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Entspannung statt Stress: Drei Fragen sollten sich Eltern zum Sonntag stellen

Für Eltern ist der Sonntag oft alles andere als entspannend. Was helfen kann, sind gute Absprachen, meint Vierfach-Mama Melanie Schmitt.

Sonntagmorgen in Hessen. Karl hat die süßesten, kugeligsten Augen, die man sich vorstellen kann. Wenn man ihn anschaut, bekommt man meistens ein strahlendes, herzerwärmendes Lächeln geschenkt. Gerade ist Karl von Spielschachteln, Spielkarten, Spielfiguren und anderen Brettspielelementen umgeben, die er großflächig um sich verteilt hat. Es sieht nicht so aus, als würde Karl demnächst dazu in der Lage sein, dieses Chaos planvoll wieder rückgängig zu machen. Da müssen wohl die Eltern ran. Vielleicht denken sie bei der Sortierarbeit manchmal an das Märchen vom Aschenputtel – nur dass keine Tauben angeflogen kommen, um zu helfen.

„Happy Sunday“ steht auf der Postkarte, schwarze Buchstaben vor zart sprießenden Blüten: „Mach das Beste aus diesem Tag: Lebe, lache, liebe, lese, lerne, spiele, träume! Sei einfach in jedem Moment glücklich!“ Oha – das wird ja ein herausfordernder Sonntag. Das mit dem Leben, das kriege ich hin: einatmen, ausatmen, läuft. Aber der Rest? Welche Blüten treibt der Sonntag in gewöhnlichen Familien?

"Happy Sunday" steht auf einer Karte.

Nachdem das Orkantief Karl durchs Wohnzimmer gewirbelt ist, beginnt das Katastrophenschutzteam Mama und Papa mit den Aufräumarbeiten. Auch für Karls Eltern ist Sonntag, so wie für den Rest des Landes. Sie haben unter der Woche einiges um die Ohren gehabt, sind dementsprechend erholungsbedürftig. Niemand hat Lust, die Spiele zu sortieren, aber es muss ja irgendwie sein. Außerdem wartet Karls Schwester Mathilda darauf, endlich auf den Spielplatz zu gehen. Sie hat sich schon das geliebte Sommerkleid angezogen, das sie von ihrer Cousine geerbt hat. Der Kalender zeigt Februar. Ganz normaler Wahnsinn also. Und der Kalender signalisiert eben nicht nur Februar, sondern auch Sonntag: Ruhetag, Erholungstag, Familientag.

Drei Fragen sollten sich Familien stellen

Ich sehe in der Sonntagsgestaltung drei besonders neuralgische Punkte:

1) Ruhe oder Unternehmung?

Sofa oder Spielplatz? So ruhig oder so erlebnisreich wie möglich? Wonach steht wem gerade der Sinn? Wie so oft ist es wichtig, die eigenen Bedürfnisse bewusst wahrzunehmen und sie zu äußern, statt zu erwarten, dass der Partner sie erfühlen müsste. Genauso wichtig ist es, nach den Bedürfnissen des anderen zu fragen. Auf dieser gemeinsamen Grundlage wird es leichter, eine Tagesplanung zu überlegen, in der verschiedene tagesaktuelle Bedürfnisse Platz finden. Am nächsten Sonntag kann das schon ganz anders aussehen.

2) Gemeinsam oder getrennt?

Eine immer wiederkehrende Sonntagsfrage ist auch, wie viel individuelle Zeit Eltern und Kinder sich nehmen können und wollen – und sich gegenseitig ermöglichen. Besteht die Erwartung, dass alle zusammen sind? Können wir uns als Elternpaar gegenseitig Freiräume schaffen? Diskutieren beide Elternteile die Kleidchenfrage mit Mathilda? Oder ist es okay, wenn ein Elternteil sich rauszieht, um joggen zu gehen? Wer geht zum Gottesdienst und wer bleibt mit den Kindern zu Hause oder in der Kinderbetreuung? Geht ein Elternteil mit dem Schulkind ins Museum, ohne Krabbelkind, oder kommt ein getrenntes Programm am Sonntag nicht in Frage? Was ist mit Verabredungen? Ist der Sonntag ein reiner Familientag oder offen für Freunde? Gute Absprachen, die immer wieder neu getroffen werden müssen, können Freiräume schaffen und Frustrationen vermeiden.

3) Tradition oder Innovation?

Die gesellschaftliche Ausgestaltung des Sonntags hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. In der Kindheit vieler heutiger Eltern war der Sonntag ein Familientag, an dem es undenkbar war, sich mit Freunden zu verabreden. Auch Kindergeburtstage wurden unter der Woche gefeiert und eher nicht an einem Sonntag. Das ist anders geworden. Die Traditionen und Rituale aus der eigenen Kindheit, sprich: aus den Herkunftsfamilien der Eltern, spielen eine große Rolle darin, wie wir uns die Sonntagsgestaltung vorstellen – oder eben gerade nicht wünschen.

Gottesdienst, Kaffeetrinken, Oma besuchen, spazieren gehen: Viele Erwartungen, die wir mit dem Sonntag verknüpfen, sind Muster, die wir übernommen haben. Auch hier lohnt es sich, genau hinzusehen und sich auszutauschen: Wie war es früher? Wie ging es uns damit? Was wünschen wir uns für unsere Familie? Was bedeutet das für die Freundschaften unserer Kinder? Wer sich von den Kindheitssonntagen erzählt und seine Ideale hinterfragt, kann Erwartungen besser greifen und realistischer mit dem Partner abstecken.

Gemeinsam Sonntagsmix festlegen

Ausflug oder Ausruhen? Verwandte besuchen oder Freunde einladen? Zeit für sich allein oder gemeinsam mit der Familie? Gottesdienst oder Gammeln auf dem Sofa? Die Möglichkeiten sind so vielfältig wie die Familienmitglieder. Die Bedürfnisse sind so unterschiedlich wie das Alter und wie die Anspannung der vergangenen Woche.

Wie an allen anderen Tagen in der Woche ist es auch in Sachen Sonntag hilfreich und heilsam, einmal genau hinzuschauen, welche Bedürfnisse hinter den Vorstellungen stecken, die wir uns von unserem Familienleben machen. Und diese Bedürfnisse möglichst klar und vollständig zu äußern. Was sind unsere Sonntagsideale? Wie kann der Sonntag ein Tag bleiben oder werden, auf den sich alle freuen? Wenn wir unsere Bedürfnisse nun besser kennen, wie wäre es dann, wenn alle Familienmitglieder, je nach Alter, reihum einen Sonntag planen dürfen? Mit einem abgesprochenen Budget und einem überschaubaren Zeitrahmen?

Sonntag ist eine Entscheidung

Der Sonntag ist ein Tag, der herausstechen soll aus dem Klein-Klein der anderen Tage. Viel können wir dazu selbst beitragen, indem wir überlegen, wie wir diesen Tag gestalten, aber auch, indem wir uns bewusst dafür entscheiden, vieles nicht zu tun, was wir sonst unter der Woche tun. Als Eltern gibt es auch am Sonntag eine Menge Dinge, die sich nicht aufschieben lassen. Nahrung, trockene Klamotten und frische Windeln lassen sich nicht auf den Montag verschieben.

Doch ich kann mich grundsätzlich dafür entscheiden, am Sonntag eben nicht noch schnell eine Maschine Wäsche anzuschalten, auch wenn das in wenigen Minuten erledigt wäre. Ich kann mich dafür entscheiden, nach der Rettung der Spielesammlung nicht auch noch zu saugen. Ich kann mich dafür entscheiden, nicht den ganzen Tag für andere verfügbar zu sein und das Handy am Sonntag auf Flugmodus stellen, zumindest für eine Weile. Wer dieses Vorhaben am Samstagabend in seinen Status stellt, vermeidet Irritationen bei den Mitmenschen. Ich kann mich dafür entscheiden, zu akzeptieren, dass selten alle in der Familie einen super Tag haben werden, nur weil Sonntag im Kalender steht. Ich kann mich dafür entscheiden, dass es einmal in der Woche nicht um Optimierung geht.

Der Sonntag kann ein Glanzlicht im Alltag sein

Ich will dem Sonntag die Chance lassen, ein Glanzlicht im Alltag zu sein. Denn ich habe längst gemerkt: Ein bewusst erlebter Sonntag, der anders schimmert als die restlichen Wochentage, ein Sonntag, der einen gewollten Akzent setzt im Alltagstrott, gibt dem Leben Halt und Rhythmus. Damit der Sonntag glänzen kann, gebe ich mir Mühe, mir manches zu verkneifen, was noch zu erledigen wäre, und gelassen das hinzunehmen, was trotz Sonntagsheiligkeit in einer Familie dennoch zu erledigen ist. Ich versuche, genau hinzuschauen und weder mich noch meine Familie damit zu überfordern, dass ich den Sonntag überfrachte mit überzogenen Erwartungen. Ich streiche alles durch auf der Sonntagspostkarte, bis da steht: „Happy Sunday! Sei einfach.“

Ein Hoch auf alle Eltern

Karl und Mathilda sind mein Neffe und meine Nichte. Sie erinnern mich regelmäßig daran, wie ich noch vor Kurzem selbst an einem Sonntag keinen Moment die Augen schließen konnte, ohne fürchten zu müssen, dass ein Kleinkind das Bad flutet. Ein Hoch auf alle Eltern, die auch am Sonntag von morgens bis abends und nachts verfügbar sind, damit ein kleiner Mitmensch Versorgung, Geborgenheit und Zuwendung erfährt! Ein Hoch auf alle Eltern von Schulkindern, die auch sonntags vergessene Referate unterstützen und Rücken kraulen!

Möget ihr an jedem Sonntag ein paar Minuten finden, in denen ihr wenigstens ein Auge mal ein bisschen schließen könnt. Seid gewiss: Je älter die Kinder werden, desto eher wird es möglich, Zeit für sich zu haben, desto schwieriger wird es aber auch, die vielfältigen Bedürfnisse aller zu vereinen. Die Sonntagsfrage stellt sich also immer wieder aufs Neue und beweist, was wir schon lange ahnen: Das Beständigste an Familie ist ihre stete Veränderung.

