Überall Spielzeug? Nein Danke!
Spielzeug türmt sich, es ist ständig unaufgeräumt und chaotisch. Madeleine Ramstein hat einen kreativen Weg gefunden, die Spielzeugberge abzubauen.
Meine Kinder lieben es, zu spielen und ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Doch trotz des vielfältigen Angebots an Spielzeugen in unserem Zuhause greifen sie oft zu Dingen, die sie in unserem Haushalt finden: Töpfe, Decken, Stühle … Wenn ein neues Spielzeug seinen Weg zu uns findet, geht es bald in dem Berg an vorhandenen Spielsachen unter. Es ist ein Phänomen, das wohl viele Eltern kennen: Das Interesse an einem Geburtstagsgeschenk verblasst schnell. Und wenige Wochen später findet sich das Spielzeug in einer verstaubten Schublade wieder.
Ich erinnere mich noch lebhaft an die fesselnden Werbespots in meiner Kindheit, welche die neuesten Spielsachen präsentierten: Flugzeuge, bei denen man das Gefühl hatte, wirklich fliegen zu können. Kleine Puppen, die zur Musik tanzten und mich in fremde Welten voller Abenteuer eintauchen ließen. Die Werbung suggerierte, dass ich mich mit genau diesem Spielzeug in eine wunderbare Welt voller Möglichkeiten begeben konnte. Doch die Realität sah oft anders aus: Das Spielzeug konnte dieses Versprechen nicht halten.
Kein Spielzeug und ein schlechtes Gewissen
Ähnliches beobachtete ich bei meinen Kindern: Ihre Spielsachen dienten in erster Linie dazu, den Fußboden zu bevölkern. Meine Kinder schafften es in kürzester Zeit, ein riesiges Chaos zu verursachen. Das anschließende Aufräumen dauerte oft länger als das Spielen selbst. Manchmal herrschte tagelang Unordnung und meine Nerven lagen blank. Als ich schließlich mit unserem dritten Kind schwanger und überfordert von der Spielzeugflut war, entschied ich mich für eine Challenge: Ich packte alle Spielsachen in Schachteln und Kisten und verstaute sie oben in unseren Schränken. Nur ihre Lieblingsstofftiere durften sie behalten. Falls sie gern mit einem bestimmten Spielzeug spielen wollten, würde ich es aus der Kiste hervorholen und ihnen geben. Mir war wichtig, dass sie nur mit den Spielsachen spielten, die sie bewusst verlangten und an die sie sich erinnern konnten. Mein Plan war, nach drei Monaten alles Spielzeug, das nicht zurückverlangt worden war, zu verkaufen oder zu verschenken.
Weshalb meine Kinder bei dieser Aktion mitmachten? Mein Mann und ich versprachen ihnen, dass wir nach Ablauf der drei Monate für zwei Tage in den Europapark fahren würden. Den Erlös der verkauften Spielsachen dürften sie im Park ausgeben. Mit dieser Challenge hoffte ich, ein für alle Mal Ruhe in unser Chaos zu bringen. Die Umstellung war für mich allerdings schwerer als gedacht. Zwar war ich das Chaos los, nicht aber das schlechte Gewissen: „Die armen Kinder! Sie haben keine Spielsachen mehr!“ Solche und ähnliche Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Im Chaos zu leben, war nicht einfach gewesen. Nun aber die Leere auszuhalten, war zu Beginn sehr herausfordernd.
Freiheit und Leichtigkeit
Der erste Tag ohne Spielsachen brachte überraschend wenig Beschwerden. Ich erwartete insgeheim, ständig zu den Kisten rennen zu müssen, um gewünschte Spielsachen hervorzuholen. Doch es kam anders: Der leere Raum fiel meinen Kindern auf, aber sie störten sich nicht daran. Im Gegenteil: Sie stellten Musik an und tanzten voller Freude. Sie bewegten sich unbeschwert, ohne Gefahr zu laufen, über Bausteine und anderes zu stolpern. Danach widmeten sie sich ihrem Lieblingsspiel: Sie bauten Hütten mit Vorhängen, Stühlen und Tüchern. In meinem Vorratsschrank „kauften“ sie für ihre Hütte ein. Sie spielten ungezwungen und waren sehr zufrieden. Nach einer Weile bat die Jüngste mich um eine Geschichte, woraufhin ich sie Bücher aus dem Schrank auswählen ließ und sie ihr erzählte. Der erste Tag ging vorüber. Die Kinder schienen nichts zu vermissen.
Zu Weihnachten erhielten sie Bastelsachen, ein Xylophon, einen Zählrahmen, Plüschhunde und Spielfahrzeuge. Die Geschenke hielten sich in Grenzen. Wir hatten unseren Eltern im Vorfeld mitgeteilt, dass wir mit weniger Spielsachen leben und mehr Wert auf Erfahrungen legen möchten. Deshalb waren Eintrittskarten in den Zoo ein beliebtes Geschenk. Die Kinder waren zufrieden – und ich auch. Gelegentlich wurde nach einem bestimmten Spielzeug verlangt. Die Aufräumarbeiten waren nun im Vergleich zu den Zeiten mit vielen Spielsachen deutlich einfacher. Ich genoss die neu gewonnene Freiheit und Leichtigkeit im Alltag. Gleichzeitig lernte ich meine Kinder besser kennen. Ihr Spielverhalten erschien mir nun deutlicher. Puppen waren ihnen wichtig, und sie kümmerten sich sehr gut um sie: Täglich pflegten und versorgten sie ihre Puppen, gingen mit ihnen spazieren und wechselten ihre Windeln. Nebenbei wurde viel zur Musik getanzt, gebastelt und Hütten gebaut.
Strahlende Augen
Ich verkaufte einige Spielsachen, die ich in unseren Schränken gestapelt hatte. Und schließlich war der ersehnte Tag für unseren Ausflug in den Europapark gekommen. Die strahlenden Augen unserer Kinder und ihre überbordende Begeisterung waren nicht zu übersehen. Wir genossen zwei Tage mit neuen Eindrücken, leckeren Snacks und vielen Achterbahnfahrten. In einem der Shops sagte ich zu den Kindern: „Ihr habt euer eigenes Geld dabei, sucht euch etwas aus und bezahlt es.“ Das hatten sie noch nie zuvor gemacht. Begeistert suchten sie sich jeweils ein kleines Spielzeug aus. Das restliche Geld investierten sie in Schokolade und andere Süßigkeiten.
Dieses Experiment und die Zeit im Europapark waren für unsere Familie ein voller Erfolg. Die Kinder lernten die Freude daran, ihr eigenes Geld zu verdienen und auszugeben. Bei uns zu Hause ist es wesentlich ruhiger und entspannter geworden. Wir besitzen noch etwa ein Drittel aller Spielsachen, die die Kinder zuvor zur Verfügung hatten. Dadurch hat sich unsere Lebensqualität deutlich verbessert. Auf keinen Fall möchte ich zu den Spielzeugbergen zurückkehren. Deshalb haben wir unserem Umfeld mitgeteilt, dass wir uns von nun an lieber Gutscheine und Ausflüge für die Kinder wünschen oder etwas Bestimmtes, das sie gerade gebrauchen können. Gemeinsame Erlebnisse und die Zeit zusammen als Familie sind für uns viel kostbarer als ein Haufen Spielsachen.
Madeleine Ramstein ist Theologin und Seelsorgerin. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Schweiz.