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Auf das, was da noch kommt!

Das „leere Nest“ schenkt Freiräume für Beziehungen, die mal nichts mit den Kindern zu tun haben. Irina Ort mit Anregungen, wie alte Freundschaften wiederbelebt und neue gewonnen werden können.

Zwischen Geburt und Loslassen der Kinder stecken jede Menge Erlebnisse, Geschichten und Erfahrungen. Durch oder wegen der Kinder haben sich ein paar von den damals bereits bestehenden Freundschaften gefestigt. In der Kleinkind- und Kindergartenphase sind aber auch neue Freundschaften entstanden. Ich erinnere mich an unzählige Male, wo wir uns mit oder wegen unserer Kinder trafen und zwischen uns Erwachsenen eine Freundschaft begann. Diese Freundschaften waren praktisch, alltagstauglich und gleichzeitig Gold wert. Wir trafen uns auf Spielplätzen, unternahmen gemeinsame Ausflüge und halfen uns gegenseitig mit dem Babysitten aus. Wenn wir uns als Paar ein paar kinderfreie Tage gönnen wollten, vertrauten wir uns gegenseitig die Kinder an. Kinder waren ein großer gemeinsamer Nenner unserer Freundschaften.

Jetzt sind die Kinder erwachsen. Die Lebensschwerpunkte verlagern sich. Ich stelle fest, dass ich und wir als Paar immer mehr Freiräume haben. Wir haben mehr Zeit. Ich habe mehr Zeit. Doch wie sieht es eigentlich mit meinen und unseren Freundschaften aus? Ich stelle auch fest, dass ich mich nun tatsächlich weniger mit Freunden treffe und gefühlt auch weniger Freunde habe. Das bringt mich dazu, über das Thema Freundschaft nachzudenken.

Freundschaft zu mir selbst

 

In dieser Umbruchzeit wird es mir besonders wichtig, mir selbst eine gute Freundin zu werden oder wieder zu sein. Eine Freundschaft zu mir selbst bedeutet, bewusst „Ja“ zu mir zu sagen, mich selbst annehmen zu können, meine Begrenzungen und Schwächen zu kennen und meinen Stärken mehr Raum zu geben. Ich darf neugierig werden, auf Entdeckungsreise gehen und Neues mit meinen bereits erworbenen Erfahrungen kombinieren. Ich darf aber auch lernen, das Älterwerden zu akzeptieren. Die einzige Konstante ist bekanntlich die Veränderung. Wie begegne ich ihr in diesem neuen Lebensabschnitt?

Freundschaft zu meinem Mann 

 

Schon am Anfang unserer Ehe war uns beiden klar: Wenn wir eines Tages Kinder bekommen, werden diese nach einer gewissen Zeit unser Nest verlassen. Genauso klar war und ist es, dass wir beide bleiben werden. Für jedes Paar ist es eine besondere Herausforderung, sich zwischen den Wäschebergen, den beruflichen Weiterbildungen, dem Hausbau, dem Ehrenamt und vielem mehr nicht aus den Augen zu verlieren. Für uns beide war die Wochenendbeziehung, der wir beruflich bedingt fünfeinhalb Jahre ausgesetzt waren, ein zusätzlicher Spagat.

Jetzt, in dieser neuen Lebensphase mit den neuen Freiräumen, stellen wir uns bewusst diese Fragen: Was wollen wir in unserer Beziehung wiederbeleben? Was wollen wir neu entdecken? Welchen Traum (den wir durch die intensive Familienphase auf Eis gelegt haben) wollen wir weiterverfolgen?

Die Anschaffung eines Fahrradanhängers macht es uns möglich, unsere fast vergessene Leidenschaft des gemeinsamen Fahrradfahrens wiederzubeleben und auszuweiten. Mit dem wöchentlichen Terminblocker „unsere Zeit“ halten wir uns bewusst die Zeit füreinander frei. Auch wenn das nicht immer klappt, wissen wir: Wer nicht plant, der wird vom Alltag überrollt und verplant. Wir beide haben Träume, einer davon ist es, ein Sabbat(halb)jahr im Ausland zu verbringen.

Alte Freundschaften wiederbeleben

 

Beim Gedanken an die alten Freundschaften habe ich bestimmte Gesichter vor Augen. „Wenn dir etwas wichtig ist, gibt es kein ABER“ – dieser Spruch auf einer Karte, die ich bei mir zu Hause entdeckt hatte, brachte mich auf den Gedanken, selbst aktiv zu werden.

Mir ist klar, dass eine Freundschaft kein Selbstläufer ist. Freundschaften sind enorm wichtig und wollen, ja sollten gepflegt werden. Dann kommt das ABER: Wenn die räumliche Distanz nicht wäre … Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesprochen … Wir leben in ganz unterschiedlichen Welten … Es ist schwierig, einen gemeinsamen Termin zu finden … Die könnte sich auch mal melden … Diese Gedanken verhindern häufig das Wiederbeleben alter Freundschaften.

Ich habe mich meinem ABER in den Weg gestellt, indem ich den Kontakt zu der Tochter meiner Freundin aufnahm. Ich erklärte ihr mein Vorhaben, ihre Mutter – meine Freundin – zu überraschen und beauftragte sie, ein paar wichtige Dinge für mich in Erfahrung zu bringen. Bevor ich mir ein paar Tage freinahm, musste ich ganz sicher sein, dass meine Freundin an dem Tag keine weiteren Termine und tatsächlich Zeit hätte. Nachdem ich von der Tochter grünes Licht bekam, reservierte ich auf den Namen meiner Freundin einen Tisch für uns zwei. Meine Vorfreude und die Aufregung wuchsen. Ich würde die Freundin bald wiedersehen, die ich durch den Kindergarten unserer Kinder kennen- und schätzen gelernt hatte. Wir beide sind wie Hanni und Nanni durch dick und dünn gegangen. Ganz zufällig bekamen wir zeitgleich eine Mutter-Kind-Kur genehmigt. Gemeinsam mit unseren sechs Töchtern (wir haben jeweils drei) verbrachten wir eine unvergessliche Zeit in Cuxhaven. Lang ist es her. Ich wollte diese Freundschaft auf jeden Fall wiederbeleben.

Zwei Tage vor unserem gemeinsamen Date erfuhr meine Freundin von ihrer Tochter, dass sie an dem besagten Donnerstag ein Date habe. Sie teilte ihr auch mit, dass der Tisch auf ihren Namen reserviert sei und sie sich auf das Date freuen könne. Nun wuchs die Spannung auch bei meiner Freundin. Sie fragte sich, wen sie dort wohl antreffen würde. Endlich kam der Tag unseres Treffens. Ich war absichtlich etwas früher im Lokal. Meine Freude war groß, auch, weil wir einen tollen Tisch abseits, mit einem Ausblick, bekamen. Nachdem ich mit der Kellnerin gesprochen und ihr von meinem ganz besonderen Date erzählt hatte, war sie gerührt und auch bereit, „mitzumachen“. Ich bat sie, meine Freundin zum Tisch zu führen (währenddessen stand ich in einem „Versteck“, von dem aus ich alles beobachten konnte). Ich bat die Kellnerin außerdem da-rum, meiner Freundin die Speisekarte und auch die Karte mit dem Spruch „Wenn dir etwas wichtig ist, gibt es kein ABER“ zu überreichen. Ich wartete etwas, um die Spannung noch mehr aufzubauen. Dann ging ich zum Tisch …

Mit einer gelungenen Überraschung, einer unbezahlbaren Erinnerung und unendlich dankbar fuhr ich wieder nach Hause. Es war so wie früher gewesen – unbeschreiblich wertvoll und schön. Jetzt bin ich gespannt, wann und wo die Karte, die ich nach unserem Treffen mit dem Datum versehen habe und diese als „Wanderpokal“ meiner Freundin überlassen habe, in meine Hände zurückkommen wird.

Das beste Mittel, alte Freundschaften wiederzubeleben, ist, sich bewusst Zeit zu nehmen. Übe Gastfreundschaft, lade alte Freunde einfach mal wieder zu dir ein. Vielleicht ist auch ein neutraler Ort eine bessere Variante, zum Beispiel ein ganzes Wochenende gemeinsam in einem Ferienhaus. Zusammen kochen, reden, spazieren gehen, spielen, lachen – das wie in früheren Zeiten zu erleben, tut so gut!

Nicht alle Freundschaften, die ich versucht habe wiederzubeleben, ließen es tatsächlich zu. Einige musste ich schweren Herzens loslassen. Die Erkenntnis, dass es Freundschaften für eine bestimmte Zeit gibt und diese nicht lebenslang halten müssen, befreite mich von einer falschen Erwartungshaltung. Beziehungen baut man nicht, man sät sie. Diese Tatsache machte mir klar, dass ich in der neuen Lebensphase auch neue Beziehungen säen will.

