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„Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten“

Als Claudia Staudt die kleine Lena im Arm hält, ist für sie klar: Sie möchte ihre Mama werden. Dass Lena lebenslang pflegebedürftig sein wird, ändert nichts an ihrer Entscheidung.

Lena Marie. Lena. Lenchen. Mein Baby. Unsere Tochter. Unser großes Mädchen, das mit den ersten Launen der Pubertät kämpft, Sitzski fährt und allein ihre Assistenzhündin führt. Lena ist ein so bemerkenswertes Mädchen. Und bemerkenswert ist auch unsere Geschichte. Bis heute kann ich es manchmal kaum glauben, dass ich Mama dieses tollen Wesens sein darf. Dass ich überhaupt Mama sein darf.

Das winzigste Baby

Als mein Mann und ich unsere Tochter kennenlernten, war sie schon beinahe drei Monate alt. Und doch war sie das winzigste Baby, das ich je gesehen habe. Sie trug Kleidergröße 50 und versank darin. Lena war vier Monate zu früh zur Welt gekommen und hatte während der Geburt Hirnblutungen erlitten. Die Ärzte hatten so schwere Schädigungen des Hirns diagnostiziert, dass sehr schnell klar gewesen war, dass Lena zeitlebens schwere Beeinträchtigungen haben würde. Lenas leibliche Eltern hatten sie daraufhin zur Adoption freigegeben, und das Jugendamt hatte sie bei einer Bekannten unserer Familie untergebracht. Wir kannten Regina aus unserer Kirchengemeinde, sie nahm häufiger Kinder auf. Aus Familien, in denen es schwer war. Oder Babys, die weitervermittelt wurden. Und nun war Lena bei ihr. An einem Sonntag im März 2013 lag sie in meinen Armen. Ich roch an ihrem Haar, streichelte sanft über ihren kleinen Bauch und hörte zu, wie Regina berichtete, dass die Behörden keine Adoptiveltern für dieses kleine Mädchen finden konnten. Keiner wollte ein Baby adoptieren, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebenslang ein Pflegefall bleiben würde. Die vergangenen drei Monate hatte dieses kleine Mädchen allein auf der Neonatologie gelegen. Sie hatte nach einer Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche um ihr Leben gekämpft, ihren Zwillingsbruder verloren und niemanden gehabt, der ihr sagte, dass er sie liebt. Und nun sollte sie den Rest ihres Lebens in einem Heim verbringen? Würde man da auch mehrmals die Woche mit ihr zu ihren Therapien gehen, wie Regina es tat? Alles in mir wehrte sich gegen diese Vorstellung.

Hals über Kopf verliebt

Mein Mann und ich hatten eine jahrelange Reise durch die Labore einer Kinderwunschklinik hinter uns. Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtungen und Fehlgeburten hatten in den vergangenen Jahren unseren Alltag bestimmt. Unser sehnlichster Wunsch war es, einem Kind Liebe zu schenken und es in die Welt zu begleiten. Hier war nun dieses bezaubernde, hilflose Wesen, und niemand wollte ihm ein Zuhause geben? Wir wollten es. Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten, ihm immer wieder versichern, dass es nicht allein ist. Mein Mann und ich hatten uns Hals über Kopf in Lena verliebt und wollten für Lena da sein, sie glücklich machen, ihr helfen. Wir sprachen miteinander, mit Freunden und der Familie. Sprachen mit Regina. Wir stellten uns vor, wie es wäre, Lenas Eltern zu sein. Malten uns aus, wie das Leben mit einem schwer behinderten Kind aussehen könnte. Zeichneten Worst-Case-Szenarien und betrachteten sie. Schreckten sie uns ab? Nein. Hatten wir die Unterstützung unserer Freunde und Familien? Ja. Also gingen wir zum Jugendamt und erklärten, dass wir Lenas Eltern werden wollen. „Auf keinen Fall“, hieß es vonseiten des Jugendamtes. Man kenne uns schließlich gar nicht. Man könne uns nicht einfach so ein Kind geben. „Nein, nicht einfach so“, sagten wir. Aber man könnte uns doch wenigstens mal anschauen. Wir gaben nicht auf, wir kämpften, wir überzeugten das Amt, uns kennenzulernen. Endlose Gespräche, unzählige ausgefüllte Formulare und viele absolvierte Seminare später durfte Lena unsere Pflegetochter werden.

Anders als die anderen

Dass Lena anders war als die Babys in unserem Umfeld, die keine Behinderung hatten, war von Anfang an sehr deutlich. Wenn ich gefragt werde, wann wir merkten, dass das Leben mit Lena nicht so werden würde, wie wir uns unser Familienleben während unserer Kinderwunschbehandlungen vorgestellt hatten, sage ich, dass Anders gemeinsam mit Lena bei uns eingezogen ist. Angeklopft hatte es schon einige Jahre zuvor, das kleine Anders – nämlich mit unserem Gang ins Kinderwunschzentrum. Mit Lena aber nistetete es sich bei uns ein, war gekommen, um zu bleiben. Ich erinnere mich an die Babyschwimmkurse: Jede einzelne Stunde beendeten Lena und ich vorzeitig und verließen vor allen anderen fluchtartig das kleine Becken. Lena konnte die vielen Reize nicht verarbeiten. Das Wasser, das Lachen der anderen Kinder, der Gesang der Mütter – alles zu viel für sie. Anders war es auch mit Lena im PEKiP-Kurs. Während die übrigen Kinder von Woche zu Woche mobiler wurden, nach Gegenständen griffen, sitzen lernten und sich irgendwann an den großen bunten Spielquadraten hochzogen, lag Lena von Anfang bis Ende des Kurses in meinem Arm. Sie zeigte kein Interesse an der Bewegung, scheiterte daran, irgendetwas festzuhalten, und begann stets panisch zu brüllen, wenn ich ihren Körper auch nur ansatzweise von meinem entfernte. Ich litt. Nicht, weil ich mein Baby nicht jede Sekunde bei mir haben wollte. Nein, ich liebe es noch immer, an ihr zu riechen, sie an mich zu drücken und ihr über die dunklen Locken zu streicheln. Aber die anderen Kinder schienen so viel Freude an der Bewegung zu haben – und das wünschte ich mir für Lena auch.

Außen vor

Mit Lena wuchs auch Anders. Es nahm immer mehr Platz auf unserer Couch ein. Es begnügte sich nicht mehr damit, bei uns zu Hause zu sein, sondern spazierte mit uns durch die Straßen unseres Stadtviertels. Das war ungefähr zu der Zeit, als wir für Lena einen Rehabuggy bekamen. Ein sperriges und für mein Empfinden hässliches Teil. Das sei in grau eigentlich ganz schick, hatte der Rehatechniker bei der Erprobung gesagt. Glatte Lüge. Aber es bot Anders eine tolle Möglichkeit, sich beim Spazierengehen daran festzuhalten – alle anderen Familien hatten schicke moderne Buggys. Wir fielen also auf. Anders fiel auf. In der Kindergartenzeit sorgte Anders immer wieder für Tränen bei Lena und uns. Kindergeburtstage in der Kletterhalle, Playdates auf dem Spielplatz, die ersten Turnstunden – Lena war außen vor. Und mit Lena waren auch wir außen vor. Die Mamas der nicht behinderten Kinder unseres inklusiven Kindergartens waren großartig und luden mich immer mit ein, wenn sie sich trafen. Immer ging ich voller Vorfreude und Optimismus hin. Und immer kam ich enttäuscht nach Hause. Denn jedes Mal ging es um Themen, bei denen ich nicht mitreden konnte: Welche Ballettschule im Umkreis ist die beste? Welches Fahrrad ist für den Einstieg geeignet? Und wo gibt es Vereine, in denen die Kinder den Freischwimmer machen können? Ich hörte zu und lächelte. Wollte aber manches Mal lieber heulen. Und mich eigentlich über Windeln für große Kinder, schönen Rolli-Speichenschutz und die nächste stationäre Kinderreha unterhalten. Es passte einfach meistens nicht.