Melanie Schmitt lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im waldreichen Taunus und gönnt sich nun manchmal nachträglich sonntags die Pausen, die sie vor ein paar Jahren dringend gebraucht hätte.

Die Sonntagsfrage

Endlich wieder Sonntag oder schon wieder Sonntag? Melanie Schmitt hat sich den Wochentag näher angesehen, auf dem vermutlich die höchsten familiären Erwartungen lasten.

Sonntagmorgen in Hessen. Karl hat die süßesten, kugeligsten Augen, die man sich vorstellen kann. Wenn man ihn anschaut, bekommt man meistens ein strahlendes, herzerwärmendes Lächeln geschenkt. Gerade ist Karl von Spielschachteln, Spielkarten, Spielfiguren und anderen Brettspielelementen umgeben, die er großflächig um sich verteilt hat. Es sieht nicht so aus, als würde Karl demnächst dazu in der Lage sein, dieses Chaos planvoll wieder rückgängig zu machen. Da müssen wohl die Eltern ran. Vielleicht denken sie bei der Sortierarbeit manchmal an das Märchen vom Aschenputtel – nur dass keine Tauben angeflogen kommen, um zu helfen.

„Happy Sunday“ steht auf der Postkarte, schwarze Buchstaben vor zart sprießenden Blüten: „Mach das Beste aus diesem Tag: Lebe, lache, liebe, lese, lerne, spiele, träume! Sei einfach in jedem Moment glücklich!“ Oha – das wird ja ein herausfordernder Sonntag. Das mit dem Leben, das kriege ich hin: einatmen, ausatmen, läuft. Aber der Rest? Welche Blüten treibt der Sonntag in gewöhnlichen Familien?

Nachdem das Orkantief Karl durchs Wohnzimmer gewirbelt ist, beginnt das Katastrophenschutzteam Mama und Papa mit den Aufräumarbeiten. Auch für Karls Eltern ist Sonntag, so wie für den Rest des Landes. Sie haben unter der Woche einiges um die Ohren gehabt, sind dementsprechend erholungsbedürftig. Niemand hat Lust, die Spiele zu sortieren, aber es muss ja irgendwie sein. Außerdem wartet Karls Schwester Mathilda darauf, endlich auf den Spielplatz zu gehen. Sie hat sich schon das geliebte Sommerkleid angezogen, das sie von ihrer Cousine geerbt hat. Der Kalender zeigt Februar. Ganz normaler Wahnsinn also. Und der Kalender signalisiert eben nicht nur Februar, sondern auch Sonntag: Ruhetag, Erholungstag, Familientag.

Die zentralen Fragen

Ich sehe in der Sonntagsgestaltung drei besonders neuralgische Punkte:

1) Ruhe oder Unternehmung?

Sofa oder Spielplatz? So ruhig oder so erlebnisreich wie möglich? Wonach steht wem gerade der Sinn? Wie so oft ist es wichtig, die eigenen Bedürfnisse bewusst wahrzunehmen und sie zu äußern, statt zu erwarten, dass der Partner sie erfühlen müsste. Genauso wichtig ist es, nach den Bedürfnissen des anderen zu fragen. Auf dieser gemeinsamen Grundlage wird es leichter, eine Tagesplanung zu überlegen, in der verschiedene tagesaktuelle Bedürfnisse Platz finden. Am nächsten Sonntag kann das schon ganz anders aussehen.

2) Gemeinsam oder getrennt?

Eine immer wiederkehrende Sonntagsfrage ist auch, wie viel individuelle Zeit Eltern und Kinder sich nehmen können und wollen – und sich gegenseitig ermöglichen. Besteht die Erwartung, dass alle zusammen sind? Können wir uns als Elternpaar gegenseitig Freiräume schaffen? Diskutieren beide Elternteile die Kleidchenfrage mit Mathilda? Oder ist es okay, wenn ein Elternteil sich rauszieht, um joggen zu gehen? Wer geht zum Gottesdienst und wer bleibt mit den Kindern zu Hause oder in der Kinderbetreuung? Geht ein Elternteil mit dem Schulkind ins Museum, ohne Krabbelkind, oder kommt ein getrenntes Programm am Sonntag nicht in Frage? Was ist mit Verabredungen? Ist der Sonntag ein reiner Familientag oder offen für Freunde? Gute Absprachen, die immer wieder neu getroffen werden müssen, können Freiräume schaffen und Frustrationen vermeiden.

3) Tradition oder Innovation?

Die gesellschaftliche Ausgestaltung des Sonntags hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. In der Kindheit vieler heutiger Eltern war der Sonntag ein Familientag, an dem es undenkbar war, sich mit Freunden zu verabreden. Auch Kindergeburtstage wurden unter der Woche gefeiert und eher nicht an einem Sonntag. Das ist anders geworden. Die Traditionen und Rituale aus der eigenen Kindheit, sprich: aus den Herkunftsfamilien der Eltern, spielen eine große Rolle darin, wie wir uns die Sonntagsgestaltung vorstellen – oder eben gerade nicht wünschen.

Gottesdienst, Kaffeetrinken, Oma besuchen, spazieren gehen: Viele Erwartungen, die wir mit dem Sonntag verknüpfen, sind Muster, die wir übernommen haben. Auch hier lohnt es sich, genau hinzusehen und sich auszutauschen: Wie war es früher? Wie ging es uns damit? Was wünschen wir uns für unsere Familie? Was bedeutet das für die Freundschaften unserer Kinder? Wer sich von den Kindheitssonntagen erzählt und seine Ideale hinterfragt, kann Erwartungen besser greifen und realistischer mit dem Partner abstecken.

Unser Sonntagsmix

Ausflug oder Ausruhen? Verwandte besuchen oder Freunde einladen? Zeit für sich allein oder gemeinsam mit der Familie? Gottesdienst oder Gammeln auf dem Sofa? Die Möglichkeiten sind so vielfältig wie die Familienmitglieder. Die Bedürfnisse sind so unterschiedlich wie das Alter und wie die Anspannung der vergangenen Woche.

Wie an allen anderen Tagen in der Woche ist es auch in Sachen Sonntag hilfreich und heilsam, einmal genau hinzuschauen, welche Bedürfnisse hinter den Vorstellungen stecken, die wir uns von unserem Familienleben machen. Und diese Bedürfnisse möglichst klar und vollständig zu äußern. Was sind unsere Sonntagsideale? Wie kann der Sonntag ein Tag bleiben oder werden, auf den sich alle freuen? Wenn wir unsere Bedürfnisse nun besser kennen, wie wäre es dann, wenn alle Familienmitglieder, je nach Alter, reihum einen Sonntag planen dürfen? Mit einem abgesprochenen Budget und einem überschaubaren Zeitrahmen?

Oh Happy Day!

Der Sonntag ist ein Tag, der herausstechen soll aus dem Klein-Klein der anderen Tage. Viel können wir dazu selbst beitragen, indem wir überlegen, wie wir diesen Tag gestalten, aber auch, indem wir uns bewusst dafür entscheiden, vieles nicht zu tun, was wir sonst unter der Woche tun. Als Eltern gibt es auch am Sonntag eine Menge Dinge, die sich nicht aufschieben lassen. Nahrung, trockene Klamotten und frische Windeln lassen sich nicht auf den Montag verschieben.

Doch ich kann mich grundsätzlich dafür entscheiden, am Sonntag eben nicht noch schnell eine Maschine Wäsche anzuschalten, auch wenn das in wenigen Minuten erledigt wäre. Ich kann mich dafür entscheiden, nach der Rettung der Spielesammlung nicht auch noch zu saugen. Ich kann mich dafür entscheiden, nicht den ganzen Tag für andere verfügbar zu sein und das Handy am Sonntag auf Flugmodus stellen, zumindest für eine Weile. Wer dieses Vorhaben am Samstagabend in seinen Status stellt, vermeidet Irritationen bei den Mitmenschen. Ich kann mich dafür entscheiden, zu akzeptieren, dass selten alle in der Familie einen super Tag haben werden, nur weil Sonntag im Kalender steht. Ich kann mich dafür entscheiden, dass es einmal in der Woche nicht um Optimierung geht.

Ich will dem Sonntag die Chance lassen, ein Glanzlicht im Alltag zu sein. Denn ich habe längst gemerkt: Ein bewusst erlebter Sonntag, der anders schimmert als die restlichen Wochentage, ein Sonntag, der einen gewollten Akzent setzt im Alltagstrott, gibt dem Leben Halt und Rhythmus. Damit der Sonntag glänzen kann, gebe ich mir Mühe, mir manches zu verkneifen, was noch zu erledigen wäre, und gelassen das hinzunehmen, was trotz Sonntagsheiligkeit in einer Familie dennoch zu erledigen ist. Ich versuche, genau hinzuschauen und weder mich noch meine Familie damit zu überfordern, dass ich den Sonntag überfrachte mit überzogenen Erwartungen. Ich streiche alles durch auf der Sonntagspostkarte, bis da steht: „Happy Sunday! Sei einfach.“

Ein Hoch auf alle Eltern

Karl und Mathilda sind mein Neffe und meine Nichte. Sie erinnern mich regelmäßig daran, wie ich noch vor Kurzem selbst an einem Sonntag keinen Moment die Augen schließen konnte, ohne fürchten zu müssen, dass ein Kleinkind das Bad flutet. Ein Hoch auf alle Eltern, die auch am Sonntag von morgens bis abends und nachts verfügbar sind, damit ein kleiner Mitmensch Versorgung, Geborgenheit und Zuwendung erfährt! Ein Hoch auf alle Eltern von Schulkindern, die auch sonntags vergessene Referate unterstützen und Rücken kraulen!

