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Im Familien-Chaos? Expertin verrät: Eine gemeinsame Vision kann die Lösung sein

Beraterin Adelina Friesen hilft ratlosen Familien dabei, wieder zueinander zu finden. Sie ist überzeugt: Eine Vision kann dabei helfen.

Warum suchen Familien nach Visionen?

Der eigentliche Anlass kann sehr unterschiedlich sein. Allgemein gilt: Eine Vision kann im Alltag helfen. Wenn eine Familie ein gemeinsames Ziel hat, wenn alle zusammen überlegt haben, wer sie sein wollen, dann können sie im Alltag einfacher Entscheidungen treffen. Oft kommen Familien durch Krisen und Herausforderungen zu einer Visionssuche. Jetzt gerade durch die Pandemie ist das eingespielte Familienleben auf den Kopf gestellt, und ich erlebe häufig, dass Familien sich neu orientieren wollen: Was machen wir eigentlich mit unserer Zeit? Vor allem: Was machen wir mit unserer gemeinsamen Zeit? Was wollen wir? Wo wollen wir hin? Und wie können wir das gestalten?

Geht es nicht auch ohne Vision?

Natürlich geht es auch ohne Vision. Ich denke allerdings, dass viele Familien eine Vision und bestimmte Werte haben, auch wenn sie diese nicht direkt formuliert haben.

Visionen bringen Partner zusammen

Aber du empfiehlst Familien, eine gemeinsame Vision zu entwickeln und zu formulieren?

Ja. Es gibt eine unglaubliche Lebensqualität, zu wissen, wofür man lebt, und das auch umzusetzen. Eine Mutter von drei Kindern sagte mal im Anschluss an den Prozess: „Ich war überrascht, wie wenig ich über meine Familie wusste.“ Sie waren als Familie an einem Punkt angekommen, wo sie nicht mehr zueinander finden konnten. Der Mann hat viel gearbeitet, beide waren sehr engagiert, sie waren viel unterwegs und dabei ist einiges untergegangen. Sie waren hinterher sehr dankbar, weil sie wieder Wege zueinander gefunden haben. Sie haben sogar am Ende gemeinsame Freizeitaktivitäten gefunden, was vorher problematisch war.

Was ist wichtig?

Wie läuft so eine Beratung ab?

Es ist wie ein großes Brainstorming. Einer der wichtigsten Momente in dem ganzen Prozess ist, dass man sich Zeit nimmt, jedem zuzuhören. Das hört sich einfacher an, als es in der Realität ist. Familien haben eingespielte Muster, die schnell sichtbar werden. Ich erkläre den Prozess mal am Beispiel einer Familie mit zwei Kindern: In die Mitte eines Plakates wird ein Kreis gemalt. Dann werden Kreise um diesen inneren Kreis gemalt, für jedes Familienmitglied einen. Jedes Kind und jeder Erwachsene darf dann sagen, welche Werte ihm oder ihr wichtig sind, zum Beispiel Ehrlichkeit oder Freundlichkeit oder Ruhe. Alle anderen müssen zuhören. Die Begriffe werden dann in den Kreis geschrieben, der zur betreffenden Person gehört. Anschließend wird das Plakat aufgehängt. Gemeinsam schauen wir es uns an. Dadurch, dass in dieser Phase jedem zugehört wird, entstehen sehr wertvolle Momente, weil auch die Familienmitglieder mitunter überrascht sind, was die anderen Personen wichtig finden.

Nach dieser Brainstorming-Phase wird sortiert. In den mittleren Kreis werden die gemeinsamen Werte geschrieben, die wir im Gespräch finden. Das sind die Familienwerte. Alle Familienmitglieder müssen mit ihren Vorstellungen darin vorkommen. Wichtig ist, dass diese Werte visualisiert werden. Es gibt außerdem eine sehr wichtige Regel: Der Einzelne darf nicht übergangen werden und muss in seinen Wünschen ernst genommen werden.

Wichtige Fragen

Kannst du uns Tipps geben, wie Familien selbst eine gemeinsame Vision finden können?