Hobby gefunden

Mittlerweile besucht Lena die vierte Klasse einer inklusiven Montessorischule. Und noch immer ist Anders ein Thema. Nach wie vor gehört Lena für unser und ihr Empfinden nicht richtig dazu. „Mama, das liegt nicht an mir. Das liegt an meiner Behinderung“, sagt sie oft. Ja, mein Kind, ganz richtig. Nun könnte man fragen, ob sie denn an einer Förderschule nicht besser aufgehoben sei. „Nein“, sagt Lena. Wir haben uns vor Schuleintritt gemeinsam mit ihr für die private Regelschule und gegen die Förderschule entschieden. Denn Therapien konnte man uns in der Förderschule ohnehin nicht garantieren. Individuelle Förderung für unser zwar motorisch so eingeschränktes, kognitiv aber so fittes Mädchen auch nicht. Dazu dreimal so lange An- und Abreisezeit und unflexible Unterrichtszeiten. Lenas Schule ist toll. Und in der Schule selbst ist Lena voll dabei. Genau wie all die anderen Kinder mit Behinderung. Aber zwischen „Ich akzeptiere meine behinderte Mitschülerin“ und „Ich möchte mit meiner behinderten Mitschülerin befreundet sein“ liegen eben Welten. Lena hat eine Freundin. Eine. Und die auch erst seit Ende der dritten Klasse. Inklusion ist eben mehr, als behinderte Kinder als nicht störend zu empfinden. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir heute eine glückliche kleine Familie, Lena ein fröhliches, intelligentes und humorvolles elfjähriges Mädchen. Mit ihrem Elektro-Rollstuhl fährt sie selbstbewusst durchs Leben. Sie ist eloquent und durchsetzungsfähig. Und stolze Teampartnerin einer Assistenzhündin namens Ypsi. Mit Ypsi hat Lena ein Hobby gefunden, das sie gemeinsam mit den anderen Kindern aus unserem Assistenzhundeverein ausüben kann.

Ständiger Kampf

Und wir? Wir kämpfen noch immer. Nicht mehr um Lena, sondern für sie. Für Teilhabe, für Hilfsmittel, für Inklusion. Für Entlastung, Verständnis und Unterstützung für uns pflegende Eltern. Wir haben gelernt, uns Anders zu Nutzen zu machen. Lena spricht auf medizinischen Kongressen über ihre Behinderung. Sie berichtet, wo sich in ihrem Alltag Hürden auftun, welche Hilfsmittel ihr die liebsten sind und was sie sich für die Zukunft wünscht. Auf meinem Instagram-Account @claudistaudi lasse ich die Welt an unserem turbulenten Alltag teilhaben. Ich betreibe außerdem den Podcast „Pflegegrad Glück“ für pflegende Mütter. Und ich habe ein Buch veröffentlicht. In „Wir wollten Lena“ erzähle ich nicht nur unsere Geschichte, sondern beschreibe auch, dass es nach wie vor die Bürokratie ist und nicht Lenas Behinderung, die uns im Alltag am meisten behindert. Andreas und ich werden oft gefragt, ob wir es bereuen, ein behindertes Kind angenommen zu haben. Die Antwort ist ein entschiedenes und laut gebrülltes „NEIN!“. Aber auf die Frage, ob das Leben mit einem behinderten Kind so ist, wie wir es uns vorgestellt hatten, brüllen wir ein ebenso lautes „NEIN!“. Niemals hätten wir gedacht, wie schwierig es ist, die Hilfsmittel und die Unterstützung zu erhalten, die unserem Kind und uns zustehen. Und niemals hätten wir vorab realisieren können, wie wenig inklusiv unsere Gesellschaft ist. Aber ebenso wenig hätten wir uns jemals ausmalen können, wie glücklich und zufrieden uns das Leben mit Lena machen würde.

Claudia Staudt arbeitet als freie Journalistin, Pressesprecherin und Fitnesstrainerin. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Pflegetochter und deren Assistenzhündin im Großraum Düsseldorf. Über ihre Geschichte mit Lena hat sie ein Buch geschrieben: „Wir wollten Lena“ (Bonifatius) Mehr zur Familie auf Instagram unter @claudistaudi

Mutter adoptiert pflegebedürftiges Kind: „Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten“

Als Claudia Staudt die kleine Lena im Arm hält, ist für sie klar: Sie möchte ihre Mama werden. Dass Lena lebenslang pflegebedürftig sein wird, ändert nichts an ihrer Entscheidung.

Lena Marie. Lena. Lenchen. Mein Baby. Unsere Tochter. Unser großes Mädchen, das mit den ersten Launen der Pubertät kämpft, Sitzski fährt und allein ihre Assistenzhündin führt. Lena ist ein so bemerkenswertes Mädchen. Und bemerkenswert ist auch unsere Geschichte. Bis heute kann ich es manchmal kaum glauben, dass ich Mama dieses tollen Wesens sein darf. Dass ich überhaupt Mama sein darf.

Das winzigste Baby

Als mein Mann und ich unsere Tochter kennenlernten, war sie schon beinahe drei Monate alt. Und doch war sie das winzigste Baby, das ich je gesehen habe. Sie trug Kleidergröße 50 und versank darin. Lena war vier Monate zu früh zur Welt gekommen und hatte während der Geburt Hirnblutungen erlitten. Die Ärzte hatten so schwere Schädigungen des Hirns diagnostiziert, dass sehr schnell klar gewesen war, dass Lena zeitlebens schwere Beeinträchtigungen haben würde. Lenas leibliche Eltern hatten sie daraufhin zur Adoption freigegeben, und das Jugendamt hatte sie bei einer Bekannten unserer Familie untergebracht. Wir kannten Regina aus unserer Kirchengemeinde, sie nahm häufiger Kinder auf. Aus Familien, in denen es schwer war. Oder Babys, die weitervermittelt wurden. Und nun war Lena bei ihr. An einem Sonntag im März 2013 lag sie in meinen Armen. Ich roch an ihrem Haar, streichelte sanft über ihren kleinen Bauch und hörte zu, wie Regina berichtete, dass die Behörden keine Adoptiveltern für dieses kleine Mädchen finden konnten. Keiner wollte ein Baby adoptieren, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebenslang ein Pflegefall bleiben würde. Die vergangenen drei Monate hatte dieses kleine Mädchen allein auf der Neonatologie gelegen. Sie hatte nach einer Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche um ihr Leben gekämpft, ihren Zwillingsbruder verloren und niemanden gehabt, der ihr sagte, dass er sie liebt. Und nun sollte sie den Rest ihres Lebens in einem Heim verbringen? Würde man da auch mehrmals die Woche mit ihr zu ihren Therapien gehen, wie Regina es tat? Alles in mir wehrte sich gegen diese Vorstellung.

