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Liebe lässt sich nicht erzwingen

Wenn die 16-jährige Tochter das Elternhaus verlässt, reißt sie ein tiefes Loch …

Wir haben vor knapp zwei Jahren von heute auf morgen den Kontakt zu unserer ältesten Tochter verloren. Sie hatte aus verschiedenen Gründen immer mehr Zeit außerhalb unserer Familie verbracht. Bedingt durch mehrere schwere gesundheitliche Ereignisse in unserer Familie hatten wir nicht genug registriert, dass sie sich auch emotional von uns distanziert hatte. Die Auslöser waren sehr unterschiedliche Auffassungen zu Themen wie Freiheit, Sexualität und Glaube. Ohne dass wir es geahnt haben, hat unsere Tochter sich entschieden, auszuziehen und den Kontakt zu beenden.

In den ersten Wochen standen wir völlig unter Schock. Ich konnte kaum schlafen. Ich habe alles hinterfragt, ständig lief das Kopfkino auf und ab. Ich habe versucht, für die anderen Kinder zu funktionieren. Abends saß ich oft im Zimmer unserer Tochter und habe laut geweint. Ich schrie zu Gott, dass ich diesen Schmerz, diese Ohnmacht, diese Sehnsucht und dieses Ausgeliefertsein nicht aushalte. Es waren Stunden der Verzweiflung, der Wut, des Zerbruchs. Und dazwischen immer wieder die Bilder aus glücklichen Zeiten, die im ganzen Haus an den Wänden hängen …

ZERREISSPROBE
Ich kann Gott nur von Herzen danken, dass er mir seine Engel in Form von anderen Christen geschickt hat. Sie hatten offene Ohren zum Zuhören und beteten für uns. Und es waren oft nicht die Worte, sondern das Händedrücken oder die Umarmungen, die uns großen Trost gespendet haben.

Wir haben natürlich versucht, unsere Tochter zurückzugewinnen. Ein großes Problem war, dass mein Mann und ich sehr unterschiedliche Sichtweisen hatten. Ich bin eher der geradlinige Sturkopf, er der kompromissbereite Grenzenöffner. Was sich bisher ergänzt hatte, wurde nun zur Zerreißprobe. In diesem Punkt mussten wir viel lernen, hatten Kämpfe und Tiefschläge zu tragen und wissen heute, dass wir auch die kleinsten Entscheidungen nur gemeinsam treffen.

Ein großes Gefühl war auch die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Ich bin der Typ von Frau, die immer alles im Griff zu haben scheint. Hier war es an der Zeit einzugestehen, dass nichts mehr läuft und ich nur Gott alles vor die Füße werfen kann. Trotz unseres Kampfes bleibt am Ende nur eine Einsicht: Liebe, Dankbarkeit und Zugehörigkeit lassen sich nicht erzwingen. Trotz ihres minderjährigen Alters und obwohl wir nicht wissen und wussten, welchen Einflüssen sie ausgesetzt ist, blieb als einzig vernünftige Wahl, unsere Tochter loszulassen.

Wir haben sie losgelassen im Wissen, dass sie in Gottes Hand ist, und das ist unser gewaltiger Trost. Er lässt ihre Hand niemals los. Und er kann sie tausendmal besser führen, als wir es je hätten tun können. Dadurch wuchs unsere Zuversicht. Und wir konzentrierten uns auf die Aufgaben, die Gott für uns bereithielt. Wir haben dem Groll keinen Raum in unsere Herzen gegeben, auch wenn die Traurigkeit ein Teil unseres Lebens geworden ist. Aber die Gewissheit, dass Jesus größer ist und alles zum Guten wendet, hat uns eine tiefe innere Ruhe gegeben.

