrolle versteckt hatte, um nicht eigenständig Dinge durchziehen zu müssen. Ich war jahrelang eher die „Frau von …“ und die „Mutter von …“ als ich selbst.

FOTOALBEN WEGGEPACKT
Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, die jetzt vor uns stehen, bringen mich dazu zu überlegen, womit ich mich beschäftigt habe, bevor ich Mutter wurde. Was war mir wichtig? Gibt es Bereiche, die ich all die Jahre vernachlässigt habe und in denen ich gern wieder aktiv würde? Hat Gott andere Aufgaben für mich? Gibt es Projekte in der Gemeinde, in die ich mich mehr einbringen könnte, jetzt wo unsere Familie im Alltag kleiner wird? Die Hochzeit unseres Ältesten vor einigen Wochen hat mich daran erinnert, dass genau jetzt die Zeit ist, lange Geplantes und Aufgeschobenes zu tun. Bevor dann die nächste Generation wieder vermehrt meine Aufmerksamkeit fordern wird. Natürlich überfällt auch mich manchmal Wehmut, wenn ich daran denke, dass die Kinder- und Jugendjahre unserer Drei und unsere Familienzeit nun unwiederbringlich vorüber sind. Eine gute Bekannte vergießt seit Jahren Tränen, während sie in Fotoalben die Familienzeit Revue passieren lässt. Die Wände ihrer Wohnung sind mit Erinnerungen an ihre Kinder tapeziert. Sie kommt aus ihrer Verlusttrauer nicht heraus. Obwohl ich ihre Gefühle verstehen kann, ist sie mir zum Mahnmal geworden. Daher habe ich erst einmal alle Fotoalben in einer großen Kiste verstaut. Später einmal möchte ich sie gemeinsam mit meinen Enkelkindern anschauen. Ich habe mich dafür entschieden, das Neue zu leben und nicht dem Alten nachzutrauern. Jetzt ist Zeit für etwas anderes.

NEUE ZWEISAMKEIT
Mein Mann und ich sind von der Zweisamkeit als junges Ehepaar über die Familienphase wieder vermehrt in die Zweisamkeit mit zeitweiliger Beteiligung unserer erwachsenen Kinder zurückgekehrt. Unsere neue Herausforderung ist, uns wieder ganz als Paar zu entdecken. Möglichkeiten gibt es zahlreiche: Vielleicht besuchen wir ja wie unsere Freunde Lisa und Martin einen Tanzkurs. Gut gefällt mir auch die Idee von Richard und Susanne, die für Ehepaare regelmäßig Wanderwochenenden organisieren. Nele und Marija sind in ihr Heimatland zurückgegangen, um dort Kindern in der Nachbarschaft von Jesus zu erzählen. Ganz tief in uns schlummert noch immer der vorelterliche Wunsch eines Missionseinsatzes. Bis sich dafür ein Weg öffnet, genießen und nutzen wir unseren erweiterten Aktionsradius in unserer Heimat. Durch den Auszug unseres Sohnes sind wir stolze Besitzer eines Gästezimmers. Seither kommen unsere Freunde und Verwandte, die über das ganze Land verstreut leben, häufig für ein paar Tage zu Besuch. Ich liebe es, Gäste zu bewirten, am Abend lange beisammen zu sitzen und morgens gemütlich zu frühstücken. Wenn der Sohn zum Gast wird, ist wieder mehr Raum für andere. Besonders schön ist es, wenn er mit seiner Frau auch hier und da Teil unseres Alltags ist.

FREUNDE UND GÄSTE
Was auch immer unsere Zukunft bringt: Ich lebe in keiner Phase des Verlustes, sondern des Gewinns. Neue Möglichkeiten stehen mir offen, ich kann freier über meine Zeit verfügen, muss mich mittags und abends nicht nach Hause hetzen und kann spontan Menschen helfen, die mich gerade brauchen. Meine Kinder kommen zu Besuch und benehmen sich so höflich, wie Gäste das eben tun. Sie vereinbaren einen Termin, freuen sich, ihre Eltern zu sehen, bringen Blumen, Eis oder Kuchen mit, bleiben bei Tisch sitzen, loben das gute Essen, reden endlos mit uns, ohne auf ihr Smartphone zu blicken und schicken vom Urlaub Ansichtskarten. Wir haben Freunde gewonnen – unsere erwachsenen Kinder. Unsere Rolle als Erzieher ist der Rolle als gelegentliche Ratgeber gewichen. Ich freue mich jedes Mal, Zeit gemeinsam mit unseren erwachsenen Kindern zu verbringen, aber bis dahin wird mir auch nicht langweilig. Alles hat seine von Gott bestimmte Zeit. Und das ist gut so.