Hals über Kopf verliebt

Mein Mann und ich hatten eine jahrelange Reise durch die Labore einer Kinderwunschklinik hinter uns. Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtungen und Fehlgeburten hatten in den vergangenen Jahren unseren Alltag bestimmt. Unser sehnlichster Wunsch war es, einem Kind Liebe zu schenken und es in die Welt zu begleiten. Hier war nun dieses bezaubernde, hilflose Wesen, und niemand wollte ihm ein Zuhause geben? Wir wollten es. Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten, ihm immer wieder versichern, dass es nicht allein ist. Mein Mann und ich hatten uns Hals über Kopf in Lena verliebt und wollten für Lena da sein, sie glücklich machen, ihr helfen. Wir sprachen miteinander, mit Freunden und der Familie. Sprachen mit Regina. Wir stellten uns vor, wie es wäre, Lenas Eltern zu sein. Malten uns aus, wie das Leben mit einem schwer behinderten Kind aussehen könnte. Zeichneten Worst-Case-Szenarien und betrachteten sie. Schreckten sie uns ab? Nein. Hatten wir die Unterstützung unserer Freunde und Familien? Ja. Also gingen wir zum Jugendamt und erklärten, dass wir Lenas Eltern werden wollen. „Auf keinen Fall“, hieß es vonseiten des Jugendamtes. Man kenne uns schließlich gar nicht. Man könne uns nicht einfach so ein Kind geben. „Nein, nicht einfach so“, sagten wir. Aber man könnte uns doch wenigstens mal anschauen. Wir gaben nicht auf, wir kämpften, wir überzeugten das Amt, uns kennenzulernen. Endlose Gespräche, unzählige ausgefüllte Formulare und viele absolvierte Seminare später durfte Lena unsere Pflegetochter werden.

Anders als die anderen

Dass Lena anders war als die Babys in unserem Umfeld, die keine Behinderung hatten, war von Anfang an sehr deutlich. Wenn ich gefragt werde, wann wir merkten, dass das Leben mit Lena nicht so werden würde, wie wir uns unser Familienleben während unserer Kinderwunschbehandlungen vorgestellt hatten, sage ich, dass Anders gemeinsam mit Lena bei uns eingezogen ist. Angeklopft hatte es schon einige Jahre zuvor, das kleine Anders – nämlich mit unserem Gang ins Kinderwunschzentrum. Mit Lena aber nistetete es sich bei uns ein, war gekommen, um zu bleiben. Ich erinnere mich an die Babyschwimmkurse: Jede einzelne Stunde beendeten Lena und ich vorzeitig und verließen vor allen anderen fluchtartig das kleine Becken. Lena konnte die vielen Reize nicht verarbeiten. Das Wasser, das Lachen der anderen Kinder, der Gesang der Mütter – alles zu viel für sie. Anders war es auch mit Lena im PEKiP-Kurs. Während die übrigen Kinder von Woche zu Woche mobiler wurden, nach Gegenständen griffen, sitzen lernten und sich irgendwann an den großen bunten Spielquadraten hochzogen, lag Lena von Anfang bis Ende des Kurses in meinem Arm. Sie zeigte kein Interesse an der Bewegung, scheiterte daran, irgendetwas festzuhalten, und begann stets panisch zu brüllen, wenn ich ihren Körper auch nur ansatzweise von meinem entfernte. Ich litt. Nicht, weil ich mein Baby nicht jede Sekunde bei mir haben wollte. Nein, ich liebe es noch immer, an ihr zu riechen, sie an mich zu drücken und ihr über die dunklen Locken zu streicheln. Aber die anderen Kinder schienen so viel Freude an der Bewegung zu haben – und das wünschte ich mir für Lena auch.

Außen vor

Mit Lena wuchs auch Anders. Es nahm immer mehr Platz auf unserer Couch ein. Es begnügte sich nicht mehr damit, bei uns zu Hause zu sein, sondern spazierte mit uns durch die Straßen unseres Stadtviertels. Das war ungefähr zu der Zeit, als wir für Lena einen Rehabuggy bekamen. Ein sperriges und für mein Empfinden hässliches Teil. Das sei in grau eigentlich ganz schick, hatte der Rehatechniker bei der Erprobung gesagt. Glatte Lüge. Aber es bot Anders eine tolle Möglichkeit, sich beim Spazierengehen daran festzuhalten – alle anderen Familien hatten schicke moderne Buggys. Wir fielen also auf. Anders fiel auf. In der Kindergartenzeit sorgte Anders immer wieder für Tränen bei Lena und uns. Kindergeburtstage in der Kletterhalle, Playdates auf dem Spielplatz, die ersten Turnstunden – Lena war außen vor. Und mit Lena waren auch wir außen vor. Die Mamas der nicht behinderten Kinder unseres inklusiven Kindergartens waren großartig und luden mich immer mit ein, wenn sie sich trafen. Immer ging ich voller Vorfreude und Optimismus hin. Und immer kam ich enttäuscht nach Hause. Denn jedes Mal ging es um Themen, bei denen ich nicht mitreden konnte: Welche Ballettschule im Umkreis ist die beste? Welches Fahrrad ist für den Einstieg geeignet? Und wo gibt es Vereine, in denen die Kinder den Freischwimmer machen können? Ich hörte zu und lächelte. Wollte aber manches Mal lieber heulen. Und mich eigentlich über Windeln für große Kinder, schönen Rolli-Speichenschutz und die nächste stationäre Kinderreha unterhalten. Es passte einfach meistens nicht.

Hobby gefunden

Mittlerweile besucht Lena die vierte Klasse einer inklusiven Montessorischule. Und noch immer ist Anders ein Thema. Nach wie vor gehört Lena für unser und ihr Empfinden nicht richtig dazu. „Mama, das liegt nicht an mir. Das liegt an meiner Behinderung“, sagt sie oft. Ja, mein Kind, ganz richtig. Nun könnte man fragen, ob sie denn an einer Förderschule nicht besser aufgehoben sei. „Nein“, sagt Lena. Wir haben uns vor Schuleintritt gemeinsam mit ihr für die private Regelschule und gegen die Förderschule entschieden. Denn Therapien konnte man uns in der Förderschule ohnehin nicht garantieren. Individuelle Förderung für unser zwar motorisch so eingeschränktes, kognitiv aber so fittes Mädchen auch nicht. Dazu dreimal so lange An- und Abreisezeit und unflexible Unterrichtszeiten. Lenas Schule ist toll. Und in der Schule selbst ist Lena voll dabei. Genau wie all die anderen Kinder mit Behinderung. Aber zwischen „Ich akzeptiere meine behinderte Mitschülerin“ und „Ich möchte mit meiner behinderten Mitschülerin befreundet sein“ liegen eben Welten. Lena hat eine Freundin. Eine. Und die auch erst seit Ende der dritten Klasse. Inklusion ist eben mehr, als behinderte Kinder als nicht störend zu empfinden. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir heute eine glückliche kleine Familie, Lena ein fröhliches, intelligentes und humorvolles elfjähriges Mädchen. Mit ihrem Elektro-Rollstuhl fährt sie selbstbewusst durchs Leben. Sie ist eloquent und durchsetzungsfähig. Und stolze Teampartnerin einer Assistenzhündin namens Ypsi. Mit Ypsi hat Lena ein Hobby gefunden, das sie gemeinsam mit den anderen Kindern aus unserem Assistenzhundeverein ausüben kann.

