Wie wir Erwartungen loslassen können

Sonntagsbesuche, Enkel und Pralinen: Oft haben wir bewusste oder unbewusste Erwartungen an unsere erwachsenen Kinder. Die gilt es zu hinterfragen.

Eine Schoki für ihn, ein paar Nüsse für sie und eine Dankeschön-Karte. Unsere Tochter kommt in ihr Wohnzimmer und überreicht uns, die wir bei ihr zu Besuch sind, zum Dank für eine Unterstützung diese Kleinigkeiten. Ich bin gerührt und erfreut, denn ich hatte (fast!) nichts erwartet. Ach, wie ist das schön, dass sie honoriert: Die Eltern haben sich Zeit genommen!

Upps, gestolpert!

Ich muss schmunzeln, denn ich habe so meine Geschichte mit den Erwartungen. Früher habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, aber jede Menge Erwartungen gepflegt. Vor Jahren habe ich ein großes Opfer gebracht, nämlich als damals Schmerzkranke zugestimmt, dass noch eine Person mit in den Urlaub kommen könne. Ich wusste früher nie, wann ich aufgrund meiner Schmerz-Problematik ausfallen würde, und wollte meinen Besten nicht mit Mehrarbeit im Urlaub belasten. Deshalb habe ich es mir dreimal überlegt, ob ich das wage. Es wäre aber ein gutes Gegenüber für unseren Sohn. Der liebe Mensch wurde also eingeladen, sagte zu und genoss mit uns die Ostseewoche. Und dann kam der Tag des Abschieds. Ich war davon ausgegangen, dass ich eine Packung Pralinen in die Hand gedrückt oder ein paar Worte ins Ohr geflüstert bekomme. Aber nichts dergleichen geschah. Einfach „Tschüss“. Die Autotür fiel ins Schloss.

Was war ich enttäuscht! Meine schöne Urlaubsfreude bekam einen gewaltigen Knick. Ich schwelgte in Enttäuschung, Frust, Traurigkeit. Mein Bester ist stoisch tiefenentspannt, was die Erwartungen an andere Menschen angeht. Früher hat das in mir eine Mischung aus grenzenloser Bewunderung, etwas Wut und Neid erzeigt. Jedenfalls lehrte er mich, ins Loslassen zu finden. Recht hatte er, denn was würde ein erbetenes Dankeschön bedeuten? Gar nichts. Außerdem musste ich ehrlich eingestehen, dass ich als Teenie auch nicht weiter war als der liebe Mensch. Seit dieser Ostseestory bin ich aufmerksamer in Sachen Erwartungen.

Keine Enkel in Sicht

„Manchmal würde ich mir wünschen, sie kommen sonntags einfach mal zum Kaffeetrinken vorbei. Die haben komplett keine Zeit für sowas, sind voll in ihrer Kirche eingespannt“, drückt eine dreifache Mutter erwachsener Kinder ihre enttäuschte Sonntagserwartung aus. Manchmal geht’s um noch mehr als einen einsamen Sonntagnachmittag. Es geht um die richtig großen Knackpunkte enttäuschter Erwartungen.
Ein gemütlicher Abend bei mir zu Hause: Im vertrauten Kreis tauschen wir uns aus. Irgendwann kommt von einer Freundin der Satz: „Sie haben uns mitgeteilt, dass sie keine Kinder bekommen möchten.“ Große Betroffenheit. Keine in der Runde sagt: „Wie schön! Dann hast du ja viel Zeit für dich und brauchst keinen Enkel betreuen.“ Im Gegenteil, wir hätten ihr so sehr Enkel gegönnt. Es ist schön, dass wir so kinderlieb und menschenfreundlich reagieren. Aber lebt in uns allen, die wir erwachsene Kinder haben, vielleicht doch manchmal eine geheime Erwartung an die Bilderbuch-Familie? Zwei Enkel, Haus und Garten mit Apfelbaum? Allzeit entspannt und besuchsbereit?

Die Realität ist oft anders: Die Tochter kann keine Kinder bekommen. Dem Sohn stirbt die Verlobte. Die Tochter ist lesbisch und möchte als Single leben. Der Sohn ist chronisch krank und traut sich keine Kinder zu. Sie haben als Paar um ein Pflegekind gekämpft und es nach kurzer Zeit wieder abgeben müssen. Sie musste sich scheiden lassen, weil es nicht mehr gemeinsam ging. Er möchte in die Mission, und selbst wenn Kinder kämen, würden die Großeltern sie wenig zu Gesicht bekommen. Das alles ist für viele von uns die oft schmerzhafte Realität, wie für andere eine satte Enkelschar, die im Obstgarten schaukelt. Vielleicht ist es an der Zeit, uns von einigen Erwartungen zu lösen? Ich möchte einige Scheren anbieten, mit denen wir unsere Erwartungsballons abschneiden und steigen lassen können.

Berechtigt oder unberechtigt?

Gibt es unberechtigte Erwartungen? Diese Frage lohnt sich durchzuspielen. Denn sie führt uns zu unseren geheimen Schmerzpunkten. Bezogen auf unsere Beziehungen können wir das einmal durchdenken: Welche meiner Erwartungen sind berechtigt und welche nicht?

Wenn ich bei meinen erwachsenen Kindern bin, darf ich sicherlich erwarten, dass ich irgendwann etwas zu essen auf den Tisch gestellt bekomme. Ein dauerhaftes Recht auf einsamkeitsreduzierende Besuche oder ständige ausführliche Teilhabe am erwachsenen Leben unserer Kinder haben wir aber nicht. Ebenso haben wir natürlich kein Recht auf Enkelkinder oder ein Gästezimmer im Zuhause unserer Töchter und Söhne.
Es geht darum, unberechtigte Erwartungen loszulassen! Wir müssen sie finden, entlarven und anschließend loslassen. Wenn ich meine Erwartungen gefunden habe, schmunzele ich oft erstmal ein Ründchen: Da hat es mich doch wieder erwischt. Nun heißt es: den Schmerz fühlen. Denn der darf sein. Wie man sich vom Schmerz lösen kann? Durch Bewusstwerden, manchmal auch durch Teilen mit vertrauten Menschen. Mir hilft zum Loslassen außerdem, die Dinge mit Gott im Gebet zu bewegen. Und manchmal sage ich innerlich den Satz: „Ich gebe dich frei für dein Leben!“ Damit verabschiede ich das erwartete Geschenk, ein Dankeschön oder die Teilnahme an einem Fest.

Druck rausnehmen

Ich bin sensibler für meine Erwartungen geworden, denn ich kenne auch die andere Seite der Medaille: Andere Menschen haben ihre Erwartungen an mich. Wie das stressen kann! Du investierst dich und weißt schon vorher: Es genügt nicht! Du spürst Verbitterung, fühlst Vorwürfe, bekommst Schuldgefühle. Druck belastet. Druck entmutigt. Wie eine unsichtbare Wand steht er zwischen mir und den anderen.
Manchmal habe ich mich mit Hilfe eines Rituals von diesem Druck befreit: All den Ärger und die negativen Gefühle aufgeschrieben, den Zettel anschließend in Gottes Hände gelegt und im Kamin vernichtet. Weil ich das selbst so belastend erlebt habe, möchte ich großherziger meinen erwachsenen Kindern gegenüber sein. Denn worauf habe ich, haben wir, ein Recht? Meiner Meinung nach weder auf ein Geschenk noch auf einen Sonntagsausflug, ein Enkelkind oder auf Pflege im Alter. Generell habe ich auf fast nichts ein Recht. Alles, was von ihrer Seite zu mir zurückkommt, sind Geschenke. Da gibt es keine offenen Rechnungen, die beglichen werden müssen. So zumindest die gute Theorie …

Noch eine Extrarunde zum Druck: Ich glaube, dass man als Kind auch Druck spüren kann, wenn Eltern nicht klar sind in ihrer Position. Vielleicht spüren Kinder manchmal eine Last, weil Eltern nicht richtig wissen, wie sie zur Sache mit dem Sonntagsausflug, der Scheidung oder der Homosexualität stehen. Im besten Fall sollten die Kinder fühlen und wissen, dass alle Lebensentscheidungen von uns Eltern nicht nur verbissen, resigniert, unentschieden oder leicht angesäuert durchgewunken werden, sondern bejaht sind. Auch wenn sie unseren Überzeugungen nicht entsprechen. Das ist Respekt. Das ist Loslassen. Das ist Liebe. In dem Moment, wo wir andere aus unseren Erwartungen entlassen, entsteht eine unglaubliche Freiheit.

Jesus und die Erwartungen

Wir haben Erwartungen an andere und andere an uns. Das ist normal und kein Grund, sich schlecht zu fühlen. Wir werden einander immer etwas schuldig bleiben. Wie schön ist das, wenn wir diesen Satz tief auf dem Herzensboden verankert haben! Denn er wird uns von unseren Idealvorstellungen befreien: Weder Partner, Kinder, Eltern, Freundinnen oder Vorbilder werden all unsere Erwartungen erfüllen können. Also „einfach“ die Erwartung spüren, die Enttäuschung bemerken, schmunzeln und zuletzt loslassen?

Vielleicht kann man von Jesus lernen: Er sollte sich in seine Familie einordnen, Sünder verurteilen, Sünder begnadigen, rechtzeitig da sein, sich für Prominente interessieren, er soll weggehen und nicht mehr hier das Reich Gottes wirken oder da bleiben und weiterhin Gottes Reich ausbreiten, er soll … Wenn wir die Evangelien daraufhin durchschauen, kann man sich fragen: Jesus, wie hast du das bewältigt? Die 1.000 Erwartungen, die andere teils lautstark geäußert haben?

Jesus hatte einen inneren Kompass. Häufig hat er sich ausgerichtet. Deshalb suchte er die Einsamkeit, damit der Fokus wieder klar war. Und was ist dabei herausgekommen? Dass er immer wieder für die Menschen da war, auch schon mal die zweite Meile mitgegangen ist und sich an anderer Stelle den Erwartungen entzogen hat. Nein, er vollbringt keine Wunder, nur um sich zu beweisen. Nein, er passt sich nicht an die Erwartung seiner Herkunftsfamilie an. Nein … Die Erwartungen Gottes, seines Vaters, haben für ihn weitaus größere Bedeutung als die Erwartungen der Menschen.

Loslassen

Können wir das abkupfern? Davon lernen, es verinnerlichen? Erst gestern wollte eine liebe Frau zeitnah ein Treffen mit mir vereinbaren. Sie erwartete, dass ich in der nächsten Woche Zeit hätte. Ich spürte beide Regungen: Gern möchte ich helfen, und gern möchte ich meine Grenzen achten. Nach einer halbwegs guten Nacht habe ich ihr erst einen Termin in vier Wochen zugesagt, damit ich mich nicht übernehme. Manchmal ist also Abstandstraining eine Lösung, um uns von Erwartungen zu befreien.

Das Schlüsselwort im Umgang mit den Erwartungen ist: loslassen. Fliegen lassen. Ziehen lassen. Dann entsteht Freiheit. Es ist der offene, erwartungsärmere, gute Umgang miteinander. Vielleicht passiert dann etwas völlig Unerwartetes. Nämlich, dass ein Kind doch sonntagnachmittags vor der Tür steht, du die Schoki in die Hand gedrückt bekommst oder ein Gespräch mit deinen großen Kids hast, das Gold wert ist.

Kerstin Wendel ist Autorin, Speakerin und Seminarleiterin aus Wetter/Ruhr. Gemeinsam mit ihrem Mann Ulrich hat sie das Buch geschrieben: Vom Glück des Loslassens – wie Herz und Leben leicht werden (SCM R.Brockhaus).

Wie Worte unsere Kinder prägen

Worte haben Kraft und prägen unsere Kinder entscheidend. Wie wir eine gesunde Selbstwahrnehmung fördern können.