Möget ihr an jedem Sonntag ein paar Minuten finden, in denen ihr wenigstens ein Auge mal ein bisschen schließen könnt. Seid gewiss: Je älter die Kinder werden, desto eher wird es möglich, Zeit für sich zu haben, desto schwieriger wird es aber auch, die vielfältigen Bedürfnisse aller zu vereinen. Die Sonntagsfrage stellt sich also immer wieder aufs Neue und beweist, was wir schon lange ahnen: Das Beständigste an Familie ist ihre stete Veränderung.

Melanie Schmitt lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im waldreichen Taunus und gönnt sich nun manchmal nachträglich sonntags die Pausen, die sie vor ein paar Jahren dringend gebraucht hätte.

Keine Kraft mehr, sich selbst etwas Gutes zu tun

Elternsein ist anstrengend. Kaum eine Mutter oder ein Vater macht das mit links. Hochsensible Menschen sind allerdings besonders herausgefordert in dieser Lebensphase. Von Melanie Vita

Eltern werden bedeutet, sich einer neuen Lebensphase zu öffnen und gewohnte Strukturen hinter sich zu lassen. Das ist wohl für alle Eltern eine Herausforderung. Hochsensible Eltern sehen sich dabei vor besondere Schwierigkeiten gestellt. Strategien, die für ihre innere Balance wichtig sind, wie Rückzugsmöglichkeiten, Stille und Reizreduktion, sind weniger möglich. Die persönliche Zeit wird knapper, Eindrücke, Gefühle und Reize werden intensiver, und nicht selten fühlt man sich einfach erschöpft.

So zum Beispiel bei der fiktiven Ann, Mutter von drei Kindern. Sie hat sich entschieden, ganz für die Kinder da zu sein und gab ihre Berufstätigkeit auf. Sie liebt ihre Familie über alles. Dennoch hat sie Momente, in denen sie sich vor Erschöpfung am liebsten unter der Decke verkriechen würde und das Gefühl hat, nur noch für die täglichen Aufgaben zu funktionieren. Wäsche machen, kochen, Kinder chauffieren, bei den Hausaufgaben helfen, alle Kinder ins Bett bringen – die Liste ist lang. Dabei sagt doch jeder, dass alles gut laufe bei ihr. Ihre Kinder entwickeln sich prächtig, ihr Mann unterstützt sie, und sie kann ihre zur Verfügung stehende Zeit voll für die Familie nutzen. Viele beneiden sie darum. Darf sie da erschöpft sein?

Ungenügend in Job und Familie

Tom hat einen Job in gehobener Position mit viel Verantwortung und ist Vater von Zwillingen, absolute Wunschkinder. Seit die Kleinen auf der Welt sind, hat er das Gefühl, niemandem mehr gerecht werden zu können. Im Büro bleibt vieles liegen. Und wenn er abends nach Hause kommt, erwarten ihn zwei Rabauken, die ihn voll vereinnahmen. Während er zu Hause das Gefühl hat, zu wenig Zeit und Liebe zu investieren, bleibt im Job einiges auf der Strecke. Dabei ist Tom jemand, der sich gern zu 100 Prozent engagiert, sich in Themen, Dinge und auch Beziehungen voll und ganz vertieft. Aber das Bedürfnis nach Ruhe wird immer stärker. Wie machen das andere Väter?

So wie Ann und Tom geht es vielen Müttern und Vätern. Besonders hochsensible Eltern werden sich hier wiederfinden. Sie starten optimistisch in die neue Lebensphase, investieren all ihre Liebe und ihre Fähigkeit der vollen Hingabe an etwas. Mit der Zeit merken sie aber, dass ihre Kräfte schwinden. Wenn Eltern bei der Lösungssuche auf das Thema Hochsensibilität stoßen, fällt ihnen nicht selten ein Stein vom Herzen. „Jetzt verstehe ich endlich, warum es mir so geht“, ist einer der meistgehörten Sätze in meiner Beratung.

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensible Menschen nehmen Sinneseindrücke viel intensiver wahr als andere. Nichts prallt einfach an ihnen ab. Was sie beobachten, spüren und wahrnehmen, wollen sie verarbeiten, durchdenken, verstehen: Warum ist mein Kind resigniert von der Kita gekommen? Wieso kann mein Jüngster nicht mehr durchschlafen? Welche Beweggründe hat meine Große, nicht mehr in die Teensgruppe zu wollen? Warum ist meine Frau so angespannt?

Eine hohe Sensibilität lässt sich anhand folgender Merkmale (nach E. Aron) erkennen:

Verarbeitungstiefe
Tom sitzt am Schreibtisch und überlegt, wie er seine Kinder während des Homeschoolings unterstützen, wie die Arbeitsaufteilung zwischen seiner Frau und ihm lösen, wie er zeitgleich das knifflige Problem in seiner Firma beheben kann. Dabei analysiert er die jeweiligen Situationen von allen Seiten und durchdenkt jedes Detail.

Was sich bei Tom zeigt, ist die Fähigkeit, viele Informationen und Einzelheiten aufzunehmen, zu durchdenken und daraus nachhaltige Schlüsse zu ziehen. Logisches und auch weitblickendes Denken liegen ihm.

Überreizung
Es ist spätabends. Ann sitzt am Küchentisch und ist ausgepowert. Von früh bis spät organisiert, macht und tut sie. Sie kümmert sich um den Haushalt, die Kinder, den Ehemann und ihr kirchliches Ehrenamt. Abends, wenn es still wird im Haus und die Kinder endlich schlafen, wäre die Zeit, sich selbst etwas Gutes zu tun. Aber dafür fehlt Ann meist die Kraft.

Durch die herausstechenden Merkmale wie die Verarbeitungstiefe, die starken Gefühle und die ausgeprägte sensorische Wahrnehmung kommt es schneller als bei anderen zu einem Overload.

Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt

Emotionale Intensität
Ann kämpft mit den Tränen. Ihre Tochter ist in der Kita gestürzt, weint und hat Schmerzen. Das Mitgefühl übermannt Ann regelrecht und sie gibt sich Mühe, stark zu sein, um trösten zu können. Kurze Zeit später kommt ihre Große mit einer guten Klassenarbeitsnote nach Hause – die Freude ist übergroß. Tage wie diese kosten Ann viel Kraft, weil sie emotional stark gefordert ist, egal in welcher Richtung.

Hochsensible erleben Emotionen sehr intensiv. Sie haben ein außergewöhnliches Gespür dafür, wie es anderen geht, und fühlen stark mit.

Sensorische Feinfühligkeit
Tom hat schon immer ein feines Gehör. Eine Stärke, die seinem musischen Talent entgegenkommt. Er hat eine Vorliebe für leise Töne und Harmonien. Steigt der Lärmpegel zum Beispiel durch das Schreien der Kinder, fühlt er sich gestresst.

Hochsensible nehmen Sinneswahrnehmungen jeglicher Art wie durch einen Verstärker wahr und fühlen sich von Reizen schneller gestört als andere. Die Konzentration auf Wesentliches ist dann erschwert.

Hochsensibilität – Segen und Fluch

Hochsensible Eltern bringen für das Begleiten von Kindern eine Menge Fähigkeiten mit. Dazu gehören insbesondere ein gutes Einfühlungsvermögen sowie ein ausgeprägtes Gespür für Bedürfnisse, woraus gute Entscheidungen zum Wohl des Kindes getroffen werden können. Die Entfaltung des Potenzials hängt dabei stark von der inneren Balance, dem Wahren eigener Bedürfnisse und dem Grad der Selbstfürsorge ab.

Hochsensible Eltern verlieren den Zugang zu ihren Stärken, wenn sie durch Stress und Hektik aus dem Gleichgewicht kommen. Dabei können Übergänge wie die Geburt eines Geschwisterkindes, der Eintritt des Nachwuchses in die Kita oder die Einschulung des Kindes genauso kräftezehrend sein wie die tägliche Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und ohne Unterlass Ansprechpartner für alle Familienmitglieder zu sein. Eigene Bedürfnisse geraten ohne bewusste Abgrenzung schnell in den Hintergrund. Das Haushalten mit den eigenen Kräften ist elementar, um einem Ausbrennen vorzubeugen und zu gewährleisten, dass all die Talente einer oder eines Hochsensiblen zum Zug kommen.

Das sind die Alarmzeichen

Um in Balance zu leben, ist es wichtig, eigene Bedürfnisse und persönliche Grenzen ernst zu nehmen. Hochsensible Eltern dürfen sich selbst die Erlaubnis geben, nicht nur auf das Wohlergehen der Familienmitglieder zu achten, sondern auch auf sich selbst. Wer gibt, darf auch empfangen. Es ist das Prinzip einer Waage. Sind die Schalen einseitig gefüllt, kommt das Gleichgewicht abhanden und die innere Ruhe geht verloren.

Doch wie erkenne ich, dass ich nicht mehr im Gleichgewicht bin? Gibt es Anzeichen? Die zuverlässigsten Warnsignale sendet unser Körper. Haben Sie ein super Gedächtnis und von einem Moment auf den anderen sind Sie vergesslich? Zeigen sich Kopf-, Magen- oder Rückenschmerzen? Schlafen Sie schlecht oder sind Sie wider Erwarten unkonzentriert? Sind Sie gereizt oder niedergeschlagen, obwohl Sie eigentlich eine Frohnatur sind? Das kann ein Hinweis darauf sein, dass es dringend Zeit ist für Selbstfürsorge.

Überlebensstrategien für hochsensible Eltern

1. Sich selbst Wertschätzung entgegenbringen
Ein wichtiger Schritt ist die Selbstfreundlichkeit. Fragen Sie sich: Wie rede ich mit mir? Wie sehen meine inneren Gespräche aus? Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob Ihre Reaktion auf ein verbranntes Mittagessen diese ist: „Wie blöd bin ich, sowas kann auch nur mir passieren“ – oder ob Sie das dahintersteckende Signal erkennen und freundlich mit sich sind: „Dass mir das Essen verbrannt ist, ist ein Zeichen, dass ich mich dringend mal hinsetzen und mir eine wohltuende Tasse Tee gönnen sollte.“ Jede Form von Selbstkritik raubt Kräfte.