Neue Freundschaften säen

 

Die erste Frage, die sich beim Säen stellt: Geht da überhaupt etwas auf? Wird da tatsächlich eine Freundschaft entstehen? Wenn ja, was wird da wohl wachsen? Ich möchte keine Freundschaft erzwingen, vielmehr einen Freiraum für die einzigartige Entfaltung geben.

Eine gemeinsame Israelreise ist der Ursprung einer neuen Freundschaft gewesen. Diese flüchtige Urlaubsbekannte war eine der ersten Frauen, die ich als Teilnehmerin beim Body-Spirit-Soul-Kurs, den ich für Frauen anbiete, begrüßen durfte. Nach dem Kurs sprang der Freundschaftsfunke über. Heute sind wir Freundinnen und mit einem großen Herzen für die Arbeit mit Frauen gemeinsam unterwegs.

Wenn wir säen, haben wir keine Garantie, dass etwas aufgehen und wachsen wird. Wir können mit einer einjährigen Blume, einem Begleiter für eine bestimmte Zeit, beschenkt werden. Wir können aber auch mit einem Baum, der Jahr für Jahr Früchte tragen wird, überrascht werden. Bei beidem ist es wichtig, aktiv zu werden, sich auf Menschen einzulassen, zu geben und abzuwarten, ob dies erwidert wird.

Die gemeinsamen Nenner der neu entstehenden Freundschaft werden jetzt sicherlich nicht mehr die Kinder sein. Vielleicht ist es zuerst der gemeinsame Kaffee, das gemeinsame Wandern, die Leidenschaft fürs Nähen oder eine Weiterbildung. Für den Beginn einer neuen Freundschaft können es ganz unterschiedliche gemeinsame Nenner sein. Hüte nicht nur die Schätze der Vergangenheit: Werde aktiv, öffne dich, öffne dein Haus für neue Freundschaften.

Irina Ort lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Heidelberg. Sie arbeitet als Lebensberaterin, DISG-Trainerin und Lebe-leichter-Coach in ihrer eigenen Praxis. www.einblick-schafft-durchblick.de

„Mit wem trifft sie sich?“ Wenn Eltern die Freunde ihrer Kinder nicht mehr kennen …

Ab einem gewissen Alter haben Teenager elternfreie Zonen mit eigenen Freunden. Pädagogin Sonja Brocksieper rät dabei zur Gelassenheit.

„Früher wussten wir immer, mit wem unsere Tochter (16) befreundet ist. Mittlerweile kennen wir ihre Freundinnen und Freunde nicht mehr. Ist das normal oder sollten wir uns irgendwie bemühen, sie kennenzulernen?“

Jahrelang haben Sie Ihre Tochter intensiv begleitet, waren in die Kinderfreundschaften involviert, haben diese gefördert oder eben auch bewusst nicht. So ist es erstmal seltsam und befremdlich, wenn Sie nicht mehr alle ihre Freunde so gut kennen, wie das früher der Fall war. Vermutlich schwingt auch die Sorge mit, dass Ihre Tochter Kontakte pflegt, die ihr nicht guttun könnten?

Jugendliche brauchen Freiraum

Es ist ein normaler Entwicklungsschritt, wenn Jugendliche immer mehr eigene Lebensbereiche haben. Für die Heranwachsenden sind elternfreie Zonen wichtig, in denen sie sich unter Gleichaltrigen ausprobieren und ihre Sozialkompetenzen schulen können. Sie brauchen den Freiraum, Freundschaften eigenständig gestalten zu können. Solange Sie nicht den Eindruck haben, dass Ihnen Ihre Tochter extra etwas verheimlicht, ist diese Entwicklung also unbedenklich.

Interesse zeigen

Das bedeutet aber nicht, dass Sie sich als Eltern komplett aus den Kontakten Ihrer Tochter heraushalten sollten. Auch in diesem Alter ist es angemessen, Interesse an den Freundschaften zu zeigen und über die engsten Freunde Bescheid zu wissen. Fragen Sie ruhig immer wieder mal vorsichtig nach, mit wem und wo sich Ihre Tochter trifft. Ist die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Tochter entspannt, wird es ihr vermutlich leichtfallen, von ihren Freunden zu erzählen. Etwas schwieriger ist es, wenn der Umgang insgesamt eher spannungsreich ist, sodass Sie vermutlich weniger Infos bekommen.

Party Zuhause?

Aus diesem Grund ist es zunächst wichtig, dass Sie in eine vertrauensvolle Beziehung investieren. Je mehr Vertrauen Eltern signalisieren, desto mehr sind Jugendliche bereit, sie in ihr Leben schauen zu lassen. Auf dieser Grundlage können Sie ruhig zum Ausdruck bringen, dass Sie die Freunde auch mal kennenlernen möchten. Öffnen Sie Ihr Haus und geben Sie Ihrer Tochter die Gelegenheit, ihre Freunde mitzubringen. Wenn sie sie zum Beispiel zu ihrer Geburtstagsparty nach Hause einlädt, ist ein netter und lockerer Kontakt zu den Freunden zu Beginn der Party durchaus angemessen. Aber dann ist es auch ratsam, die Jugendlichen ihre eigene Party feiern zu lassen. Zeigen Sie Präsenz, ohne sich dabei den Freunden und Ihrer Tochter aufzudrängen oder gar anzubiedern.

Aufmerksam bleiben

Wenn Ihre Tochter ein selbstbewusster Teenager ist, können Sie mit einer gesunden Portion Gelassenheit an das Thema herangehen. Vertrauen Sie Ihrer Tochter, dass Sie sich ein gutes Umfeld aussuchen wird. Wenn es allerdings ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass sich Ihre Tochter in einem gefährlichen Umfeld aufhält oder wenn sie Veränderungen an ihr wahrnehmen, sollten Sie nicht tatenlos zusehen. Sobald Sie das Gefühl haben, dass die Freunde Ihrer Tochter schaden oder dass sie Ihnen entgleitet, sollten Sie bewusst das Gespräch mit ihr suchen und eventuell auch externe Hilfe in Anspruch nehmen.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F. 

Kein Beziehungsratgeber half diesem Paar. So wurden sie trotzdem ein Team

Früher schrien sich Jennifer Zimmermann und ihr Mann wochenlang abends an. Heute ist ihr Partner gleichzeitig ihr bester Freund.

Man sollte es gleich zu Anfang wissen: Wir sind kein Vorzeigepaar. Ich sehe uns heute noch in unserer ersten Wohnung am Frankfurter Westbahnhof sitzen. Draußen donnerten die Güterzüge und drinnen las ich mit roten Ohren das Kapitel über Sex aus unserem Eheratgeber vor. Zehn von zwanzig Kapiteln lang übten wir uns in größtmöglicher Offenheit und wälzten Vorstellungen über Geld und Rollenbilder. Die letzten zehn Einheiten lasen wir nie. Das einzige Buch, das wir gemeinsam (fast) bis zum Ende gelesen haben, enthielt gesammelten Poetry Slam. Das Ehebuch lag unterdessen auf dem Couchtisch und starrte uns vorwurfsvoll an, weil wir offenbar keinen stabilen Grundstein für unsere Beziehung legen wollten.

Viele Ratschläge

Ich kam mit neuen Büchern und Seminarangeboten nach Hause. Mein Angetrauter verdrehte die Augen. Zurecht. Er konterte mit einer Auswahl von Restaurants, in die er mich für ein Ehedate entführen wollte. Ich seufzte, weil in mir ein kleiner grummeliger Zwerg mit Kontrollzwang wohnte, der es überhaupt nicht leiden konnte, wenn jemand anderes sein Essen kochte. Freunde erzählten mir, wie sie in ihre Beziehung investierten. Welche Rituale sie bewusst in ihren Alltag einflochten. Wie sie das gemeinsame Gebet jeden Abend durch persönliche Probleme trug. Wie dieses oder jenes Kommunikationsseminar die Weichen für ihre gemeinsame Zukunft gestellt hatte. Und ich seufzte wieder und schämte mich ein bisschen.

Bedienungsanleitung falsch verstanden

Zu Beginn unserer Ehe war ich mir sicher: Wir hatten etwas an der Bedienungsanleitung für unsere Ehe falsch verstanden. Wie konnte all das, was uns stark machen sollte, all das, was eine Partnerschaft bereichern sollte, sich so verkehrt anfühlen? So furchtbar verkrampft? Würde unsere Ehe es ohne all die Investitionen und die wohlgepflegten Rituale durch die Abgründe schaffen, die sich im Leben manchmal so plötzlich auftun?