Mitte der 90er: Geburtstagsfeier einer Tante. Ich habe noch keine Kinder. Ein kleiner Junge tobt und donnert dabei mit seinem Kopf so an den Tisch, dass die Schwarzwälder Kirschtorte schwankt. Die Mutter greift sich ihren Sohn und sagt: „Was hast du gerade im Kopf? Den Teufel!“ Ich zucke zusammen und ringe nach Worten. Auch wenn ich sonst vieles stehen lassen kann, werde ich wachgerüttelt: Unbedachte Worte sind machtvolle Stempel für die Selbstwahrnehmung eines Kindes.

Wir Eltern reden viel – locker, fröhlich, angespannt oder zornig. Ich denke nicht immer vorher über das nach, was ich sage. Gerade im Umgang mit meinen Kindern habe ich erlebt, wie schnell Worte aus mir herauspurzeln. Deshalb ist es mir wichtig, ein Bewusstsein für die Kraft meiner Worte zu entwickeln. Denn jedes Wort bewirkt etwas!

Ermutigung lernen

Anna (alle Namen geändert) berichtet, wie sie als Kind fast unsichtbar war. Immer wieder stellt ihre Mutter sie anderen mit diesen Worten vor: „Anna ist so, dass man sie immer vergisst und übersieht!“ Wahrscheinlich ist es liebevoll gemeint, denn Annas Brüder sind laut und präsent. Erst mit 40 Jahren gönnt sich Anna schließlich eine Beratung, um zu verstehen, was sie so unscheinbar macht und welchen Einfluss die Worte ihrer Mutter hatten.

Natürlich erlangt nicht jede Aussage so eine hohe Bedeutung im Leben eines Kindes – zum Glück. Wir können nie wissen, welche Bemerkung, welches Lob oder welche Rüge im Kind Resonanz auslöst. Deswegen sollten wir sorgsam mit unseren Worten umgehen. Worte sind kraftvoll. Sie können schwächen oder stärken, motivieren oder demotivieren, trennen oder verbinden. Das Tolle ist: Worte können eingeübt werden. Jede Familie kann Ermutigung und Lob lernen. Wir können dabei bewusst auf unsere Sprache und unsere Wortwahl achten.

Wir können zum Beispiel zuhören, wie andere Eltern ihre Kinder loben oder wie Ehepartner über den anderen sprechen. Und reflektieren: Welche bewertenden Formulierungen nutze ich häufig? „Da warst du lieb!“ „Sei schön leise!“ „Stell dich nicht so an wegen der Beule am Kopf!“ „Du kannst wirklich nichts!“ Wenn wir uns das bewusst gemacht haben, können wir üben, die Sätze umzuformen: „Deine Unterstützung hat mir gutgetan.“ „Danke, dass du gerade still zuhörst.“ „Ich spüre, du hast Schmerzen.“ „Ich möchte gern herausfinden, was du besonders gut kannst.“

Liebe ohne Wertung

Manchmal hilft es, mir auszumalen, was meine Bewertung konkret heißt. „Da warst du lieb!“: Wäre mir das Kind denn nicht lieb, wenn es sich anders verhielte? „Lieb sein“ wird in Verbindung gebracht mit „still sein und mich nicht fordern“ und vermittelt automatisch, dass ein Kind nicht lieb ist, wenn es mehr körperliche Aktivität oder Fragen mitbringt. In diesem Moment stellen wir uns unbewusst über das Kind, um ihm zu sagen, wie es zu sein hat. Jedes Kind hat ein großes Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Kinder wollen mit den Eltern zusammenarbeiten und ihnen gefallen. Sie strengen sich an, die Bewertungskriterien zu erfüllen – auch, wenn sie sich dafür verbiegen müssen. „Lieb sein“ kann aber auch bedeuten: „Ich habe dich immer lieb, egal wie dein Verhalten gerade ist.“ Diese Zusage, diese eine Liebesbekundung sollte nicht mit einer Rüge oder einem Lob verbunden sein. Das Selbstvertrauen von Kindern ist so sehr von Lob abhängig, dass sie es permanent einfordern. Manche Kinder verhalten sich ständig so, dass sie anderen gefallen. Oder sie tun Dinge nur, um ein Lob zu bekommen.

„Sei schön leise!“: Hier legen wir unsere Bewertung von „schön“ auf das Kind. Wer sagt denn, dass leise sein „schön“ ist? „Stell dich nicht so an wegen der Beule am Kopf!“: Ich habe auch Momente, in denen mir etwas Schmerzen verursacht. Wie wohltuend, wenn jemand diese Schmerzen nicht wegredet. „Du kannst wirklich nichts!“: Diese Bewertung wischt den Respekt vor dem Einzelnen weg. Unserem Kind dürfen wir das nicht zumuten. „Das hast du toll gemacht!“ Hier dürfen wir fragen, ob unser Kind selbst zufrieden ist. Denn um dieses innere eigene Bewerten geht es im Lob. Unser Kind wird ein gesundes Ich-Gefühl entwickeln, wenn es nicht auf positive Bewertungen von außen angewiesen ist. Lob ist eine Einladung zum Austausch über die Wahrnehmung des Gelungenen und des Noch-nicht-Gelungenen.

Orientierung geben

Auch wir selbst sind mit Worten geprägt worden – vielleicht mit guten, vielleicht mit weniger guten. Gerade in turbulenten Alltags-Situationen kann es zu spontanen Äußerungen kommen, die den Tiefen unserer eigenen Erfahrung entspringen. Deshalb ist es wichtig, den eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern. Wie wäre es, eine Lobliste anzulegen? Es kann auch eine Liste werden, die eine Familie für sich erstellt: Was wertet mich auf? Was wärmt mich von innen? Was sagt Gott über mich?

Im Familienalltag bewerten wir uns ständig gegenseitig. Wir bewerten, indem wir ignorieren, Wohlwollen zeigen, mit den Augen rollen oder kommentieren. All das hilft unserem Kind, sich zu orientieren: „So ist mein Leben. Das finden meine Eltern wichtig.“ In manchen Familien, die ich berate, erlebe ich zu wenig Worte. Dabei sind Worte wichtiger Bestandteil zum Beispiel einer Mahlzeit: Wir hören zu, achten auf kleine Gesten der Höflichkeit und laden klar und liebevoll zum Sitzenbleiben ein. Worte leiten an und vermitteln ein Familiengefühl. Wir geben Kindern mit bewusst gewählten Worten Halt. Positive Äußerungen wie „Ich freue mich mit dir“, „Ich bin beeindruckt“ oder „Ich freue mich, wie stolz du bist“ bringen dem Kind Wertschätzung entgegen und stärken das Ich-Gefühl. Solche Worte rutschen tief ins Herz eines Kindes.

Positive Haltung

In einer Familie liegt schnell der Fokus auf Fehlern und dem, was „falsch“ läuft. Im Miteinander geht es aber nicht um Erfolg oder Misserfolg, sondern um eine wertfreie Begegnung miteinander und mit Gott. Wir dürfen den Sprachgebrauch unserer Erziehung hinterfragen und ersetzen und den Fokus auf die Fähigkeiten des Kindes oder die Möglichkeiten zur Unterstützung legen. Manchmal hilft es, den Teenager zu fragen: „Ich finde Erfolg nicht so wichtig. Wie geht es dir damit, wenn ich das nicht lobe?“ Unseren Sohn hat es beispielsweise verletzt, dass wir auf sein gelungenes Abitur nicht reagiert haben.

Wir können mit positiver Sprache eine positive Haltung fördern. Wir können zum Beispiel auf das Wort „falsch“ verzichten und lieber Alternativen oder Lösungswege anbieten. Anstelle von „Ach, Luisa, du hast ja schon wieder die Jacke falsch angezogen“ können wir sagen: „Schau mal, der Ärmel hängt da unten. Hier kannst du reinschlüpfen.“ Der Fokus liegt nicht auf dem Fehler, sondern wir bieten positive Unterstützung an. So entsteht eine ermutigende Atmosphäre.

Oft haben wir eine Bewertung im Kopf und im Herzen. Wir finden das Verhalten des Kindes zu laut oder sein Zögern zu ängstlich. Simone ärgert sich wiederkehrend über den fordernden Ton ihrer Tochter. Wenn Lenja in den Raum kommt, hat Simone oft den Impuls, zu fliehen oder zu meckern. Zunächst tauscht sie sich darüber mit ihrem Partner aus. So ein Austausch kann einen Perspektivwechsel bewirken, der den Zugang zum Kind verändert. Simone bekommt dadurch Orientierung über ihre eigenen Gefühle, sodass sie in der nächsten kritischen Situation statt eines Motzanfalls sagen kann: „Ich möchte gern mit dir reden. Aber wenn du mit mir in diesem Ton sprichst, macht mich das sauer.“ Simone wiederholt diesen Satz und findet heraus, dass es ihrer Tochter guttut, erst mal in den Arm genommen zu werden. Nun kann eine Wertschätzung ins Herz sacken.

Simone beschreibt in der Beratung: „Auch wenn das Kind meine Bemerkungen nicht hört, prägen sie doch die Wirklichkeit. Deswegen möchte ich mir zur Gewohnheit machen, gut über mein Kind zu sprechen. Gute Worte über andere verändern auch unsere Sicht auf sie und unsere Haltung ihnen gegenüber. Wir können aussprechen, was durch Gott in den Kindern Wirklichkeit werden kann und soll.“

Kraft und Segen

Johann ist erwachsen. Er berichtet von einer Mitarbeiterin in seiner Kirche, die immer wieder zu ihm gesagt hat: „Du wirst ein guter Leiter. Du hast Einfluss auf Menschen.“ Zu diesem Zeitpunkt hat Johann gestottert, er war zurückgezogen und schrullig. Tatsächlich aber sah die Mitarbeiterin, wie er sich um die neuen Kinder bemühte oder Jüngeren half. Johann hat sich in diese Idee, dass Gott ihn gebrauchen kann, hineingelebt und ist heute tatsächlich ein hingebungsvoller Gruppenleiter.

Worte haben Kraft. Wo Wunden entstanden sind, dürfen wir um Vergebung bitten. Wenn uns unser Kind herausfordert, können wir es segnen. Denn im Segnen liegt der unfassbar starke Blick, den Gott auf unser Kind hat. Ich lade euch ein zum liebevollen Loben und ehrlichen Ermutigen!

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und Pädagogin, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt in Göttingen.

Der Küchentisch – ein Ort, an dem Gott nah ist

Dorothea Bronsema hatte den Eindruck, dass ihr Glaube in der Kleinkindphase eine Pause macht. Bis sie merkte, dass Gott ihr gerade in dieser Zeit besonders nah ist.

Viele Jahre habe ich meinen eigenen Weg gesucht, Gott zu begegnen. Ich habe Bücher gelesen und Gottes Wort studiert. Ich habe Menschen in meinem Beruf als Jugendreferentin angeleitet, Gott zu begegnen. Habe geübt, still zu sein, mich Gott hinzuhalten. Ich habe Seminare besucht, Lobpreis gemacht, um in Gottes Nähe zu kommen. Viel Zeit habe ich in meinem gemütlichen Lesesessel verbracht, mit einem Buch in der Hand und mit Gottes Wort in meinen Gedanken.

Dann wurde ich Mama. Das Mamawerden und -sein katapultierte mich in eine Art geistlichen Ausnahmezustand. Plötzlich war mein ganzes Leben ein anderes. Ein Baby auf einer Intensivstation. Durchwachte und durchsorgte Nächte. Ein Leben von Tag zu Tag. Keine Pause mehr und keine Nacht mit Tiefschlaf. Kein Sonntag. Sieben Tage volle Konzentration auf unser neues Familienmitglied. Gott war zwar mitten im Ausnahmezustand, aber ich war weit weg von jeglicher Alltagsroutine.

Meilenweit entfernt

Als irgendwann der Alltag einkehrte und wir wieder eine Art „Normalzustand“ erreichten, merkte ich, dass mir viel Vertrautes verloren gegangen war. Mein gewohntes Glaubensleben passte nicht mehr. Es war schlichtweg nicht mehr so umsetzbar, wie es mir bisher vertraut gewesen war.