 

 

Roswitha Wurm arbeitet als Lerntrainerin und freie Redakteurin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien.

 

„Immer seid ihr die Bestimmer!“

Wie viel Mitspracherecht soll ich meinem Kind einräumen? Ab welchem Alter kann ich was erlauben? Wie viel Freiheit ist gut für mein Kind? Antworten von Sonja Brocksieper

Vielen Eltern ist es ein Anliegen, ihre Kinder in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Sehr bewusst wollen sie nicht allein bestimmen, wo es langgehen soll. Stattdessen fragen sie die Kinder nach ihrer Meinung und wägen gemeinsam mit ihnen ab. In unserer Gesellschaft hat es einen Wandel gegeben, der sich mittlerweile auch in einem veränderten Erziehungsverhalten zeigt. Die Familienstudie von Tobias Künkler und Tobias Faix („Zwischen Furcht und Freiheit“) hat gezeigt, dass in christlichen Familien die autoritären Strukturen immer mehr zurückgegangen sind und stattdessen Kommunikation und die Wertschätzung des kindlichen Standpunkts eine wichtige Rolle spielen. Kinder werden als gleichwürdige Persönlichkeiten gesehen, die Achtung, Respekt und damit auch ein Mitspracherecht verdienen. Ein Ergebnis der Familienstudie ist, dass 69 Prozent der Eltern ihre Kinder oft oder sehr oft nach ihrer Meinung fragen, nur 3 Prozent tun dies selten. Aber es ist klar, dass diese Mitbestimmung auch ihre Grenzen hat. Denn ohne solche Grenzen gäbe es bei manchen Kindern nur noch Schokolade auf dem Speiseplan, und Kindergartenkinder würden ihr Bedürfnis erfüllen, ein eigenes Smartphone zu besitzen. Wie schaffen Eltern also den Spagat zwischen Mitspracherecht und klaren Vorgaben?

WACHSENDE MITBESTIMMUNG
Zunächst ist es hilfreich, wenn sich Eltern Gedanken darüber machen, welche Ziele sie in der Erziehung ihrer Kinder haben. Sicherlich wünscht sich jede Mutter und jeder Vater, dass ihre Kinder einmal das Elternhaus als eigenständige Persönlichkeiten verlassen, die in der Lage sind, vernünftige und reife Entscheidungen zu treffen. Aber diese Selbstständigkeit müssen Kinder im Laufe der Familienzeit erst mal lernen und einüben. Kommt ein Baby auf die Welt, ist es zunächst absolut hilfsbedürftig und benötigt die verlässliche Fürsorge der Bindungspersonen. Die elterliche Kontrolle und Einflussnahme sind zu Beginn des Lebens also stark ausgeprägt, müssen aber mit der Reifung des Kindes nach und nach abnehmen. Schritt für Schritt erlangt der kleine Mensch neue Fähigkeiten, entdeckt seinen eigenen Willen und möchte Dinge allein tun. Die meisten Eltern erleben das sehr einschneidend in der so genannten Trotzphase, wenn ihr Kind die Worte „nein“ und „ich“ entdeckt. Dieser Selbstbehauptungstrieb ist ein wichtiger Entwicklungsschritt, den die Eltern begleiten und in gute Bahnen lenken sollten. In dieser Zeit braucht das Kind die Erfahrung, dass der eigene Wille wünschenswert ist. Deswegen ist es wichtig, dass die Eltern die Bedürfnisse und Gefühle ihrer Kinder ernst nehmen, gleichzeitig aber auch vermitteln, dass die eigenen Bedürfnisse nicht das Maß aller Dinge sind: „Jetzt bist du richtig sauer, dass du nicht die ganze Schokolade haben darfst. Das verstehe ich. Aber Sophie möchte auch was von der Schokolade essen, und deswegen teilen wir jetzt.“ Im Laufe der Kindheit und der Teenagerjahre müssen die Eigenständigkeit und Selbstkontrolle des Kindes immer mehr zunehmen. Je älter die Teenager werden, desto mehr sind sie in der Lage, abzuwägen und reife Entscheidungen zu treffen. Genau das können Eltern fördern, indem sie überwiegend eine beratende und begleitende Funktion übernehmen. Und das bedeutet auch, dass das Mitbestimmungsrecht in der Familie unbedingt mehr Platz einnehmen muss. Schreiben Eltern ihrem fünfzehnjährigen Teenager immer noch vor, wann er abends ins Bett gehen muss, ist die Einflussnahme zu groß. Er kann nicht selbst die Erfahrung machen, welche Auswirkungen es hat, wenn er bis spät in die Nacht chattet.