WEIHNACHTSWUNDER
Ende letzten Jahres hat sich Erstaunliches getan. Nach anderthalb Jahren stand unsere Tochter kurz vor Weihnachten überraschend vor unserer Tür. Unbeschreiblich schön und zugleich fern und befremdlich. Balsam fürs Mutterherz, das sich sofort ganz weit macht, obwohl man die Gefahr der Verletzlichkeit nur zu gut kennt. Mittlerweile reagiert sie auch auf Whats-App-Nachrichten und nimmt Einladungen an. Es gäbe viel aufzuarbeiten, und wir befinden uns auf einer vorsichtigen Reise in die gemeinsame Zukunft. Wir sind gespannt, wie Jesus uns führt und klammern uns an seine Hand.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Tor zur Freiheit?

Wenn die Kinder ausziehen, eröffnen sich neue Freiräume für die Eltern? Ja und nein, meint Birgit Weiß. Tatsächlich verändert sich ihre Rolle als Mutter und Ehefrau.

Als ich vor zwei Jahren eine ehemalige Schulfreundin traf, die das Führen ihres „Hotels Mama“ so gründlich satthatte, dass sie es ihren zwei erwachsenen Töchtern nahelegte, doch endlich auszuziehen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, ob ich das eigentlich noch alles will. Denn im Grunde war ich noch mitten im Thema. Unsere Kinder waren 18, 22 und 24 und wohnten alle noch zu Hause. Die älteste Tochter und der Sohn studierten, die Jüngste ging noch zur Schule. Bei meiner ehemaligen Schulfreundin merkte ich jedenfalls ganz deutlich, dass ihre Seele extrem nach Freiheit lechzte. Dass sie nicht mehr länger bereit war, für erwachsene Kinder zu kochen, zu putzen und zu waschen, sondern dass sie nun endlich auch etwas von dem ihr „noch übriggebliebenen Leben“ für sich in Anspruch nehmen wollte.

WENIG ZEIT ZU ZWEIT

Einerseits konnte ich sie verstehen, andererseits empfand ich nicht genauso. Das Führen meines „kleinen Familienunternehmens“ betrachtete ich immer als wertvolle Aufgabe. Auch wenn ich mich um das Familienmanagement weitgehend allein kümmern musste, da mein Mann aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit nicht viel Zeit hat. Glücklicherweise befindet sich sein Büro aber in unserem Haus, sodass wir uns dennoch in einigen Bereichen ergänzen können. Ich kümmere mich zum Beispiel um die Buchführung, während er mir bei körperlich schweren Arbeiten in Haus und Garten hilft, sofern keins der Kinder da ist, das mit anpacken kann. Seine Selbstständigkeit brachte uns trotz allem aber auch schon immer den klaren Vorteil, dass wir als Familie alle zusammen am Esstisch sitzen konnten. Da allerdings bestimmten die Kinder weitgehend die Gesprächsthemen.

Unsere gemeinsamen Zeiten als Ehepaar dagegen hielten sich eher in Grenzen. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir uns einen regelmäßigen Ausgeh-Samstag freischaufeln konnten, an dem wir zum Schwimmen und anschließend zum Essen gehen. Aber selbst da ereilte uns beim Verlassen des Hauses so manches Mal noch die schnelle Frage: „Könnt ihr mir etwas mitbringen?“, und das haben wir dann auch meistens gemacht. Man kann die Kinder eben doch nicht ganz ausklammern, auch wenn man sich gerade mal etwas für sich gönnt.