Ich hatte keine Zeit mehr für „Stille Zeit“, dafür ganz viel Müdigkeit. Keine Zeit mehr für langes Studieren in Gottes Wort. Aber viel Sehnsucht nach Gott im Hier und Jetzt. Meine Gebete waren eher müde Hilfeschreie als langes Erzählen aus meiner Welt. Bücher las ich kaum noch. In der Gemeinde befand ich mich plötzlich im Krabbelraum. Hinter einer Glasscheibe. Nah am Geschehen des Gottesdienstes, aber innerlich meilenweit entfernt. Im Krabbelraum war es laut. Eine Gemeinschaft von müden Müttern und Vätern, oft beladen und bedrückt, fragend und im Grenzbereich ihrer Kräfte.

An einem Sonntag brachte uns jemand das Abendmahl in diesen Raum. Das löste etwas in mir aus. Ich musste weinen. Später sagte ich meinem Mann, dass ich das Gefühl habe, kein Teil mehr von echter Gemeinschaft zu sein. Dass ich es vermisse, dabei zu sein. Und wenn ich mal dabei bin, kann ich kaum noch folgen. Die Predigten sind zu weit weg, zu sehr fokussiert auf den Kopf, der bei mir kaum Platz für kluge Worte und Gedanken hatte. Ich versuchte zuzuhören, merkte aber, dass ich nicht andocken kann und dass die Inhalte mein Herz nicht mehr berühren.

Heiliger Tiefpunkt

Ich fragte mich, ob der Glaube in der Kleinkindphase eine Pause macht. Ob die Gemeinde uns überhaupt noch auf dem Schirm hat. Und wie ich dranbleiben kann, ohne mir zusätzlichen Stress zu machen. Ich befand mich an einem Tiefpunkt. Ich, die andere beruflich in die Nähe von Gott gebracht hatte, saß im lauten Kinderraum und fand den Weg zu Gott nicht.

Im Rückblick habe ich den Eindruck, dass dieser Tiefpunkt ein heiliger war. Heilig, weil ich nicht mehr in der Lage war, selbst etwas zu machen, mich innerlich oder äußerlich anzustrengen, viele Bücher zu lesen und tolle Gebetszeiten zu absolvieren. Heilig, weil mir an diesem Tiefpunkt deutlich wurde, was bleibt, wenn äußere Formen wegbrechen. Heilig, weil ich zutiefst ahnte und spürte, dass Gott genau hier mit mir ist – am Boden der Tatsachen. Denn schließlich geht es Gott doch um mein Herz und nicht um Leistung und Äußerlichkeiten. Gott ist nicht an heilige Orte und Räume gebunden. Er hat Wege, mir zu begegnen – da, wo ich jetzt bin.

Ich habe an diesem Tiefpunkt Gott gegenüber formuliert – trotzig und vielleicht auch etwas frech: „Wo bist du? Ich brauche dich da, wo ich bin. In meiner Müdigkeit. In meiner Erschöpfung. Am Boden der Tatsachen. Ich werde wahrscheinlich die nächsten Jahre kaum an Gemeindeveranstaltungen, Kursen und Projekten teilnehmen können. Werde andere nicht anleiten können, sondern nur sein können. Mehr will und kann ich nicht. Begegne mir da, wo ich bin.“

Gott wohnt im Alltag

Ich kann nicht davon erzählen, dass nach diesem Gebet von heute auf morgen alles anders war. Aber ich kann von einem heilsamen Weg erzählen, der mit diesem Gebet begann und mein Glaubensleben verändert hat: Ich habe nicht mehr auf heilige Zeiten und Orte gewartet. Ich habe mir bewusst gemacht, dass Gott in meinem Alltag wohnt, dass er mit mir ist, wenn ich nachts mit einem schreienden Baby auf dem Arm durch unser Haus laufe. Dass er da ist, wenn ich Erbrochenes aufwische. Dass er mit mir wütend ist, wenn ich verzweifelt auf einen Therapieplatz für mein Kind warte.

Ich fing an zu begreifen, dass der Küchentisch ein Ort der Nähe Gottes ist. Weil Gott mit uns am Tisch sitzt. Weil er das Licht ist, das wir brauchen. Weil er wärmt wie der Becher Kakao. Er sieht mein ganzes Ich, meinen Körper und meine Seele. Ich hörte Gott plötzlich reden: im ersten Vogelzwitschern nach einer durchwachten Nacht. Ich spürte seine Umarmung in der Umarmung meiner Kinder. Begriff ihn in Bildern, die das Leben mir jeden Tag zeigte. Hörte ihn reden durch meine Kinder, denn oft waren meine Kinder mir die Stimme Gottes, die ich so nötig brauchte. Es waren keine Blitze aus dem Himmel, keine große geistliche Erkenntnis, aber ich spürte, dass Gott da ist, wo ich bin. Dass er in dieser Zeit wohnt.

Gleichzeitig merkte ich, wie schwer es ist, Vertrautes loszulassen und zu vertrauen, dass das, was ist, gut ist und reicht. Ich lese immer noch gern, glaube aber nicht, dass ich es brauche, um Gott zu begegnen. Ich bin immer noch gern in Gemeinschaft – fremdle aber mit starren Formen. Ich glaube, dass Gemeinden sich dringend mit dem Thema „Familie in Gemeinde“ beschäftigen müssen. Denn diese Zeit verändert Menschen und bringt sie an Grenzen, während Gemeinden oft sehr fokussiert auf Veranstaltungen und Pläne sind. Familien brauchen Unterstützung und Rückenwind. Sie brauchen es, gesehen zu werden.

Gebet zwischen Duplo-Steinen

Ich habe aufgehört, auf die scheinbar perfekten Orte und Gebetszeiten zu warten. Ich nutze spontane Chancen. Manchmal sitze ich mit einer Freundin auf dem Boden zwischen Duplo-Steinen und kreischenden Kindern, und wir beten kurz füreinander. Manchmal sehe ich die Müdigkeit und den Frust im Gesicht meines Gegenübers und frage, ob ich etwas Gutes tun kann. Manchmal formuliere ich, wie es mir gerade geht. Ich zögere nicht mehr so lange, teile mein Inneres, weil ich es so sehr brauche, verstanden zu werden.

Und Gott ist da – auf dem Spielplatz, im Badezimmer, am Abend und am Morgen und in der tiefsten Nacht. Gott ist mir begegnet – so anders, so nah. Oft mitten in meinen Tränen und meiner Erschöpfung. Gott klammert diese Zeit nicht aus. Er geht mit uns mitten durch. Wir brauchen nichts zu tun. Er ist alles. Er tut alles. In dieser Zeit habe ich etwas verstanden, das ich sonst wahrscheinlich nicht begriffen hätte: Gott ist in meinem Alltag. In meinem Hier und Jetzt. Er wird mich nicht verlassen noch von mir weichen. Er sucht und findet mich. Ich darf ganz entspannt meinen Leistungsanspruch herunterschrauben.
Er traut mir zu, eine Mama zu sein. Er traut mir diesen Grenzbereich meiner Kräfte zu. Das bedeutet nicht, dass ich eine schlechte Mama oder eine schlechte Christin bin. Aber doch, dass es eine Zeit ist, in der er mit mir anders reden wird. Eine Einladung, anders zu leben und Glauben neu zu entdecken mit meiner ganzen Familie.

Als Familie begegnen wir Gott gemeinsam auf neue, einfache Weise. Wir feiern zusammen Abendmahl mit einfachen Worten und erleben das als einen Kraftort im Alltag. Wir reden mit Gott, wann immer wir seine Hilfe brauchen. Manchmal weinend zwischen Scherben, manchmal laut lobend und singend. Wir legen den Kindern die Hände auf und segnen sie morgens auf ihren Wegen. Wir bitten Gott um sein Mitgehen in Situationen, die sich unserer Aufmerksamkeit als Eltern entziehen. Wir spüren seinen Segen im Hier und Jetzt. Eine spannende Reise, die mich in meinem Leben mit Gott völlig verändert, hat begonnen. Sie ist nicht fertig oder perfekt, aber geprägt von der spürbaren Nähe Gottes im Alltag.

Dorothea Bronsema ist freiberufliche Referentin, Autorin, Bloggerin und Podcasterin und wohnt mit ihrer Familie in Nordhessen. Im Sommer erscheint ihr zweites Buch, in dem sie über ihre Erfahrungen im Mamasein schreibt.

So gelingt gesunde Ernährung als Familie

Gesunde und nachhaltige Ernährung? Das klingt für viele Familien nach einer Herausforderung. Ernährungsexpertin Elke Decher ist überzeugt: Mit ein bisschen Kreativität ist das gar nicht so schwierig.

Regionale Vielfalt entdecken

Was würden Sie im Supermarkt eher kaufen: Bio-Äpfel, die in Plastik verpackt sind, oder „normale“, lose Äpfel?
Ich würde regionale Produkte aus meiner Umgebung kaufen. Sie haben kurze Transportwege, ich kann erkennen, woher sie kommen, vielleicht kenne ich den Hof sogar. Das ist bei Bio-Produkten nicht unbedingt der Fall. Es gibt viele regionale Produkte, die nicht so stark gespritzt werden. Die kann man gründlich waschen und dann auch mit Schale mit gutem Gewissen essen.

Wie kann man auf die große Auswahl im Supermarkt verzichten und sich mehr auf regionales Obst und Gemüse einlassen?
Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass man auch mal eine exotische Frucht probiert. Dinge, die einen langen Transportweg haben, sind manchmal unumgänglich. Aber an dem Beispiel Erdbeeren wird es ziemlich klar: Natürlich gibt es Erdbeeren im Winter, aber diese sind entsprechend behandelt, nicht sehr aromatisch und haben neben langen Transportwegen auch einen deutlich geringeren Vitamin-C-Gehalt. Das kann man Kindern auch vermitteln und wirklich mal gucken: Was hat denn gerade Saison? Kinder bekommen viel Ernährungserziehung von ihren Vorbildern mit. Viele Organisationen stellen Saisonkalender zur Verfügung, die man in der Küche aufhängen kann. In vielen Medien gibt es auch saisonale Rezepte. So kann man sein eigenes Repertoire nochmal überdenken und Neues ausprobieren. Wenn das von klein auf eingeübt wird, ist auch bei den Kindern die Bereitschaft dazu größer.

Gesund durch den Alltag

Bedeutet gesund und nachhaltig immer dasselbe?
Eine ernährungsphysiologisch ausgebildete Person hat immer ein gewisses Problem mit dem Wort „gesund“. (lacht) Grundsätzlich ist der heimische Apfel ein gesundes Nahrungsmittel. Wenn Sie aber nur noch Äpfel essen, entstehen natürlich Nährstoffdefizite. Auch Fisch ist sehr gesund, je nach Zucht aber nicht nachhaltig. Es kommt also insgesamt auf eine vollwertige Ernährung an.

Wie kann man so eine bedarfsgerechte, vollwertige Ernährung im Alltag effizient umsetzen?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gibt Nährstoffhinweise für eine bedarfsgerechte Ernährung aller Altersgruppen heraus. Die hat das Bundeszentrum für Ernährung in der sogenannten Ernährungspyramide zusammengefasst. Wenn jeden Tag alle Bausteine aus der Pyramide abgedeckt sind, ist eine gesunde, bedarfsgerechte Ernährung erfüllt. Mittlerweile ist auch der Nachhaltigkeitsaspekt in die Pyramide integriert.
Wasser ist die Basis der Pyramide. Als nächstes kommen verstärkt pflanzliche Lebensmittel. Mit frischen Sachen kann man relativ viel machen, das gar nicht so viel Arbeit erfordert. Dass viele eine gesunde Ernährung als zu aufwendig empfinden, ist häufig eine Schutzbehauptung. Auch, wenn jemand wenig Budget hat, muss man kreativ werden und schauen: Was hat Saison?