Ständiger Kampf

Und wir? Wir kämpfen noch immer. Nicht mehr um Lena, sondern für sie. Für Teilhabe, für Hilfsmittel, für Inklusion. Für Entlastung, Verständnis und Unterstützung für uns pflegende Eltern. Wir haben gelernt, uns Anders zu Nutzen zu machen. Lena spricht auf medizinischen Kongressen über ihre Behinderung. Sie berichtet, wo sich in ihrem Alltag Hürden auftun, welche Hilfsmittel ihr die liebsten sind und was sie sich für die Zukunft wünscht. Auf meinem Instagram-Account @claudistaudi lasse ich die Welt an unserem turbulenten Alltag teilhaben. Ich betreibe außerdem den Podcast „Pflegegrad Glück“ für pflegende Mütter. Und ich habe ein Buch veröffentlicht. In „Wir wollten Lena“ erzähle ich nicht nur unsere Geschichte, sondern beschreibe auch, dass es nach wie vor die Bürokratie ist und nicht Lenas Behinderung, die uns im Alltag am meisten behindert. Andreas und ich werden oft gefragt, ob wir es bereuen, ein behindertes Kind angenommen zu haben. Die Antwort ist ein entschiedenes und laut gebrülltes „NEIN!“. Aber auf die Frage, ob das Leben mit einem behinderten Kind so ist, wie wir es uns vorgestellt hatten, brüllen wir ein ebenso lautes „NEIN!“. Niemals hätten wir gedacht, wie schwierig es ist, die Hilfsmittel und die Unterstützung zu erhalten, die unserem Kind und uns zustehen. Und niemals hätten wir vorab realisieren können, wie wenig inklusiv unsere Gesellschaft ist. Aber ebenso wenig hätten wir uns jemals ausmalen können, wie glücklich und zufrieden uns das Leben mit Lena machen würde.

Claudia Staudt arbeitet als freie Journalistin, Pressesprecherin und Fitnesstrainerin. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Pflegetochter und deren Assistenzhündin im Großraum Düsseldorf. Über ihre Geschichte mit Lena hat sie ein Buch geschrieben: „Wir wollten Lena“ (Bonifatius) Mehr zur Familie auf Instagram unter @claudistaudi

Anonyme Geburt: Wie die Babyklappe einem Jungen das Leben rettete

Die Babyklappe eines Berliner Krankenhauses rettete Johannes das Leben. Zu verdanken hat er das Gabriele Stangl. Sie hat dafür gekämpft, dass verzweifelte Mütter eine Möglichkeit haben, ihr Kind in gute Hände zu geben.

Johannes (Name geändert) ist regelrecht ins Leben gestürzt. Seine Mutter war alleinerziehend mit zwei Kindern, als sie ungeplant schwanger wurde. Erst verdrängte sie die Schwangerschaft, dann – als sie der Wahrheit ins Auge sehen musste – beschloss sie, ihr Kind anonym zur Welt zu bringen. Sie hatte gelesen, dass es diese Möglichkeit im Krankenhaus Waldfriede in Berlin gab. Doch lange vor dem Geburtstermin setzten die Wehen ein. „Es ist doch noch viel zu früh“, dachte die werdende Mutter panisch. Schnell schickte sie ihre Kinder zu den Nachbarn. Sie wollte die Treppe zum Schlafzimmer hochgehen, brach aber auf der Treppe zusammen. Und dort stürzte Johannes ins Leben. Er fiel einige Treppenstufen herab, dabei brach er sich – wie man später feststellte – das Becken und einen Unterschenkel.

Seine Mutter war wie in Trance. Sie suchte für das viel zu kleine Frühchen ein Puppenkleidchen, wickelte es in eine Decke und versteckte es. Erst nachdem sie etwas geschlafen und ihre beiden älteren Kinder versorgt hatte, fiel ihr wieder ein, dass da ja dieses Baby war. Ihr Baby. Der kleine Junge war kalt und still, aber er lebte. Als die Kinder schliefen, fuhr Johannes‘ Mutter mit ihm nach Berlin. Im Krankenhaus Waldfriede gab es nicht nur die Möglichkeit der anonymen Geburt, sondern auch eine Babyklappe. Sie legte das kleine Bündel dort hinein und fuhr wieder nach Hause.

Das Leben gerettet

Nur zwei Minuten lag Johannes in der Babyklappe. Dann ging der Alarm los. Da das Frühchen in einem schlechten Zustand war, wurde es sofort in die Kinderklinik gebracht. „Wir hatten große Sorge, dass er es nicht schaffen könnte“, schilderte Krankenschwester Bärbel die Situation. „Seine Temperatur war nicht mehr messbar, so kalt war er. Er wog gerade mal 2.000 Gramm.“

Gabriele Stangl, zu der Zeit Krankenhaus-Seelsorgerin in Waldfriede, war sofort in die Klinik geeilt, als sie über den Neuzugang informiert worden war. Die Babyklappe war ihre Idee gewesen. Gegen viel Widerstand hatte sie im Jahr 2000 erreicht, dass im Waldfriede die weltweit erste Babyklappe – hier „Babywiege“ genannt – in einer Klinik eingerichtet wurde. Diese Einrichtung rettete Johannes das Leben.

Schon einen Tag nach seiner Geburt war er über den Berg und stabilisierte sich zusehends. Gabriele Stangl schloss ihn in ihr Herz und besuchte ihn regelmäßig. Kurz darauf bekam sie einen Anruf von einem Polizisten. Einer Frau sei aufgefallen, dass ihre Nachbarin schwanger gewesen sei, nun sei sie wieder schlank, habe aber kein Baby. Schnell wurde klar, dass es sich hier um Johannes‘ Mutter handelte. Sie erzählte den Polizisten, dass sie ihren Sohn in die Babyklappe gelegt habe, um ihn in Sicherheit zu bringen und dass sie ihn zur Adoption freigeben wolle.

Und so kam Johannes zu Katherina und Rolf (Namen geändert), die schon lange auf ein Adoptivkind warteten. Sie waren überglücklich, als sie ihren Sohn in die Arme nehmen konnten. Sie hatten sehr viel Liebe für ihn. Drei Jahre später adoptierten sie noch ein Mädchen, das im Krankenhaus Waldfriede anonym geboren worden war.

„Mir fehlt nichts“

Johannes ist inzwischen 16 Jahre alt und spricht offen über seine Geschichte. „Seit ich denken kann, weiß ich, dass ich adoptiert bin und dass ich in die Babyklappe gegeben wurde“, erzählt er im Interview. „Ich hatte dabei nie schlechte Gefühle. Und ich habe meine leibliche Mutter auch nicht vermisst. Ich bin ja von Anfang an bei meinen Adoptiveltern aufgewachsen und hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt.“ Der Gedanke, dass seine Mutter ihn nicht behalten konnte oder wollte, belastet ihn nicht: „Ich kenne ja inzwischen die Geschichte, die dahintersteckt. Und deswegen weiß ich, dass es für mich das Beste war, in dieser Familie aufgewachsen zu sein.“

Anders als die meisten Kinder aus der Babyklappe hätte Johannes sogar die Möglichkeit, Kontakt zu seiner leiblichen Mutter aufzunehmen. Aber das möchte er nicht. „Ich habe das bis jetzt noch nicht gemacht und würde das auch in näherer Zeit nicht in Betracht ziehen“, erklärt er. „Ich kann mich nicht an sie erinnern und finde gerade keinen Grund, zu ihr Kontakt aufzubauen.In meiner Familie hier lebe ich einen normalen Alltag, als wäre meine Adoptivmutter meine leibliche Mutter.“