2. Auf seine Bedürfnisse achten
Achten Sie auf Ihre Bedürfnisse. Sie müssen nicht die Supermama oder der Superpapa sein, die/der alles bewerkstelligt, ohne müde zu werden und Hilfe anzunehmen. Ihre Kinder lernen von authentisch gelebten Grenzen mehr als von Perfektion. Fragen Sie sich: Was brauche ich, damit es mir gut geht? Welche Art der sinnvollen Unterstützung kann ich annehmen?

Austausch tut gut

3. Kontakt zu Gleichgesinnten suchen
Sie denken, Sie sitzen allein im Boot? Weit gefehlt. Man geht davon aus, dass ca. 15-20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel sind. Damit muss es auch in Ihrem Umfeld hochsensible Eltern geben. Auch andere sind überwältigt von den unterschiedlichsten Herausforderungen. Beugen Sie der Isolation vor und suchen Sie Gleichgesinnte. Der Austausch wird Ihnen guttun.

4. Äußere Belastungsfaktoren verringern
Delegieren Sie Aufgaben, wo immer es möglich ist. Setzen Sie Grenzen, lernen Sie, Nein zu sagen. Auch andere können die Kuchenspende fürs Schulfest übernehmen. Viel wichtiger ist, dass Sie Ihr Gleichgewicht behalten, um gut für sich und Ihre Familienmitglieder sorgen zu können und einer Entkräftung vorzubeugen.

Ein Kaffee zur Entspannung

5. „Tankstellen“ suchen
Wie tanken Sie auf? Welche Momente geben Ihnen Kraft? Als Eltern haben Sie selten die Möglichkeit, sich lange Auszeiten zu ermöglichen. Umso wichtiger sind die kleinen Auszeiten und Entspannungsmomente. Notieren Sie sich einmal, was Ihnen guttut. Ist es das kurze Innehalten am Fenster, um Sonne zu tanken? Ein Kaffee oder Tee zwischen den Pflichten? Musik beim Kochen? Oder regelmäßig frische Blumen auf dem Esstisch?

Zu guter Letzt
Es gibt immer wieder Ausnahmesituationen, in denen diese Impulse nicht greifen. Vielleicht, weil Ihre volle Präsenz und Unterstützung in einer familiären Situation dringend gefordert ist. Um körperlich und seelisch gesund durch solche Situationen zu kommen, ist es wesentlich, immer wieder für kurze Momente der Entspannung zu sorgen.

Melanie Vita ist Diplomsozialpädagogin (FH), Lerntherapeutin (IFLW) und Buchautorin. Sie berät hochsensible Kinder, Jugendliche, Eltern und Erwachsene in ihrer Privatpraxis „Hochsensibel leben“. hochsensibel-leben.de

Buchtipps

Brigitte Küster: Hochsensibilität. Den eigenen Weg finden (SCM Hänssler)
Brigitte Schorr: Hochsensible Mütter (SCM Hänssler)
Anja Bätscher: Fein, aber oho! Hochsensibilität besser verstehen und als Gabe begreifen

„Sie reißt sich die Haare aus“

„Unsere Tochter (3) rupft sich, schon seit sie ein Jahr alt ist, die Haare. Wir haben gehofft, dass es mit der Zeit verschwindet, und ihr immer wieder die Haare geschnitten, aber es hilft nichts. Wir sind verzweifelt. Was können wir tun?“

Ihre Verzweiflung und Sorgen um Ihre Tochter sind sehr verständlich – gut, dass Sie sich hierbei nun Rat und Unterstützung holen! Das Verhalten zeigt sich bereits eine Weile und deutet auf ein gefestigtes Muster hin, das sich trotz Ihrer Bemühungen nicht auflöst.

Was ist Trichotillomanie?

Möglicherweise handelt es sich um Trichotillomanie, das zwanghafte Ausreißen von Haaren. Es kann sich bei Erwachsenen und auch bereits im Kindesalter entwickeln und chronifizieren. Betroffene können dem Impuls des Haarereißens nicht widerstehen. Häufig besteht ein Zusammenhang mit Anspannung und innerer Unruhe. Dem Haarereißen folgt ein Gefühl von Spannungsabbau. Es wird als lustvoll und entspannend erlebt und führt zu kurzfristiger Beruhigung, bis es bei erneuter Anspannung zu einem wiederholten Impuls kommt.

Stress kann eine Ursache sein

Bei Babys und Kleinkindern ist das Motiv für ihr Verhalten schwerer zu ergründen, da wir sie nicht fragen können. Was vielleicht anfangs als beruhigende Geste (wie Daumenlutschen) begann, kann sich zu einer festen Strategie entwickelt haben, die allein nur schwer zu durchbrechen ist. Vielleicht hilft sie unbewusst im Umgang mit besonderen Herausforderungen (Stress, Veränderungen, Konflikte). Sie kann für den Moment zwar ihren individuellen Zweck erfüllen, jedoch langfristig zu einem erheblichen Leidensdruck führen.

Wir Erwachsenen werden dadurch für diese Herausforderungen sensibilisiert, und es bietet sich die Chance, darauf zu reagieren. Wertvoll kann dann die Überlegung sein: Was könnte mein Kind mir sagen wollen? Spürt es etwas und bringt es zum Ausdruck, was ich noch nicht bemerkt habe? Diese Fragen sind manchmal unangenehm bis schmerzhaft, sollten uns aber nicht vergessen lassen: Konflikte oder Probleme finden immer ihre Wege. Es hilft, bewusst mit ihnen umzugehen und ihre Wege mitzugestalten.

Die gesamte Familie im Blick behalten

In Ihrem Fall bedarf es einer sorgfältigen medizinischen und psychologischen Abklärung durch Spezialisten für das jeweilige Kindesalter. Wenden Sie sich offen an Ihren Kinderarzt hinsichtlich kindertherapeutischer Unterstützung. Tauschen Sie sich mit anderen Eltern bezüglich Ihrer Sorgen aus. Diese haben eventuell ähnliche Erfahrungen und können Empfehlungen aussprechen.

Beobachten Sie wertschätzend, was die Situation mit Ihnen selbst macht und was Sie daraus lernen können. Richten Sie den Fokus auch auf das Familiensystem und die aktuelle Lebenssituation: Gibt es Zusammenhänge mit anderen Familienmitgliedern? Gab es in der Familienhistorie schon eine ähnliche Thematik? Wie hoch ist das Stresslevel in der Familie? Sind ausreichende Entspannungszeiten für alle Mitglieder vorhanden? Und wichtig, neben der Unterstützung von außen: Vertrauen Sie bei all den Herausforderungen in Ihre Kompetenz als Eltern für Ihre Tochter, auf Ihr Gespür für die Zeichen und Bedürfnisse Ihres Kindes!

Mara Pelt ist Psychologin M.Sc., Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin i.A., Systemische Beraterin und Familientherapeutin und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. 

Ein perfekter Samstag

Und warum der im Ruhrgebiet besonders schön ist … Von Christian Rommert.

Was ist Glück? Ein perfekter Samstag! Seitdem die Kinder groß sind, genießen wir die Freiheit, einen Samstag so zu gestalten, wie es uns Spaß macht. Niemand, der uns zu früh aus dem Bett zwingt – wie in den Zeiten als unsere Kinder klein waren. Niemand, der uns mit dem Frühstück warten lässt – wie in Zeiten der Pubertät.

Wir stehen auf, wenn wir wach sind und fahren gemütlich zum Markt. Markt im Ruhrgebiet bedeutet auch immer, lustige Gespräche am Stand. Zum Beispiel: Auswertung des letzten Fußballspiels – mein VfL Bochum hat mal wieder in der Nachspielzeit einen Ausgleich kassiert. Oder – wenn das Spiel erst noch stattfindet: Analyse des später anstehenden Fußballspiels – wird mein VfL Bochum mal wieder in der Nachspielzeit den Ausgleich kassieren?

„WAT GIBSTE IHM DAFÜR?“

Katrin und ich könnten stundenlang am Kaffeestand mit einem pain au chocolat und einem Cappuccino stehen und den Leuten zuschauen. Wir ziehen weiter zum Obststand. „Die Erdbeeren sind der Hammer!“, spricht einer mich an. „Der muss es wissen“, antwortet der Verkäufer, „Der kommt öfter!“ „Wat gibste ihm dafür, dass er hier an deinem Stand rumschleicht und Empfehlungen abgibt?“, lautet die erwartete Antwort. Danach Fahrt zum Supermarkt. Salat, Butter, Wurst und Schlangestehen an der Fleischtheke. Auch dort muss man einander dummes Zeug erzählen: „Du bist Schalker? Wat ist denn bei dir schiefgelaufen?“

Nach fünf Mal Currywurst mit großer Soße zum Selberaufwärmen ziehen wir zum Zeitungskiosk und holen eine Wochenendausgabe der regionalen Zeitung. Schon beim Überfliegen des Leitartikels sehe ich den ersten Rechtschreibfehler. Heimat ist dort, wo man die Regionalzeitung kauft, obwohl sie voller Fehler ist und nur Meldungen enthält, die man gestern schon online gelesen hat. Am Ausgang ein kurzes Gespräch mit dem Griechen am Feinkoststand. Ich weiß, dass er gar kein Grieche ist. Er ist Kurde, aber das ist egal, es gibt griechische Sauereien wie Oliven mit Mandeln und Aioli oder Paprika-Dip. Ich weiß, dass diese Spezialitäten wahrscheinlich spanisch oder italienisch sind, aber das ist egal, dieser Stand fühlt sich griechisch an, und Nationalitäten sind hier eh nur ein Alibi, um miteinander ins Gespräch zu kommen.

WAS MACHT MAN MIT BEINSCHEIBE?