Augenringe bis zum Boden

Der erste Abgrund kam schneller als gedacht. Schwerfällig stapften wir durch den unerwartet tiefen Sumpf frisch gebackener Elternschaft: durchwachte Nächte und völlige Fremdbestimmung. Mein Mann machte sein Examen und startete ins Referendariat. Wir bekamen ein zweites Kind. Tageweise entlud sich all die Anspannung in erbitterten Kämpfen, die wir abends auf dem Sofa ausfochten. Tagsüber waren wir zwei abgeschaffte, zerzauste Menschen mit hängenden Schultern und Augenringen bis zum Boden, die um alles in der Welt versuchten, ihre Kinder nicht anzuschreien.

Zwei Freunde

In dieser Zeit waren wir vor allem eins: Freunde. Zwei Freunde, die sich hin und wieder auf die Schultern klopften. Zwei Freunde, die beschlossen hatten, gemeinsam durch die guten und die schlechten Zeiten zu gehen. Und das taten wir. Ein heimlicher Beobachter hätte vielleicht diagnostiziert, dass wir nebeneinander her lebten, so still, wie wir unserer Wege gingen. Aus unserer Perspektive aber sah alles ganz anders aus. Ausgelaugt und verzweifelt klammerten wir uns wortlos an den einzigen anderen Menschen, der mit im Boot saß. Abends trafen wir uns auf der Couch zu unserer Lieblingskrimiserie. Ich schlief auf der Couch ein. Er weckte mich und schickte mich ins Bett. Und am nächsten Morgen standen wir wieder auf und stellten uns gemeinsam dem Chaos, das unser Leben geworden war. Jeder an seiner Front.

Sonntage in der Notaufnahme

Von allen Seiten schien man uns zuzuschmettern, dass wir um alles in der Welt nicht „nur“ Eltern sein dürften. Wir hörten uns schlotternd die Warnungen an. Was würde mit uns passieren, wenn die Kinder eines Tages auszögen? Das Ende war wohl vorprogrammiert. Wir zitterten. Kurz. Dann wechselten wir wieder Windeln, machten die Nächte durch, gingen arbeiten und verbrachten unzählige Sonntage mit einem fiebernden Kind in der Notaufnahme.

Immer noch ein Team

Und eines Tages blickten wir über die Schultern und stellten fest, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten. Wir blickten an uns herab und stellten fest, dass wir uns immer noch an den Händen hielten. Irgendwann in dieser Zeit kam der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns nicht mehr zu dem Paar entwickeln würden, das in meinem Kopf wohnte. Wir waren anders, als ich gedacht hatte. Wir konnten einander immer noch zum Lachen bringen. Wir bewunderten einander immer noch für den Umgang mit unseren Kindern. Wir arbeiteten immer noch als Team. Und wir lernten zu schätzen, was wir miteinander hatten, statt uns krampfhaft in eine Form zu pressen, in die wir nicht passten.

Nur überleben

Zeiten des Ausnahmezustands sind keine glorreichen Zeiten. Egal, ob wir ein neues Familienmitglied durch die ersten Monate begleiten, ein Elternteil pflegebedürftig wird oder eine Krankheit die Familie durchschüttelt – es gibt Zeiten, in denen wir nur überleben. Es gibt Zeiten, in denen unsere Ehe nur überlebt. Aber zu wissen, dass der Mann an meiner Seite versprochen hat, mich auch noch morgen zu lieben, egal, wie müde und elend ich heute durch die Wohnung geschlurft bin – das ist eins der größten Geschenke in meinem Leben.

Trotz allem

Es sind Zeiten wie diese, in denen ich den Wert von Treue schätzen gelernt habe. Von Zuverlässigkeit. Und Freundschaft. Es sind Zeiten wie diese, in denen ich gelernt habe, dass Liebe etwas anderes ist als die Summe der schönen gemeinsamen Stunden. Denn wie mein Mann in dieser Zeit zu seiner müden Frau gehalten hat, das erklärt meinem Herz etwas darüber, wie treu auch Gott ist. Wie zuverlässig. In einer Zeit, in der auch mein Glaube nur knapp überlebte, gab es keine deutlichere Botschaft, als jeden Morgen aufzuwachen und meinen Mann neben mir zu finden. Immer noch. Trotz allem.

Alle suchen den idealen Partner

In dem Buch „Ehe“, das der US-amerikanische Pastor Timothy Keller 2011 gemeinsam mit seiner Frau Kathy veröffentlichte, beschreibt er einen Wandel im Verständnis von Ehe. „Früher ging es in der Ehe um uns, jetzt geht es um mich.“ Vergangene Jahrhunderte haben die Ehe als ökonomische und soziale Institution begriffen. Heute tritt der verständliche Wunsch nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund, wenn es um die Erwartungen an eine Beziehung geht. In einer von Keller zitierten Studie suchen die befragten Singles vor allem nach Partnern, für die sie sich nicht ändern müssen. Sie suchen „den idealen Partner, einen Menschen, der glücklich, gesund, interessant und mit dem Leben zufrieden ist. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es eine Gesellschaft gegeben, die so voller Menschen war, die alle den idealen Partner suchten.“

Der Prinz auf dem weißen Pferd

In einer Zeit, in der die Geschichte vom Prinzen auf seinem weißen Pferd in allen Schattierungen von Hollywood ausgeschlachtet worden ist, drängt sich die Überlegung auf, ob das Warten auf den idealen Partner, den „Seelenverwandten“, nicht alles leichter gemacht hätte. Meist kann ich diese Frage nach einigem Gedankenwälzen unter „Selbstoptimierung“ verstauen. In meinem Leben nimmt sie einen ähnlichen Stellenwert ein wie die Frage, ob regenbogenfarbene Haare mein Leben besser – weil bunter – machen würden. Etwa fünf Minuten lang erscheint sie wirklich dringend. Dann rastet mein Fünfjähriger aus, weil die Nudeln alle sind und ich blicke in das tiefenentspannte Gesicht meines Mannes und weiß wieder, dass ich hier richtig bin. Aber die Frage nach dem idealen Partner ist nicht für jeden so eindeutig zu lösen wie für mich. Und manchmal scheint es so, als ob wir, wenn wir an der Optimierung unserer Partnerwahl scheitern – und das tun wir immer, egal wie gründlich wir suchen – mit der Optimierung unserer Beziehungen weitermachen.

Gegen den Optimierungswahn

Wie wir mit Ehe umgehen, erinnert mich manchmal an meinen Pinterest-Account. Ständig werden mir Bilder von perfekten Lösungen für meine Wohnprobleme vorgeschlagen. Aber Paare lassen sich viel schwerer optimieren als Wohnzimmer. Paare sind zwei komplexe Menschen mit vielen Jahren Leben im Gepäck und jeder hat einen Reisekoffer voller rumpelnder Gedanken, den er hinter sich herzieht.

Ich durfte zu der liebevollen Erkenntnis kommen, dass es ok ist, nicht das Paar zu sein, das ständig investiert und optimiert. Dass es sogar ok ist, ein paar Wochen lang das Paar zu sein, das sich abends anschreit, wenn uns das am Ende einen Schritt weiterbringt. Es kann sich vollkommen richtig anfühlen, Eheratgeber zu lesen und gemeinsam Seminare zu besuchen. Aber es gibt tausend andere Möglichkeiten, eine Ehe zu einem guten Ort für beide Partner zu machen. Für uns ist es tausendundein Gespräch, das wir den Tag über zwischen Tür und Angel führen. Es sind die Insider, die nur wir verstehen. Der gelegentliche kinderfreie Nachmittag mit einem heimlichen Eis. Und dann gibt es die schlechten Zeiten. Die, in denen wir auf dem Zahnfleisch gehen. Manchmal reicht es dann, wenn der andere über deinen schrägen Witz lacht. Wenn einer weiß, wie du deinen Kaffee trinkst. Wenn du mit deinem besten Freund unter einem Dach wohnst und irgendwie versuchst, das Lebenschaos zu managen. Ja, wirklich, es gibt Zeiten, da reicht Freundschaft voll und ganz. Vergiss nur nicht, ab und zu auf die starke Schulter neben dir zu klopfen.

Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Vor einigen Monaten ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).

Freundschaft in Wüstenzeiten

Jennifer Zimmermann hatte immer mit einem Idealbild von der christlichen Ehe zu kämpfen. Mittlerweile hat sie gemerkt: Eine Ehe lässt sich nicht so leicht optimieren und die Freundschaft zu ihrem Mann trägt auch durch Wüstenzeiten.