EIN GESUNDES MASS
Leider gibt es keine Patentantwort auf die Frage, in welchem Alter wie viel Mitbestimmungsrecht sinnvoll ist. Welche Grenze wann gesetzt wird, bleibt eine individuelle Entscheidung, die von der Lebenssituation, von den persönlichen Werten und vom Temperament und der Reife des Kindes abhängt. Der Familientherapeut Achim Schad gibt folgenden Ratschlag: „Beim Ermessen von Entscheidungsspielräumen für Kinder sollte nach dem Motto verfahren werden: So viel Mitbestimmung wie möglich, so viel elterliche Entscheidung wie nötig.“ Auf dieser Grundlage sollten sich Eltern immer wieder die Frage stellen: Führen meine Erziehungsmaßnahmen in größere Eigenständigkeit, oder zu größerer Abhängigkeit oder in die Überforderung? Das Mitspracherecht muss ein gesundes Maß haben. Auf der einen Seite sollten Eltern ihren Kindern viel zutrauen und sie altersangemessen in ihrer Eigenständigkeit bestärken. Auf der anderen Seite können Kinder aber noch nicht auf einen so großen Erfahrungsschatz wie Erwachsene zurückgreifen. Deshalb brauchen sie einen Rahmen, in dem sie ohne Überforderung oder Verunsicherung lernen können. Einige Beispiele sollen deutlich machen, wie eine angemessene Mitbestimmung aussehen kann: In der Grundschulzeit wird eine feste Mediennutzungszeit für eine Woche festgelegt. Das Kind kann entscheiden, ob es diese Zeit am Computer oder vor dem Fernseher verbringt und wie die Medienzeiten innerhalb der Woche verteilt werden. Bei einem Kindergartenkind entscheiden die Eltern, ob es im Winter ein Kleid oder eine warme Hose anzieht. Das Kind kann aber mitbestimmen, welche Hose es anzieht. Die Eltern bestimmen, welche Lebensmittel auf dem Tisch stehen, das Kind darf sich aus diesem Angebot sein Frühstück zusammenstellen. Geht die Mutter mit ihrer Teenagertochter shoppen, ist ein Budget festgelegt. Die Tochter kann entscheiden, ob sie sich die teure Markenhose kaufen möchte, dann aber auf ein Paar neue Schuhe verzichten muss.

IMMER MEHR VERANTWORTUNG
Es ist hilfreich, die Mitbestimmung eines Kindes an die Übernahme von Verantwortung zu knüpfen. Ein Vorschulkind trägt zunächst für seinen eigenen kleinen Lebensraum Verantwortung. Dazu gehört, selbst an das Zähneputzen zu denken, die Spielsachen wegzuräumen und selbstständig zu essen. Wird das Kind älter, bekommt es mehr Verantwortung: kleine Aufgaben im Haushalt, die Versorgung des Haustiers, das selbstständige Erledigen der Hausaufgaben und ähnliche Pflichten. Je mehr Verantwortung ein Kind übernimmt, desto mehr wächst auch das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen. Hat ein Kind die Aufgabe übernommen, ein Mittagessen zu kochen, kann man ihm die Entscheidung überlassen, was auf dem Tisch stehen soll. Mit den Aufgaben wächst das Mitbestimmungsrecht und somit auch der Freiraum, eigene Erfahrungen zu machen.