Dann ab zum Eiermann oder zur Eierfrau. Seit einigen Jahren fahren wir zu einem kleinen Bauernhof – ja, das gibt es im Ruhrgebiet. Am Eierautomaten noch ein kleines Schwätzchen mit anderen, die sich fragen, ob sie die große Fleischtüte, die der Schlachter gerade anbietet, bestellen sollen oder nicht. Wie lange reichen 20 kg von der Kuh, der man auf der Weide noch zuwinken kann, und: Was macht man mit Beinscheibe? Im Hintergrund läuten die Glocken des Kloster Stiepels.

Spätestens in diesem Moment denke ich: Hoffentlich spricht sich nicht rum, wie herrlich das Ruhrgebiet ist. Dann endlich fahren wir nach Hause. Inzwischen hat irgendeines unserer erwachsenen Kinder doch seinen Weg an unseren Frühstückstisch gefunden: „Was machst denn du hier?“ „Och, ich hatte Lust auf Frühstück mit euch!“ An solch einem Tag macht selbst der Hausputz Spaß. Mit Musik auf den Ohren schwingen wir Staubsauger und Putzlappen, machen Holz oder den Garten. Später wird gegrillt, soviel ist sicher. Das Leben ist schön und das Glück liegt vor den Füßen. Am Abend noch „Wetten, dass…?“ Das wär’s. Aber Tommy ist ja in Rente. Was soll’s! Dafür gibt es Streaming-Plattformen. Mit einem Glas Wein lassen wir den Abend vor dem Fernseher ausklingen. Ich glaube, Gott liebt Samstage! Und das Ruhrgebiet. Wir tun es auf jeden Fall.

Christian Rommert ist Autor, Redner und Berater und Fan des VfL Bochum. Er ist verheiratet mit Katrin und Vater von drei erwachsenen Kindern. Regelmäßig spricht er das Wort zum Sonntag in der ARD.
Foto: Wolfgang Wedel

Das Baby und ich: Keine Ahnung vom Muttersein?

Das Gefühl, keine gute Mutter zu sein, kann sehr lähmend wirken. Rachel Hollis kennt diese Gedanken und hat sie als Lüge enttarnt.

Ich bin die schlimmste Schwangere, die du je getroffen hast. Ich hasse einfach jeden Aspekt an einer Schwangerschaft – abgesehen davon, dass man am Ende ein Baby hat. Ich bin dankbar für meine Schwangerschaften – aus tiefstem Herzen dankbar dafür, dass Gott es mir geschenkt hat, drei wundervolle kleine Jungs und ein Mädchen austragen zu dürfen. Das ist nicht selbstverständlich. Aber jeder einzelne Aspekt einer Schwangerschaft setzt mir zu.

Die Wehen sind das Schlimmste

Doch als das wundervolle Ereignis schließlich geschah, war ich in Ekstase. Erstens, weil ich endlich Jackson Cage kennenlernen konnte – unser Wunschkind, dessen Namen wir schon vor Jahren bei einer Reise quer durchs Land festgelegt hatten. Zweitens, weil ich meinen Körper nun wieder für mich allein haben würde. Ich war euphorisch, dass ich die Wehen überstanden hatte, die ich offen gesagt für das Schlimmste am Muttersein halte.

Aber als wir mit Jackson in seiner ganzen Pracht zu Hause ankamen, traf mich völlig unvorbereitet das Gefühl, als frisch gebackene Mama vollkommen ungeeignet zu sein. Ich liebte ihn unbändig. Und ich hatte Angst um ihn. Ich konnte nachts kaum schlafen, weil ich mir sicher war, dass er aufhören würde zu atmen. Das Stillen war schwierig und schmerzhaft und ich produzierte nie genug Milch, um diesen gigantischen Nachwuchs satt zu kriegen. Mein Mann war immer mein bester Freund und mein Lieblingsmensch auf Erden, aber ich erinnere mich noch an die Zeit, in der Jackson anderthalb Monate alt war, und ich Dave ansah und ernsthaft dachte, ich würde ihn hassen. Aus tiefster Seele hassen.

Elternwerden ist ein Schwindel

Jackson war sechs Wochen alt – was übrigens genau die Zeit ist, in der ungetrübter Hass am häufigsten auftritt – und wachte nachts immer noch auf. Es ist wichtig an dieser Stelle die Worte immer noch zu betonen, denn mein junges, ahnungs- und kinderloses Ich hatte gedacht, am Ende des ersten Monats hätten wir alles überstanden und befänden uns auf bestem Wege ins elterliche Paradies. Ach, mein reines, unschuldiges Herz …

Elternwerden ist ein großer Schwindel. In den ersten Wochen schwimmt man auf der großen Euphoriewelle. Liebe Menschen bringen einem Aufläufe vorbei, die Mama ist noch da und hilft und man hat diesen wundervollen kleinen Engel. Aber dann vergehen die nächsten zwei Wochen und man gerät in eine Zombieroutine. Die Brüste tropfen durch die Kleidung und man hat schon eine Woche nicht gebadet. Die Haare sehen so schlimm aus wie nie zuvor – egal. Du schaffst das schon.

In mich reingefressen

Aber nach sechs Wochen ist die Luft raus. Man denkt: Warum bin ich so erschöpft? Warum sehe ich immer noch so aus, als wäre ich im fünften Monat schwanger? Warum mache ich immer noch nichts anderes außer stillen?

Nach sechs Wochen war ich ein wenig … äh … frustriert darüber, wie sehr ich damit beschäftigt war, mich ums Baby zu kümmern. Ich hatte das Gefühl, dass Dave nicht sehr viel dazu beitrug und fand die Verantwortung, das meiste allein stemmen zu müssen, ziemlich erdrückend. Aber ich sagte kein Wort zu ihm. Ich wickelte das Gefühl fest ein und schluckte es ganz tief hinunter, wo es niemandem in die Quere kam. Eines Tages unterhielten wir uns über irgendetwas, als die Bombe platzte. „Ich bin müde.“ Das war es, was er sagte. Das waren seine Worte. Meine Welt wurde aus den Angeln gerissen, und meine Augen nahmen das Achtfache ihrer normalen Größe an. Aber er war zu sehr mit Reden beschäftigt: „Ich bin todmüde, weil ich heute Morgen so früh aufgewacht bin … blablabla … weitere falsch verstandene Worte.“

Komplett ausgerastet

Ich rastete komplett aus. Ich weinte, ich lachte, ich überlegte, wer dieses Baby aufziehen würde, wenn ich Dave mit dem Plastikschlauch meiner Milchpumpe erdrosselte. Und um eins der berühmtesten Zitate unserer gesamten Ehe zu wiederholen: „Bei unserer Hochzeit hätte ich nie gedacht, dass ich dich einmal so sehr hassen könnte wie jetzt!“ Das war sicher nicht meine Sternstunde. Aber zu meinem Glück stecken Beziehungen voller Chancen für Gnade.

Selbst als das Baby anfing, durchzuschlafen (und wir auch), war ich ein Wrack. Ich liebte Jackson, aber ich hatte das Gefühl, keine richtige Bindung zu ihm zu haben. Ich hatte solche Angst, etwas falsch zu machen, dass ich mich nie entspannte. Ich war so darauf bedacht, den Haushalt zu erledigen und dafür zu sorgen, dass sein Strampler fleckenfrei blieb, dass ich es nie einfach nur genoss, eine junge Mutter zu sein. Ich glaube, ich hatte solche Angst, ihm gegenüber zu versagen, dass ich mir selbst gegenüber versagte.

Ich habe vergessen, wer ich bin

Weil ich so sehr darauf bedacht war, wie wir als Familie wirkten, hatte ich mir nie die Zeit genommen, eine Verbundenheit zu spüren. Und weil ich das Gefühl hatte, keine gute Mutter zu sein – die eine Sache, die man doch von Natur aus beherrschen sollte –, war ich mir sicher, restlos zu versagen. Im Rückblick erkenne ich, dass meine Wahrnehmung von Bildern aus dem Internet und aus Zeitschriften geprägt war. Ich verschwendete so viele Sorgen daran, irgendeinem Pinterest-Standard nicht zu entsprechen, dass ich komplett vergaß, wer ich eigentlich war.

Die einzig wahre To-do-Liste

Das hier ist wichtig für junge und werdende Mamas: Hör zu! Du brauchst nicht schon vorher alles geplant zu haben. Du brauchst auch nicht alles zu wissen. Die Handgriffe, die ein Neugeborenes am Leben erhalten, sind ziemlich simpel: füttern, kuscheln, liebhaben, feuchte Windeln wechseln, warmhalten, wieder kuscheln.

Die tägliche To-do-Liste einer frischgebackenen Mama sollte auf zwei Punkte zusammengestrichen werden:

1. Sich um das Baby kümmern.
2. Sich um sich selbst kümmern.

Peng. Ende.

Mist, du hast die Wäsche heute nicht gemacht? Guck auf deine Liste: Hast du dich um das Baby gekümmert? Ja. Hast du dich um dich selbst gekümmert? Auch ja. Na also, ich glaube, du hast die Mamasache drauf. Ich schätze, die Wäsche kann warten.

Wie bitte? Du bist traurig, weil du die Kilos von der Schwangerschaft noch nicht wieder runter hast? Nimm dir deine prima-praktische To-do-Liste mit den exakt zwei Punkten noch mal zur Hand. Lebt das Baby noch? Super. Was ist mit dir – atmest du noch ein und aus? Na dann – es klingt, als seist du die beste Mama überhaupt. Mach weiter!

Keine Angst vor dem Versagen

Pinterest ist klasse, und das Kinderzimmer in perfekt aufeinander abgestimmten Farben zu dekorieren, ist der halbe Spaß am Kinderkriegen. Durch Instagram surfen? Klar, ich sehe immer noch gern bei den ganzen schwangeren Insta-Frauen vorbei, immer auf der Suche nach tollen Outfits, die zur Kugel passen! Es ist gut, über den Tellerrand zu blicken, wenn wir unsicher sind, weil Neues anbricht – und selten sind wir so unsicher wie als junge Eltern. Aber lass mich dir eins sagen:

Der Gott, der Mond und Sterne und Berge und Meere geschaffen hat, glaubte, dass du und dein Baby zusammenkommen sollten. Das heißt nicht, dass ihr perfekt zusammenpasst. Das heißt nicht, dass du nicht auch Fehler machen wirst. Das heißt aber, dass du keine Angst vor dem Versagen haben brauchst, denn es ist unmöglich, in einer Aufgabe zu versagen, für die du geschaffen wurdest.