Man sollte es gleich zu Anfang wissen: Wir sind kein Vorzeigepaar. Ich sehe uns heute noch in unserer ersten Wohnung am Frankfurter Westbahnhof sitzen. Draußen donnerten die Güterzüge und drinnen las ich mit roten Ohren das Kapitel über Sex aus unserem Eheandachtsbuch vor. Zehn von zwanzig Kapiteln lang übten wir uns in größtmöglicher Offenheit, wälzten Vorstellungen über Geld und Rollenbilder, endeten in abwechselndem Gebetsgestotter. Die letzten zehn Andachten lasen wir nie. Das einzige Buch, das wir gemeinsam (fast) bis zum Ende gelesen haben, enthielt gesammelten Poetry Slam. Ohne Gebetsaufforderungen. Das Andachtsbuch lag unterdessen auf dem Couchtisch und starrte uns vorwurfsvoll an, weil wir offenbar keinen stabilen Grundstein für unsere Ehe legen wollten.

Ich kam mit neuen Büchern und Seminarangeboten nach Hause. Mein Angetrauter verdrehte die Augen. Zurecht. Er konterte mit einer Auswahl von Restaurants, in die er mich für ein Ehedate entführen wollte. Ich seufzte, weil in mir ein kleiner grummeliger Zwerg mit Kontrollzwang wohnte, der es überhaupt nicht leiden konnte, wenn jemand anderes sein Essen kochte. Freunde erzählten mir, wie sie in ihre Beziehung investierten. Welche Rituale sie bewusst in ihren Alltag einflochten. Wie sie das gemeinsame Gebet jeden Abend durch persönliche Probleme trug. Wie dieses oder jenes Kommunikationsseminar die Weichen für ihre gemeinsame Zukunft gestellt hatte. Und ich seufzte wieder und schämte mich ein bisschen.

BEDIENUNGSANLEITUNG FALSCH VERSTANDEN

Zu Beginn unserer Ehe war ich mir sicher: Wir hatten etwas an der Bedienungsanleitung für unsere Ehe falsch verstanden. Wie konnte all das, was uns stark machen sollte, all das, was eine Partnerschaft bereichern sollte, sich so verkehrt anfühlen? So furchtbar verkrampft? Würde unsere Ehe es ohne all die Investitionen, die wohlgepflegten Rituale und die gemeinsamen Gebete durch die Abgründe schaffen, die sich im Leben manchmal so plötzlich auftun?

Der erste Abgrund kam schneller als gedacht. Schwerfällig stapften wir durch den unerwartet tiefen Sumpf frisch gebackener Elternschaft: durchwachte Nächte und völlige Fremdbestimmung. Mein Mann machte sein Examen und startete ins Referendariat. Wir bekamen ein zweites Kind. Tageweise entlud sich all die Anspannung in erbitterten Kämpfen, die wir abends auf dem Sofa ausfochten. Tagsüber waren wir zwei abgeschaffte, zerzauste Menschen mit hängenden Schultern und Augenringen bis zum Boden, die um alles in der Welt versuchten, ihre Kinder nicht anzuschreien.

In dieser Zeit waren wir vor allem eins: Freunde. Zwei Freunde, die sich hin und wieder auf die Schultern klopften. Zwei Freunde, die beschlossen hatten, gemeinsam durch die guten und die schlechten Zeiten zu gehen. Und das taten wir. Ein heimlicher Beobachter hätte vielleicht diagnostiziert, dass wir nebeneinander her lebten, so still, wie wir unserer Wege gingen. Aus unserer Perspektive aber sah alles ganz anders aus. Ausgelaugt und verzweifelt klammerten wir uns wortlos an den einzigen anderen Menschen, der mit im Boot saß. Abends trafen wir uns auf der Couch zu unserer Lieblingskrimiserie. Ich schlief auf der Couch ein. Er weckte mich und schickte mich ins Bett. Und am nächsten Morgen standen wir wieder auf und stellten uns gemeinsam dem Chaos, das unser Leben geworden war. Jeder an seiner Front.

Von allen Seiten schien man uns zuzuschmettern, dass wir um alles in der Welt nicht „nur“ Eltern sein dürften. Wir hörten uns schlotternd die Warnungen an. Was würde mit uns passieren, wenn die Kinder eines Tages auszögen? Das Ende war wohl vorprogrammiert. Wir zitterten. Kurz. Dann wechselten wir wieder Windeln, machten die Nächte durch, gingen arbeiten und verbrachten unzählige Sonntage mit einem fiebernden Kind in der Notaufnahme.

IMMER NOCH EIN TEAM

Und eines Tages blickten wir über die Schultern und stellten fest, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten. Wir blickten an uns herab und stellten fest, dass wir uns immer noch an den Händen hielten. Irgendwann in dieser Zeit kam der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns nicht mehr zu dem „guten christlichen Paar“ entwickeln würden, das in meinem Kopf wohnte. Wir waren anders, als ich gedacht hatte. Wir konnten einander immer noch zum Lachen bringen. Wir bewunderten einander immer noch für den Umgang mit unseren Kindern. Wir arbeiteten immer noch als Team. Und wir lernten zu schätzen, was wir miteinander hatten, statt uns krampfhaft in eine Form zu pressen, in die wir nicht passten.

Zeiten des Ausnahmezustands sind keine glorreichen Zeiten. Egal, ob wir ein neues Familienmitglied durch die ersten Monate begleiten, ein Elternteil pflegebedürftig wird oder eine Krankheit die Familie durchschüttelt – es gibt Zeiten, in denen wir nur überleben. Es gibt Zeiten, in denen unsere Ehe nur überlebt. Aber zu wissen, dass der Mann an meiner Seite versprochen hat, mich auch noch morgen zu lieben, egal, wie müde und elend ich heute durch die Wohnung geschlurft bin – das ist eins der größten Geschenke in meinem Leben.

Es sind Zeiten wie diese, in denen ich den Wert von Treue schätzen gelernt habe. Von Zuverlässigkeit. Und Freundschaft. Es sind Zeiten wie diese, in denen ich gelernt habe, dass Liebe etwas anderes ist als die Summe der schönen gemeinsamen Stunden. Denn wie mein Mann in dieser Zeit zu seiner müden Frau gehalten hat, das erklärt meinem Herz etwas darüber, wie treu auch Gott ist. Wie zuverlässig. In einer Zeit, in der auch mein Glaube nur knapp überlebte, gab es keine deutlichere Botschaft, als jeden Morgen aufzuwachen und meinen Mann neben mir zu finden. Immer noch. Trotz allem.

DER PRINZ AUF DEM WEISSEN PFERD

In dem Buch „Ehe“, das der US-amerikanische Pastor Timothy Keller 2011 gemeinsam mit seiner Frau Kathy veröffentlichte, beschreibt er einen Wandel im Verständnis von Ehe. „Früher ging es in der Ehe um uns, jetzt geht es um mich.“ Vergangene Jahrhunderte haben die Ehe als ökonomische und soziale Institution begriffen. Heute tritt der verständliche Wunsch nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund, wenn es um die Erwartungen an eine Beziehung geht. In einer von Keller zitierten Studie suchen die befragten Singles vor allem nach Partnern, für die sie sich nicht ändern müssen. Sie suchen „den idealen Partner, einen Menschen, der glücklich, gesund, interessant und mit dem Leben zufrieden ist. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es eine Gesellschaft gegeben, die so voller Menschen war, die alle den idealen Partner suchten.“

In einer Zeit, in der die Geschichte vom Prinzen auf seinem weißen Pferd in allen Schattierungen von Hollywood ausgeschlachtet worden ist, drängt sich die Überlegung auf, ob das Warten auf den idealen Partner, den „Seelenverwandten“, nicht alles leichter gemacht hätte. Meist kann ich diese Frage nach einigem Gedankenwälzen unter „Selbstoptimierung“ verstauen. In meinem Leben nimmt sie einen ähnlichen Stellenwert ein wie die Frage, ob regenbogenfarbene Haare mein Leben besser – weil bunter – machen würden. Etwa fünf Minuten lang erscheint sie wirklich dringend. Dann rastet mein Fünfjähriger aus, weil die Nudeln alle sind und ich blicke in das tiefenentspannte Gesicht meines Mannes und weiß wieder, dass ich hier richtig bin. Aber die Frage nach dem idealen Partner ist nicht für jeden so eindeutig zu lösen wie für mich. Und manchmal scheint es so, als ob wir, wenn wir an der Optimierung unserer Partnerwahl scheitern – und das tun wir immer, egal wie gründlich wir suchen – mit der Optimierung unserer Beziehungen weitermachen.