Das Problem fängt immer da an, wo Menschen insgesamt nicht gern kochen und alles schnell gehen muss. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber das Kochen in den Familien oder Kitas kann man auch als gemeinsame Zeit ansehen. Einen Pizzateig selbst zu machen und mit frischen Sachen zu belegen, ist eigentlich kein großer Aufwand und im Vergleich zur Fastfood-Pizza werden dabei auch ein paar Kalorien eingespart. Gemüse, das nicht mehr so schön aussieht, kann man zu Cremesuppen verarbeiten – das essen die meisten Kinder super gern. Auch aus Kartoffeln kann man vieles machen. Ich denke, dass man sich vor dem frischen Kochen nicht scheuen darf und die Zeit mit den Kindern zusammen verbringen sollte – Kochen ist ein sehr verbindender Akt.

In vielen Familien gehört ein – häufig ungesunder – Snack zur täglichen Routine. Wie kann man sicherstellen, dass Süßigkeiten nicht zur Selbstverständlichkeit werden?
Eine Portion Pommes oder Süßigkeiten am Tag sind durchaus erlaubt. Aber wenn es ganz viele werden, ist das natürlich nicht sinnvoll. Süße Nachtische haben leider oft den Effekt, dass sie das eigentliche Hauptgericht verdrängen. Deshalb würde ich sie voneinander loskoppeln und statt Nachtisch einen Snack im Nachmittagsbereich anbieten. Das Mittagessen soll dazu dienen, dass man sich an Gemüse, an Beilagen, vielleicht auch einer kleinen Portion Fleisch satt isst.

Viele süße Snacks wie Pudding oder Müsliriegel kann man auch gut selbst machen. Das ist am Anfang sicher gewöhnungsbedürftig, aber mit der Zeit kann man die Menge an Zucker langsam reduzieren. Dann bekommt man einen anderen Süßgeschmack – und sensibilisiert sich wieder in Richtung „weniger süß“. Routinen aufzubrechen und die Zuckermenge beim Selbst-Zubereiten zu reduzieren, ist sinnvoll. Und auch da muss man ein bisschen kreativ sein. Ich glaube, die meisten bekommen das ganz gut hin.

Veganer müssen sich gut informieren

Viele Menschen ernähren sich und teilweise auch ihre Kinder vegetarisch oder vegan, um die Umwelt zu schützen. Ist das gesund?
Insgesamt hat man lange gesagt, dass heranwachsende Kinder auf keinen Fall vegan ernährt werden sollten. Bei einer vegetarischen, also pflanzenbasierten Vollwerternährung ist es deutlich einfacher, wichtige Nährstoffe wie Jod und Eisen auf natürlichem Wege aufzunehmen.

Für eine ausgewogene vegane Ernährung muss man schon sehr gut informiert sein und schauen: Was könnte mir an Vitaminen oder Mineralstoffen fehlen? Häufig muss man substituieren und zusätzliche Nährstoffe zuführen, damit keine Mangelerscheinungen auftreten. Gerade bei Heranwachsenden ist das noch problematischer, weil sich das Gehirn noch entwickelt und der Körper noch im Aufbau ist.

Trotzdem reicht die ernährungsphysiologische Perspektive da allein nicht aus, denn das hat ja auch ethische Gründe und hängt mit einer inneren Haltung zusammen. Diese zwei Paar Schuhe muss man nebeneinander stehen lassen. Grundsätzlich finde ich es positiv, dass viele sich dadurch mit ihrer Ernährung auseinandersetzen. Eine vegetarische Ernährung kann man als Familie gut machen. Aber eine vegane Ernährung würde ich für Kinder nicht empfehlen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Malin Georg. Sie ist Volontärin bei Family und FamilyNEXT.

Was uns wichtig ist

Erwachsene Kinder haben einen anderen Blick auf die Welt als ihre Eltern. Trotzdem können wichtige Werte noch weitergegeben werden.

Wir sind mit unserem erwachsenen Sohn und seinen zwei Kumpels zusammen in Italien im Urlaub. Eine schöne Zeit für uns: Wir sehen, wie diese drei jungen Erwachsenen ihren Tag planen, wie sie miteinander umgehen und wie sie diskutieren und die Welt sehen. Dabei stellen wir fest, dass sich unser Blick auf die Welt von ihrem unterscheidet. So diskutieren wir unter anderem darüber, wieso sich die Freunde unseres Sohnes nicht ehrenamtlich engagieren. Oder wieso sie den Klimawandel für sich als gegeben annehmen und nicht mehr kämpfen.

In einem kurzen Moment in der Küche nimmt mein Sohn mich in den Arm und sagt: „Na, Mama, du merkst, ihr habt einiges richtig gemacht. Wir haben als Kinder immer gelernt, wie wichtig es ist, sich in andere zu investieren. Und mir fällt das gar nicht schwer!“ Können wir am Leben unserer Kinder sehen, welche Werte Bestand haben? Können wir sogar nach der prägenden Familienphase noch Werte weitergeben?

In den Teenager-Jahren und der ersten Zeit als junge Erwachsene werden viele Werte aus dem Familienleben von den Heranwachsenden überprüft. Dabei gehen sie in Distanz zu ihren Eltern und betrachten deren Leben kritisch. Das beginnt mit den Mahlzeiten und dem Freizeitverhalten, richtet sich darauf, wie man sich kleidet oder einrichtet und reicht bis hin zu großen ethischen Themen und Debatten. Nicht selten haben mein Mann und ich diese Diskussionen als Erschütterungen wahrgenommen: „Eben fandet ihr doch alles noch gut und jetzt …?“ Mir hat es geholfen, mich den Auseinandersetzungen mit unseren Kindern zu stellen, um in ihrer Nähe zu bleiben – auch wenn es wehtat. Umso mehr begeistert es mich, wenn ich an ihrem Handeln plötzlich entdecke: Da schimmert ein Wert durch, der meinem Mann und mir auch wichtig ist.

Kleine T-Rex-Ärmchen

Werte sind eine Art innerer Kompass. Werte legen den Grundstein dafür, wie wir leben und arbeiten. Sie sind Grundprinzipien für das Miteinander und legen Eigenschaften und Ideale fest. Bei all der Schnelllebigkeit heutzutage geben Werte eine Grundausrichtung vor, eine Art roten Faden, der Kräfte bündelt und dabei hilft, die eigenen Grundsätze nicht aus den Augen zu verlieren. Meine Werte bieten mir die Möglichkeit, wie bei einem Sandkasten meine Handlungen, Ideen oder Möglichkeiten durch ein Sieb zu geben und die wichtigsten Dinge herauszufiltern. Dazu gehören für mich die klassischen christlichen Werte. Als Jesus nach dem wichtigsten Gebot gefragt wird (Markus 12,28 ff), stellt er ein Beziehungsgeflecht vor, das von Wertschätzung, Respekt und Achtung lebt: „Liebe Gott, und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Immer wieder hat uns diese Schablone motiviert, von uns weg zu sehen. Das ist ein Blick, den wir besonders mit den erwachsenen Kindern brauchen. Ich freue mich, wenn ich sehe, wie liebevoll sie ihre Geburtstagsessen dekorieren, wie sie Waffelbacktage veranstalten, wie sie für jemanden da sind oder die Schulden des anderen bezahlen. Das sind Werte, die sie durch das Leben mit uns mitbekommen haben.

Werte sind in unserer Familie immer wieder Thema. Wir freuen uns darüber, wie die anderen sich entwickeln. Wir sehen uns gern und stellen uns dabei immer wieder einer gemeinsamen Reflexion. Das haben wir schon gemacht, als die Kinder im Kindergartenalter waren. Bis heute wird erst zwinkernd gefrotzelt: „Na, Mama, hast du wieder eine pädagogische Übung für uns?“ Trotzdem erleben wir diesen Wert des qualitativen Austausches. Und ich sehe daran, wie sie ihre Freundschaften gestalten, dass sie sich bemühen, auf die Bedürfnisse des anderen zu achten und in eine Reflexion mit dem anderen kommen. Es ist schön und spannend zu sehen, wie unsere Werte in ihrem Leben präsent bleiben, sich aber auch verändern. Wenn wir zum Beispiel über das Schlafverhalten von Babys oder vegane Ernährung diskutieren oder über eigenständiges Handeln mit Aktien, ohne einen soliden Bankberater hinzuzuziehen, verwandle ich mich in einen kleinen Dinosaurier. Ich rudere empört mit den kleinen T-Rex-Ärmchen und fühle mich manchmal ungerecht behandelt.

Ins Gespräch kommen

Als wir mit den Freunden unseres Sohnes im Italienurlaub darüber reden, blickt mich einer von ihnen ernst an und sagt: „Meine Eltern haben mit uns nie über so etwas geredet. Das sind Gedanken, die ich mir heute zum ersten Mal mache.“ Manchmal brauchen wir in unserem Familienalltag Hilfe darin, Worte zu finden. Es geht darum, nicht nur einfach zu leben und tatkräftig zu sein, sondern auch darüber zu sprechen. Warum höre ich der Nachbarin am Gartenzaun zu? Warum bemühe ich mich, den Müll zu trennen? Warum finde ich es wichtig, zu spenden? Warum verteidige ich meine Kinder oder spreche liebevoll über meinen Ehemann? Es ist nie zu spät, diese Diskussion aufleben zu lassen. Dabei kann es herausfordernd sein, wenn es unterschiedliche Sichtweisen gibt und das Gespräch scheinbar zum Erliegen kommt. Mir hilft es, Fragen zu stellen: Warum möchtet ihr kein Auto haben? Weshalb hast du dich gegen die Mitarbeit in der Kirchengemeinde entschieden? Gibt es eine gesellschaftliche Entwicklung, die dir gerade Sorgen macht? Bist du jemandem in den letzten Wochen eine Hilfe gewesen? So bleiben Werte in Kopf und Herz.

Vor ein paar Tagen saß ich in einem Gottesdienst neben einem alten Mann. Er stützte sich auf seinen Rollator, hörte zu, sang aber nicht mit. Nach dem Gottesdienst habe ich mich ihm zugewandt, weil ich nicht unfreundlich sein wollte. Ich hörte an seinem Akzent, dass er nicht in dieser Region geboren ist und erfuhr, dass er seit 55 Jahren zu dieser Gemeinde gehört. Nach ein bisschen Erzählen wusste ich, dass er 44 Enkel und zehn Urenkel hat. Dass er und seine Frau jeden Tag mit einem dieser Enkel telefonieren und für zwei dieser Enkel und Urenkel beten. Dass sie von allen wissen, was sie gerade tun und brauchen, und dass sie versuchen, an ihrem Leben Interesse zu zeigen. Beim Zuhören flossen mir die Tränen. Was für ein großartiges Geschenk! Was für ein Reichtum! Ich hoffe, dass die Enkel dieser Familie diesen Wert schätzen können und ihn weitergeben: Interesse am anderen zu haben.

In Italien haben wir unter anderem darüber gesprochen, dass mein Mann und ich uns wünschen, dass die junge Generation idealistischer wird. Vielleicht beginnt es damit, dass wir unsere Ideale prüfen und weiter vorleben, sichtbar werden lassen und so diese Werte stetig ins Gespräch bringen.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und Pädagogin, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt in Göttingen.

Midlife Queen

Die Hälfte des Lebens ist schon vorbei? Falsch: Die Hälfte des Lebens liegt noch vor dir! Eine Ermutigung, nach der Kinderphase durchzustarten. Du bist eine Midlife Queen!

Deine To-do-Liste ist immer zu lang und nie abgearbeitet? In deinem Körper zwickt und zwackt es? Dinge, die früher einfach von der Hand gingen, fallen dir plötzlich schwer? Deine Emotionen gleichen verdächtig denen einer Teenagerin – in ihren Schwankungen und ihrer Intensität? Deine Gedanken kreisen weniger um die Kids und mehr um dich und das, was du brauchst und dir wünschst? Und ganz ehrlich: Manchmal fühlst du dich wie ein anderer Mensch? Schwester, ich sage dir: Eine neue Ära bricht an! Ich nenne sie Halbzeit. Und ich feiere diese Zeit so sehr. Darf ich dich anstecken?