FAMILIENZEIT GENIESSEN

Dass sich das auch jetzt, wo die Kinder erwachsen sind, nicht maßgeblich geändert hat, mag dem einen oder anderen übertrieben erscheinen, liegt aber vermutlich zumindest bei mir an dem Umstand, dass ich als Kind durch die Scheidung meiner Eltern, den frühen Tod des Vaters und die Alkoholkrankheit meiner Mutter kein normales Familienleben hatte. Deshalb schätze ich die Gemeinschaft mit meinem Mann und den Kindern umso mehr und bin bereit, eigene Wünsche zurückzustecken. Was natürlich trotz allem nicht heißt, dass ich mir nicht auch an manchem Tag ein freies Haus gewünscht hätte. Oder zumindest ein Plätzchen, an dem man nicht gestört werden kann. Mein Traum war immer ein eigenes Arbeitszimmer innerhalb der Wohnung, in dem ich die Buchführung sowie Schreibarbeiten in Ruhe erledigen kann, ohne dabei allzu weit von Herd und Waschmaschine entfernt zu sein. Da es sich aber aus Platzmangel nicht einrichten ließ, arbeite ich weitgehend im Wohnzimmer, und dort ist es eben äußert schwierig mit der Ruhe. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kinder während ihrer Schul- und Studierzeiten sehr viel zu Hause und damit auch immer irgendwie um mich herum waren. Aber: Kann man als Mutter überhaupt erwarten, ungestört zu sein, solange die Kinder im Haus sind? Müssen nicht erst alle ausziehen, damit man sich auch einmal auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren kann?

NAHTLOS IN DIE OMAPHASE?

Wenn ich mich im Bekanntenkreis umsehe, so kann ich feststellen, dass auch der Auszug der Kinder durchaus nicht immer das Tor zur Freiheit öffnet. Da begegnen mir beim Einkaufen Frauen meines Alters, die bereits mit ihren Enkelkindern unterwegs sind. Bei denen die Mutterphase nahtlos in die Omaphase übergegangen ist. Oftmals versorgen sie ihre Enkelkinder stundenweise, damit ihre Töchter oder Schwiegertöchter arbeiten können. Auch wenn einige von ihnen dies durchaus gern so handhaben, kann ich mir das im Moment noch nicht vorstellen. Ich würde mir zwischen Mutterphase und Omaphase doch einige Zeit Leerlauf wünschen, um mich wieder auf eigene Interessen besinnen zu können. Denn obgleich ich immer noch gern Mama bin, mache ich mir Gedanken darüber, was ich mit dem Leben „danach“ noch so anfangen könnte. Ein Besuchsdienst für ältere Menschen, den ich bereits im kleinen Rahmen begonnen habe, läge mir da zum Beispiel am Herzen. Ich empfinde den Kontakt zu älteren Menschen als Ausgleich, da sowohl Eltern als auch Schwiegereltern bereits verstorben sind und wir folglich keinen von ihnen mehr besuchen können.

Dass wir aus diesem Grund aber auch niemanden mehr haben, um den wir uns in den nächsten Jahren kümmern müssten, eröffnet gleichzeitig auch einen gewissen Freiraum für die Zukunft, den andere Ehepaare unseres Alters weniger haben. Die Fürsorge für die eigenen Eltern ist da ein Riesen-Thema und kann auch mal zu einer großen Last werden, wenn man die pflegerische Betreuung übernehmen muss, so wie das bei einer guten Bekannten der Fall ist. Sie hat auch jetzt, da ihre Kinder aus dem Haus sind, keine Zeit für sich. Sie habe das Gefühl, sagt sie mir, dass das Leben an ihr vorbeizieht. Dass sie selbst alt bei der Pflege wird und dass sie es als sehr frustrierend empfindet, dass niemand etwas von ihrer Leistung, die sie da im Stillen treu und täglich erfüllt, wahrnimmt. Obwohl ich sie nicht persönlich unterstützen kann, kann ich sie mit dem Gedanken trösten, dass Gott ihre Mühe sehr wohl sieht und ihre Fürsorge in seinen Augen sehr wertvoll ist. Jesus sagt ja: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40), und genau das hat mich persönlich getröstet, als mich vor über 25 Jahren die Sorgen um meine alkoholkranke Mutter selbst an den Rand der Erschöpfung brachten. Aber auch wenn diese Zeiten lange vorbei sind und unsere Ehe in Sachen „alternde Eltern“ keine Last zu tragen hat, leiden wir im Gegensatz darunter, dass sie viel zu früh verstorben sind. Wir vermissten sie im Laufe der Jahre nicht nur bei Familienfeiern oder den ersten Schultagen unserer Kinder, sondern generell. Wir hatten keinerlei Entlastung bei der Erziehung unserer Kinder. Und diese waren oft sehr traurig darüber, keinen Opa und keine Oma zu haben.