Du bist gut

Irgendwo denkt eine zynische Leserin gerade an all die Eltern, die dennoch versagen. Es gibt viele Mütter, die schlechte Entscheidungen treffen, die sich selbst oder ihren Kindern Verletzungen zufügen. Als frühere Pflegemutter weiß ich aus eigener Erfahrung, dass gerade jetzt in diesem Moment Säuglinge misshandelt und vernachlässigt werden, und selbst wenn ein heiliger Plan sie zu ihren Müttern brachte, ist es für sie vielleicht nicht das Beste, auch dort zu bleiben.

Aber über diese Mütter rede ich hier nicht. Ich spreche mit dir. Lass dich nicht von der Sorge zermürben, ob dein Kind einem festen Schlafrhythmus folgt, nur Bio-Gläschen isst oder schnell sitzen lernt. Ich spreche mit derjenigen, die all die Bücher und Artikel liest und sich überfordert fühlt bei der Frage, was denn das Richtige ist, wenn man doch so viele falsche Entscheidungen treffen kann. Allein, dass du dir so viele Gedanken machst, zeigt doch schon, dass du voll bei der Sache bist und das Beste erreichen willst. Das zeichnet die besten Eltern aus. Und der Rest regelt sich dann schon von allein.

Was mir geholfen hat:

1. Eine Clique finden. Suche dir eine Gruppe von Frauen, die wissen, was es bedeutet, eine junge Mutter zu sein. Solidarität ist eine große Kraft. Es tut gut, sich mit einer Frau zu unterhalten, deren Baby ihr auch aufs Shirt spuckt.
2. Mich von Pinterest fernhalten.
Aus Liebe zu allem, was mir heilig ist – niemand sollte nach einem großen Lebensereignis Zutritt zu Pinterest haben. Warum? Weil man entweder das Gefühl hat, etwas zu verpassen oder das eigene Leben, Kinderzimmer oder Gewicht dem anpassen zu müssen, was man im Internet sieht. Achte einmal darauf, was dir Angst macht und wodurch du an dir zweifelst. Wenn es die Sozialen Medien sind, tu deinem Herzen einen Gefallen und lege eine Pause ein. Ich verspreche dir, dass sie noch da sind, wenn du mehr Schlaf bekommst und emotional stabiler bist.
3. Aus dem Haus gehen.
Jeden. Tag. Wieder. Das Beste, was du für dich selbst, deine Gesundheit und dein Kind tun kannst, ist, den Ort des Verbrechens zu verlassen. Verabschiede dich für eine Weile von dem Ort mit dem Geschirr in der Spüle und dem überquellenden Windeleimer. Pack dein Kind in die Trage oder Karre und spaziere durchs Viertel. Steck dir Kopfhörer ins Ohr und höre Beyoncé oder Adele oder einen Podcast über Firmenethik. Tu, was nötig ist, damit du nicht vergisst, dass ein Leben außerhalb deines Nestes existiert und dass du immer noch dazugehörst.
4. Mit jemandem über meine Gefühle sprechen. Lügen lassen sich wirksam aufdecken, wenn wir sie vor jemandem laut aussprechen. Egal, ob du dir dafür deinen Mann, deine Freundin oder eine liebe Verwandte aussuchst: Zu erzählen, dass du zu kämpfen hast, kann dir die notwendige Unterstützung verschaffen, um all die Irrtümer aufzuklären, die dein Leben bestimmen.

Rachel Hollis ist die Gründerin der Website The-ChicSite und Geschäftsführerin von Chic Media. Mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt sie in Austin, Texas. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem Buch „Schmink’s dir ab. Lass die Lügen los und lebe“, das gerade bei SCM Hänssler erschienen ist.

Entspannt durch die Ehe

Warum will er immer etwas anderes als ich?“ – Dass sie und ihr Mann in der Freizeit ganz andere Dinge tun wollten, hat D. Friese am Anfang ihrer Ehe ins Grübeln gebracht.

Manche Beziehungskonflikte lassen sich zuweilen ganz einfach durch die Einsicht lösen, dass jeder Mensch auf seine Art entspannt. Zumindest war es bei uns so. Nicht nur die Form, auch die Dauer und die Intensität unserer Auszeiten sind unterschiedlich. Warum darüber streiten? Sieben persönliche Erkenntnisse über das Entspannen in der Ehe.

1. ENTSPANNUNG IST ABSOLUT NOTWENDIG
Das tägliche Zur-Ruhe-Kommen ist notwendig und zwar besonders in der Rushhour des Lebens zwischen 30 und 40, in der wir uns befinden. Zwei Kleinkinder, Berufe, ein Haus, Ehrenämter und viele Kontakte zu Menschen lassen unser Leben sehr bunt, aber zuweilen auch kräftezehrend erscheinen. Ohne Auszeiten fänden wir nicht zu uns selbst, zu uns als Partnern und zu Gott. Was wäre das für ein Leben, in dem es nur Arbeit gäbe! Doch wie entspannt man sich in der Ehe am besten? Wir haben lange nach einem gemeinsamen Weg gesucht. Was aber haben Talkshows schauen und Unkraut jäten miteinander zu tun? Oder jagen und Gedichte schreiben?

2. GEMEINSAM ENTSPANNEN IST NICHT ALLES
In den ersten Jahren unserer Beziehung war ich fest davon überzeugt, dass wir möglichst allen Hobbys gemeinsam nachgehen müssten, um eine glückliche Ehe zu führen. Aber das klappte nicht. Jeder wollte am wohlverdienten Feierabend etwas anderes tun. Der eine wollte im Wald sein, der andere lieber zu Hause telefonieren, der eine wollte fernsehen, der andere lieber lesen. Für mich waren die getrennten Unternehmungen stets ein Zeichen dafür, dass wir zu unterschiedlich sind und schwer zusammenpassen. Als ich meinem Seelsorger einen ausschweifenden Vortrag darüber hielt, wie unterschiedlich unsere Abendgestaltung aussah und wie falsch mir das vorkam, hörte ich einen für mich weltbewegenden Satz: „Sie haben lediglich verschiedene Methoden der Entspannung!“ „Wie bitte?“, dachte ich. Sollten wir als Paar etwa nicht gemeinsam begeistert Gitarre spielen, gemeinsam schwimmen gehen – oder eben auch abends gemeinsam mit Begeisterung fernsehen?

Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich all diese Beschäftigungen überbewertet hatte. Schließlich haben wir genügend gemeinsame Glaubens- und Lebenseinstellungen, die weit tragender sind als bestimmte Vorlieben der Entspannung. Auf ihnen basiert in Wahrheit unsere Ehe, nicht auf den Hobbys. Wir können über sehr viele verschiedene Themen von Politik über Geschichte bis hin zu Religion diskutieren. Sei es beim Abendbrot, morgens nach dem Aufstehen oder auf einer langen Autofahrt. Meist haben wir ähnliche Ansätze und auch Moralvorstellungen, da wir nicht nur dasselbe studiert haben, sondern auch in einem ähnlichen sozialen Umfeld, als Christen in der DDR, aufgewachsen sind. Dieser Austausch verbindet uns sehr stark, mehr als jede Aktivität in der Freizeit es wohl könnte.

3. ENTSPANNUNG IST BEI JEDEM ANDERS
Ein Zeitvertreib meines Mannes war mir jedoch immer ein Dorn im Auge und sorgte folglich häufig für eheliche Debatten: der Fernseher. Stundenlang davorzusitzen, empfand ich als verlorene Zeit. Seine Begeisterung dafür konnte ich nur schwer nachempfinden. In Tagträumen malte ich mir aus, was passieren würde, wenn ich das Kabel des Fernsehers durchschneiden oder ihn einfach klammheimlich im Garten verstecken würde.

Eine gute Freundin, die den Medienkonsum nach der Arbeit auch eher den aktiveren Tätigkeiten vorzieht, ermutigte mich dann aber: „Lass ihn schauen und er wird entspannter. Du schneidest dir nur ins eigene Fleisch, wenn du ihn daran hinderst.“ Außerdem erklärte sie mir den populärwissenschaftlichen Begriff der „Höhle des Mannes“, der im Wesentlichen besagt, dass jeder Mann einen Ort des Rückzugs braucht. Was früher das Gasthaus war, ist heute eben der Fernseher. Nach und nach verstand ich, dass es in der Ehe dazugehört, sich gerade in der Andersartigkeit zu ergänzen, auch in der Freizeitgestaltung. Die Frage „Dürfen wir so verschieden sein?“, konnte ich schließlich mit einem aufrichtigen „Ja“ beantworten.

4. ENTSPANNUNG FÄNGT BEI DEN EIGENEN BEDÜRFNISSEN AN
Es ist jedoch nicht nur wichtig, seinen Partner zu kennen; man muss auch wissen, was einem selbst guttut. Selbstregulation wäre da wohl ein passendes Stichwort. Früher dachte ich, mein Mann wäre ein Stück weit zuständig für mein Entspanntsein. Ich musste erst lernen, zu erkennen und auch zu artikulieren, dass ich gerade müde und gestresst bin und Erholung brauche. In der intensiven Kleinkindzeit hatte ich völlig vergessen, wie das funktioniert. Erst durch eine Krise und Krankheit entdeckte ich meine Hobbys aus Schulzeiten wieder und erfuhr dabei, was Entspannung für mich bedeutet. Das schuf neue Optionen, und ich lernte, sie für mich gewinnbringend einzusetzen, ohne dabei in erster Linie auf andere Menschen angewiesen zu sein.