GEGEN DEN OPTIMIERUNGSWAHN

Wie wir mit Ehe umgehen, erinnert mich manchmal an meinen Pinterest-Account. Ständig werden mir Bilder von perfekten Lösungen für meine Wohnprobleme vorgeschlagen. Aber Paare lassen sich viel schwerer optimieren als Wohnzimmer. Paare sind zwei komplexe Gotteskinder mit vielen Jahren Leben im Gepäck und jeder hat einen Reisekoffer voller rumpelnder Gedanken, den er hinter sich herzieht. Wenn irgendwer vor Selbstoptimierung Halt machen sollte – sei sie körperlicher, psychischer oder geistiger Natur – dann sollten wir Christen es sein, die wir an einen Gott glauben, der die Machtverhältnisse der Welt einfach auf den Kopf stellt und die Letzten zu Ersten erklärt. Es gibt niemanden auf dieser Welt, der mit mir so geduldig ist wie er. Und wenn es Ecken und Kanten in unserer Beziehung gibt, dann hat er Zeit genug, sie rund zu lieben. Oder uns beizubringen, wie wir sie lieben lernen.

Ich durfte zu der liebevollen Erkenntnis kommen, dass es ok ist, nicht das Paar zu sein, das ständig investiert und optimiert. Dass es sogar ok ist, ein paar Wochen lang das Paar zu sein, das sich abends anschreit, wenn uns das am Ende einen Schritt weiterbringt. Es kann sich vollkommen richtig anfühlen, Andachtsbücher zu lesen und gemeinsam Seminare zu besuchen. Aber es gibt tausend andere Möglichkeiten, eine Ehe zu einem guten Ort für beide Partner zu machen. Für uns ist es tausendundein Gespräch, das wir den Tag über zwischen Tür und Angel führen. Es sind die Insider, die nur wir verstehen. Der gelegentliche kinderfreie Nachmittag mit einem heimlichen Eis. Und dann gibt es die schlechten Zeiten. Die, in denen wir auf dem Zahnfleisch gehen. Manchmal reicht es dann, wenn der andere über deinen schrägen Witz lacht. Wenn einer weiß, wie du deinen Kaffee trinkst. Wenn du mit deinem besten Freund unter einem Dach wohnst und irgendwie versuchst, das Lebenschaos zu managen. Ja, wirklich, es gibt Zeiten, da reicht Freundschaft voll und ganz. Vergiss nur nicht, ab und zu auf die starke Schulter neben dir zu klopfen.

Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Vor einigen Monaten ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).

Immer nur zu Hause

„Mein Sohn geht, außer zur Schule, nie weg und ist fast immer nur zu Hause. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt Freunde hat. Müssen wir uns Sorgen machen, dass er vereinsamt?“

Prinzipiell sind wir Menschen auf Beziehungen angelegt. Von Anfang an gehen Kinder in Kontakt mit anderen Menschen – zuerst mit den Eltern und dann mehr und mehr mit Gleichaltrigen, mit denen sie Freundschaften aufbauen. Gerade im Jugendalter, wenn sie sich von den Eltern lösen, spielen Freunde eine wichtige Rolle – sie geben Anerkennung, stiften Identität und sind Ansprechpartner bei Problemen.

INTROVERTIERTE KINDER BRAUCHEN RUHE

Vor diesem Hintergrund ist es schon berechtigt, dass Sie sich Sorgen machen, wenn Ihr Sohn außerhalb der Schule keinerlei Kontakte pflegt. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob er schon immer ein eher introvertiertes Kind war, für das Freundschaften nicht so bedeutsam sind. Solche Kinder gibt es. Es sind die Kinder, die vielleicht schon in der Kindergartenzeit weniger Lust auf Gruppenspiele und gemeinsame Aktionen hatten und lieber für sich allein herumtüftelten. Auch in der Schulzeit sind für sie weniger die anderen Kinder im Fokus, sondern das Gespräch mit den Lehrern und die spannenden Sachthemen. Sind Kinder grundlegend eher so veranlagt, sind sie mit ein, zwei Freunden glücklich und zufrieden.

Wenn Sie Ihren Sohn diesem Charaktertyp zuordnen können, er einen ausgeglichenen Eindruck macht und die Zeit zu Hause positiv gestaltet, dann können Sie gelassen sein. Vielleicht ist sein Bedürfnis nach einem anstrengenden Schultag einfach nur Ruhe. Gleichzeitig würde ich aber auch empfehlen, Ihren Sohn ohne Druck immer wieder mal zu motivieren, wenige Kontakte zu pflegen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob er in der Schule wirklich gar keine Freunde hat. Fragen Sie ruhig vorsichtig nach, wenn ihr Sohn nicht viel erzählt. Außerdem wäre es sinnvoll, die Lehrer um ein Gespräch zu bitten, damit Sie eine Einschätzung bekommen, wie es ihm im Schulalltag ergeht und welche Kontakte er hat.

HAT SICH IHR KIND VERÄNDERT?

Mehr Grund zur Sorge besteht, wenn ihr Sohn sich in der letzten Zeit verändert hat. Gab es vorher Freundschaften und Aktivitäten am Nachmittag, die er aufgegeben hat? Welchen Eindruck haben Sie insgesamt von Ihrem Sohn? Wirkt er zufrieden oder könnte ihn etwas beschäftigen? Wie verbringt er die Nachmittage zu Hause? Welche Rolle spielt der Medienkonsum? Wenn aus Ihrem kontaktfreudigen und aktiven Sohn ein Stubenhocker geworden ist, der sich mehr und mehr zurückzieht, besteht tatsächlich Handlungsbedarf.

Auf der einen Seite kann es sein, dass ihm „nur“ die Herausforderungen der Pubertät zu schaffen machen und er deswegen viel mit sich selbst beschäftigt ist. Dann kann schon das eine oder andere vertrauensvolle Gespräch hilfreich sein. Auf der anderen Seite können aber auch schwerwiegende Probleme dahinterstehen wie Mobbing, Missbrauchserfahrungen, Streit unter Freunden oder Ähnliches. Dann braucht Ihr Sohn Hilfe. Sollte sich die Situation schon so zugespitzt haben, dass Sie als Eltern an Ihren Sohn nicht mehr herankommen, ist eine professionelle Unterstützung unbedingt ratsam.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F. www.sonja-brocksieper.de Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Motorradunfall in Peru: „Ich habe meine Tochter verloren, aber nicht meinen Glauben.“

Vor einem Jahr starb Lara Barthel während eines Auslandsaufenthaltes. Ihre Mutter Anja schreibt darüber, wie sie diese schreckliche Zeit durchgestanden und was ihr geholfen hat.

Im Sommer 2018 empfinde ich eine ganz neue, ungewohnte Leichtigkeit. Meine Kinder sind jetzt 13, 17 und 18 Jahre alt. Im September möchte ich eine Ausbildung zur PTA beginnen, nachdem ich mich 18 Jahre lang außer Minijobs fast ausschließlich um Kinder und Haushalt gekümmert habe.

Alles ist gut

Ich bin stolz auf Lara, unsere älteste Tochter, die nun ihr Abitur, ihren Führerschein, große Lust auf das Leben und eine Menge Pläne hat. Am 23. August bringen wir sie zum Flughafen. Sie möchte für ein Jahr in einem Projektzentrum in Peru arbeiten. Dafür hat sie extra Spanisch gelernt. Sie wird sich dort für die Rechte der indianischen Völker, sozial benachteiligte Kinder und den nachhaltigen Umgang mit der Natur einsetzen und ist voller Vorfreude und Tatendrang. Lara kommt gut in Peru an, lebt sich prima in ihrer neuen Umgebung ein, hat weder Heimweh noch sonstige Schwierigkeiten. Sie meldet sich selten, schickt kaum Fotos, und ich möchte ihr nicht mit meiner Anhänglichkeit auf die Nerven gehen. Am 19. September, sie ist inzwischen seit vier Wochen in Peru, ruft sie mich zum ersten Mal per Videoanruf an. Auch ihre Geschwister sind da, und wir können über eine Stunde mit ihr sprechen. Es geht ihr ausgesprochen gut. Darüber bin ich sehr glücklich. Das Leben erscheint mir spannend und unbeschwert. Doch es sollte das letzte Mal sein, dass wir miteinander sprechen können.

Polizisten vor der Tür

Zwei Tage später ist es mit dieser Unbeschwertheit vorbei. Um 23:45 Uhr klingelt es an der Haustür. Mein Mann ist in Rom auf Klassenfahrt, die beiden Kinder schlafen schon. Ich öffne das Fenster und sehe zwei Polizisten. Im ersten Moment denke ich, dass ich falsch geparkt oder aus Versehen ein Auto angefahren habe. Sie fragen, ob ich Frau Anja Barthel sei und ob sie hereinkommen können.