Was heißt Halbzeit? Eine Zeit mit einschneidenden Veränderungen in der Mitte des Lebens. Und eine Phase, über die sehr wenig gesprochen wird. Wenn man heiratet, ist es klar, dass man etwas Neues beginnt. Bevor man Kinder bekommt, wird man gewarnt, instruiert, er- (oder ent-)mutigt. „Jetzt kommt eine schwere, aber schöne Phase“, sagten uns viele Menschen vor der Geburt unserer ersten Tochter. Midlife hingegen beginnt schleichend. Wir sind weniger vorbereitet.

Jongleurin mit zu vielen Bällen

Mich hat es in vielem kalt erwischt. Es begann mit körperlichen Veränderungen um den 40. Geburtstag herum. Dazu kam die Verdichtung des Lebens mit mehr Verantwortung in einer größeren Anzahl an Bereichen. Ergänzt durch eine neue Lust auf Vorwärtskommen im Beruf. Ich begann mich zu fragen: Wann, wenn nicht jetzt? Dazu kam eine Dekonstruktion in meinem Glauben, ein Leben mit Rückenschmerzen … Es fühlte sich ein bisschen so an, als wäre ich eine Jongleurin mit deutlich zu vielen Bällen. Immer in der Gefahr, einen fallen zu lassen oder zwei. Ich bin ehrlich mit dir: Oft hat es sich angefühlt, als würden mir gleich alle Bälle entgleiten. Mein Leben wurde mir fast zu viel.

Ich begann, andere Frauen in meinem Alter zu befragen. Außerdem arbeitete ich mich tiefer in die Thematik ein. Mir hilft es, Dinge zu wissen, und so las ich verschiedene Bücher und abonnierte mehrere Midlife-Podcasts. In mir wuchs der Wunsch, Hilfestellung für diese Jongleurinnen anzubieten. Ich war mir nicht sicher, ob diese Frauen Zeit für einen weiteren „Ball“ hatten. Aber trotzdem entwarf ich mutig ein 9-Monate-Programm für Frauen ab 40, das in kürzester Zeit ausgebucht war. Diese mutigen Halbzeitlerinnen waren tatsächlich bereit, in ihren Aufbruch Zeit und Geld zu investieren. 33 Frauen machten sich auf eine Veränderungsreise in diversen Lebensbereichen und Lebensfragen. Im Jahr danach führten wir den Kurs gleich noch mal durch und sind gerade mit faszinierenden weiteren 27 Frauen unterwegs. Darf ich dir ein Geheimnis verraten? Wenige Dinge in meinem Leben haben mir so viel ungetrübte Freude bereitet wie das gemeinsame Unterwegs-Sein mit diesen Frauen. Ich durfte so unglaublich viel über Midlife-Frauen lernen.

Lustig, frech und wortgewandt

Die Gesellschaft hat noch keine wirklich passenden Bezeichnungen für diese Frauen gefunden. Dr. Sheila de Liz hat ihr Buch über die Wechseljahre „Women on Fire“ genannt (Hallo Hitzewallungen!). „50 and Fabulous“ heißt ein anderes Buch. In der Presse wird von Wechseljahre-Frauen gesprochen oder Midliferinnen. Ich brauche einen neuen Begriff für meine Halbzeit-Ladies, denn „Frauen ab 40“ rollt so gar nicht flüssig von der Zunge. Bis ich etwas Besseres gefunden habe, nenne ich sie Midlife Queens.

Midlife Queens sind schön und gebildet und lustig und frech und wortgewandt und sie benennen Bullshit. Midlife Queens lassen sich eben nicht ein X für ein U vormachen. Midlife Queens stellen gute Fragen und geben sich nicht mit schnellen Antworten zufrieden. Midlife Queens fühlen sich jung und machen gern noch wilde Sachen. Sie denken weniger über ihre Außenwirkung nach und machen einfach. Midlife Queens haben schon viel Verantwortung getragen, können unglaublich gut Entscheidungen treffen, kennen meist ihre negativen Glaubenssätze und haben sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt. Midlife Queens glauben nicht mehr, sie müssten alle Erwartungen erfüllen, allen Rollenbildern entsprechen. Sie können Grenzen setzen und Nein sagen. Midlife Queens beginnen, Lachfalten zu haben und das macht sie unglaublich attraktiv. Midlife Queens kennen Gott, wissen so viel über ihn, trauen sich aber trotzdem zu sagen, dass er sie oft verwirrt. Midlife Queens lernen Gott noch mehr kennen, neue Seiten an ihm, neue Formen in ihrem geistlichen Leben und das ist wohltuend für die Kirche.

Midlife Queens haben einen Wert in der Arbeitswelt, weil sie Energie haben, Dinge umsetzen können und man nicht mehr befürchten muss, dass sie schwanger ausfallen. Midlife Queens haben weniger Geduld und Frustrationstoleranz und das ist gut so. Midlife Queens kennen ihren Körper und seine Bedürfnisse und manchmal gehen sie darauf ein. Midlife Queens kämpfen sich frei. Midlife Queens haben etwas zu sagen und wollen nicht unsichtbar werden und schon an die nächste Generation übergeben. Midlife Queens fangen an, Dinge zu machen, die sie immer machen wollten. Sie denken über ihre Kindheits- und Jugendträume nach und prüfen die Realität an ihnen. Midlife Queens sprechen Unrecht an und machen nicht mehr alles mit. Midlife Queens brechen toxische Beziehungen ab. Midlife Queens lachen laut und tanzen lange und manchmal baden sie nackt im Meer, weil sich das so frei anfühlt. Midlife Queens sind wütend und voller Erfahrungen und bunt und laut und leise und humorvoll und tief und herzlich und verschenkend und authentisch. Viele dieser Queens wollen einen Fußabdruck auf dieser Welt hinterlassen. Ich liebe eine gute Midlife Queen mit Weltverbesserungspotenzial.

Einfach anfangen

Ich könnte noch stundenlang weiter aufzählen, welche faszinierenden Eigenschaften ich an Midlife Queens beobachte. Stattdessen möchte ich lieber noch zwei Beispiele erzählen:

Simone, eine unserer Teilnehmerinnen, hat lange Jahre mit Ohnmacht gekämpft, wenn sie dem Leid der Welt gegenüberstand. Während einer Flüchtlingswelle wurde ihr wichtig, die Individualität von Menschen zu stärken: Babys und Kinder und Jugendliche sollten eine individuelle, mit Liebe handgenähte Decke bekommen. Und so begann sie, Decken für Geflüchtete zu nähen und teilte ihr Anliegen über eine Facebook-Gruppe mit Interessierten. Immer mehr Menschen machten mit und beschlossen, sich und ihre Begabungen in das Projekt zu investieren. Gemeinsam haben sie in neun Jahren 35.000 handgemachte Decken an Geflüchtete verteilt. Eine Midlife Queen, die einfach anfing, ihre Begabungen einzusetzen, um einzelnen Menschen ein Gesicht und einen Wert zu geben.

Regula, eine weitere faszinierende Teilnehmerin mit einem – wie sie es nennt – „holprigen Start ins Berufsleben und nicht normativen Lebenslauf“, arbeitet seit vielen Jahren als Pastorin. Sie bekam im Midlife das Angebot, Radiopredigerin im schweizerischen Radio zu werden. Das – im Gegensatz zu allen anderen Sprecherinnen und Sprechern – ohne Theologiestudium. Mit dem Selbstbewusstsein einer Midlife Queen stellte sie sich dieser Situation und wir feierten ihre ersten Aufnahmen mit der gesamten Gruppe. Kürzlich meldete sich ein Mann im Anschluss an eine Sendung: Er sei kein Kirchgänger, aber er habe sich sehr angesprochen gefühlt. Diese Frau hat der Welt mit ihren Begabungen in ihren nächsten Jahrzehnten bestimmt noch viel zu geben, auf das wir uns freuen können.

Midlife-Wut

Das ist echte Midlife Power aus unseren Gruppen. Weitere Beispiele fallen mir ein: Schon gewusst, dass es Midlife-Wut-Bücher gibt, wie ihre Autorinnen sie nennen? Veronika Schmidts Bücher über Sex oder Veronika Smoors „Problemzone Frau“! Vogue-Redakteurin Vera Wang wurde mit 40 Brautkleid-Designerin, weil es ihrer Meinung nach keine stilvollen Brautkleider für Frauen in ihrem Alter gab. Rosa Parks stand im Bus nicht auf und löste damit einen Aufstand gegen die Rassentrennung in den USA aus. Ihr Alter? 41. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sie in echter Midlife-Wut im Bauch dachte: Ich habe genug von dem Sch… – und damit hat sie die Welt verändert!

Ich wünsche mir ein bisschen, dass du nach dem Lesen dieser Zeilen aufspringen und loslegen willst. Dann hätte ich mein Ziel erreicht. Denn ich finde: Die Lebensmitte ist aufregend und eine unglaubliche Chance. Wenn wir erst die Hälfte des Lebens hinter uns haben, dann haben wir noch eine ganz schön lange Phase vor uns. Und das ist eine Phase, in der wir wissen, wer wir sind, was wir wollen und was unser Beitrag ist. Und in der wir der Welt entgegenschreien: „Warte es bloß ab! Es gibt noch eine Million Dinge, die ich noch nicht getan habe. Und ein paar davon werde ich umsetzen.“

Simea Gut arbeitet bei Campus WE, einem Arbeitszweig von Campus für Christus, und als Podcasterin bei Frauthentisch. Sie lebt mit ihrem Mann Dave und zwei Töchtern in Lörrach.

Einsamkeit im ersten Babyjahr – was tun?

Den ganzen Tag mit dem Baby zusammen und dennoch einsam? Das klingt paradox – doch Einsamkeit ist für manche Eltern im ersten Babyjahr Realität.

Das Einsamkeitsbarometer des Deutschen Familienministeriums von 2024 listet die Erziehung und Betreuung minderjähriger Kinder als „erhöhte Einsamkeitsbelastung“ auf. Als Eltern habe man weniger Zeit, soziale Kontakte zu pflegen. Vor allem im Coronajahr 2020 fühlte sich rund ein Drittel aller Eltern einsam, 2021 waren es noch über 12 Prozent, bei Alleinerziehenden litten sogar 16 Prozent an Einsamkeit. Im Internet findet man viele Berichte von Müttern, die sich mit Baby zu Hause einsam fühlen. Vor allem dann, wenn der Partner viel arbeitet oder Freunde und Familie weiter weg wohnen.

Auch ich habe mich in der Elternzeit sehr oft nicht nur allein, sondern einsam gefühlt. Mir fehlte der Austausch mit Erwachsenen. Zu Hause allein mit Baby war mir oft langweilig. In Spiel- und Krabbelgruppen fühlte ich mich aufgrund der oft so unterschiedlichen Erziehungsstile selten wirklich wohl. Sozialkontakte aus der Zeit vor den Kindern brachen teilweise weg, weil die Lebensentwürfe, Themen und Zeitpläne zu verschieden waren. Da ich nebenbei freiberuflich weiterarbeitete, ging mein Themenfeld in Gesprächen über Babythemen hinaus, womit viele meiner Mama-Bekanntschaften nichts anfangen konnten. Ich wollte Zeit mit meinem Kind verbringen und brauchte gleichzeitig auch Zeit für mich allein und meine Arbeit. Diese Zerrissenheit führte zu ständigen Schuldgefühlen, weil ich weder ganz in der einen noch in der anderen Welt war. Ich war verunsichert und fragte mich, was mit mir nicht stimmte, dass ich die Elternzeit nicht so genießen konnte, wie scheinbar alle anderen Mütter um mich herum. Später stellte ich fest, dass es vielen Müttern ähnlich ging – nur sprach kaum jemand offen darüber.