KINDER IN DER FERNE

Und während wir unsere Eltern vermissen, vermissen andere bereits ihre erwachsenen Kinder, weil es diese sehr weit in die Ferne gezogen hat. Denn auch das gibt es ja, dass Kinder nicht nur um die Ecke ziehen, sondern plötzlich Tausende von Kilometern weit weg sind, so wie das bei einer anderen Bekannten der Fall ist, deren junge Leute Hals über Kopf ausgewandert sind. Eigentlich kannte ich sie ja nur als unzertrennliches Gespann, nahe beieinander wohnend – und nun das! Keiner hatte damit gerechnet, die betroffene Mutter am allerwenigsten! Nun sieht sie ihre Lieben nur noch über Skype, hat schreckliche Sehnsucht und wird demnächst ihre Flugangst überwinden müssen, um sie besuchen zu können.

Als Elternpaar kennen auch wir das Spannungsfeld, in dem man sich befindet, sobald die Kinder aus der unmittelbaren Nähe verschwunden sind. Einerseits möchte man sie loslassen, gönnt ihnen und auch sich selbst die neue Freiheit, andererseits macht man sich trotzdem seine Gedanken und ist folglich doch nicht so ganz frei. Aktuell fühlen wir uns immer noch mitverantwortlich, weil unsere Kinder aufgrund ihres Studiums oder ihrer Ausbildung noch nicht ganz auf eigenen Füßen stehen.

Daneben kennen wir auch das Damit-Zurechtkommen- Müssen, dass sich Dinge plötzlich ganz anders entwickeln, als man sich das so gedacht hätte. Auch wir konnten uns nicht immer gleich mit allen Entscheidungen unserer Kinder anfreunden, sind aber im Laufe der Zeit flexibler geworden. Wir haben durch eigene und durch die Erfahrungen in unserem Bekanntenkreis erkannt: Es ist nicht gut, sich in gewisse Vorstellungen über die Zukunft zu verbeißen. Viel besser ist es, sich mit den jeweiligen Gegebenheiten bestmöglich zu arrangieren und in allem das Positive zu suchen.

LOSLASSEN EINGEÜBT

Um immer wieder über den häuslichen Tellerrand hinausschauen zu können, helfen meinem Mann seine Aktivitäten als Hobby-Musiker. Mir dagegen helfen Freundschaften, mein kleiner Besuchsdienst und vor allem mein Glaube an Gott. Ich merke immer wieder, wie der Herr mir beim Vergeben hilft, neue Kraft schenkt und meinen Liebestank treu auffüllt. Was ich immer schon als Privileg erachtet habe: Ich darf meine Lieben zu jeder Zeit und egal, wo sie sich gerade befinden, im Gebet begleiten. Zu wissen, dass der allmächtige Schöpfer des Universums höchstpersönlich auf sie Acht gibt, lässt mich am Abend ruhig einschlafen, auch wenn ich nicht weiß, wie sich alles weiterentwickeln wird.

Im Moment sieht es bei uns so aus: Unser Sohn ist in ein Studentenheim gezogen, das eine Autostunde von uns entfernt ist. Die Älteste kam kürzlich von einem halbjährigen Freiwilligendienst in Israel zurück nach Hause, um ihr Studium zu beenden, und die Jüngste lebt noch zu Hause, sucht aber nach einer Wohnmöglichkeit, um näher an ihrem Ausbildungsplatz zu sein. Der Gedanke, dass wir als Ehepaar auch bald zu zweit sein könnten, macht uns keinen Kummer. Zum einen hatten wir schon zwölf gemeinsame Jahre vor den Kindern, zum anderen haben wir das Loslassen inzwischen ja ein bisschen eingeübt.