Mir wird etwas komisch, aber noch befürchte ich nichts wirklich Schlimmes. Als sie im Hausflur stehen, fragen sie mich, ob ich eine Tochter namens Lara habe, die in Peru arbeitet. Vielleicht wurden bei Lara Drogen entdeckt, denke ich. Oder es gibt politische Unruhen. Aber mein Herz klopft schon gewaltig, und ich bekomme Angst. Dann sagen sie den fürchterlichen Satz, den ich nur aus Filmen kenne: „Wir haben eine traurige Nachricht für Sie …“ Es fängt in meinen Ohren an zu rauschen, meine Knie werden weich, ich hebe abwehrend die Hände und sage immer wieder „Nein, nein, nein …“ Ich weiß, was jetzt kommt. Nun weiß ich es sicher. Und da sagt der Polizist: „Ihre Tochter Lara hatte einen Motorradunfall. Sie ist tot.“

Im Schockzustand

Alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich versuche, meine Augen aufzureißen, weil ich glaube, mich in einem Alptraum zu befinden. Ich fühle mich wie gelähmt und stumm. Ich kann mich nicht erinnern, was dann geschieht. Irgendwann sitzen meine Schwiegereltern bei uns im Wohnzimmer. Sie erscheinen mir um Jahre gealtert. Irgendwann kommen Nachbarn rüber, dann meine Freundin. Sie bleibt die ganze Nacht bei mir. Ich bin in einem absoluten Schockzustand. Die folgende Nacht ist die schlimmste meines Lebens. Ich schlafe nicht eine einzige Minute. Irgendwie erzähle ich es den anderen beiden Kindern. Ganz schonungslos.

Endlose Traurigkeit

Die folgenden Tage erlebe ich wie in Trance. Das Haus füllt sich, es kommen Freunde und Familie. Man stellt mir Essen und Trinken hin, sagt, ich solle schlafen. Aber ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht essen. Ich kann nicht denken. Als mein Mann am Samstagmittag von der Klassenfahrt nach Hause kommt, wirft er sich auf den Boden und weint laut. Wir liegen uns mit den Kindern in den Armen und fallen in eine endlose Traurigkeit und Verzweiflung. Ich bin noch zu erstarrt, um richtig zu weinen. Man bringt mir Beruhigungsmittel, aber ich will sie nicht nehmen. Ich will alles, was jetzt kommt, ganz genau spüren, auch wenn es noch so weh tut.

Motorradunfall

Die ersten Tage übernehmen enge Freunde und Nachbarn Telefonate mit Versicherungen, Botschaft und Beerdigungsinstitut. Ich schaffe es auch nicht, entfernt wohnende Angehörige und Freunde über Laras Tod zu informieren. Meine Familie aus Süddeutschland trifft ein und kümmert sich. Mein Schwager findet über Facebook ein Video, in welchem von einem peruanischen Radiosender über den Unfall in Villa Rica berichtet wird. Lara befand sich als Beifahrerin auf einem Motorrad. Wegen eines entgegenkommenden LKWs wich die Fahrerin aus, wobei Lara gegen den LKW geschleudert wurde. Durch den Aufprall erlitt sie einen Genickbruch. Sie war sofort tot. Die Fahrerin überlebte schwerverletzt.

Ich sehe den riesigen LKW auf dem Bildschirm des Laptops, und ich sehe mein totes Kind auf der Straße liegen. Es ist furchtbar. Viele Menschen stehen dort herum, und mitten auf der Straße liegt mein Kind. Tot. Und ich kann nicht bei ihr sein. Wie soll ein Mensch das ertragen?

Zum allerletzten Mal

Die folgenden Tage lebe ich darauf hin, Lara noch einmal wiedersehen zu können. Am Abend des 2. Oktober kommt Laras Körper bei unserem Bestatter an. Wir wollen sie gern selbst ankleiden und in den Sarg betten. Doch nachdem der Bestatter den Zinksarg geöffnet hat, kommt er persönlich bei uns zu Hause vorbei und rät uns davon ab, Lara noch einmal zu sehen. Sie ist nun schon zwölf Tage tot, musste quer über die Anden transportiert werden und durch den Genickbruch und die anderen Verletzungen sei ihr Körper nicht in einem Zustand, den man uns zumuten möchte. Aber ich muss mein Kind sehen, um ihren Tod zu begreifen! Es ist mir egal, wie Lara aussieht. Wir einigen uns darauf, dass die Bestatter Lara ankleiden und sie so herrichten, dass wir uns am nächsten Tag von ihr verabschieden können.

Lara ist längt fort

Als ich Lara im Sarg liegen sehe, erkenne ich sie nicht wieder. Sie sieht nicht schlimm aus, nur ganz anders. Wir haben drei Tage hintereinander viel Zeit, um uns von ihr zu verabschieden. Ich kann sie sehen und anfassen und begreife, dass das der Körper meines Kindes ist. Aber Lara ist längst fort. Ich erkenne ihre Hände, ihr Muttermal am Bauch, ihre Augenbrauen. Aber ihr Körper ist mir fremd. Ich streichle über ihre wunderschönen, blonden Haare, ihr Gesicht. Es ist kaum etwas „kaputt“ an ihrem Körper, sie hat nur ein paar Schürfwunden und eine Verletzung am Ohr. Sie ist eiskalt. Alles an ihr ist schwer. Ich bin froh, dass ich mich so von ihr verabschieden kann, ihr noch mal nah sein kann. Dass ich sie noch mal berühren kann. Zum allerletzten Mal.

Und gleichzeitig ist so offensichtlich, dass Lara schon längst nicht mehr in diesem Körper ist, dass sie längst woanders ist, an einem schöneren Ort. Ich spüre, dass es ihr dort gut geht. Es wird mir nicht so schwerfallen, diese Hülle von ihr zu beerdigen. Die Vorstellung, mein Kind in die dunkle, kalte Erde hinunterzulassen, erschien mir zuvor unerträglich. Ich dachte, die Beerdigung könnte ich nicht überstehen. Doch nun weiß ich, dass ich es schaffen werde.

Ort des Trostes

Die nächsten Tage sind ausgefüllt mit den Vorbereitungen für die Beerdigung und den Abschiedsgottesdienst. Am Tag der Beerdigung bin ich ganz ruhig. Und ich bin überwältigt, als ich die vielen Menschen – etwa 500 – wahrnehme, die gekommen sind, um Lara auf ihrem letzten Weg zu begleiten.

Während des Abschiedsgottesdienstes vergieße ich keine einzige Träne. Danach wird Laras Sarg zu uns nach Hause gebracht. Von dort wird er von engen Freunden und Verwandten zum Friedhof getragen. Als der Sarg in die Erde hinuntergelassen wird, werde ich mir zum ersten Mal dieser Endgültigkeit bewusst. Der Schmerz ist kaum zu ertragen. Lara ist tot. Nie wieder wird sie zu uns nach Hause zurückkehren. Wir müssen uns nun von ihr verabschieden. Für immer.

Wir werden es gemeinsam durchstehen

Wir werfen Blütenblätter und Physalis hinunter auf ihren Sarg. Mein Mann, Mila, Silas und ich. Dann gehen wir zur Seite und bleiben neben Laras Grab stehen. Viele Menschen kommen zu uns, nehmen uns in den Arm und wünschen uns viel Kraft, diesen schweren Verlust zu überstehen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das durchstehen würde. Aber nun fühle ich mich getröstet. Jede einzelne Umarmung gibt uns Trost und Kraft, und ich bin zuversichtlich, auch wenn wir das Schlimmste erfahren müssen, was Eltern passieren kann: Wir werden es gemeinsam durchstehen.

Bei uns zu Hause hat die gesamte Nachbarschaft ein Zusammenkommen organisiert. Dort stehen Pavillons vor dem Haus, Tische und Bänke. Es gibt reichlich Essen und Trinken, und es sieht alles schön und einladend aus. Die Sonne wärmt uns mit ihren letzten, herbstlichen Sonnenstrahlen. Man meint, sie hätte ihre allerletzten Kräfte genau für diesen Tag aufgespart, um uns in unserer Trauer und unserem Schmerz zu wärmen. Es wird viel geredet und viel geweint. Und trotz all dieses ungeheuerlichen Schmerzes und der endlosen Trauer empfinden wir unser Zuhause mit all den nahestehenden Menschen und dieser liebevollen Nachbarschaft als einen Ort des Trostes und der Hoffnung.