Nicht allein, aber einsam

Das Gefühl von Einsamkeit im ersten Babyjahr scheint ein Tabuthema zu sein. Keine Mutter – oder kein Vater – gibt gern zu, dass die Gesellschaft des Babys nicht immer reicht. Und dennoch kennen die meisten dieses Gefühl wahrscheinlich. So wie Sara. Als die rund einjährige Elternzeit mit ihrem Sohn begann, ging ihre zweieinhalbjährige Tochter in den Kindergarten. Sara und ihr Mann waren gerade in ein Haus auf einen ehemaligen Bauernhof zur Familie gezogen. Vor der Elternzeit hatte Sara viele soziale Kontakte und ging gern zur Arbeit. Doch ihr Sohn schlief sehr schlecht, wachte nachts stündlich auf, weinte tagsüber viel. Der monatelange Schlafmangel erschöpfte Sara. „Ich war so müde, ich konnte weder Freunde treffen noch Babykurse besuchen. Nicht mal einkaufen war möglich“, sagt sie über ihren Zustand damals.

Trotz der Unterstützung von Mann und Mama fühlte sich Sara überfordert und einsam. „Es war schwierig, die Verantwortung und Belastungen die meiste Zeit des Tages nicht teilen oder sich darüber austauschen zu können“, erzählt sie. Während andere Eltern vom schönen ersten Babyjahr schwärmten, konnte Sara dieses Empfinden nicht teilen. Manche Freundinnen und Freunde reagierten mit Unverständnis, andere zeigten keinerlei Reaktion, wenn sie von ihren Problemen erzählte. Einige brachen den Kontakt sogar ab. Nur ein paar wenige zeigten sich empathisch, verständnisvoll und interessiert.

Vor allem kinderlose Menschen können das Gefühl von Einsamkeit in den ersten Babymonaten nur schwer nachvollziehen – wie kann das denn sein, wo man doch den ganzen Tag mit einem kleinen Menschen zusammen ist?! Doch Einsamkeit ist nicht mit Alleinsein zu verwechseln. Einsamkeit ist subjektiv. Das Einsamkeitsbarometer beschreibt Einsamkeit als „wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Erwartungen an soziale Beziehungen und den tatsächlich vorhandenen Beziehungen“, sowohl bezogen auf die Anzahl als auch Qualität der Sozialkontakte. Es gibt Menschen, die von außen betrachtet in ein großes soziales Netzwerk eingebunden sind und sich dennoch einsam fühlen. Und es gibt Menschen, die oft allein sind, ohne darunter zu leiden. Auch Sara kennt das Gefühl, einsam, aber nie allein zu sein: „Ich habe mich nach Gesellschaft gesehnt und gleichzeitig nach Zeit, mal wirklich allein für mich zu sein. Ich war zerrissen zwischen mehreren Herzenswünschen“, erinnert sie sich.

Sehnsucht nach Austausch

Natürlich empfindet es nicht jedes Elternteil so. Manche schaffen es, ihre früheren Sozialkontakte aufrechtzuerhalten oder in Spielgruppen neue zu finden. Bei manchen leben Eltern und Geschwister im gleichen Ort. So wie bei Tabea und Linda. Tabea ist seit rund zehn Monaten in Elternzeit mit ihrem ersten Kind. „Ich bin sehr gern zu Hause, es macht mir viel Freude und ich habe viel Spaß mit meiner Tochter“, sagt sie. Vor allem die ersten vier Monate nach der Geburt war sie froh, die Zeit mit ihrer „pflegeleichten Tochter“ ohne Verpflichtungen oder Termine genießen zu können. Wenn sie sich nach Austausch sehnt, besucht sie ihre Geschwister oder Eltern, die nur wenige Gehminuten entfernt wohnen. Eine Freundin mit einem gleichaltrigen Kind wohnt im Nachbarort.

Tabeas Schwägerin war ihre Hebamme und ist jetzt selbst schwanger. Die vielen Kontakte sind „ein großer Segen“ für Tabea. Auch in ihrer Gemeinde ist sie tief verwurzelt, ihr Mann und sie arbeiten bei den Konfirmanden mit. Demnächst wollen sie dort in einen Spielkreis gehen. Aber eine Sache fehlt Tabea: eine Austauschgruppe für Mütter. „Vor allem zu Beginn hätte ich mir eine Online-Austauschgruppe gewünscht“, sagt sie. So hätte jede Mama entspannt mit Baby zu Hause bleiben und sich gleichzeitig über eigene Herausforderungen austauschen können. Leider gab es eine solche Gruppe nicht. „Beim nächsten Kind werde ich es selbst in die Hand nehmen und eine Gruppe gründen“, plant Tabea.

Als Lindas erster Sohn geboren wurde, war ihr Mann als Austauschpartner noch oft zu Hause. Das gab ihr zudem die Zeit, Elterngruppen für neue Kontakte zu finden. Einige Mütter kannte sie bereits aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Später kamen Bekanntschaften aus dem Mutter-Kind-Kreis ihrer Gemeinde hinzu. „Ich war also Gott sei Dank von Anfang an recht gut sozial eingebunden“, erinnert sie sich. Deshalb fühlte sie sich nicht einsam, jedoch oft „alleingelassen mit meinen Fragen und Sorgen“. Die vielen unterschiedlichen Ansichten der anderen Mütter verunsicherten sie. Sie wünschte sich ehrlichen Austausch und gegenseitige Unterstützung. „Ich habe lange nach jemandem gesucht, bei dem ich mich mit meinen Unsicherheiten gut aufgehoben fühle und der mir hilfreich zur Seite steht, ohne mich zu belehren und zu sagen, was richtig und was falsch ist“, sagt Linda. Selbst sozial gut eingebundenen Eltern fehlt es also manchmal in der Elternzeit an ehrlichem Austausch auf Augenhöhe.

Wege aus der Einsamkeit

Was hilft nun also, aus der Einsamkeit herauszukommen? Nicht jeder kann auf die Unterstützung von Freunden oder Familie in der Nähe bauen. Wer vor der Geburt des Babys noch kein gutes soziales Netzwerk hatte, kann Krabbelgruppen, Spielplatztreffen und Co dazu nutzen, um neue Bekanntschaften zu finden. Aktivitäten gemeinsam mit dem Kind wirken der Einsamkeit entgegen, weil man vielleicht neue Bekannte mit gleichen Interessen findet. Nebenbei stärken sie die Bindung zum Kind. Das können Sportkurse sein sowie Kreativ- und Musikangebote, bei denen Babys und Kleinkinder willkommen sind. Du hast keine Gruppe, die dir gefällt, in deiner Nähe? Dann gründe wie Tabea selbst eine – vielleicht in deiner Gemeinde – und mach Werbung dafür, um Gleichgesinnte zu finden. Für alle, die sich dazu nicht überwinden können oder sich wie ich in solchen Gruppen nicht wirklich wohlfühlen, sind vielleicht Online-Foren zum Austauschen eine gute Idee.

Falls du neben dem Elternsein noch einen weiteren Lebenssinn suchst: Auch Ehrenämter sind mit Baby und Kleinkind möglich. Zum Beispiel Besuche bei Senioren in der Gemeinde oder einem Altenheim, die etwa der Besuchsdienst des Roten Kreuzes vermittelt. Die meisten Senioren freuen sich über kleine Kinder! An besonders schlechten Tagen habe ich es nicht geschafft, meine Einsamkeit zu überwinden und persönlich nach Kontakten zu suchen. Dann half es mir, meinen Partner einzubinden. Teilweise hat er dann bei befreundeten Familien angefragt und als ersten Schritt ein Treffen zwischen uns Frauen oder Mamas organisiert. Auch der Glaube kann eine große Stütze sein. Sara sagt, Gott habe in dieser schwierigen Zeit mit ihr „das Leben aufgearbeitet, wie es sonst nie möglich gewesen wäre“. Es half ihr zu wissen, „dass da jemand ist, der mich hält und sieht, auch in den dunkelsten Stunden und allein im dunklen Schlafzimmer“.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

„Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten“

Als Claudia Staudt die kleine Lena im Arm hält, ist für sie klar: Sie möchte ihre Mama werden. Dass Lena lebenslang pflegebedürftig sein wird, ändert nichts an ihrer Entscheidung.

Lena Marie. Lena. Lenchen. Mein Baby. Unsere Tochter. Unser großes Mädchen, das mit den ersten Launen der Pubertät kämpft, Sitzski fährt und allein ihre Assistenzhündin führt. Lena ist ein so bemerkenswertes Mädchen. Und bemerkenswert ist auch unsere Geschichte. Bis heute kann ich es manchmal kaum glauben, dass ich Mama dieses tollen Wesens sein darf. Dass ich überhaupt Mama sein darf.

Das winzigste Baby

Als mein Mann und ich unsere Tochter kennenlernten, war sie schon beinahe drei Monate alt. Und doch war sie das winzigste Baby, das ich je gesehen habe. Sie trug Kleidergröße 50 und versank darin. Lena war vier Monate zu früh zur Welt gekommen und hatte während der Geburt Hirnblutungen erlitten. Die Ärzte hatten so schwere Schädigungen des Hirns diagnostiziert, dass sehr schnell klar gewesen war, dass Lena zeitlebens schwere Beeinträchtigungen haben würde. Lenas leibliche Eltern hatten sie daraufhin zur Adoption freigegeben, und das Jugendamt hatte sie bei einer Bekannten unserer Familie untergebracht. Wir kannten Regina aus unserer Kirchengemeinde, sie nahm häufiger Kinder auf. Aus Familien, in denen es schwer war. Oder Babys, die weitervermittelt wurden. Und nun war Lena bei ihr. An einem Sonntag im März 2013 lag sie in meinen Armen. Ich roch an ihrem Haar, streichelte sanft über ihren kleinen Bauch und hörte zu, wie Regina berichtete, dass die Behörden keine Adoptiveltern für dieses kleine Mädchen finden konnten. Keiner wollte ein Baby adoptieren, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebenslang ein Pflegefall bleiben würde. Die vergangenen drei Monate hatte dieses kleine Mädchen allein auf der Neonatologie gelegen. Sie hatte nach einer Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche um ihr Leben gekämpft, ihren Zwillingsbruder verloren und niemanden gehabt, der ihr sagte, dass er sie liebt. Und nun sollte sie den Rest ihres Lebens in einem Heim verbringen? Würde man da auch mehrmals die Woche mit ihr zu ihren Therapien gehen, wie Regina es tat? Alles in mir wehrte sich gegen diese Vorstellung.

Hals über Kopf verliebt

Mein Mann und ich hatten eine jahrelange Reise durch die Labore einer Kinderwunschklinik hinter uns. Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtungen und Fehlgeburten hatten in den vergangenen Jahren unseren Alltag bestimmt. Unser sehnlichster Wunsch war es, einem Kind Liebe zu schenken und es in die Welt zu begleiten. Hier war nun dieses bezaubernde, hilflose Wesen, und niemand wollte ihm ein Zuhause geben? Wir wollten es. Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten, ihm immer wieder versichern, dass es nicht allein ist. Mein Mann und ich hatten uns Hals über Kopf in Lena verliebt und wollten für Lena da sein, sie glücklich machen, ihr helfen. Wir sprachen miteinander, mit Freunden und der Familie. Sprachen mit Regina. Wir stellten uns vor, wie es wäre, Lenas Eltern zu sein. Malten uns aus, wie das Leben mit einem schwer behinderten Kind aussehen könnte. Zeichneten Worst-Case-Szenarien und betrachteten sie. Schreckten sie uns ab? Nein. Hatten wir die Unterstützung unserer Freunde und Familien? Ja. Also gingen wir zum Jugendamt und erklärten, dass wir Lenas Eltern werden wollen. „Auf keinen Fall“, hieß es vonseiten des Jugendamtes. Man kenne uns schließlich gar nicht. Man könne uns nicht einfach so ein Kind geben. „Nein, nicht einfach so“, sagten wir. Aber man könnte uns doch wenigstens mal anschauen. Wir gaben nicht auf, wir kämpften, wir überzeugten das Amt, uns kennenzulernen. Endlose Gespräche, unzählige ausgefüllte Formulare und viele absolvierte Seminare später durfte Lena unsere Pflegetochter werden.