Birgit Weiß lebt mit ihrer Familie in Oberfranken.

 

 

Kontakt abgebrochen

„Unser Sohn (22) ist vor einem Jahr ausgezogen. Nun hat er uns sehr deutlich gemacht, dass er erst einmal keinen persönlichen Kontakt zu uns möchte. Er müsse sich abgrenzen. Das verletzt uns sehr. Wie können wir damit umgehen?“

In der Bibel lesen wir in 1. Mose 2,24: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen.“ Die Ablösung von den Eltern ist – seit jeher ein Thema. Für Sie als Eltern ist es allerdings sehr hart, wenn Ihr Sohn diese Ablösung so drastisch vollzieht, dass er gar keinen persönlichen Kontakt mehr wünscht.

„Familien kann man sich nicht aussuchen“, heißt es und bedeutet, dass Familienbande auch dann bestehen bleiben, wenn es mal „nicht so gut läuft“. Doch das ist nicht immer so. Denn erwachsene Kinder haben nach ihrer Volljährigkeit die Möglichkeit, ihr Verhältnis zu den Eltern neu zu gestalten, bis hin zur radikalen Trennung.

VERLASSENE ELTERN

Für Sie als Eltern ist es sehr schwierig, mit diesem Schmerz umzugehen. Da ist es ein schwacher Trost, dass es rund 100.000 Familien in Deutschland und der Schweiz gibt, denen es ähnlich ergeht. In Berlin haben sich Betroffene zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen: www.verlassene-eltern-berlin.de.

Betroffene erzählen, dass es den Schmerz lindert, wenn man Briefe an das eigene Kind schreibt. Das können handgeschriebene Briefe sein, E-Mails oder Grußkarten. Das kann Ihnen guttun, und vielleicht sind die Briefe irgendwann wieder eine Brücke zu Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter. Eine betroffene Mutter, Angelika Kindt, formuliert ihre Briefe als Blogartikel und stellt sie ins Netz: www.wenn-kinder-den-kontakt-abbrechen.de. Zudem hat sie über ihre Erfahrungen ein gleichnamiges Buch geschrieben.

SCHMERZ FÜHLT SICH WIE TRAUER AN

Verlassene Eltern empfinden dieselbe Trauer, als wäre das eigene Kind gestorben. Vielleicht sogar noch mehr, denn sie können nicht zu ihm, obwohl das Kind lebt. Sie wissen auch nicht, ob der Sohn oder die Tochter den Kontakt jemals wieder aufnehmen wird, oder ob lebenslange Funkstille herrscht. Das ist eine sehr belastende Situation.

In vielen Fällen benötigt Ihr Kind einfach nur Abstand auf Zeit. Vielleicht ist es für Ihren Sohn lediglich wichtig, eigene Erfahrungen zu machen, ohne auf Belehrungen oder Kommentare der Eltern Rücksicht nehmen zu müssen. Wenn er seine eigenen Erfahrungen gemacht hat oder wenn er selbst eine Familie gründen will, kommt er möglicherweise wieder auf die Herkunftsfamilie zu.

Wichtig ist in jedem Fall, dass Sie selbst Ihr eigenes Leben weiterleben. Versuchen Sie, Ihre Wut zu überwinden und Ihrem Sohn, trotz allem, den Kontaktabbruch zu vergeben. So bleibt die Tür für ihn offen, So bleibt die Tür für Ihren Sohn offen, und der Kontakt kann dann wieder aufleben, wenn Ihr Sohn dazu bereit ist.

Ingrid Neufeld ist Erzieherin und Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Sie lebt in Schlüsselfeld in Oberfranken.

 

 

Zum Auszug drängen?