Erinnerungen teilen

Was mir sehr geholfen hat, ist ein Buch von Roland Kachler („Meine Trauer wird dich finden“), der selbst einen Sohn durch einen Unfall verloren hat. Es erleichterte mich zu lesen, dass die Liebe niemals aufhört und ich weiter eine Beziehung zu Lara haben kann. Und so zweifle ich nicht mehr an meinen Gefühlen, sondern lasse sie zu, weil sie richtig sind. Außerdem hilft mir meine Familie, für die es sich lohnt, weiterzumachen. Ich habe noch zwei Kinder, die ich liebe und die mich brauchen. Und einen Mann, der mich liebt und den ich liebe. Außerdem freue ich mich über meine kleine Nichte Lina, die im Dezember geboren wurde und die zum Gedenken an unsere Tochter mit zweitem Namen Lara heißt.

Was mich trägt, ist die Hoffnung, dass wir Lara eines Tages wiedersehen. Ich habe meinen Glauben an Gott nicht verloren. Ich weiß nicht, warum Gott den Unfall nicht verhindert hat, aber ich vertraue ihm, dass er weiter für uns sorgt. Wenn alles nur glatt liefe auf dieser Welt, dann würde Gott uns nur wie Marionetten in einem Puppenspiel unsere Rollen spielen lassen. Ich habe mich für Gott entschieden, und ohne diese Entscheidung und ohne die Hoffnung, Lara wiederzusehen, könnte ich nicht weiterleben.

Menschen sind da

Was mich tröstet, sind all die lieben Menschen, die mich immer wieder anrufen und besuchen, die uns Mittagessen oder Kuchen vorbeibringen, die uns auf der Straße ansprechen und uns nicht aus dem Weg gehen. Die Verkäuferin aus dem Bioladen, die mich einfach in den Arm nimmt. Die Kieferorthopädin meiner Kinder, die mit einem Blumenstrauß vor unserer Tür steht und mir zum 42. Geburtstag gratuliert, den ich vergessen habe. Die Freundinnen von Lara, die mir so viel Schönes von Lara erzählen, was ich noch nicht wusste. Meine Nachbarin, die mir täglich eine Nachricht schreibt und mich mit guten Ratschlägen verschont.

Was es etwas leichter macht, ist, dass Lara keine Angst hatte, dass sie sofort tot war und nicht gelitten hat, und dass sie in den letzten Wochen ihres Lebens glücklich war.

An Laras Grab

Was mir gut tut, ist eine gute Balance zwischen Alleinsein und Zusammensein mit Menschen, die mir nahe stehen. Es hilft mir auch, über Lara zu sprechen und mich an schöne Erlebnisse mit ihr zu erinnern, auch wenn es gleichzeitig schmerzt. Ich bin auch gern an Laras Grab und mache dort alles schön. Nahe fühle ich mich Lara dort nicht. Ich kann auch nicht mit ihr reden. Aber ich zeige ihr meine Liebe, indem ich etwas einpflanze und schöne Blumen niederlege. Lara ist in meinem Herzen und überall um mich herum. Im Wind, in der Wärme der Sonne. Bei Gott. Eine konkrete Vorstellung davon habe ich nicht, aber ich habe das Vertrauen, dass es ihr bei Gott gut geht.

Was den Schmerz lindert? Der Schmerz kann durch nichts gelindert werden, er wird mich mein Leben lang begleiten. Ich will ihn auch gar nicht loswerden, weil ich mich durch ihn mit Lara verbunden fühle. Ich glaube nicht, dass ich einmal wieder richtig glücklich werde. Zu viel wurde mir genommen. Ich freue mich über Mila und Silas und meinen Mann und gute Freunde. Aber ich glaube nicht, dass ich jemals wieder tiefes Glück empfinden kann.

Ein besserer Mensch

Was sich verändert hat: Es kamen neue Menschen in unser Leben, und andere sind verschwunden. Zu sehr hat es mich verletzt, dass einige Menschen sich nie wieder gemeldet haben. Kleinigkeiten regen mich nicht mehr auf. Früher habe ich mich ständig geärgert oder aufgeregt, doch nun nehme ich diese Dinge gar nicht mehr wahr. Ich bin langsamer, aufmerksamer, geduldiger, demütiger, nachsichtiger und verständnisvoller geworden. Eigentlich bin ich ein besserer Mensch geworden und finde es tragisch, dass ich dies erst wurde, nachdem ich mein Kind verloren habe.

Was verletzt, sind Menschen, die uns aus dem Weg gehen, als hätten wir eine ansteckende Krankheit, und Leute, die meinen, uns Ratschläge geben zu müssen.

Briefe an Lara

Die Zukunft ist ungewiss. Ich habe zu viel verloren und habe niemals im Leben die Sicherheit, dass nicht noch ein weiterer Verlust folgt. Ich habe Angst. Wenn mein Sohn den Motorradführerschein hat, werde ich immer Angst haben, wenn er unterwegs ist. Aber ich will ihn mit meiner Angst auch nicht behindern, Dinge zu tun, die er gerne tun möchte. Ich habe Angst vor dem Zeitpunkt, an dem auch unsere jüngste Tochter auszieht und ihre eigenen Wege geht. Angst vor Einsamkeit. Aber ich vertraue weiter auf Gott, dass er mich trägt und mir einen Weg zeigt, den ich gehen kann. Meine Ausbildung zur PTA werde ich nicht fortsetzen. Mir fehlt die Kraft dazu. Ich brauche viel Zeit und Ruhe, schlafe und lese viel, und ich schreibe Briefe an Lara und schreibe meine Träume auf. Diese intensive Zeit der Trauer ist wichtig für mich. Ich möchte sie mir nehmen. Mein Mann hat fünf Wochen nach Laras Tod wieder angefangen zu arbeiten. Ihm tut die Ablenkung gut. Die Kinder sind eine Woche nach Laras Tod wieder zur Schule gegangen. Sie wollten das und es tut ihnen gut, eine Tagesstruktur und Aufgaben zu haben.

Die Liebe ist das Wichtigste

Der Glaube an Gott ist wichtig, und das Vertrauen, dass er es gut mit uns meint. Auch wenn wir manches nicht verstehen. Und die Hoffnung ist wichtig. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben, und dass wir Lara eines Tages wiedersehen. Aber die Liebe ist das Wichtigste im Leben. Und das Füreinanderdasein. Das habe ich gelernt.

Für die Liebe lohnt es sich zu leben. Denn sie hört niemals auf. Sie bleibt bis in alle Ewigkeit.

Anja Barthel ist seit 20 Jahren verheiratet und Mutter von drei Kindern. Sie ist gelernte ländliche Hauswirtschafterin, zur Zeit Hausfrau und Mutter und lebt in Velbert.

„Das Kind meiner Freundin haut“

„Der Sohn meiner Freundin schlägt manchmal andere Kinder und Erwachsene – auch mich. Meine Freundin greift aber oft nicht ein. Was kann ich tun?“

Das ist eine heikle Situation. Auf der einen Seite verhält sich das Kind Ihrer Freundin so, dass Sie eingreifen möchten, auf der anderen Seite ist es nicht einfach, in den Verantwortungsbereich einer anderen Mutter einzudringen. Aber Ihr Gefühl, dass man nicht einfach darüber hinwegsehen darf, ist absolut gerechtfertigt.

DAS HAUEN HAT EINEN GRUND

Die Frage, die sich mir als Erstes stellt, ist, warum der Junge andere Kinder schlägt. In der Regel kann man davon ausgehen, dass dieses Hauen nicht einfach nur frech ist, sondern dass ein ungesehenes Bedürfnis oder eine Not dahintersteckt. Vielleicht fühlt sich der Junge mit anderen Kindern gestresst oder ungerecht behandelt? Oder er fühlt sich in einer bestimmten Situation übersehen und erhofft sich mehr Aufmerksamkeit? Nicht selten hat so ein Verhalten auch damit zu tun, dass Kinder selbstbestimmt leben wollen und ihre Gefühle in diesem Alter noch nicht regulieren können, wenn sie an eine Grenze stoßen. Es kann also viele Gründe für solche Reaktionen geben. Deswegen ist es sinnvoll zu überlegen, was die Ursache sein könnte, und sie vorsichtig mit der Mutter zu thematisieren.

Fragen Sie Ihre Freundin auch, warum sie das so laufen lässt. Auch hier können unterschiedliche Gründe vorliegen. Ist es Unsicherheit, Resignation oder Überforderung, unter der sie leidet? Dann ist Ihre Freundin vielleicht sogar dankbar, wenn sie sich austauschen kann und Unterstützung bekommt. Ist es aber Gleichgültigkeit oder eine bewusste Entscheidung für diesen Erziehungsstil, könnte das Gespräch etwas schwieriger oder sogar kontrovers werden. Aber auch dann dürfen Sie klar und liebevoll Ihre Position vertreten und auf den Missstand aufmerksam machen.