Engere Freunde kennen seine Geschichte, ein großes Thema ist es aber nicht. Johannes wirkt vollständig versöhnt damit. Sein Ziel ist es, das Abitur zu machen und danach zu studieren. Einen Ingenieurs-Studiengang kann er sich vorstellen. Die Babyklappe hält er für eine „super Sache“: „In meinem Fall hätte es ja viel schlimmer ausgehen können, wenn meine Mutter nicht einen Ort gehabt hätte, wo sie wusste: Hier gebe ich mein Baby in gute Hände.“

Entscheidung für das Kind

So positiv wie Johannes sehen aber nicht alle das Angebot einer Babyklappe oder der anonymen Geburt. Immer wieder gibt es die Kritik, diese Angebote würden Frauen ermutigen, ihr Kind abzugeben. Doch die Frauen, die diese Möglichkeiten in Anspruch nehmen, haben meist einen langen und verzweifelten Prozess hinter sich. „Die Frauen machen sich das nicht leicht“, erklärt Gabriele Stangl. Sie hat über viele Jahre werdende Mütter begleitet, die zu einer anonymen Geburt in die Klinik kamen. Und ist sehr froh darüber, dass 30 Prozent der Frauen, die ihr Kind anonym gebären und zur Adoption freigeben wollten, sich schließlich doch dafür entschieden haben, ihr Kind zu behalten.

Damit es dazu kommt, ist viel Beratungsarbeit notwendig. Die Gespräche mit den Frauen gingen oft über Wochen, bis sie endlich eine Perspektive für sich gesehen haben. „Manchmal konnten wir sie in einem Mutter-Kind-Haus unterbringen. Manche haben schließlich doch mit ihren eigenen Eltern geredet und von ihnen Unterstützung erhalten.“

Seit 2000 gab es im Krankenhaus Waldfriede etwa 250 Frauen, die eine anonyme Geburt wünschten. Zehn Prozent der abgegebenen Babys wurden in die Babyklappe gelegt. In Deutschland sind diese Angebote allerdings eine rechtliche Grauzone. Deshalb wurde 2014 die sogenannte vertrauliche Geburt als rechtssichere Variante eingeführt. Hierbei hinterlässt die Mutter ihren Namen bei einer Beratungsstelle. Das Kind hat dann ab dem Alter von 16 Jahren die Möglichkeit, den Namen der Mutter zu erfahren und gegebenenfalls Kontakt aufzunehmen. Dadurch soll das Recht des Kindes gestärkt werden, Informationen über seine Herkunft zu erhalten.

Wahrheit und Liebe

Doch wie der Fall von Johannes zeigt, ist es nicht allen Jugendlichen wichtig, das zu tun. Zudem: „Wenn Johannes nicht bei uns abgegeben worden wäre, hätte er keine Chance gehabt“, macht Gabriele Stangl deutlich. „Es war fünf vor zwölf für ihn, als er in die Babyklappe gelegt wurde.“ Deshalb findet sie es nach wie vor wichtig, dass das Angebot der Babyklappe und der anonymen Geburt erhalten bleibt. „Und wenn nur ein einziges Kind durch die Babyklappe gerettet worden wäre, hätte sich der ganze Aufwand gelohnt“, betont sie. „Denn jedes Leben ist unbezahlbar.“ Für die betroffenen Kinder ist es wichtig, dass sie von Anfang an Klarheit über ihre Geschichte haben. Spätestens im Alter von drei oder vier Jahren, wenn Fragen aufkommen wie „Bin ich auch in deinem Bauch gewachsen?“, sollten Adoptiveltern den Kindern erklären, dass es zwei Mamas hat.

Ein selbstverständlicher Umgang mit der Thematik hilft den Kindern, das als „normal“ für sich zu akzeptieren – wie es bei Johannes der Fall war. „Wahrheit und Liebe machen einen Menschen stark“, erklärt Gabriele Stangl. Und lächelnd fügt sie hinzu: „Ich habe den Krankenschwestern immer gesagt: Seid lieb zu ‚meinen‘ Kindern! Ihr wisst ja nicht, ob ihr nicht vielleicht den zukünftigen Bürgermeister von Berlin im Arm haltet.“

Bettina Wendland ist Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT.

Kinderwunsch: Nach drei Fehlgeburten kämpft sich Julia zurück ins Leben

Julia Strobels Traum vom Familienglück zerschlägt sich immer wieder. Heute sagt sie: „Wir leben unser bestes Leben.“

Wir haben ein Kissen zu Hause, ein Spontankauf vor vielen Jahren. Mein Mann und ich waren frisch verheiratet, der Wunsch nach einem Kind wurde zunehmend stärker. Als ich das Kissen im Schaufenster erblickte, hat dessen Aufdruck der diffusen Sehnsucht in mir einen Namen gegeben: „Nestwärme.“ Es hat meine Vorstellung vom Kinderkriegen auf den Punkt gebracht als Ausdruck von Glück, Geborgenheit und Nähe, von Heimat und Zuhause.

Voller Zuversicht sind wir schon kurze Zeit später unser „Projekt Nestwärme“ angegangen. Doch statt des ersehnten Familienglücks durchlebten wir Monat für Monat bittere Enttäuschung. Anfangs waren wir noch voller Zuversicht. Wir beteten und glaubten fest daran, dass sich schon bald ein kleines Wunder auf den Weg zu uns machen würde. Zunehmend wurden wir allerdings von Gefühlen wie Wut, Angst und Ratlosigkeit geflutet. Da, wo vorher Vorfreude und Hoffnung waren, schlich sich immer mehr ein Gefühl von innerer Distanz und Verzweiflung ein.

Drei Fehlgeburten innerhalb von drei Jahren

Drei Jahre und drei Fehlgeburten später hatte ich spürbar die Kehrseite meiner Vorstellung von „Nestwärme“ kennengelernt: Ich hatte Verlust und Schmerz, Loslassen und Leere dort erfahren, wo eigentlich Geborgenheit und Liebe gelebt werden sollten. Das Ringen um einen kleinen Menschen in unserer Mitte hat meinen Mann und mich schleichend einsam werden lassen in unserer Zweisamkeit. Wir mussten uns immer wieder bewusst entscheiden, Nähe zu suchen, um uns als Paar nicht zu verlieren. Schöne Momente zu erschaffen und miteinander zu teilen, gemeinsam zu lachen, neue Pläne zu entwickeln, nach anderen Perspektiven Ausschau zu halten – das hat uns geholfen, am anderen dranzubleiben und zu erkennen: Ein Gefühl von Nestwärme entsteht nicht nur dann, wenn aus einem Paar eine Familie wird. Aber diese Erkenntnis war hart.

Als wir am absoluten Tiefpunkt waren, hat Gott uns unser erstes Wunder geschenkt. Da war die Entscheidung, weiter zu vertrauen, fast schon schmerzhafter als das einsame Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Als die Ärztin uns verkündete: „Sie sind dieses Mal auf einem guten Weg, es könnte besser nicht sein“, hat es mich innerlich fast zerrissen, die Verbundenheit zu diesem kleinen Wesen zuzulassen. Wenn man so lange wie wir an einem Ort war, an dem Nähe und Hoffnung Synonyme für Verletzlichkeit und Verlust waren, dann muss man Bindungsbereitschaft und Vertrauen neu lernen.