„Unsere Tochter (21) ist nach ihrer Ausbildung von ihrer Firma übernommen worden. Sie möchte erst mal weiter bei uns wohnen bleiben. Wir glauben aber, dass es ihr gut tun würde, eine eigene Wohnung zu haben. Sollen wir sie drängen auszuziehen?“

Noch vor einer Generation war es gar nicht so selten, dass junge Frauen im Alter von 21 Jahren bereits eine eigene Familie hatten. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich diese Vorstellung vollkommen verändert. Junge Menschen finden später ihre Partner und sie brauchen länger Zeit, sich von ihrer Herkunftsfamilie abzunabeln. Die Gründe dafür sind vielfältig: Längere Ausbildungszeiten sind ein Grund dafür. Aber auch das harmonischere Miteinander in vielen Familien lässt junge Menschen lange zaudern, bis sie endlich den Schritt auf die eigenen Füße wagen.

ELTERNHAUS BEDEUTET SICHERHEIT
Das gilt für junge Männer genauso wie für die Frauen. Junge Menschen wollen heutzutage ihre eigene Kindheit möglichst lange hinauszögern und genießen. Das ist durchaus verständlich. Aber davon abgesehen, dass Ihre Tochter es sicherlich genießt, noch immer „beeltert“ zu werden, hat sie möglicherweise auch Angst davor, es allein nicht zu schaffen. Da ist die Miete, die sie künftig von ihrem Gehalt zahlen muss, dann die Kosten für den eigenen Lebensunterhalt. Bisher konnte sie wie selbstverständlich davon ausgehen, dass sie zu Hause versorgt wurde und vielleicht noch gar nichts von ihrem bisherigen Verdienst abgeben musste. Sie müssen Ihre Tochter nicht drängen auszuziehen. Manche junge Menschen brauchen einfach ein wenig mehr Zeit, bis sie innerlich bereit sind, sich vom Elternhaus räumlich zu trennen. Diese Zeit sollten Eltern ihren Kindern gönnen.

VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN
Ihre Tochter sollte allerdings – spätestens jetzt – die Verantwortung für ihren Lebensunterhalt übernehmen. Nach Beendigung ihrer Ausbildung bezieht sie ein volles Gehalt. Deshalb ist es folgerichtig, wenn sie nun auch ihren Beitrag zu den Lebenshaltungskosten beisteuert. Wie hoch dieser Beitrag sein soll, bemessen Sie individuell nach ihrem Verdienst und den Kosten, die Sie bisher für sie übernommen haben. Wenn sie Angst davor hat, nicht mit ihrem Geld auszukommen, sobald sie auf eigenen Füßen steht, dann rechnen Sie mit ihr aus, welche Kosten für sie entstehen werden, wenn sie auszieht. Machen Sie gemeinsam mit ihr einen Plan und zeigen sie ihr, wie sie mit ihrem Geld auskommen kann. Helfen Sie ihr eine günstige Wohnung zu finden, die nicht nur bezahlbar ist, sondern in der sie sich auch wohl fühlt. Sollte sich Ihre Tochter trotzdem emotional noch nicht von Ihnen lösen können, so kann es ihr helfen, wenn Sie viel mit ihr telefonieren. Bestimmt hilft es ihr, wenn die Eltern in der Nähe wohnen und sie im Notfall schnell vorbeikommen könnte. Richten Sie mit ihr gemeinsam die neue Wohnung ein. Das macht Spaß und gibt Ihrer Tochter ein wenig Nestwärme zurück. Begleiten Sie Ihre Tochter auf diesem wichtigen Weg in die Selbständigkeit. Es ist wie damals, als Ihre Tochter laufen lernte: Eltern müssen loslassen und Kinder müssen die eigenen Fähigkeiten entdecken und mobilisieren.

Ingrid Neufeld ist Erzieherin und Mutter von drei inzwischen erwachsenen Töchtern. Sie lebt in Mittelfranken.

Besuche anmelden?