Man könnte zu Hause eine Art Familienkonferenz daraus machen. Wichtig ist, dass man einen Raum schafft, in dem man nicht abgelenkt wird. Folgende Fragen können ins Gespräch führen:

Was macht uns als Familie aus?
Welche Ziele haben wir?
Wie wollen wir miteinander umgehen?
Haben wir Vorbilder?
Was gefällt uns bei anderen Familien gut?

Wie kann man kleine Kinder da einbinden?

Mit Fragen wie:

Was ist deine schönste Erinnerung?
Was ist dein schönstes Erlebnis mit uns als Familie?
Was magst du an unserer Familie?
Was macht uns als Familie glücklich?

Prozess lohnt sich auch mehrmals

Und wie geht‘s dann weiter?

Indem man schaut: Welche Werte sind uns wichtig? Es kann helfen, zunächst zehn Werte zu formulieren und diese dann auf drei zu beschränken. Auch zu Hause können die Werte auf einem Plakat gesammelt werden. Mit kleinen Kindern kann diese Phase sehr chaotisch sein. Da bietet es sich an, den Prozess in Etappen zu gliedern. Je nachdem, wie festgefahren die Kommunikationsstrukturen in der Familie sind, würde ich aber einen Moderator empfehlen. Die Punkte verändern sich auch mit der Zeit. Es lohnt sich, das Gespräch über gemeinsame Werte immer wieder zu suchen.

Adelina Friesen ist Beraterin für Familien und in Ausbildung zur pastoralen Seelsorgerin.
Das Interview führte Lilli Gebhard. Sie ist Lehrerin für Geschichte und Deutsch am Gymnasium und wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart.

„Windelfrei“ ab dem ersten Tag: Fünffache Mutter erzählt, wie das funktionieren kann

Babys vom ersten Tag an ins Töpfchen machen lassen? Im Interview erzählt die fünffache Mutter Jessica Schmidt, wie sie das schafft.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihren Babys keine Windeln mehr anzuziehen?

Ich habe nach der Geburt meines dritten Kindes das Buch „Artgerecht“ von Nicola Schmidt gelesen. Die Theorie, dass bindungsorientierte Erziehung schon bei der Geburt beginnt, indem ich das Kind nahe bei mir halte, es trage und so früh seine Signale erkennen und verstehen lerne, ist inspirierend. Es geht darum, eine enge Beziehung aufzubauen und die Kommunikationswege des Kindes intuitiv wahrzunehmen. So ist es auch beim Thema Windelfrei, wobei dieser Begriff irreführend ist. „Ausscheidungskommunikation“ trifft es eher. Ich ziehe meinem Kind zwar Windeln an, achte aber darauf, wenn es mir kommuniziert, dass es ausscheiden muss, und halte es dann über das Töpfchen. „Abhalten“ wird es auch genannt.

Wie merken Sie, dass Ihr Baby ausscheiden muss?

Das ist unterschiedlich. Ein Indiz ist körperliche Unruhe. So wie größere Kinder anfangen, auf der Stelle zu treten, wenn sie müssen, beginnt auch das Baby, unruhig zu werden und zu zappeln oder zu meckern. Häufig müssen die Kinder nach dem Schlafen Pipi. Manchmal krabbeln sie auch auf einen zu. Vieles ist Intuition. Bei unserem fünften Kind hatte ich, als ich noch mit ihm im Krankenhaus lag, ganz intuitiv den Gedanken, dass er muss. Und tatsächlich: Als ich ihm die Windel abzog, ging’s los. So war es auch bei meiner Zweieinhalbjährigen. Sie war durchs Spiel und ich durch den Haushalt oft abgelenkt, aber immer, wenn ich den Impuls hatte, sie aufs Töpfchen zu setzen, und ihm nachging, kam auch was. Es liegt viel an der Mutter, inwieweit sie bereit ist, sich intuitiv darauf einzulassen.

Nicht unter Druck setzen

Sie haben fünf Kinder und somit sicherlich gut zu tun. Wie läuft der windelfreie Alltag bei Ihnen?