Anders als die anderen

Dass Lena anders war als die Babys in unserem Umfeld, die keine Behinderung hatten, war von Anfang an sehr deutlich. Wenn ich gefragt werde, wann wir merkten, dass das Leben mit Lena nicht so werden würde, wie wir uns unser Familienleben während unserer Kinderwunschbehandlungen vorgestellt hatten, sage ich, dass Anders gemeinsam mit Lena bei uns eingezogen ist. Angeklopft hatte es schon einige Jahre zuvor, das kleine Anders – nämlich mit unserem Gang ins Kinderwunschzentrum. Mit Lena aber nistetete es sich bei uns ein, war gekommen, um zu bleiben. Ich erinnere mich an die Babyschwimmkurse: Jede einzelne Stunde beendeten Lena und ich vorzeitig und verließen vor allen anderen fluchtartig das kleine Becken. Lena konnte die vielen Reize nicht verarbeiten. Das Wasser, das Lachen der anderen Kinder, der Gesang der Mütter – alles zu viel für sie. Anders war es auch mit Lena im PEKiP-Kurs. Während die übrigen Kinder von Woche zu Woche mobiler wurden, nach Gegenständen griffen, sitzen lernten und sich irgendwann an den großen bunten Spielquadraten hochzogen, lag Lena von Anfang bis Ende des Kurses in meinem Arm. Sie zeigte kein Interesse an der Bewegung, scheiterte daran, irgendetwas festzuhalten, und begann stets panisch zu brüllen, wenn ich ihren Körper auch nur ansatzweise von meinem entfernte. Ich litt. Nicht, weil ich mein Baby nicht jede Sekunde bei mir haben wollte. Nein, ich liebe es noch immer, an ihr zu riechen, sie an mich zu drücken und ihr über die dunklen Locken zu streicheln. Aber die anderen Kinder schienen so viel Freude an der Bewegung zu haben – und das wünschte ich mir für Lena auch.

Außen vor

Mit Lena wuchs auch Anders. Es nahm immer mehr Platz auf unserer Couch ein. Es begnügte sich nicht mehr damit, bei uns zu Hause zu sein, sondern spazierte mit uns durch die Straßen unseres Stadtviertels. Das war ungefähr zu der Zeit, als wir für Lena einen Rehabuggy bekamen. Ein sperriges und für mein Empfinden hässliches Teil. Das sei in grau eigentlich ganz schick, hatte der Rehatechniker bei der Erprobung gesagt. Glatte Lüge. Aber es bot Anders eine tolle Möglichkeit, sich beim Spazierengehen daran festzuhalten – alle anderen Familien hatten schicke moderne Buggys. Wir fielen also auf. Anders fiel auf. In der Kindergartenzeit sorgte Anders immer wieder für Tränen bei Lena und uns. Kindergeburtstage in der Kletterhalle, Playdates auf dem Spielplatz, die ersten Turnstunden – Lena war außen vor. Und mit Lena waren auch wir außen vor. Die Mamas der nicht behinderten Kinder unseres inklusiven Kindergartens waren großartig und luden mich immer mit ein, wenn sie sich trafen. Immer ging ich voller Vorfreude und Optimismus hin. Und immer kam ich enttäuscht nach Hause. Denn jedes Mal ging es um Themen, bei denen ich nicht mitreden konnte: Welche Ballettschule im Umkreis ist die beste? Welches Fahrrad ist für den Einstieg geeignet? Und wo gibt es Vereine, in denen die Kinder den Freischwimmer machen können? Ich hörte zu und lächelte. Wollte aber manches Mal lieber heulen. Und mich eigentlich über Windeln für große Kinder, schönen Rolli-Speichenschutz und die nächste stationäre Kinderreha unterhalten. Es passte einfach meistens nicht.

Hobby gefunden

Mittlerweile besucht Lena die vierte Klasse einer inklusiven Montessorischule. Und noch immer ist Anders ein Thema. Nach wie vor gehört Lena für unser und ihr Empfinden nicht richtig dazu. „Mama, das liegt nicht an mir. Das liegt an meiner Behinderung“, sagt sie oft. Ja, mein Kind, ganz richtig. Nun könnte man fragen, ob sie denn an einer Förderschule nicht besser aufgehoben sei. „Nein“, sagt Lena. Wir haben uns vor Schuleintritt gemeinsam mit ihr für die private Regelschule und gegen die Förderschule entschieden. Denn Therapien konnte man uns in der Förderschule ohnehin nicht garantieren. Individuelle Förderung für unser zwar motorisch so eingeschränktes, kognitiv aber so fittes Mädchen auch nicht. Dazu dreimal so lange An- und Abreisezeit und unflexible Unterrichtszeiten. Lenas Schule ist toll. Und in der Schule selbst ist Lena voll dabei. Genau wie all die anderen Kinder mit Behinderung. Aber zwischen „Ich akzeptiere meine behinderte Mitschülerin“ und „Ich möchte mit meiner behinderten Mitschülerin befreundet sein“ liegen eben Welten. Lena hat eine Freundin. Eine. Und die auch erst seit Ende der dritten Klasse. Inklusion ist eben mehr, als behinderte Kinder als nicht störend zu empfinden. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir heute eine glückliche kleine Familie, Lena ein fröhliches, intelligentes und humorvolles elfjähriges Mädchen. Mit ihrem Elektro-Rollstuhl fährt sie selbstbewusst durchs Leben. Sie ist eloquent und durchsetzungsfähig. Und stolze Teampartnerin einer Assistenzhündin namens Ypsi. Mit Ypsi hat Lena ein Hobby gefunden, das sie gemeinsam mit den anderen Kindern aus unserem Assistenzhundeverein ausüben kann.

Ständiger Kampf

Und wir? Wir kämpfen noch immer. Nicht mehr um Lena, sondern für sie. Für Teilhabe, für Hilfsmittel, für Inklusion. Für Entlastung, Verständnis und Unterstützung für uns pflegende Eltern. Wir haben gelernt, uns Anders zu Nutzen zu machen. Lena spricht auf medizinischen Kongressen über ihre Behinderung. Sie berichtet, wo sich in ihrem Alltag Hürden auftun, welche Hilfsmittel ihr die liebsten sind und was sie sich für die Zukunft wünscht. Auf meinem Instagram-Account @claudistaudi lasse ich die Welt an unserem turbulenten Alltag teilhaben. Ich betreibe außerdem den Podcast „Pflegegrad Glück“ für pflegende Mütter. Und ich habe ein Buch veröffentlicht. In „Wir wollten Lena“ erzähle ich nicht nur unsere Geschichte, sondern beschreibe auch, dass es nach wie vor die Bürokratie ist und nicht Lenas Behinderung, die uns im Alltag am meisten behindert. Andreas und ich werden oft gefragt, ob wir es bereuen, ein behindertes Kind angenommen zu haben. Die Antwort ist ein entschiedenes und laut gebrülltes „NEIN!“. Aber auf die Frage, ob das Leben mit einem behinderten Kind so ist, wie wir es uns vorgestellt hatten, brüllen wir ein ebenso lautes „NEIN!“. Niemals hätten wir gedacht, wie schwierig es ist, die Hilfsmittel und die Unterstützung zu erhalten, die unserem Kind und uns zustehen. Und niemals hätten wir vorab realisieren können, wie wenig inklusiv unsere Gesellschaft ist. Aber ebenso wenig hätten wir uns jemals ausmalen können, wie glücklich und zufrieden uns das Leben mit Lena machen würde.

Claudia Staudt arbeitet als freie Journalistin, Pressesprecherin und Fitnesstrainerin. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Pflegetochter und deren Assistenzhündin im Großraum Düsseldorf. Über ihre Geschichte mit Lena hat sie ein Buch geschrieben: „Wir wollten Lena“ (Bonifatius) Mehr zur Familie auf Instagram unter @claudistaudi

Mehr sein und weniger tun

Vater sein ist nicht nur eine Aufgabe oder eine Rolle, sondern es ist eine innere Haltung. Hirnforscher Gerald Hüther erzählt im Interview, was Kinder an Vätern wirklich brauchen.

Im Kindergarten und der Grundschule werden Kinder mehrheitlich von Frauen betreut. Sind Männer verzichtbar geworden?

Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um sich zu orientieren. Da Frauen und Männer unterschiedlich sind, fehlt ein wesentliches Gegenüber für eine gesunde Rollenbildung, wenn kein Mann da ist. Jungen und Mädchen müssen aber ein inneres Bild von dem entwickeln, was männlich und was weiblich ist. Mannsein lerne ich eben nicht aus dem Internet, dem Fernsehen oder aus Büchern. Und wenn die Kinder keinen Mann erleben, wachsen sie mit einem echten Erfahrungsdefizit auf.

Hier kommt besonders der Vater ins Spiel. Worin sehen Sie die Bedeutung von Vätern?

Wir haben zwei verschiedene Geschlechter und eine bestimmte Erfahrungswelt für Frauen und Männer in unserer Gesellschaft. Und die einzige Notwendigkeit, die ich als Hirnforscher sehe, ist, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen mit vielfältigen Menschen zu machen. Es gibt eine ganze Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass Väter und Mütter unterschiedlich auf Kinder reagieren und ihnen damit auch andere Möglichkeiten bieten. Wenn zum Beispiel ein Kind auf dem Spielplatz von der Schaukel fällt, nimmt die Mutter das Kind auf den Schoß, tröstet es und setzt es dann woanders hin. In die Sandkiste zum Beispiel, wo es nicht mehr runterfallen kann. Bei Vätern beobachtet man häufiger, dass sie das Kind nehmen, es trösten und es wieder zurück auf die Schaukel setzen. Und das ist eine völlig andere Erfahrung für ein Kind. Nämlich, dass es ein Problem gab, aber dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es vermeidet, sondern dass man sich dem Problem stellt. Es mag sein, dass Männer das leichter können, und so mag es eine ganze Reihe von anderen Dingen geben, die ein Vater dem Kind besser vermitteln kann. Und das gilt eben nicht nur für Jungs, die natürlich ein männliches Vorbild brauchen, sondern das gilt in gleicher Weise auch für Mädchen. Auch Mädchen brauchen ihre Väter.

Was macht für Sie einen richtig guten Vater aus?

Ich fürchte, dass es keine richtig guten Väter gibt, sondern dass jeder Vater versuchen kann, es so gut wie möglich zu machen. Und es gibt Väter, die sich selbst darüber bewusst sind, dass sie für ihre Kinder ein Rollenmodell bieten. Kinder lernen von Vorbildern, und Jungs lernen von ihrem Vater, was männliche Identität bedeutet und bekommen damit einen Maßstab und eine Orientierung, die ihnen oftmals für das ganze Leben lang bedeutsam ist. Das war und ist aber nicht immer gegeben. Daher wäre es gut, wenn Väter sich noch stärker darüber bewusst würden, welche bedeutsame Rolle sie spielen und wie sehr ihr Vorbild ihre Kinder auf ihrem Weg prägt. Und nicht nur die Jungs, sondern die Mädchen in gleicher Weise. Denn wir sehen auch in vielen Studien, dass Mädchen ihre spätere Partnerwahl sehr stark unter dem Einfluss der Erfahrungen treffen, die sie mit ihrem eigenen Vater gemacht haben. Manche suchen sich einen, der so ähnlich ist wie der Vater, andere suchen einen, der sich in ihren Augen sehr stark von ihrem Vater unterscheidet. Väter sind also Rollenmodelle für Söhne, wie sie als Väter leben. Und Töchter sollten an ihrem Vater sehen können, wie ein Mann wertschätzend mit einer Frau umgeht und was man von einem Mann erwarten sollte. Und sie leben vor, wie Partnerschaft aussieht.

Als Vater versuche ich natürlich, meine Sache gut zu machen. Trotzdem scheitere ich oft genug an meinen Ansprüchen. Ich möchte liebevoll sein und doch reagiere ich über. Was kann ich tun, um ein besserer Vater zu sein?