EIGENE GRENZEN KLAR FORMULIEREN

Natürlich ist es nie leicht, andere mit Kritik zu konfrontieren. Aber wenn Sie vorrangig von ihren Empfindungen und Sorgen sprechen, könnte das Gespräch zu einer Haltungsänderung führen. Wie sehr Sie sich selbst in diesen Konflikt investieren möchten und können, hängt sicherlich auch von der Intensität Ihrer Freundschaft ab. Je enger der Kontakt ist und je häufiger sich die Problematik aufdrängt, desto wichtiger ist es, eine Lösung zu finden. Doch letztlich müssen wir uns bewusst machen, dass wir andere Menschen nicht ändern können, wenn Sie keine Einsicht haben.

Erleben sie eine konkrete Situation, in der Sie selbst geschlagen werden, ist es angebracht zu reagieren, auch auf die Gefahr hin, dass das zu einem Konflikt mit der Freundin führt. Wenn Ihre Freundin über das Hauen ihres Kindes hinweggeht, können Sie trotzdem Ihre Grenze klar formulieren: „Stopp, ich möchte nicht, dass du mich haust.“ Diese Rückmeldung braucht das Kind unbedingt. Genauso wichtig ist es, andere Kinder, die gehauen werden, zu schützen und den Sohn ihrer Freundin zu begrenzen und aus der Situation zu nehmen. Auch wenn das eigentlich vorrangig die Aufgabe der Mutter wäre, ist es angemessen, sich hier einzumischen, weil es um andere Kinder geht.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F.
www.sonja-brocksieper.de
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Ein Truckerfrühstück für die Freundschaft

Christof Matthias startet später, dafür aber mit voller Kraft in den Arbeitstag.

Eigentlich haben wir beide keine Zeit. Der Terminer ist voll, und einige unerledigte Baustellen verlangen jetzt eher Vollgas als ein freundschaftliches Treffen am Morgen. Zum Glück kann ich meine Arbeitszeit relativ frei einteilen und mein Freund hat die Möglichkeit, auch mal erst um 09.30 zu beginnen, wenn er dafür am Nachmittag länger bleibt. Also setze ich mich nach der üblichen Morgenroutine ins Auto und fahre zehn Kilometer über Land, um mich mit einem Freund zum Frühstücken zu treffen. In dem Café brummt es an dem Morgen wieder. Viele Tische sind bereits besetzt, einige noch frei, aber reserviert. Im hinteren Bereich finden wir noch ein Plätzchen für uns beide. Eine eher gehetzt wirkende Frau bringt uns die Speisekarte. Ich weiß eigentlich schon, was ich will: das Truckerfrühstück – reichlich Rührei und Speck, frisches Brot. Mein Freund braucht etwas länger, entscheidet sich schließlich für das Vitalfrühstück. Na ja, jedem das Seine. Erst jetzt nehme ich eine bequemere Sitzposition ein und frage: „Nun, mein Freund, wie schaut‘s?“ Aus dieser Frage entwickelt sich ein tief gehender, persönlicher Austausch. Wir erfahren voneinander und hören aufeinander. Es geht um die letzte Nacht, Träume, Beruf und Berufung, alte Eltern, Kinder, Enkelkinder, Ehe, Pläne, Visionen – haben wir die noch? Eine geordnete Struktur ist weder angedacht, noch erkennbar. Was interessant erscheint, wird vertieft, bevor ein neuer Gedanke ins Spiel kommt. Ausgemacht haben wir eine gute Stunde. Die ist aber längst vorbei. Nun müssen wir beide unbedingt los. Die Pflichten rufen unüberhörbar. Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung – Männer können reden und wollen es auch. So viele Gelegenheiten, anderen im vertrauten Rahmen von dem zu berichten, was mich beschäftigt und umtreibt, habe ich nicht. Freunde fallen nicht vom Himmel, und Freundschaften müssen gepflegt werden. In einer Gruppe fremder Leute lädt mein Akku nicht. Ich suche und brauche eher das Vertraute. Da, wo ich sein kann, tiefere Töne angeschlagen und Oberflächlichkeiten durchdrungen werden. In der herzhaften, männlichen Umarmung zur Verabschiedung spüre ich noch etwas, das Worte nicht ausdrücken können. Als ich wieder nach Hause komme, weiß meine Frau sofort, dass ich eine gute Zeit hatte. Sie merkt mir an, dass ich aufgetankt habe. Sie hat Recht.

Christof Matthias ist freiberuflicher Supervisor und Regionalleiter von Team.F, Vater von drei leiblichen Söhnen, einem mehrfach behinderten Pflegesohn, zwei Schwiegertöchtern und Opa von zwei Enkeltöchtern.

 

Einen Freund mit 9?

„Meine Tochter (9) hat schon seit der Kindergartenzeit immer wieder einen Freund. Mehr als Händchenhalten und kleine Küsse läuft angeblich nicht. Aber mir fällt es schwer damit umzugehen. Gibt es Tipps, wie ich sie stärken und schützen kann?“

Das ist tatsächlich eine Herausforderung, und ich kann Ihr Gefühl, dass das alles sehr früh ist, nachvollziehen. Jedes Kind kommt als sexuelles Wesen mit Bedürfnissen und Empfindungen zur Welt und durchläuft in seiner Entwicklung einen Prozess, bis die Sexualität im Erwachsenenalter ausgereift ist. Mit etwa vier, fünf Jahren – in der so genannten „genitalen Phase“ – zeigen Kinder vermehrt Interesse an den eigenen Geschlechtsorganen und entdecken die Unterschiede der Geschlechter. So manche Kinder erleben schon im Kindergartenalter ein bisschen Kribbeln im Bauch und Herzklopfen, wenn „er“ oder „sie“ auftaucht. In der Grundschulzeit geht diese Phase in die „Latenzphase“ über, in der sich diese Gefühle wieder verändern. Die meisten Mädchen finden Jungs dann eher doof und umgekehrt.

AUSTAUSCH ANREGEN
Aber nicht alle Kinder sind gleich, und es gibt es auch Kinder, die weiter für ihren Freund oder ihre Freundin schwärmen. Auch wenn Freundschaften zwischen Jungs und Mädchen nicht die Regel sind, sollten sie nicht direkt als unnormal oder falsch eingestuft werden. Verhält sich Ihre Tochter grundsätzlich altersangemessen und erleben Sie keine weiteren Besonderheiten, kann ich Sie beruhigen. Dann sind die Küsschen und das Händchenhalten sicherlich harmlose Freundschaftsbekundungen. Sobald sich die Beziehung aber intensiviert oder Sie weitere Auffälligkeiten Ihrer Tochter wahrnehmen, sollten Sie genauer hinschauen und fachliche Beratung in Anspruch nehmen. Grundsätzlich möchte ich Ihnen Mut machen, einen natürlichen und entspannten Umgang mit ihrer Tochter zu haben. Kinder brauchen altersangemessene Informationen über Liebe, Freundschaft und Sexualität. Da Ihr Kind hier schon ein frühes Interesse zeigt, ist der Austausch absolut notwendig. Hierbei sollten Sie Ihrer Tochter vermitteln, dass Sie ihre Gefühle wertschätzen und dass Sie ihr diese Zuneigung gönnen. Gleichzeitig braucht Ihre Tochter aber auch die Information, dass sich „richtiges Verliebtsein“ später noch ganz anders anfühlen und eine ganz andere Dimension haben wird.

REGELN ABSPRECHEN
Und genau so sollten Sie in diesem Alter auch auf sanfte Art und Weise Einfluss darauf nehmen, wie intensiv diese Freundschaft gestaltet wird. Sprechen Sie als Mutter mit Ihrer Tochter einige Regeln ab. Es ist durchaus angemessen zu formulieren, dass es über das Händchenhalten und Küssen nicht hinausgehen soll. Und begründen Sie das. Es wäre auch ratsam, die Freundschaften zu anderen Freundinnen zu fördern. Geben Sie Ihrem Kind ein gutes Selbstwertgefühl mit auf den Weg, indem Sie als Eltern betonen, dass Ihre Tochter ein wertvolles und hübsches Mädchen ist. Und achten Sie darauf, dass der Liebestank ihres Kindes auf körperlicher und emotionaler Ebene im Elternhaus gefüllt wird. Kinder, die sich zu Hause geliebt fühlen, haben auf jeden Fall einen guten Schutz, sich nicht zu früh in Beziehungen zum anderen Geschlecht zu begeben.

 

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrer Familie in Remscheid, www.sonja-brocksieper.de.

Wenn aus Fremden Freunde werden

Was tun, wenn in der Nachbarschaft ein Asylbewerberheim eröffnet? Ganz einfach: klingeln, Hallo sagen, unglaublich süßen Tee schlürfen. Aber Vorsicht: Am Ende entstehen dabei womöglich Freundschaften! Katrin Faludi und ihre Familie haben das erlebt

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