GRENZEN DER MITBESTIMMUNG
Sobald die eigene Gefährdung im Raum steht, ist es notwendig, die Mitbestimmung zu begrenzen. Niemand würde sein dreijähriges Kind an einer viel befahrenen Straße allein laufen lassen, auch wenn das Kind auf sein Mitbestimmungsrecht pocht. Außerdem kann ein Kind durch zu viel Freiheit überfordert werden. Zum Beispiel wünschen sich viele Kinder spätestens zum Wechsel auf die weiterführende Schule ein Smartphone. Stellen Eltern ihrem Fünftklässler nun ein internetfähiges Handy zur Verfügung mit dem Kommentar „Aber spiel nicht so lange“, ist das weniger ein Zeichen von angemessenem Mitspracherecht als von grober Fahrlässigkeit. Die Freiheit hat auch dann eine Grenze, wenn die Rechte anderer verletzt werden. Rücksichtnahme, Teamfähigkeit und Beziehungsfähigkeit sind wichtige Kompetenzen, die Kinder im engen Zusammenleben in der Familie erwerben können. Kinder sind Teil einer Gemeinschaft und müssen deswegen auch lernen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse hin und wieder zurückstellen müssen.

EIGENE ENTSCHEIDUNGEN
Eine zentrale Aussage der oben genannten Familienstudie ist, dass Eltern, gerade im Hinblick auf die Glaubenserziehung ihrer Kinder, in einem Dilemma stecken: Sie wollen, dass sich ihre Kinder frei für den Glauben entscheiden, und gleichzeitig ist der christliche Glaube für sie alternativlos. Fakt ist, dass Eltern den Glauben ihrer Kinder nicht „machen“ können, und diese Spannung sollten sie aushalten können. Sie können Grundlagen schaffen, Angebote machen und vorleben. Aber je älter die Kinder werden, desto mehr müssen Eltern zurücktreten und akzeptieren, wenn die Kinder Entscheidungen treffen, die sie nicht gut finden. Einen Teenager in die Jugendgruppe oder in den Gottesdienst zu zwingen, ist äußerst schwierig, auch wenn die Not und Sorge der Eltern verständlich ist. Äußert ein zwölfjähriges Kind dagegen, dass es sonntags lieber ausschlafen will, ist es angemessen, wenn Eltern den Entscheidungsspielraum ihres Kindes einschränken. Ein Kompromiss kann sein, dass das Kind an einem Sonntag im Monat „frei“ hat. Bei ihren sechzehn- oder siebzehnjährigen Jugendlichen können Eltern nur noch Empfehlungen aussprechen und ihnen in erster Linie auf der Beziehungsebene begegnen. Darüber hinaus können sie ihr Kind im Gebet immer wieder vor Gott bringen. Letztlich sind Kinder ihren Eltern nur für eine begrenzte Zeit anvertraut und müssen als erwachsene Söhne und Töchter auf allen Ebenen ihre eigenen Entscheidungen treffen.

 

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin und arbeitet für das Kindergottesdienstmaterial SevenEleven und Team.F. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid, www.sonja-brocksieper.de.

 

 

Buchtipp: Dieser Artikel ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch „Frei erziehen – Halt geben“ (SCM R. Brockhaus), das von Tobias Künkler, Tobias Faix und Damaris Müller herausgegeben wird. Es enthält zahlreiche Artikel unterschiedlicher Autorinnen und Autoren zur christlichen Erziehung.

 

Alltagskokon

Woran liegt es, wenn die Kraft fehlt, um die Flügel auszubreiten?