„Unsere Tochter kommt gern spontan vorbei, ohne vorher Bescheid zu sagen. Ehrlich gesagt, stört mich das. Ich habe aber die Sorge, dass sie sich nicht mehr willkommen fühlt, wenn ich sie bitte, ihre Besuche anzukündigen.“

Genauso wie Kinder sehr unterschiedlich sind, gibt es auch unterschiedliche Eltern. Während die einen nach dem Auszug der eigenen Kinder am liebsten weiterhin über jeden Schritt genau unterrichtet wären, sind andere Eltern gar nicht so unglücklich darüber, dass sie ihren Tagesablauf wieder nach eigenen Bedürfnissen ausrichten können und sich nicht ständig nach den Kindern richten müssen. Es gibt hier kein „richtig“ oder „falsch“. Deshalb müssen Sie sich nicht schlecht dabei fühlen, wenn Sie jetzt, nach dem Auszug Ihrer Tochter, für sich selbst Grenzen ziehen möchten.

AUSGEZOGEN – ABER AUCH ABGENABELT?
Wichtig ist es jedoch, dass Sie trotzdem auch die Seite Ihrer Tochter sehen. Mit dem Auszug aus dem Elternhaus vollzieht sich für Ihre Tochter die endgültige Abnabelung von den eigenen Eltern. Manche Kinder genießen das in vollen Zügen und melden sich nur noch sporadisch zu Hause. Andere dagegen brauchen einen „Anker“. Sie wünschen sich einen festen Platz, an den sie immer wieder zurückkehren und zur Ruhe kommen können. Dieser Ruhepunkt ist das eigene Elternhaus. Möglicherweise ergibt sich das Bedürfnis, diesen Fluchtpunkt aufzusuchen, für Ihre Tochter sehr spontan.

GEÄNDERTER TAGESABLAUF DER ELTERN
Reden Sie mit Ihrer Tochter darüber, dass Sie nach ihrem Auszug einen anderen Tagesablauf haben und es deshalb notwendig ist, dass Sie über spontane Besuche vorher informiert werden. Machen Sie Ihr klar, dass Sie sich natürlich über ihre Besuche freuen, aber dass Sie nicht möchten, dass Ihre Tochter bei einem unangemeldeten Besuch vor verschlossener Tür steht. Sollte Ihre Tochter noch einen Wohnungsschlüssel haben, so besprechen Sie mit ihr, dass dieser Schlüssel nur für Notfälle gedacht ist und nicht zum Betreten der Wohnung während Ihrer Abwesenheit.

MIT EINFÜHLUNGSVERMÖGEN ABGRENZEN
Erklären Sie ihr, dass Sie sie gerne jederzeit willkommen heißen und ihr auch extra das Lieblingsessen kochen oder die Lieblingsschokolade im Kühlschrank lagern, aber dass das nur möglich ist, wenn Sie vorher Bescheid sagt. Im ersten Moment ist es für erwachsene Kinder sicherlich nicht einfach, plötzlich wie ein Besucher behandelt zu werden. Wenn Sie jedoch Ihr Anliegen in die richtigen Worte kleiden, wird Ihre Tochter Sie sicherlich verstehen. Erwachsene Kinder ziehen aus, um ihr eigenes Leben zu leben. Dieses eigene Leben steht jedoch auch den Eltern zu. Deshalb müssen Eltern kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nach Auszug der Kinder ihren Tagesablauf ändern und infolgedessen darauf bestehen, dass sich die Kinder bei einem Besuch anmelden.

Ingrid Neufeld ist Erzieherin und Mutter von drei inzwischen erwachsenen Töchtern. Sie lebt in Mittelfranken.