Vielleicht ist es hilfreich, erst mal zu fragen, weshalb es so oft nicht gelingt. Das hat etwas mit Affekten zu tun, die wach werden, wenn man als Vater mit bestimmten Verhaltensweisen des Kindes konfrontiert wird. Das kann wie ein Trigger wirken, der im eigenen Gefühlsleben bestimmte Emotionen und Affekte erzeugt, die so stark sind, dass man plötzlich nicht mehr Herr seiner Handlungen ist. Und dass man plötzlich in dieser übererregten Situation – neurobiologisch nennen wir das Frontalhirndefizit – kopflos reagiert. Aus dem Affekt heraus tut man Dinge, die man sonst nicht machen würde. Das passiert vor allem dann, wenn man in engen emotionalen Bindungen steht. Also mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner. Was notwendig wäre, um nicht im Affekt zu reagieren: Zählen Sie erst mal bis zehn und dann denken Sie nochmal kurz nach und dann handeln sie. Wer sofort aus dem Affekt heraus handelt, kann nicht umsichtig und liebevoll mit seinem Kind umgehen. Das wären die praktischen Tipps.

Als Vater ein Vorbild zu sein, ist nicht immer leicht. Die Rollen im Beruf, in der Familie, in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Wie kann man das Mann- und Vatersein da leben?

Als Mann muss man sich über die verschiedenen Rollen bewusst sein. Die Gefahr ist groß, von der Gesellschaft verführt zu werden, irgendwelche Rollen spielen zu wollen, um Anerkennung zu bekommen. Es ist schlecht, wenn ein Mann, dem dieses Theaterspiel selbst nicht klar ist, Kinder erzieht, egal ob Jungs oder Mädchen. Wer das selbst nicht durchschaut, identifiziert sich dann auch allzu leicht mit seiner Rolle. Den Kindern so ein Rollenspiel vorzuleben, kann dazu führen, dass auch sie versuchen, irgendwelche Rollen zu spielen, und sich dabei selbst fremd werden. Jetzt könnte man versuchen, diese Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, zu hinterfragen und sich nicht mit dieser Rolle zu identifizieren. Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, dann sage ich eben nicht: Ich bin Professor für Neurobiologie. Sondern: Ich bin Gerald Hüther, der sich auf irgendeine Art und Weise darum bemüht, im Leben zurechtzukommen. Das ist ein ganz anderes Selbstbild. Und dieses andere Selbstbild, dass ich, wie alle anderen, suchend und fragend unterwegs bin, wäre als Grundhaltung dann auch für die Kinder großartig. Dadurch ist man nicht der Besserwisser und der Alleskönner, der die Kinder zum Objekt seiner Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen macht. Sondern man outet sich als einer, der auch nicht weiß, wie es geht. Man kann dem Kind auch offenbaren, dass man ein fehlbarer Mensch ist, der sich Mühe gibt und es versucht, so gut wie möglich zu machen. Hier ist der Erwachsene, ob Mutter oder Vater, nicht mehr die Führungsfigur, die das Kind erzieht und belehrt und ihm alles beibringt. Solche Eltern werden ihr Kind in seiner ganzen Einzigartigkeit so annehmen, wie es ist. Sie werden nicht versuchen, aus diesem Kind etwas zu machen, wovon sie glauben, dass es darauf ankäme oder günstig wäre. Und das ist die wirkliche Definition von Liebe, nämlich das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Geliebten. Das halte ich im Augenblick für die wichtigste Botschaft, die wir an Väter weitergeben können: Kein Rollenspieler, sondern ein authentischer Mann zu sein. Natürlich brauchen Kinder auch Führung, Halt und Orientierung. Aber was sie nicht brauchen, ist jemand, der autoritär sagt, wie das Kind zu sein hat.

Das setzt voraus, sich tief im Inneren auf das Kind einzulassen.

Richtig. Aber das fällt vielen Vätern schwer, weil sie eine andere Haltung erlernt haben. Nämlich, dass Väter bei kleinen Kindern noch nicht so wichtig sind und sie nicht gebraucht werden. Aber wenn man sich auf die Kinder einlässt, spürt man plötzlich, wie das Kind einen einlädt, in seine Welt zu kommen und alles mit zu entdecken. Die Welt, das Wohnzimmer, die Puppe, das Bett und auch den Papa, der mit kindlichen Augen betrachtet ganz anders ist. Und dann plötzlich öffnet sich nochmal auf eine neue Weise eine ganze Erfahrungswelt. Je öfter man diese Erfahrung macht, wie sehr sich das Kind darauf freut, dass der Papa jetzt da ist und es mit ihm etwas machen kann, desto stärker fühlt es der Papa. Dann macht er diese starke emotionale Erfahrung, dass er eigentlich ein toller Papa ist und dass er dadurch dem Kind eine ganze Menge schenken kann und dass er auch ganz viel von dem Kind bekommt. Aus dieser wiederholt gemachten Erfahrung wird dann eine Haltung. Und die Haltung heißt, dass es toll ist, mit meinem Kind als Vater auf diese Weise verbunden zu sein. Das will ich auch aufrechterhalten. Das heißt, er kann später wieder arbeiten gehen. Diese Erfahrung geht nicht wieder weg und diese Haltung bleibt bestehen. So kann man das lernen und auch anderen Vätern weitergeben, sich auf diese Erfahrung einzulassen.

Gibt es für Sie ein Vorbild für Männer und Väter?

Jesus Christus. Wenn man wissen will, wie der moderne Mann aus neurobiologischer Sicht aussieht, sollte man sich an Jesus orientieren. Der Kern dieses Mannseins heißt: ein Liebender zu sein. Das ist das, was Jesus konnte. Er brauchte nicht andere, um sich selbst aufzubauen, musste nicht mit Klugscheißereien dauernd dazwischenreden und anderen erzählen, was sie zu tun und zu lassen haben. Er hatte etwas zu verschenken. Er konnte sich um andere kümmern, sich hingeben, da sein und zuhören. Das können wir alle lernen. Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Marcus Beier.

Dr. Gerald Hüther ist emeritierter Professor für Neurologische Präventionsforschung und Autor vieler ­Sach- und Fachbücher. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Göttingen. www.gerald-huether.de

„Narzisstisch gestörte Menschen machen andere Menschen krank“

Elena Digiovinazzo ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und in einer psychosomatischen Klinik für Menschen mit Persönlichkeitsstörung therapeutisch tätig. Sie erklärt, was eine Narzisstin oder einen Narzissten ausmacht.

Frau Digiovinazzo, was ist ein Narzisst?

Es ist ein Mensch, der tief in sich ein unterentwickeltes Selbstwertgefühl hat. Er muss andere Menschen dominieren, kontrollieren und abwerten, um sich besser zu fühlen. Man geht davon aus, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung eine Selbstwert-Regulations-Störung ist. Das DSM-5, das amerikanische Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen, definiert es so, dass mindestens fünf von neun Punkten zutreffen müssen: Die Person ist sehr arrogant. Sie hat wenig Empathie. Sie ist neidisch oder glaubt, andere seien neidisch auf sie. Sie hält sich für sehr wichtig. Sie ist eingenommen von Fantasien grenzenloser Macht, Schönheit, idealer Liebe und Erfolg. Sie glaubt, einzigartig und besonders zu sein. Sie verlangt übermäßige Bewunderung. Sie hat Ansprüche auf eine Sonderbehandlung. Sie nutzt andere zum Erreichen der eigenen Ziele aus.

Das ist die Definition für einen krankhaften Narzissmus. Gibt es auch einen gesunden Narzissmus?

Ja. Ein gesunder Narzissmus ist wichtig dafür, dass wir ein gutes Gefühl für unsere Grenzen und unseren Wert haben, dass wir uns behaupten können und zielstrebig sind. Auch das Streben nach Erfolg ist normal, solange ich in der Lage bin, Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen zu nehmen. Problematisch ist es, wenn ein Mensch kein Selbstwertgefühl hat und die Sichtweise anderer Menschen nicht nachvollziehen und ihre Grenzen nicht respektieren kann. Ein krankhafter Narzisst giert nach Aufmerksamkeit und Bewunderung. Er nutzt andere Menschen aus, um gut dazustehen. Auf Kritik reagiert er übermäßig empfindlich, wohingegen ein Mensch mit einem gesunden Narzissmus nicht gleich aus der Bahn geworfen wird, wenn er Kritik bekommt.

Wie viele Menschen sind denn von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung betroffen?

Es sind ungefähr ein Prozent, bei Frauen etwa 0,7 Prozent, bei Männern etwa 1,2 Prozent. Wobei es hier sicher eine Dunkelziffer gibt. Denn Narzissten suchen sich in der Regel keine Therapie.

In unserem Family-Artikel einer betroffenen Frau kommt der Begriff des verdeckten Narzissmus vor. Was versteht man darunter?

Die Definition aus dem DSM-5 bezieht sich auf den sogenannten grandiosen oder offenen Narzissmus. Der verdeckte Narzisst agiert subtiler und ist schwerer zu erkennen. Er zeigt sich nach außen selbstlos und ist oft in Hilfsorganisationen oder der Kirche tätig. Aber eigentlich nur deshalb, weil er das Ansehen braucht und nicht, weil er anderen helfen möchte. Einen grandiosen Narzissten kann man leichter erkennen, weil er das offen zur Schau trägt. Der verdeckte Typ stellt sich als wohlwollender, altruistischer Mensch dar, hat aber genauso wenig Mitgefühl anderen Menschen gegenüber. Er macht das alles nur für sich.

Welche Auswirkungen kann es für Kinder haben, wenn ein Elternteil Narzisst ist?

Ein narzisstischer Vater oder eine narzisstische Mutter sind nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, Liebe zu zeigen oder eine sichere Bindung herzustellen. Eine Folge kann sein, dass das Kind selbst auch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung oder starke narzisstische Züge entwickelt. Bei betroffenen Kindern kann man beobachten, dass sie nur schwer anderen Menschen Grenzen setzen, Nein sagen oder für sich selbst sorgen können. Sie haben oft starke Insuffizienzgefühle, also Gefühle von Wertlosigkeit. Weitere mögliche Auswirkungen sind Angststörungen, Süchte, Essstörungen, Depressionen und psychosomatische Beschwerden. Betroffene sind häufig anfällig für Sekten oder andere toxische Beziehungen, wo sie wieder manipuliert werden.

Wenn jemand den Verdacht hat, dass ein Elternteil eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat – muss man den Kontakt abbrechen?

Das kommt auf den Schweregrad der Persönlichkeitsstörung an und wie resilient die betroffene Person nach dem emotionalen Missbrauch noch ist. Es gibt Fälle, in denen Betroffene in der Lage sind, mit beschränktem Kontakt ein glückliches Leben zu führen. Dann wiederum gibt es Konstellationen, in denen ein Kontaktabbruch unumgänglich ist. In beiden Fällen kann psychotherapeutische Unterstützung sehr hilfreich sein.

Aber wenn die Eltern schon alt sind und Unterstützung brauchen, stelle ich mir das schwierig vor, den Kontakt abzubrechen.

Es kann passieren, dass Betroffene sich schuldig fühlen. Aber noch schlimmer, als die Eltern im Stich zu lassen, ist, sich selbst und seine eigene Familie im Stich zu lassen. Es muss noch genügend Energie da sein, sich um sich selbst, seine Kinder und seinen Partner zu kümmern. Narzisstisch gestörte Menschen machen andere Menschen krank, körperlich und psychisch. Das sollte man nicht unterschätzen. Wenn die Eltern pflegebedürftig sind, kann es helfen, möglichst viel Unterstützung für die Eltern an andere zu delegieren: Pflegedienst, Nachbarn, Menschen aus dem Freundeskreis oder der Gemeinde der Eltern, wenn vorhanden.

Die Fragen stellte Bettina Wendland.

BUCHTIPPS:

  • Elena Digiovinazzo: Narzissmus in der Familie. Untersuchung eines Verbrechens
  • Elena Digiovinazzo: Verlorenes Ich. Ein Essay zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Beide Bücher und weitere Infos sind hier erhältlich.

  • Jörg Berger: Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Konflikte befrieden und versöhnt leben (Francke)
  • Annika Felber: Wenn die Familie nicht guttut. Toxische Beziehungen erkennen und lösen (Junfermann)
  • Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle (ecoWing)

Facebook-Gruppe: „Christen helfen Christen im Umgang mit Narzissten“, moderiert von Elena Digiovinazzo (Link)