Ich habe die Option „aufs Töpfchen setzen“ einfach als weiteren Punkt in die Bedürfnisliste aufgenommen, die man eh immer durchgeht, wenn das Baby unzufrieden wirkt: Braucht es Nähe, Wärme, Essen, Trinken oder Schlaf oder will es eben ausscheiden? Wichtig ist, sich nicht unter Druck zu setzen, sonst ist es Stress pur. Es darf auch mal in die Windel machen. Es gab natürlich auch bei uns Phasen, die stressig waren oder in denen wir auf Reisen waren und ich kurzzeitig davon weggekommen bin. Ich bin aber immer zu diesem Thema zurückgekommen, weil es sich lohnt.

Welche Vor- und Nachteile hat das Abhalten für Sie?

Der Vorteil ist, dass das Kind früh ein Gefühl für die eigene Körperausscheidung bekommt und lernt, dass Ausscheidungen woanders landen können als in der Windel. Sie bekommen mehr Bestätigung und Selbstbewusstsein darin, dass sie das Thema früh selbst schaffen können. Wir brauchen auch keine Wundschutzcreme mehr, da Wundsein kaum noch vorkommt. Der Nachteil ist, dass man das Kind häufiger heben muss, um es abzuhalten. Das ist körperlich anstrengender, aber dafür ist man erfahrungsgemäß früher mit dem Thema durch. Meine Dritte war ab dem zweiten Geburtstag trocken, bei den Folgekindern war es ähnlich.

Interview: Ruth Korte

Windelfrei ohne Stress

Babys vom ersten Tag an ins Töpfchen machen lassen? Was für manche Eltern unvorstellbar klingt, gehört für Jessica Schmidt zum Familienalltag dazu. Im Interview erzählt die fünffache Mutter von ihren Erfahrungen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihren Babys keine Windeln mehr anzuziehen?

Ich habe nach der Geburt meines dritten Kindes das Buch „Artgerecht“ von Nicola Schmidt gelesen. Ihre anthropologische Herangehensweise an das Thema Bindung nimmt uns Christen oft den Zugang zu ihrem Buch. Aber die Theorie, dass bindungsorientierte Erziehung schon bei der Geburt beginnt, indem ich das Kind nahe bei mir halte, es trage und so früh seine Signale erkennen und verstehen lerne, ist inspirierend. Es geht darum, eine enge Beziehung aufzubauen und die Kommunikationswege des Kindes intuitiv wahrzunehmen. So ist es auch beim Thema Windelfrei, wobei dieser Begriff irreführend ist. „Ausscheidungskommunikation“ trifft es eher. Ich ziehe meinem Kind zwar Windeln an, achte aber darauf, wenn es mir kommuniziert, dass es ausscheiden muss, und halte es dann über das Töpfchen. „Abhalten“ wird es auch genannt.

Wie merken Sie, dass Ihr Baby ausscheiden muss?

Das ist unterschiedlich. Ein Indiz ist körperliche Unruhe. So wie größere Kinder anfangen, auf der Stelle zu treten, wenn sie müssen, beginnt auch das Baby, unruhig zu werden und zu zappeln oder zu meckern. Häufig müssen die Kinder nach dem Schlafen Pipi. Manchmal krabbeln sie auch auf einen zu. Vieles ist Intuition. Bei unserem fünften Kind hatte ich, als ich noch mit ihm im Krankenhaus lag, ganz intuitiv den Gedanken, dass er muss. Und tatsächlich: Als ich ihm die Windel abzog, ging’s los. So war es auch bei meiner Zweieinhalbjährigen. Sie war durchs Spiel und ich durch den Haushalt oft abgelenkt, aber immer, wenn ich den Impuls hatte, sie aufs Töpfchen zu setzen, und ihm nachging, kam auch was. Es liegt viel an der Mutter, inwieweit sie bereit ist, sich intuitiv darauf einzulassen.

Sie haben fünf Kinder und somit sicherlich gut zu tun. Wie läuft der windelfreie Alltag bei Ihnen?