Ich höre es immer wieder: „Ich bin so k.o.!“ Oder: „Warum bin ich bloß so dauermüde?“ Ich kann gerade selber fühlen, was gemeint ist. Heute ist Kopfwehtag, die Wäsche oben piept mahnend und erinnert mich auch noch an die zwölf Hemden, die ich für Henrik bügeln muss. Ich lasse Tarik TV gucken, weil ich so lahm bin. So müde und matt. So sehr mit dem Jetzt beschäftigt und eingewickelt, das mir nicht mal Kaffeetrinken Spaß macht. Ich fühle mich schlecht dabei. Ich sehe mich um und überall liegt etwas herum: Schuhe, Marmeladengläser, Bastelsachen für diverse Gruppen, Bücher, kopierte Artikel, Abholscheine für Schulbücher, aussortierte Kleidung aller Kids – die wollte ich eigentlich schon seit Tagen wegbringen … Es fühlt sich in diesem Moment an, als wickle mich mein Alltagsgewimmel wie Klarsichtfolie ein. Zu einem bewegungsunfähigen Wurm. Ich stecke in einem Kokon aus Murren und Seufzen fest. Ich komme nicht dagegen an. Während ich in dieser Starre aus Müdigkeit bleibe, sehne ich mich nach den Flügeln eines Adlers. Die Bibel beschreibt dieses Bild. Menschen, die Gott vertrauen, fliegen kraftvoll in den Himmel und nutzen dabei die große Spannbreite der Flügel voll aus. Warum dann meine Lähmung? Wieso genieße ich mein Jetzt nicht? Mir fällt auf, dass ich mein Pensum und Tempo erhöhe und mich dann wundere über Müdigkeit. Einerseits liebe ich zum Beispiel Blogs von Menschen, die dekorieren und aus Zutaten Leckeres machen und bei denen ein Sonntagskaffeetisch aussieht wie aus dem Malbuch. Ich lasse viel Zeit beim Bewundern und Nachmachen, bis ich enttäuscht und kraftlos aufgebe und Waffeln backe. Denn in meinem Leben gibt es nicht nur den Fotoausschnitt, sondern es liegen neben dem 1A-Kuchentisch auch noch Wäsche, Rechnungen, Altpapierberge und Berge an Post. Ich lege mir den beengenden Kokon oft selbst an. Hochglanz versus Alltag. Sehnsucht gegen Müdigkeit. Enge gegen Freiheit. Eine Spannung. Eine Spannung, die Kraft raubt. Kraft, die Gott mir anbietet. Ich darf neue Kraft ertasten, wenn ich Gott vertraue. Ich will Gott meine engen Kokon-Schichten hinhalten. Um neue Sichtweisen bitten. Ich will durch mein Vertrauen mit seinen Möglichkeiten rechnen. Will mich wie ein Adler auf die Luftströme legen und gleiten. Das ist nichts, was ich selbst tun muss, sondern was ich nutzen darf. Gottes Kraft ist da. Sie lässt sich nutzen. In ganz kleinen Schritten kann ich mit diesem Aufwind aussortieren, was heute hilfreich ist. Ich lebe den Tag mit der Kraft, die ich heute habe. Ich lasse meine inneren Forderungen an mich los. Nun gehe ich den Trockner ausstellen, meinen Sohn knuddeln und dabei das TV ausschalten.

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Stefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.

Abschied von den Zugvögeln

Bianka Bleier blickt den flügge gewordenen Kindern hinterher.

 

Durchwachsenes Sommerwetter haben wir dieses Jahr. Wolkenberge jagen am Himmel entlang und färben die Landschaft in Molltönen. Gerade noch haben Amseln und Nachtigallen ihre Frühlingsduette geschmettert, nun plündern bereits Starenwolken die Weinberge, die Störche werden unruhig und halten ihre Flügel in den Wind. Ihre Jungen sind groß geworden und flugfähig, bald werden sie sich auf die große Reise machen. Fasziniert beobachte ich Jahr für Jahr den Wandel der Zugvögel. Auch unsere Kinder sind flügge geworden und in die große weite Welt ausgeflogen. Anfangs war mir das Herz schwer. Ich bin ja nicht blind hineingestolpert in das große Loslassen, ich habe es sehenden Auges getan, aber das hat mir nichts genutzt, das Leben will gelebt werden. Unsere drei Nestflüchter haben ihr Nest alle im selben Jahr verlassen. Ich habe die Zeit vor ihrem Auszug bis auf den letzten Tropfen genossen, gleichzeitig gestöhnt über die Vielschichtigkeit der Herausforderungen, die häusliche Enge, die lebhafte Präsenz der jungen Erwachsenen, die vor allem mit sich selbst beschäftigt waren, die dichte Verantwortung für die letzte Phase vor dem Abflug, die Zerrissenheit zwischen mir, den Kindern und meinem Mann, der völlig anders mit dem abschiedlichen Leben umging. Wir sind zur Seite gestanden bei Liebeskummer, haben bei Schulabschlüssen und Berufsfindung gecoacht, haben geholfen, unvergessliche Hochzeitsfeiern und Abschiedsfeste zu zelebrieren und unsere Zugvögel zum Kontinentwechsel bis ans Gate chauffiert. Dann waren sie weg.