Die Tochter ist da

Unsere Tochter wurde geboren und wir waren im Glücksrausch: gelebte Nestwärme in aller Intensität. Plötzlich waren die neuen Synonyme für Nähe: Dankbarkeit, Verliebtheit und Körperkontakt. Jeden Tag wuchs unsere Bindung zueinander ein kleines Stück mehr. Bis zur totalen Erschöpfung und darüber hinaus.

Dies waren zwei weitere Mosaiksteine von Nähe für mich: Auf der einen Seite wollte ich meinem Kind ein Gefühl von Geborgenheit schenken, eine sichere Bindung als Motor erschaffen, der die gesunde Entwicklung am Laufen hält. Auf der anderen Seite war die Erschöpfung manchmal so groß, dass ich am Rande der Verzweiflung war. Und erkennen durfte: Familie ist mehr als ein reiner „Nähe-Spender“. Familie zu sein bedeutet auch, eine Balance zu finden zwischen Gemeinschaft und eigenen Freiräumen. Die Grenzen auszuloten zwischen dem Wir und dem Ich. Nähe zu leben, heißt, Veränderungen anzunehmen und zu gestalten. Zu empfangen und loszulassen. Manchmal in kleinen Schritten und manchmal in überwältigend großen.

Eine neue Familie für die Pflegetochter

Unsere Familie ist in den folgenden Jahren auf unterschiedliche Weise gewachsen. Nach unserer Tochter wurden wir mit zwei weiteren leiblichen Kindern gesegnet. Wir haben aber auch weitere Verluste durchlebt. Einer davon war besonders hart: Wir mussten unser erstes Pflegekind aus unserer Familie verabschieden: unser Babymädchen, mit dem wir innige Momente der Nähe leben durften. Die Bindung und das Vertrauen, das zwischen uns und unserer Pflegetochter gewachsen war, wurden jäh durchtrennt. Wir hatten sie aus einer Notsituation heraus bei uns aufgenommen. Das Jugendamt hat nach einigen Monaten entschieden, dass der Altersabstand zwischen unserem Jüngsten und der Kleinen mit 15 Monaten auf Dauer zu gering war. Sie wurde innerhalb von zwei Wochen in eine andere Pflegefamilie vermittelt. Sie gehen zu lassen, hat uns zutiefst erschüttert. Danach waren wir monatelang haltlos, haben mitten im Leben erneut mit diesem ohnmächtigen Gefühl der Leere zu kämpfen gehabt.

Unsere Erkenntnis war: Wer Nähe zulässt, macht sich verwundbar. Es hat eine Weile gedauert, bis wir sagen konnten: Das war es wert. Unsere Verzweiflung über den Abschied sollte uns nicht daran hindern, dankbar zu sein für das, was wir erleben durften. Es war ein Prozess, den wir mit vielen Tränen und Gebeten durchgestanden haben. Zweieinhalb Jahre später ist unser zweites Pflegekind, wieder ein Babymädchen, bei uns eingezogen. Sehr eng begleitet, mit vielen Worten der Zuversicht vonseiten unseres neuen Jugendamts und von Familie und Freunden.

Voller Vertrauen und Verletzlichkeit

Unsere Erfahrungen mit den zwei Seiten der Nähe haben bei jedem von uns Spuren hinterlassen. Und doch können wir voller Überzeugung sagen: Wir leben gerade unser bestes Leben. Es hat uns vier wunderbare Kinder auf unterschiedlichen Wegen geschenkt. Den Balanceakt von Nähe und Distanz, Festhalten und Loslassen, Vertrauen und Verletzlichkeit, von erfüllten, übertroffenen und zerbrochenen Erwartungen inklusive.

Der Stoff der Kissenhülle ist nach fünfzehn Jahren rissig geworden, die Farben sind verblasst. Auch mein inneres Bild von „Nestwärme“ hat über die Jahre Blessuren davongetragen und sich so manchem Wandel unterzogen. Vor Kurzem habe ich in einem kleinen Laden ein Kissen mit der Aufschrift „Herzensangelegenheit“ erblickt. Unnötig zu erwähnen, dass ich es mitgenommen habe.

Julia Strobel ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in der Nähe von Mainz.

Pflegemutter Christine berichtet: So anstrengend und schön ist es, Eltern auf Zeit zu sein

Christine Gehrig und ihr Mann nehmen regelmäßig Kinder vom Jugendamt für kurze Zeit bei sich auf. Eine Herausforderung, die sich lohnt.

Wenn ich mich morgens an einen Traum erinnern kann, dann sind das in der Regel Bruchstücke eines abstrusen Gebräus. An einem Novembermorgen jedoch erwachte ich mit einem warmen inneren Gefühl, so als würde eine Herdplatte nachglühen. In meinem Traum hatte ich ein kleines, süßes Mädchen in Pflege, das meine vier großen Kinder fröhlich von Schoß zu Schoß wandern ließen. Begeistert sah ich zu.

„Warum träume ausgerechnet ich das? Während der Erziehungsjahre habe ich meine Belastungsgrenzen deutlich gespürt. Ich bin so froh, dass ich wieder Freiräume habe. Wäre ja ein Witz, wenn heute der Pflegekinderdienst anriefe“, ging es mir durch den Kopf, bevor ich zur Tagesordnung überging. Immerhin war die letzte Anfrage des Jugendamtes an uns Pflegeeltern wegen eines Kleinkindes neun Monate her.

Am Nachmittag rief tatsächlich die Frau vom Pflegekinderdienst an: „Ein Notfall. Noch heute müsste ein knapp Zweijähriger für einige Wochen in einer Pflegefamilie untergebracht werden.“ Während einer kurzen Bedenkzeit tigerte ich im Haus auf und ab. Im Traum war es ein Mädchen gewesen. Egal, Kleinkind ist Kleinkind. Beim Rückruf hörte ich mich sagen: „Ja, ich nehme ihn.“

„Ich muss vollkommen durchgeknallt sein“

Auf dem Dachboden wühlte ich das Kinderreisebett hervor und schlug dafür eine Schneise in mein kleines Zimmer. „Ich muss vollkommen durchgeknallt sein, aber wir bekommen nachher einen kleinen Jungen zur Pflege“, begrüßte ich meine jüngste Tochter, als sie aus der Schule kam. „Echt jetzt? Wie cool!“

„Wir bekommen Familienzuwachs“, begrüßte ich meinen Mann, als er hereinschneite. „Ich konnte dich telefonisch nicht erreichen.“ – „Doch nicht etwa noch eine Katze?“ Ich schilderte kurz den Tathergang und freute mich, dass Andreas die Entscheidung akzeptierte.

Schmal und blass kam Florian bei uns an. Ungeahnte Muttergene wallten in unseren beiden Töchtern auf. Die eine sauste zu einer befreundeten Mutter in der Nachbarschaft und borgte Kleidung. Die andere suchte ihre früheren Stofftiere heraus und wurde Florians größter Fan.

Florian bekommt rosige Pausbäckchen

Nachdem ich den Kleinen gebadet hatte, schlief er auf meinem Schoß rasch ein. Er rührte sich auch nicht, als ich ihn ins Bettchen legte. Um halb acht Uhr morgens erst erwachte er. Beim Frühstück griff er zunächst zögerlich zu, dann hörte er nicht mehr auf zu essen. Mein Mann und unsere Söhne trugen ihn immer wieder fürsorglich herum und machten Späßchen mit ihm. Unser Wohnzimmer wandelte sich rasch zur Spiel- und Wickelzone.