Ich habe die Option „aufs Töpfchen setzen“ einfach als weiteren Punkt in die Bedürfnisliste aufgenommen, die man eh immer durchgeht, wenn das Baby unzufrieden wirkt: Braucht es Nähe, Wärme, Essen, Trinken oder Schlaf oder will es eben ausscheiden? Wichtig ist, sich nicht unter Druck zu setzen, sonst ist es Stress pur. Es darf auch mal in die Windel machen. Es gab natürlich auch bei uns Phasen, die stressig waren oder in denen wir auf Reisen waren und ich kurzzeitig davon weggekommen bin. Ich bin aber immer zu diesem Thema zurückgekommen, weil es sich lohnt.

Welche Vor- und Nachteile hat das Abhalten für Sie?

Der Vorteil ist, dass das Kind früh ein Gefühl für die eigene Körperausscheidung bekommt und lernt, dass Ausscheidungen woanders landen können als in der Windel. Sie bekommen mehr Bestätigung und Selbstbewusstsein darin, dass sie das Thema früh selbst schaffen können. Wir brauchen auch keine Wundschutzcreme mehr, da Wundsein kaum noch vorkommt. Der Nachteil ist, dass man das Kind häufiger heben muss, um es abzuhalten. Das ist körperlich anstrengender, aber dafür ist man erfahrungsgemäß früher mit dem Thema durch. Meine Dritte war ab dem zweiten Geburtstag trocken, bei den Folgekindern war es ähnlich.

Interview: Ruth Korte

Nicht länger in einem Nest

Wenn die Kinder ausziehen, verändert sich das gesamte Familiengefüge. Christiane Lötter möchte dazu ermutigen, die Beziehungen neu zu gestalten.

Sind die Kinder klein und die Eltern zusammen, ist es einfach: Man ist Familie – so oder so. Der Auszug der Kinder bedeutet, dass Bewegung in die Familie kommt. Nichts ist mehr, wie es vorher war, so sehr mancher auch versucht, das Alte festzuhalten. Das, was bisher gut lief, wird auf den Prüfstand gestellt: Trägt es uns oder müssen wir neu gestalten? Halten wir anstehende Veränderungen aus? Wie gehen wir damit um, wenn wir loslassen müssen und es doch gar nicht wollen? Schnell fallen uns jede Menge wundervolle Ereignisse ein: Was haben wir nicht alles angestellt, unternommen und gefeiert? Wie viel Aufregungen und Abenteuer haben wir zusammen erlebt?

Furcht vor dem Neuen

Wenn unsere Kinder uns verlassen, fahren die Gefühle häufig Achterbahn zwischen „Endlich mehr Freiraum für uns!“ und „Wird es ihnen auch gut gehen?“. Die Kinder selbst gehen voller Enthusiasmus und Abenteuerlust. Wenn wir Glück haben, zeigen sie uns, dass sie sich auch ein wenig vor dem Neuen fürchten. Manch eine Mutter oder ein Vater fühlt sich vielleicht verletzt, weil sie uns scheinbar so leicht und selbstverständlich verlassen.

Studium, Partys, neue Freunde

Aber unsere Kinder erleben, was jedem Ende innewohnt: Abschied, Verlust und Loslassen. Sie zeigen das oft nicht, weil sie uns beschützen wollen. Und weil sie uns zeigen wollen, dass sie es schaffen, und weil die Aussicht auf ein neues, eigenes Leben alles überstrahlt. Deshalb erzählen sie nichts von Heimweh und Niederlagen. Das tun sie frühestens, wenn sie es überwunden haben. Sie erzählen uns von Ausbildung, Studium, Partys, neuen coolen Freunden und wie toll alles ist. Und das machen sie richtig, denn es geht uns nichts an, wie sie ihr Leben gestalten. Bleibt die Frage, ob wir auch in ein verändertes Leben gehen. Ob wir eigene Träume, die wir bisher zurückgestellt haben, verwirklichen und mit der Kraft, die aus unserer Familiengeschichte gewachsen ist, neue Wege beschreiten.