Foto: Amir Hamdi/Unsplash

Natürlich kann mein Mann mich beim Herunterkommen unterstützen, zum Beispiel indem er mir den Rücken streichelt. Dafür muss ich mir aber zunächst des eigenen Bedürfnisses nach körperlicher Nähe bewusst sein. Außerdem muss ich ihm die Chance geben, einfach Nein sagen zu dürfen. Dann läge es wieder an mir, einen anderen Weg zu finden. Hat man seine ganz persönliche Entspannungsmethode erst einmal gefunden, muss man sie nur noch konsequent anwenden, gerade auch in schwierigen Momenten. Das haben mein Mann und ich inzwischen verstanden. Wenn ein Streit droht, hilft es uns beispielsweise, keine Grundsatzfragen aufzuwerfen, sondern getrennt „in die Wüste“ zu gehen: an einen Rückzugsort, ins Gespräch mit einem lieben Menschen oder am besten natürlich ins Gebet.

5. ENTSPANNUNG MUSS NICHT SINNVOLL SEIN
Was jeder Mensch sich letztlich als „Taktik“ sucht, ist wohl zweitrangig. Am Ende gilt doch: Hauptsache, es hilft, tut niemandem weh und führt nicht in eine Form der Abhängigkeit. Ob Briefmarken sammeln, am Motorrad basteln oder Cupcakes backen: Alles Mögliche kann uns Menschen aus dem Alltag herausholen. Das wenigste davon ist weltbewegend. Wieso sollte ich also bei meinem Mann die gleichen Maßstäbe in puncto Entspannung anlegen wie bei mir? Ich lese gern psychologische Ratgeber oder rede stundenlang mit meiner Freundin über Gefühle, wohingegen mein Mann sich lieber mit seinen Hunden beschäftigt oder alte Filme anschaut. Keines ist sinnvoller als das jeweils andere, im Gegenteil: Ist nicht gerade das ziellose Herumdümpeln ohne Sinn so wichtig für den gestressten Neuzeit-Menschen, der den größten Teil des Lebens hochgesteckten Zielen in Beruf und Glauben genügen will? Hat uns Gott nicht genau dafür das Gebot der Sonntagsruhe auferlegt? Einen Tag lang etwas ohne direkten Sinn zu tun, um einfach zu entspannen?

6. REGELMÄSSIG GEMEINSAM ENTSPANNEN IST WICHTIG
Wir haben in unserer Familie schon viel über diesen wichtigen Tag, den Sonntag, diskutiert. Inzwischen können wir sagen, dass er als unser gemeinsamer „Höhepunkt“ der Entspannung recht gut ausgetüftelt ist. Er vereint Elemente, die uns allen vieren Kraft geben, sodass sich jeder ein wenig ausruhen kann: Radfahren, leckeres Essen und bei Gott ankommen gehören mit dazu. Nach einem so schön verbrachten Tag ist es leichter, in die hektische Woche zu starten. Damit auch die Zweisamkeit nicht zu kurz kommt, versuchen wir, regelmäßig den entspannenden Austausch in Gang zu halten.

Inzwischen erkennen wir, wann wir einen „Abschaltmoment“ zu zweit planen müssen – nämlich wenn wir häufiger als sonst aneinandergeraten. Obwohl wir in solchen Momenten wenig Lust auf Gemeinsamkeit haben, lohnt es sich, einen Ausflug in eine andere Stadt oder einen Abend im Restaurant zu organisieren. Das ist jeden Aufwand wert, denn schließlich ist die Ehe der Motor der Familie. Natürlich beginnen unsere Ausflüge meistens mit Reibereien, dafür enden sie fast immer umso friedlicher. Uns fällt es nach solchen Auszeiten wieder leichter, die Unterschiede zu akzeptieren, die zwischen uns bestehen. So hat mein Mann zum Beispiel gelernt, dass eine Sport treibende Ehefrau am Ende des Tages ausgeglichener ist – auch wenn das bedeutet, dass sie ihn morgens um sechs weckt, weil sie zum Joggen aufbricht. Das rechne ich ihm hoch an. Dafür stört mich das Flimmern im Nebenzimmer weniger, Hauptsache, es baut ihn auf und er kann anschließend gut schlafen.

7. ENTSPANNUNG FÜR DEN ANDEREN MITDENKEN IST DIE HOHE KUNST
Wie weit man es mit viel Zeit, Liebe und Geduld in einer Beziehung bringen kann, habe ich kürzlich bei unseren Hauskreisleitern beobachtet. In ihrer Ehe haben sie beide das Gespür dafür entwickelt, wann der andere Entspannung dringend nötig hätte. So verriet sie mir, dass er ihr an besonders stressigen Tagen hin und wieder eine „Dosis Klavierspielen“ verordnet hat. Ein solch sensibles Verständnis für das Bedürfnis des Ehepartners ist wohl Gold wert.

Entspannt durch die Ehe zu gehen, ist also am Ende des Tages eine Frage der richtigen Balance. Manchmal gilt es das Gemeinsame zu suchen, und das kann bedeuten, bei den eigenen unmittelbaren Bedürfnissen zurückzustecken. Gleichzeitig ist jeder Mensch in seinen Kräften begrenzt und braucht regelmäßig eine Akku-Ladepause. Dann darf er gern auch einmal ganz allein entscheiden, was ihm gut tut. Wie sagte der Prediger schon so schön: „Besser eine Hand voll mit Ruhe als beide Fäuste voll mit Mühe und Haschen nach Wind.“ (Prediger 4,6).

Ich gucke einfach nur Löcher in die Luft

Ein Plädoyer für die Langeweile. Von Nicole Schweiger

Auf unserer Terrasse gibt es einen besonderen Platz. Bunt gestreift und mit den Jahren von der Sonne ausgeblichen baumelt von einem Balken des Dachüberstands mein Hängesessel. Vor einigen Jahren hatte ich ihn mir zum Geburtstag gewünscht. Seitdem wird er von allen Familienmitgliedern, von großen und kleinen Gästen geliebt.

Was macht diesen Platz so besonders? Nun, es scheint, als könne man dort in eine andere Welt eintauchen. Eingekuschelt in den Stoff des Sessels schließe ich manchmal die Augen. Sanft schaukelnd lausche ich den Geräuschen um mich herum: Vögel zwitschern, Blätter rauschen, das Klangspiel klirrt im Wind. Manchmal kann man sogar die Frösche von den weiter entfernten Teichen hören. Ich fühle Wind und Sonne auf der Haut, spüre, wie mein Körper sanft hin und her geschaukelt wird. Der Alltag ist ganz weit weg. Ich bin einfach nur da. Manchmal träume ich mit offenen Augen, blicke in das Grün des Gartens und ganz oft zum Himmel hinauf. Sehe den vorbeiziehenden Wolken nach.

Kindheitserinnerungen werden wach: Auf der Wiese liegen mit einem Grashalm im Mund und Figuren in den Wolkenformationen erkennen. Besonders schön ist es auch bei Regen. Dank des Dachüberstands lausche ich geschützt und doch draußen, wie die Regentropfen herunterprasseln, sehe zu, wie die Bäume im Nachbargarten sich im Wind biegen und höre das Grollen des heranziehenden Gewitters. Herrlich! Ich genieße ohne Plan und Verpflichtungen einfach so mein Sein und Gottes Schöpfung für eine kurze oder lange Weile.

OASE IM ALLTAG

Langeweile. Warum ist dieses Wort eigentlich so negativ besetzt? Zu Unrecht, wie ich finde. Ich möchte an dieser Stelle ein Plädoyer für die Langeweile halten, für diese Oase im Alltag: Gönn dir Langeweile! Genieße sie, tanke auf! Und schaffe dir Raum und Zeit dafür. Vielleicht ist das schwierig im Moment mit Kleinkindern, Job und Verpflichtungen. Es muss ja nicht immer eine lange Weile sein. Vielleicht gibt es einen Ort, an den du dich für einen Moment zurückziehen kannst. Auch Rituale im Alltag können hilfreich sein, gerade wenn die Zeiten stressig sind und das Leben um dich tobt.
Längst ist bekannt, dass nicht mehr leistet, wer ständig arbeitet. Oft kommen uns die kreativsten Ideen und Lösungsansätze für Probleme, während wir endlich mal abschalten, nichts tun und unsere Gedanken schweifen lassen. Es gibt etliche Studien, die dieses Phänomen bestätigen. Langeweile – im richtigen Maß genossen – ist konstruktiv.

UNVERPLANTE ZEIT

Kinder sind in ihrer Entwicklung geradezu darauf angewiesen, Zeit zum Nichtstun zu haben. All die Fördermöglichkeiten, die wir unseren Sprösslingen zukommen lassen, sind gut gemeint. Sobald sie auf der Welt sind, wollen wir ihnen das Beste geben und ermöglichen. Und viele unterliegen dabei dem Trugschluss, sie täten das mit der Buchung von Musik-, Sport- und Kreativkursen. Was in einem gesunden Maß nichts Schlechtes ist. Kinder brauchen aber mindestens genauso viel Zeit, die sie unverplant mit sich selbst verbringen dürfen. Nur so, ohne Ablenkung, lernen sie, sich selbst wahrzunehmen und zu verstehen.

Kinder sind gute Lehrer für uns Erwachsene, wenn es darum geht, bewusst im Hier und Jetzt zu leben. Der kurze Weg zum Kindergarten dauert gefühlte Stunden. Es gibt überall interessante Dinge zu entdecken. Die ersten Kastanien sind vom Baum gefallen, aus der Erde schlängelt sich ein Regenwurm, auf der Baustelle steht jetzt ein Kran, die Luft riecht heute so anders. Wann immer es möglich ist, nimm dir die Zeit und staune mit deinem Kind über all das. Es wird dein Leben bereichern, und der Tag beginnt mit einem Lächeln.