So sehr ich einerseits liebgewordene Tätigkeiten und Gewohnheiten einfrieren musste, so froh und stolz war ich andererseits über meine neue Aufgabe. Florian erwies sich nach anfänglichem Heimweh als ausgesprochen robust und lebenszugewandt. Den ganzen November über schien die Sonne, sodass er seinen Mittagschlaf stets im Kinderwagen an der frischen Luft hielt.

In den zehn Wochen seines Aufenthalts bei uns hat er sich sehr verändert, das fiel mir bei den Vorher-Nachher-Bildern auf. „Haben Sie ein neues Pflegekind oder ist es noch dasselbe wie neulich?“, fragte eine Bekannte, weil Florian rosige Pausbäckchen bekommen hatte. Ich bin dankbar, dass ich meine Kräfte für diese Zeit bündeln konnte, doch unmittelbar nach Florians Rückführung zu seiner Herkunftsfamilie erwischte mich die Grippe und wochenlanger Husten. Oft fragten wir uns, was Florian wohl jetzt macht und wie es ihm geht.

War das ein Fehler?

Anfang August wurden wir erneut angefragt, ob wir Florian vorübergehend aufnähmen. Diesmal würde eine Dauerpflegestelle für ihn gesucht. Mir war klar, dass dies unter Umständen viele Monate dauern konnte. Den langen Aufzucht-Atem hatte ich definitiv nicht mehr. Dennoch wollte ich Florian keinen neuen Bezugspersonenwechsel zumuten. So sagte ich Ja und schwankte zwischen Bangen und Zuversicht. Als ich mich in meiner Angst im Gebet bei Gott ausweinte, fragte ich: „War es ein Fehler, dass ich Ja gesagt habe?“ Mir schien, als legte Gott seinen Arm um mich und fragte: „Wie kann es ein Fehler sein, sich um eines meiner Kinder zu kümmern?“

Als Florian leer und erschöpft zu uns gebracht wurde, schlief er wieder ausgiebig. Danach lachte er und tauchte so vertraut ins Familienleben ein, als sei er kaum fortgewesen. Es war eine turbulente Full-House-Ferienzeit. Nach manchem Marathon-Tag meinte ich, abends jeden Knochen zu spüren.

Es heißt Abschied nehmen

16 Tage später: Uns rief eine alte Freundin an, die wir etwa zehn Jahre nicht mehr gesehen hatten. Sie habe an uns denken müssen und würde uns mit ihrem Mann gern besuchen kommen. Überrascht und erfreut sagten wir zu. Die Geschichte mit Florian bewegte die beiden sehr. Sie konnten sich gut vorstellen, seine Dauerpflegeeltern zu werden. Vier Tage später brachten sie ihren elfjährigen Sohn mit, der sehr aufgeschlossen für Florian war.

Das Jugendamt gab sofort grünes Licht. In den nächsten Wochen besuchten wir uns gegenseitig so oft wie möglich. Probehalber übernachtete Florian schon einmal in seiner neuen Umgebung, das meisterte er bewundernswert. Bewundernswert war es auch, wie unsere Freunde ihr Haus komplett umkrempelten, um ein großes freundliches Zimmer für Florian herauszuschlagen.

So schön wie das klingt, so wehmütig fühlte ich mich beim Abschied dann doch. Florian weinte. Aber nur kurz. Mit seiner Aufgeschlossenheit wendete er sich seiner neuen Umgebung rasch zu. Froh stellten wir bei späteren Besuchen fest, dass Florian sich freute, uns zu sehen, aber dass er uns auch leichten Herzens wieder ziehen ließ. Es macht uns ruhig zu wissen, dass es ihm richtig gut geht.

Mit einem Traum hatte das Ganze angefangen. Manchmal sind Träume nicht nur Schäume.

Christine Gehrig ist Familienfrau, Lebe-leichter-Coach und Nordic-Walking-Lehrerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Bamberg.

Kinder auf Pflegekinder vorbereiten

„Mein Mann und ich haben drei Kinder (9, 12 und 14) und mit der Familienplanung abgeschlossen. Nun wollen wir ein oder mehrere Kinder in Pflege nehmen. Wie bereiten wir unsere Kinder darauf vor?“

Kinder fordern uns heraus. Das gilt nicht nur für leibliche, sondern auch für Pflegekinder. Der Unterschied ist, dass Pflegekinder mit einer Vorgeschichte in die neue Familie kommen. Sie haben die Erfahrung eines Verlustes durchgemacht und meist viel Schweres und Traumatisches erlebt.

Das hinterlässt starke Spuren. Ein Teil der Pflegekinder ist zusätzlich durch Schädigungen in der Schwangerschaft (Alkohol, Drogen, Ablehnung) geprägt. Liebe allein reicht hier nicht. Es braucht sehr viel Geduld und Durchhaltevermögen, ein Pflegekind zu betreuen – von der gesamten Familie. Deshalb ist es ganz richtig und wichtig, Ihre leiblichen Kinder altersentsprechend auf die Andersartigkeit des Familienzuwachses vorzubereiten und so Verständnis zu wecken.

Bedenken ernst nehmen

Sprechen Sie vorab über Traumata und deren Auswirkungen bei Kindern. Bereiten Sie die Kinder auch darauf vor, dass sich das neue Kind aufgrund seiner Vorerfahrungen wahrscheinlich anders verhalten wird, als sie es von einem Geschwisterkind erwarten: Es hat manchmal andere Interessen, ist eventuell destruktiv, beziehungsgestört und kann nicht ausdauernd spielen. Das Pflegekind hat vielleicht einen völlig anderen Umgang mit Besitz, zerstört Dinge anderer, benutzt Sachen anders, nimmt sie ungefragt weg oder hat einen anderen Umgang mit Lügen und Wahrheit. Es hat zum Eigenschutz ein Verhalten entwickelt, das nicht den Normen der Pflegefamilie entspricht. Wichtig ist es auch, Ihre Kinder darauf vorzubereiten, dass neben dem erst einmal fremden Kind andere Personen in die Familie treten und mitreden, das Jugendamt, Sozialpädagogen, Psychologen und die Herkunftsfamilie.

Nehmen Sie Bedenken Ihrer Kinder sehr ernst und gehen Sie den Weg nur, wenn alle Ihre Kinder ihn mitgehen wollen. Pflegekinder fordern viel Kraft und Energie, und es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass sich leibliche Kinder nicht zurückgesetzt fühlen. Sollten Sie sich als Familie für die Aufnahme eines Kindes entscheiden, achten Sie darauf, weiterhin ganz bewusst Zeiten und besondere Zuwendungen für Ihre leiblichen Kinder einzuplanen.

Familie zusammenschweissen

Beobachten Sie Ihre Kinder in der Anbahnungsphase genau und sprechen Sie auch dann offen über Befürchtungen. Brechen Sie das Aufnahmeverfahren ab, wenn Ihre Kinder starke Bedenken haben, auch wenn es schwerfällt, ein Kind abzulehnen. Thematisieren Sie auch die Möglichkeit, dass Pflegeverhältnisse abgebrochen werden können, weil ein Kind wieder zurück in die Herkunftsfamilie kann, die Pflegefamilie mit den Schwierigkeiten des Kindes nicht fertig wird oder Ähnliches.

Neben allen Bedenken gibt es aber auch viele gute Erfahrungen, die eine Familie durch das neue Mitglied machen kann und die eine Familie anders zusammenschweißen kann.

Margrit Dietze ist Erzieherin, Autorin für pädagogische Bücher und Kinderlieder sowie Pflegemutter.

Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

 

 

Mutter mit zerbrochener Seele

Stefanie Bogner-Raab hat Paul (Name von der Redaktion geändert) als Pflegekind in ihre Familie aufgenommen. Seine Mutter hatte das Kind abgegeben. Weil sie sich nicht kümmern konnte. Weil sie gezwungen wurde, sich zu prostituieren. Und weil sie trotzdem stark und mutig war.

Mein Sohn kuschelt mit mir. „Du bist die beste Mama auf der Welt.” Ich streichle seinen Kopf und denke an seine leibliche Mutter. Sicher würde sie diese Worte auch gerne hören.

Paul ist unser Pflegesohn, eins von drei Pflegekindern, die wir aufgenommen haben. Er kam als Baby in unsere Familie. Zunächst waren mir die leiblichen Eltern der Pflegekinder nicht wichtig, aber nach und nach beschäftigte ich mich doch mit ihnen. Das Schicksal von Pauls Mutter berührte mich besonders, und ich empfand tiefes Mitleid und auch Verständnis für ihre Situation. Gott hat mir einen ganz anderen Blick auf Pauls leibliche Mutter geschenkt. Sie war nicht eine schwache Frau, die ihr Kind nicht erziehen konnte. Im Gegenteil, ich sehe nun ihre Stärke und auch ihre ausweglose Situation. Sie hat mit ihrer Entscheidung, Paul in eine Pflegefamilie zu geben, richtig gehandelt. Diese Entscheidung hat von ihr sehr viel Liebe, Kraft und Stärke erfordert.

Ein Brief an die Mutter

Weil mir ihr Schicksal nicht mehr aus dem Kopf ging, habe ich einen Text über sie geschrieben. Viele Fakten und Ereignisse in diesem Text sind wahr, andere könnten so passiert sein. Mit ihrer Geschichte möchte ich auf ein Schicksal hinweisen, das viele junge Frauen erleiden: Menschenhandel und Prostitution.

Wenn Paul alt genug ist, werde ich ihm diesen Text zeigen. Er soll wissen, dass seine leibliche Mutter ihn nicht einfach weggeben hat, sondern dass sie eine starke Frau voller Liebe war.

Aus einem armen Land

Liebe …,

Ich bewundere dich. Du konntest nichts dafür, dass du in einem Land geboren wurdest, in dem die Armut herrscht. Du hattest keine unbeschwerte Kindheit, musstest sehr früh mit anpacken. Die Kühe mussten versorgt werden, der Stall ausgemistet, die kleinen Geschwister geweckt und der Tisch gedeckt. Deine Eltern haben dich geliebt, aber sie waren einfache Menschen, die genauso früh lernen mussten, dass man hier nur mit harter Arbeit überleben kann.

Als du älter wurdest, hast du dich nach schönen Dingen gesehnt. Du wolltest gern ausgehen, das Leben genießen. Aus dem Fernsehen kanntest du diese wunderbaren Sachen, die man sich nur mit viel Geld kaufen kann. Mit 16 Jahren hast du dein Dorf, dein Leben gehasst. Du wolltest weg. Raus aus diesem einfachen, harten Leben.

Der Traum: Deutschland

Du trafst Alex, 9 Jahre älter als du. Er war nett, er hatte Geld und er kam aus Deutschland. Von Deutschland hattest du viel im Fernsehen gesehen und von Freunden gehört. „Es wäre ein Traum, dort zu leben“, dachtest du.

Du hast dich in Alex verliebt und er sich scheinbar auch in dich. Er hat dir Kleider und Schmuck geschenkt und dir schöne Geschichten über sein Leben in Deutschland erzählt. Von einem Au-Pair-Job berichtete er. Eine nette Familie suchte angeblich ein Mädchen wie dich. Konnte das wahr sein? Sollte der Traum tatsächlich Wirklichkeit werden?

Im Zimmer eingesperrt

Er wurde es – zunächst. Du hast deine Sachen gepackt, deine besorgte Familie hinter dir gelassen und bist mit Alex nach Deutschland gegangen. Kaum hier angekommen, änderte sich alles schlagartig. Alex war plötzlich nicht mehr nett. Dein Pass wurde dir weggenommen und du wurdest in einem Zimmer eingesperrt.

Ein älterer Mann erklärte dir, dass du nun für ihn arbeiten müsstest. Du hast erst gar nicht verstanden, was er von dir wollte, bis er sich auszog, dich aufs Bett presste und in dich eindrang. Du dachtest, du müsstest sterben. Tränen rollten über deine Wangen. In dir zerbrach etwas. Danach warst du ein anderer Mensch.

Ungewollt schwanger

Jeden Tag musstest du nun Männer an dich heranlassen und dabei noch sexy und freundlich sein. Dir wurde schnell klar: Ich kann nur überleben, wenn ich mitspiele. Also hast du deine zerbrochene Seele von deinem Körper gelöst. Du bist eine Prostituierte geworden, die ihrem Zuhälter viel Geld in die Taschen bringt. Mit 19 wurdest du ungewollt schwanger. Aber du hast nicht abgetrieben. Du hast dich für dein Kind entschieden. Wie mutig und liebevoll von dir!

Dein kleiner Junge kam zur Welt und du hast alles für ihn getan, was du nur konntest. Aber das Leben war hart. Du musstest weiter arbeiten, es gab keine Pause für dich und dein Baby. Deine Wohnung war kalt, keine Heizung, kein warmes Wasser. Dein kleiner Junge wurde krank und musste ins Krankenhaus. Dort hattest du das erste Mal Kontakt mit den Ämtern. Sie haben versucht zu helfen, aber es gab keinen wirklichen Ausweg für dich. Du hattest keinen Pass, warst in Deutschland nur geduldet, dein Zuhälter war mächtig, was solltest du tun? Du wolltest das Beste für dein Kind, und so hast du eine sehr schwere, aber ungeheuer tapfere und mutige Entscheidung getroffen: Du hast dein Kind einer Pflegefamilie anvertraut.

Trennung aus Liebe

Deine Seele ist wieder einmal zerbrochen. Was für ein Schmerz, sich von seinem eigenen Kind zu trennen! Unvorstellbar. Aber du hast es aus Liebe getan. Du warst dir sicher, dass es die richtige Entscheidung ist.

Nun sind fast zehn Jahre vergangen und du hast es geschafft: Du bist frei. Du hast dich entschieden zu kämpfen und hast den Kampf gewonnen. Keine Prostitution mehr, kein Zuhälter mehr. Mit fast 30 Jahren darfst du endlich leben. Es ist nicht leicht für dich. Du lebst unter dem Radar, aber alles ist besser als das Leben vorher.

Die gleichen braunen Augen

Du hast vor kurzem erfahren, dass es deinem kleinen Jungen gut geht. Er wird geliebt und entwickelt sich in der Pflegefamilie zu einem tollen Jungen. Und er hat die gleichen großen braunen Augen wie du. In ihnen kann man bis in die Seele blicken.

Deine Seele ist immer noch gebrochen, aber sie wohnt wieder in deinem Körper. Langsam, ganz langsam werden sich Narben über deine Risse bilden. Ich bewundere dich. Du lebst und gehst weiter. Du kämpfst.

Du bist eine starke Frau!

Deine Stefanie

Stefanie Bogner-Raab lebt mit ihrem Mann, drei Kindern, Hund und Katzen auf einem Hof im Münsterland. Wenn sie nicht liest oder schreibt, unterrichtet sie als Sprachtherapeutin freiberuflich Kinder und Jugendliche in Deutsch und Englisch.