Was das Herz sagt

Wie soll nun aber unser neues Familienleben aussehen? Vieles hängt davon ab, wie unsere Kommunikation bisher ablief. Haben wir viel miteinander gesprochen? War die Atmosphäre von Vertrauen und Offenheit geprägt? Welche Typen sind wir? Wir können unsere Traditionen pflegen oder Neues ausprobieren. Reden wir mit unseren Familienmitgliedern darüber. Hören wir auf das, was der andere meint und auf das, was unser Herz sagt.

Natürlich können wir unseren Kindern davon erzählen, dass wir mit dem Abnabeln Schwierigkeiten haben, dass wir sie vermissen, dass wir das Beste für sie wollen und sie uns wichtig sind. Sie durch unsere Augen schauen zu lassen, zeigt ihnen, dass wir sie ernst nehmen. Und dann sind wir auch schon mittendrin in der Gestaltung.

Plötzlich frei

Die räumliche Entfernung bedeutet nicht gleichzeitig eine innere Distanz. Für Eltern kann es sehr befreiend sein, wenn ihnen eines Tages aufgeht: Wir haben zwar nicht mehr so viel Einfluss auf unser Kind, aber wir sind auch freier, weil wir keine Verantwortung für sein Handeln mehr haben. Eine Botschaft an die Kinder kann sein: „Wir sind immer für dich da, wenn du uns brauchst. Aber in den Zeiten, in denen du uns nicht brauchst, sorgen wir für uns.“

Kein Mausoleum

Gestalter des Familienlebens sind nicht nur die Eltern, auch die Kinder sind herausgefordert, daran mitzuwirken. Mama muss nicht jedes Mal ein vollkommenes Menü auf den Tisch zaubern. Kinder können ihr Bettzeug mitbringen, sie müssen nicht bei jedem Besuch ein Chaos hinterlassen. Die alten Kinderzimmer dürfen einer neuen Bestimmung übergeben werden. Sie sind kein Mausoleum, dass die Kindheit für immer aufbewahrt.

Wir dürfen sorgfältig prüfen, was bleiben kann und was gehen muss. Wir haben die Erlaubnis, für das Neue Platz zu schaffen, innerlich und äußerlich. Das Tempo bestimmen wir selbst. Gestaltung bezieht sich sehr auf die nicht greifbaren Dinge. Es kann hilfreich sein, das mit Praktischem sichtbar zu machen. Beide, die Nestflüchtlinge und die Zurückgebliebenen, sind herausgefordert, ihren Platz zu finden in diesem Familienkonstrukt.

Distanz halten, Nähe finden

Immer wieder berichten Eltern, dass es gut war, auf Distanz zu gehen, weil der Blick auf die Kinder nun freier war und die alltäglichen Reibereien aufgehört haben. Stattdessen sei nun Platz für lockere und für ernste Gespräche. Die gemeinsame Zeit werde als echte Gemeinschaft erlebt und nicht zwischen anderen Verpflichtungen eingeschoben.

Alte neue Gewohnheiten

Kinder erzählen häufig, dass sie selbst Gewohnheiten entwickeln, die sie früher im Elternhaus abgelehnt haben, inzwischen jedoch als praktisch empfinden. Es war gar nicht so schlecht, was die Eltern alles so gemacht haben. Wenn wir es schaffen, solche Offenbarungen nicht mit Genugtuung, sondern mit einem warmen Lächeln zu beantworten, haben wir sehr viel gewonnen.

Mit einer gewissen Distanz kann man auch beginnen, das anzusprechen, was nicht gut gelaufen ist oder wo es noch Klärungsbedarf gibt. Hier ist es wichtig, behutsam vorzugehen und herauszufinden, ob Gesprächsbereitschaft besteht. Wir dürfen uns den Raum schaffen für das Lachen über die tollen Erinnerungen und auch für Entschuldigungen, wo wir versagt haben. Es entsteht so auch die Möglichkeit, Missverständnisse aufzuklären.

Gute und schlechte Erinnerungen

Manches mag auch schockieren. Es kommt vor, das unsere Kinder über Erlebnisse berichten und wir denken: „War ich dabei? Daran erinnere ich mich gar nicht.“ Neben negativen tauchen auch viele gute Erfahrungen auf, wie oft wir die Kinder beschützt, versorgt und geliebt haben und wie sehr sie das in dem Moment auch gebraucht haben.