AUS DER SCHOCKSTARRE ERWACHT
Gerade noch das wilde Leben und plötzlich wieder zu zweit. Zuerst weinten wir. Dann verstummten wir. Das Vakuum, das sie hinterließen, war enorm. Aber als Werner eines Tages monierte, er käme sich vor wie im Altersheim, erwachte ich empört aus der Schockstarre. Wir schüttelten unsere Felle, sahen uns um und begannen, vorsichtig auf Entdeckungsreise zu gehen. Und siehe da: Das Vakuum war gar keine bedrohliche Leere, sondern freier Raum! Ein Land voll Möglichkeiten. Kraft war noch da. Lebenserfahrung hatte sich angesammelt, Lebensspuren sich gebildet, Netzwerke waren entstanden. Es gab Ressourcen und Potenziale, die wir zwanzig intensive Familienjahre lang für nichts nutzen konnten außerhalb der großen, geliebten, selbst gewählten Aufgabe. Aber jetzt war Raum und Zeit für etwas, das auch in uns war, sich entfalten wollte und durfte. Das klingt glatter, als es war. Mir half gute Lektüre und seelsorgerliche Begleitung zu vielen Themen die in der Lebensmitte aufbrechen. Aber keinem hätte ich geglaubt, der mir gesagt hätte, welche Überraschungen das Leben noch für mich bereit hielt nach dem Abflug der Kinder.

ALTER LEBENSTRAUM
Ich liebe mein Leben, so wie es ist. Ich habe es geliebt, mit den Kindern unter einem Dach zu leben, Familienleben aufzubauen, Verantwortung zu tragen, ihre Entwicklung mitzuerleben, sie zu lieben und ihre Liebe zu tanken. Und, ja, alles hat seine Zeit. Kaum ein anderer Satz aus der Bibel kommt mir so oft in den Sinn. Nach dem Verlassen dieses intensiven Lebensraumes begann etwas erstaunlich Neues. In der Ruhe, die einkehrte, stieg ein alter Lebenstraum in uns hoch, der die Chance barg, Wirklichkeit zu werden, weil nun die Zeit reif dafür war. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragte Werner und ich lernte den Pionier an meiner Seite noch einmal von einer neuen Seite kennen – und er mich. Wohl wissend, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind und unsere Zeit in Gottes Hand steht, begannen wir gemeinsam mit Freunden ein Projekt, das zu einem neuen Lebensschwerpunkt wurde. Ich liebe es, wenn unsere Zugvögel ihr Nest aufsuchen und wir weiterhin, punktueller nun, Leben teilen. Aber ich liebe auch meine alte neue Freiheit mit den Möglichkeiten eines Lebens mit geringerer Verantwortung.

Bianka Bleier betreibt zusammen mit Freundinnen das Ladencafé Sellawie und lebt mit ihrem Mann in Forst/Baden.

Unsere Freiheit, ganz anders zu leben. Oder auch nicht.

Anja Schäfer plädiert dafür, dass Familien ihren eigenen Weg finden, das Familienleben zu planen – ohne sich gegenseitig kritisch zu beäugen.

Die ältere Dame hob ihre Augenbrauen und blickte mich tadelnd an. Wir waren auf einer christlichen Veranstaltung, hatten geplaudert, und ich erzählte ihr, dass wir unseren zweijährigen Sohn an drei Vormittagen in der Woche zu einer Tagesmutter brachten. Auf dem kleinen Bio-Bauernhof spielte er zwischen Hühnern und Treckern mit drei oder vier anderen Kindern, und mittags holten wir ihn ab. Perfekt, fanden wir. Die ältere Dame nicht. Fremdbetreut in diesem Alter, das hielt sie für entschieden nicht mit dem biblischen Familienmodell vereinbar.

Zwei oder drei Tage später traf ich mich mit Freunden in der Kneipe. Anschließend, vor der Tür, kamen wir auf das damals hochbrisante Thema „Betreuungsgeld“ zu sprechen, das ausgezahlt werden sollte an Familien, die ihre Kinder zwischen null und drei (!) Jahren zu Hause betreuten. Indiskutabel, empörten sich meine Freunde. Relikte alter Rollenbilder. Typisch bayerische Schnapsidee. Und so stand ich da in unserer Runde vor der Kneipe. Erst ein paar Tage zuvor hatte ich mich noch rechtfertigen müssen für unsere liebevolle Tagesmutter. Und hier stand ich mit meinen Freunden, für die es undenkbar war, eine Lebensform staatlich zu unterstützen, bei der Mama oder Papa eine Weile für ihre Kinder zu Hause bleiben. Ich musste fast lachen.

Das Ende meiner Freiheit

Nach der Geburt ihres ersten Kindes fühlte sich Rebekka Schwaneberg unglücklich und fremdbestimmt. Wie sie gelernt hat, damit umzugehen und warum sie sich für ein zweites Kind entschieden hat, beschreibt sie hier.

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