„Besuch uns doch mal!“

„Unsere Tochter (20) ist vor kurzem ausgezogen und wohnt in der Nachbarstadt. Wir sind unsicher, ob wir sie nun aktiv und regelmäßig einladen oder lieber warten sollen, dass sie von allein bei uns vorbeikommt.“

Sie haben Ihre Tochter bis zu diesem wichtigen Schritt in die Selbständigkeit begleitet. Nun wird sie neuen Herausforderungen begegnen, die sie ohne die direkte elterliche Hilfe meistern muss. Hier dürfen Sie Ihrer Erziehung zutiefst vertrauen. Aber es werden auch für Sie Veränderungen anstehen, die von vielen Fragen begleitet sind. Eine davon haben Sie formuliert. Ich möchte Ihnen dazu drei Gedanken mit auf den Weg geben.

1. EIN NEUES ZUHAUSE VERBINDET NEUE VERANTWORTUNG MIT NEUER FREIHEIT
Mit dem Auszug hat Ihre Tochter eine wichtige Entscheidung getroffen. Weitere Entscheidungen werden folgen. Sie sollten die Entscheidungsfähigkeit Ihrer Tochter fördern, indem Sie sich zurückhalten und diese Entscheidungen akzeptieren. Bieten Sie Hilfe an, aber übernehmen Sie keine Entscheidungen. Ihre Tochter wird sich neben dem neuen Wohnumfeld auch einen neuen eigenen Wirkungskreis suchen. Das braucht Zeit. Soziale Kontakte, Freundschaften und Freizeitgestaltung bedürfen eines „inneren Angekommenseins“. Gönnen Sie Ihrer Tochter diese Zeit ohne Eifersucht und halten Sie Kontakt durch ein Telefonat.

2. HEIMAT BLEIBT HEIMAT UND RIECHT WIE DAS ALTE ZUHAUSE
Seien Sie sicher, dass Ihre Tochter ein gutes Gespür dafür hat, was ihr Heimat bedeutet. Wer die Heimat besucht, kennt die Straßen und Orte, die Gerüche und Farben. Ein Besuch bei den Eltern weckt alte Erinnerungen. Die Gegebenheiten sind vertraut und die Abläufe klar. Das macht die Heimat so angenehm. Deshalb dürfen Sie getrost davon ausgehen, dass Ihre Tochter gern und aus eigenen Stücken zu Besuch kommt. Halten Sie das Haus offen und ein Bett bereit. Das muss aber nicht das alte Kinderbett, sondern kann durchaus das Gästebett sein.

3. AUSZUG BEDINGT EINE NEUE QUALITÄT DER ELTERN-BEZIEHUNG
Wenn die Kinder das Haus verlassen, braucht es ein Umlernen und Neusortieren zwischen den „verlassenen“ Eltern. Es wächst eine neue Qualität der Beziehung und des Gesprächs jenseits der Themen Kindererziehung und Co. Ähnlich den Veränderungen, die ein Kind mit sich bringt, wenn es in die Zweierbeziehung tritt, muss auch der Prozess des „Verlassens“ gestaltet werden. So ermutige ich Sie, auf den Besuch Ihrer Tochter fröhlich zu warten, aber über dem Warten nicht die eigene neue Entwicklung zu versäumen. Und Sie dürfen auch gern über Ihre Besuchskultur nachdenken. Der Sehnsucht nach einer Begegnung mit Ihrer Tochter kann man auch mit einem eigenen Besuch begegnen. Ihre Tochter freut sich sicher über einen Besuch von Ihnen, bei dem Sie gern auch die obengenannte Frage besprechen können. Sie zeigt Ihnen stolz die neu eingerichtete Wohnung, entdeckt mit Ihnen gern die umliegenden Cafés oder Spazierwege. Dabei wünscht sich Ihre Tochter sicher ein väterliches Lob und eine mütterliche Anerkennung. Wenn Sie die Welt Ihrer Tochter kennenlernen, wird sich ein Gefühl von Stolz und Dankbarkeit einstellen. Also liebevoll warten und fröhlich starten.

Gottfried Muntschick ist Geschäftsführer der CVJM Familienarbeit Mitteldeutschland e.V. und Vater von sechs Kindern, von denen vier bereits ausgezogen sind.