Zu hohe Maßstäbe

Solche Rückblicke und Erinnerungen dienen dazu, die Gemeinsamkeiten zu benennen und festzustellen, was uns verbindet und was uns trennt. Wir entscheiden als Familie, wie wir mit Verbindendem und Trennendem umgehen. Nicht alles muss jetzt und sofort geklärt werden, Kreativität ist gefragt.

Wir können das nicht? Das sind zu hohe Maßstäbe? Häufig schauen wir auf andere Familien, in denen alles scheinbar perfekt läuft. Beruflich und privat scheint alles im Lot. Sind wir uns bewusst, dass andere oft nur die Sonnenseiten zeigen? Da bleiben die, bei denen nicht alles rund läuft, schnell auf der Strecke. Merken wir, wie viel Stress das erzeugt? Sich davon zu distanzieren und bei sich selbst zu bleiben, ist gar nicht so einfach. Wichtig ist: Wir sind Familie, und wir sind genau richtig. Hier wird nach unseren Regeln gespielt, und nur wir dürfen diese Spielregeln hinterfragen oder ändern. Andere haben da nichts verloren.

Das Familien-Mobile

Das Mobile kommt mir in den Sinn: Wenn einer sich bewegt, bewegt sich das Ganze. Es schwankt eine Weile und balanciert sich neu aus. Manchmal hängt sich auch noch ein neues Element an, dann muss sich alles neu einpendeln. Vielleicht haben wir noch alte Bilder in unserem Herzen. Aber jetzt leben wir in einer neuen Situation.

Gestaltung bedeutet, das Neue anzunehmen und es aktiv mitzugestalten, damit es gelingt. Unser Familienmobile kann auch äußeren Veränderungen ausgesetzt sein. Dann müssen alle zusammenhalten, um die Balance wieder herzustellen. Bewegung von innen darf stattfinden. Jeder einzelne entscheidet, wie er sich bewegt. Familiengestaltung ermöglicht uns, uns in einem sicheren Rahmen auch dann noch zu entfalten, wenn die Kinder ausgezogen sind. Wir haben die Erlaubnis, Bewährtes zu behalten und Neues auszuprobieren. Was für ein Gewinn!

Christiane Lötter arbeitet als Familienberaterin und Coach und lebt in der Nähe von Osnabrück. Sie hat zwei erwachsene Kinder.

Männer, packt mit an! – Warum eure Frauen zu Hause mehr Eigeninitiative erwarten

Familienmanagement ist in der Regel immer noch Frauensache, zusätzlich zum Job. Von den Männern erwartet Debora im Haushalt mehr als „Dienst nach Vorschrift“.

Liebe Männer,
die Psyche der Frau ist unergründlich. Ich weiß, es gibt viele Partnerschaften auf dieser Welt, in denen die Verantwortlichkeiten gut aufgeteilt sind. Ich weiß auch, dass es Männer gibt, die ihre Aufgaben im Haushalt sehr gewissenhaft übernehmen. Ich habe selbst einen Ehemann, der zum Beispiel die Küche viel gründlicher aufräumt, als ich es je könnte. Der die Spülmaschine effizienter befüllt, der in regelmäßigen Abständen den Kühlschrank nach Abgelaufenem oder Verschimmeltem inspiziert und den Müll in den Keller bringt. Das ist schon sehr viel wert. Vielen Dank dafür!

Aber, wie hat es schon Aristoteles so schön ausgedrückt: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Oder: Das gemeinsame Leben – vor allem, wenn Kinder mit ins Spiel kommen – besteht aus mehr als diesen einzelnen Aufgaben, um die wir euch bitten.