Entschleunigung tut gut. In unserer Gesellschaft geht es häufig um Optimierung, Effizienz, Wachstum. In letzter Zeit fällt mir zunehmend eine Gegenbewegung auf. „Kindergartenfrei“ statt „Krippe“, „Sabbatical“ statt „Karriere“, „der eigene Garten“ statt „Fernreisen“. Die Generation um die dreißig scheint umzudenken – „Work-Life-Balance“ wird großgeschrieben. Ich bin nicht in allem ihrer Meinung (bin ja auch vierzig+), verfolge diese Entwicklung aber positiv gespannt. Zeit für Langeweile wird wieder attraktiver.

VON GOTT ÜBERRASCHT

Zurück in meinem Hängesessel. Ich genieße es, hier die Seele baumeln zu lassen. Manchmal gucke ich einfach nur Löcher in die Luft und gehe danach erholt und gestärkt wieder in den Alltag zurück. Manchmal werde ich dabei aber auch von Gott überrascht. Vielleicht dringt er dann einfacher zu mir durch als mitten im Trubel. Jedenfalls haben sich in solchen Langeweile-Momenten schon so manche (Glaubens-)Erkenntnisse den Weg gebahnt, um die ich lange Zeit gerungen hatte. Und auch der Satz „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe“ (Psalm 62,2) hat eine ganz neue Bedeutung gewonnen.

Nicole Schweiger

 Nicole Schweiger ist Sozial- und Montessoripädagogin und unterrichtet an einer Berufsfachschule für Kinderpflege. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lauf a.d. Pegnitz und bloggt unter milchundhonig.jimdo.com über Familie, Pädagogik und Glaubensleben.

 

Weitere Artikel zum Thema „Langeweile“ gibt es in der Family 6/2018.

 

Achtsam durch den Alltag

Achtsamkeit ist ziemlich im Trend. Doch was genau ist damit gemeint? Und welche Chance beinhaltet sie für Familien? Von Melanie Schüer

Wer achtsam ist, konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt. Er schweift gedanklich nicht ständig ab in das, was gestern war, oder beschäftigt sich mit Sorgen um das, was morgen kommt. Er legt seinen Fokus ganz auf den gegenwärtigen Moment. Dieser wird sehr aufmerksam und intensiv, mit allen Sinnen wahrgenommen: Was sehe ich? Wie riecht es gerade? Wie fühlt sich mein Körper an? Was höre ich? Wie fließt mein Atem?
Diese verschiedenen Fragen werden nicht schnell „abgearbeitet“. Jeder Aspekt wird ruhig und langsam erkundet. Abschweifende Gedanken werden bewusst wahrgenommen, ohne sie zu bewerten – und wieder losgelassen, um sich erneut im Hier und Jetzt zu verankern.
In unserem hektischen Alltag ist uns diese Haltung häufig fremd. Bei der Menge an Aufgaben und Themen fühlen wir uns meist zu Multitasking gezwungen: Während wir putzen, denken wir darüber nach, wie wir das Seminar morgen gestalten. Während wir duschen, spüren wir weniger den angenehmen Wasserstrahl, sondern grübeln über das Gespräch mit dem Chef nach … Doch dieses ständige Multitasking fördert innere Unruhe und Stress – deshalb bergen Achtsamkeits- Übungen eine große Chance. Sie lassen sich einfach in den Alltag integrieren: Beim Zähneputzen bewusst den Kopf ausschalten und sich nur auf die Bewegungen der Zahnbürste konzentrieren. Beim Spazierengehen spüren, wie die Füße bei jedem einzelnen Schritt den Boden berühren.

ACHTSAMKEIT HILFT BEI WEHEN

Auch für Eltern ist Achtsamkeit ein wertvoller Ansatz – schon in der Schwangerschaft. Die Hebamme Nancy Bardacke hat mit ihrer Methode „Mindful Birthing“ das Konzept der Achtsamkeit auf Schwangerschaft und Geburt übertragen. Dabei geht es um die Fähigkeit, loszulassen und sich auf das, was geschieht, einzulassen – und daraus das Beste zu machen.
So dauert eine Wehe in der Regel 60 bis 90 Sekunden – das sind etwa sieben bis zehn Atemzüge. Wenn eine Wehe beginnt, kann die Frau sich bewusst machen: „Ich atme jetzt zehnmal ganz tief ein und aus, dann ist diese Wehe schon wieder geschafft“ als Gegenentwurf zu Gedanken wie: „Ich ertrage das nicht mehr!“ Eine gute Unterstützung ist es, Formulierungen wie „Loslassen“ oder „Zehn Atemzüge, dann ist es geschafft!“ auf Karteikarten zu schreiben und zur Geburt mitzunehmen.
Achtsamkeit bedeutet auch, nicht zu werten, und das, was ist, anzunehmen. Wenn uns etwas weh tut, neigen wir dazu, uns zu verspannen und gegen den Schmerz anzukämpfen. Dabei geht es viel besser, wenn wir tief in den Schmerz hineinatmen und ihn annehmen – als etwas, das jetzt eben sein muss, das aber vorübergeht.

DAS FAMILIENLEBEN ACHTSAM GESTALTEN

Der Ansatz von Nancy Bardacke bezieht auch die Zeit nach der Geburt mit ein, zum Beispiel wenn das Baby weint. Eltern können sich bewusst werden, welche Gefühle das Schreien in ihnen auslöst: Traurigkeit? Wut? Hilflosigkeit? Es gilt, diese Gefühle zuzulassen, ohne sie zu bewerten – sie einfach anzunehmen, zu fühlen und dann loszulassen und sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Tief in den Bauch einatmen, als würde man ganz viel Frieden und Ruhe einatmen und lange wieder ausatmen, als würde man allen Stress und alle Anspannung hinausatmen. Bauchatmung reduziert die eigene Körperspannung. Das spürt auch das Baby und hilft ihm, sich sicherer zu fühlen.
Auch im Umgang mit älteren Kindern ist Achtsamkeit eine wertvolle Haltung. Sie beinhaltet, unsere Kinder so wertzuschätzen und anzunehmen, wie sie sind – und auch mit den eigenen Fehlern barmherzig umzugehen. Die Achtsamkeitslehrer Myla und Jon Kabat-Zinn erklären: „Wir sehen dies als einen Prozess, der nicht nur beinhaltet, dass wir unsere Kinder so annehmen, wie sie sind, sondern auch uns selbst –, dass wir nicht nur mitfühlend mit unseren Kindern umgehen, sondern auch mit uns selbst. Es ist sehr heilsam, wenn wir unsere Kinder und uns selbst nicht ständig beurteilen.“
Myla Kabat-Zinn versteht unter achtsamer Erziehung, „zu versuchen, die Dinge aus den Augen des Kindes zu sehen. Für mich ist damit ein Großteil dessen abgedeckt, was wirklich wichtig ist. Wenn Eltern anfangen, die konkrete Erfahrung ihres Kindes zu beachten, wenn sie versuchen, wirklich aus der Sicht des Kindes zu schauen, können sich die Dinge ändern.“ Das ist ein guter Rat – bewusst die Perspektive des Kindes einzunehmen, zu überlegen und zu erfragen: Wie erlebt er oder sie diese Situation?

AUFMERKSAM DURCH DEN TAG

Ganz konkret umfasst ein achtsamer Familienalltag auch das Einrichten von regelmäßigen Zeiten, in denen die Eltern sich ganz dem Kind zuwenden, ohne nebenher zu putzen, zu lesen oder aufs Handy zu schauen. Dazu gehört aufmerksames Zuhören und eine Form der Anerkennung, die eher ermutigt als lobt. Das bedeutet, dass man sein Kind nicht mit einem schnell dahergesagten Lob wie „Gut gemacht!“ abspeist, sondern dass man wirklich hinschaut und konkret sagt, warum man sich über etwas freut.
Eng verbunden mit Achtsamkeit ist eine dankbare Haltung: Die Überzeugung, dass nicht alles selbstverständlich ist, sondern dass der Alltag voller kleiner Wunder und Geschenke ist. Im Familienleben kann man Kindern wunderbar Achtsamkeit und Dankbarkeit vorleben, indem man selbst aufmerksam durch den Tag geht.
Auch die Beziehung zum Partner ist ein Bereich, der Achtsamkeit verdient: Wirklich hinhören, was meinen Partner beschäftigt und nicht gleich urteilen, sondern meinem Partner auch in Konflikten mit einem offenen Herzen begegnen. Den anderen nicht als selbstverständlich betrachten, neugierig aufeinander bleiben und regelmäßige Paarzeiten einplanen.

ALLES IM FLUSS

Achtsamkeit in der Familie kann auch helfen, schwere Zeiten besser zu bewältigen. Wer achtsam ist, fragt sich nicht ständig, wie das wohl weitergeht und wie lange man das noch aushalten kann. Stattdessen übt man, im Hier und Jetzt zu bleiben – mit dem Wissen, dass alles eine Phase ist, die vorbeigeht. Diese Herangehensweise ist auch in der Bibel zu finden:
„Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist:
Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen. Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden. Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden.“ (Prediger 3,1-8)
Die Erkenntnis, dass alles seine Zeit hat, hilft, sich auf das, was gerade ist, einzulassen – ohne innerlich noch am Gestern zu hängen oder erwartungs- oder sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Heute ist der einzige Tag, den wir gestalten können. Gestern ist unwiderruflich vorbei – und wer weiß schon, was das Morgen bringt? Jesus selbst lebt uns diese Fokussierung auf die Gegenwart vor, wenn er sagt: „Sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug.“ (Matthäus 6, 34).
John Kabat-Zinn formuliert es so: „Ich würde sagen, dass man sich vergegenwärtigen sollte, wie schnell diese ganze Sache vorbeigeht. Wenn man Vater oder Mutter wird, hat man das Gefühl, eine unendliche Geschichte vor sich zu haben, aber bevor man sich versieht, sind die Kinder aus dem Haus und stehen auf eigenen Beinen.“

Melanie SchüerMelanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin und bietet Onlineberatung für Eltern von Babys und Kleinkindern sowie für Schwangere an: www.neuewege.me