ICH MÖCHTE, DASS DU MIR HELFEN WILLST

Es gibt einen Schlüsselsatz in der mittelmäßigen Beziehungstragikomödie „Trennung mit Hindernissen“, der die Thematik dieses Artikels sehr gut auf den Punkt bringt. Und der geht so: „Ich möchte, dass du mir beim Abwaschen helfen willst.“

Ein Pärchen gibt eine Dinnerparty. Also, die Frau des Hauses hat sie geplant, die Wohnung aufgeräumt, gekocht, den Tisch gedeckt und so weiter – alles in High Heels wohlgemerkt und nach einem normalen Arbeitstag. Der Mann des Hauses hatte für den Abend genau einen Job, nämlich zwölf Zitronen zu kaufen. Mitgebracht hat er dann drei, reicht ja. Die blöden Dinger waren aber gar nicht fürs Essen gedacht, sondern als Tischdeko, um eine Vase damit zu befüllen. Was mit drei Zitronen natürlich nach nichts aussieht.

Als die Gäste gegangen sind, kündigt die Frau an, den Abwasch zu machen. Es ist eine Andeutung. Aufmerksame Zeitgenossen könnten es als Einladung verstehen, mitzumachen. Der Mann versteht es aber nicht so. Die Spielkonsole läuft, der Gegner will verkloppt werden. Schließlich muss er nach einem ebenfalls langen Tag und endlosem Zusammenreißen am Tisch mal für zwanzig Minuten ungestört Dampf ablassen. Kann er ja nichts dafür, wenn sie nicht zur Ruhe kommt, bis das schmutzige Geschirr wieder sauber ist. Als sie ihrem widerwilligen Mann erläutert, dass sie seine Hilfe beim Abwasch erwartet, entgegnet er: „Okay, dann helfe ich dir eben dabei, den verdammten Abwasch zu machen.“ Und dann fällt dieser absurde Satz von oben. „Warum sollte ich beim Abwaschen helfen wollen? Regst du dich etwa auf, weil ich keine große Lust darauf habe, dir beim Abwaschen zu helfen?“ – „Nein, ich rege mich auf, weil du keine große Lust darauf hast, mir anzubieten, den Abwasch zu machen.“ – „Das habe ich doch gerade gemacht!“ – „Ja, aber erst, nachdem ich dich darum gebeten habe.“

VIELES LÄUFT SCHON SUPER, ABER …

Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht daran erinnern, mich je für den Job gemeldet zu haben, das Große und Ganze im Blick zu haben, alle Bälle gleichzeitig in der Luft zu behalten, mich um die Befindlichkeiten aller Familienmitglieder zu kümmern und dabei unendliche Listen zu führen und abzuarbeiten. In einem alten Vorwerk-Werbeclip fasst die auf ihren Beruf angesprochene Hausfrau es so zusammen: „Ich arbeite in der Kommunikationsbranche … Und im Organisationsmanagement. Außerdem gehören Nachwuchsförderung und Mitarbeitermotivation zu meinen Aufgaben. Oder kurz: Ich führe ein sehr erfolgreiches kleines Familienunternehmen.“ Ja, so könnte man es nennen – nur dass heute bei den meisten Frauen zu alledem noch ein ganz normaler Job obendrauf kommt. Und selbst wenn argumentiert wird, dass ja die meisten Frauen in Teilzeit arbeiten, kann diese Organisationsund Denkleistung daheim es mit dem normalen Stress eines Vollzeitjobs locker aufnehmen.

DIE VERANTWORTUNG HÄNGT MEIST AN DEN FRAUEN

Barbara Vorsamer, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, hat diesen Umstand so zusammengefasst: „In den meisten Familien, selbst bei denen, die sich die Arbeit einigermaßen gerecht aufteilen, bleibt die Verantwortung an der Mutter hängen. Sie schreibt die Einkaufszettel und To-do-Listen und sie erinnert ihren Mann auch – unter Umständen mehrfach – an die noch zu erledigenden Aufgaben. Mental Load nennt man diese Denkarbeit, und sie ist anstrengend, ermüdend und unsichtbar.“

Wie gesagt, ich selbst führe einen am deutschen Durchschnitt gemessen schlampigen Haushalt, definiere mich nicht über das Muttersein, bin nicht bei Pinterest und insgesamt ein eher unstrukturiert denkender Mensch. Trotzdem möchte ich euch kurz in die Welt dessen hineinnehmen, was wir tagtäglich auf unserer Mental Load-Liste haben, ob wir wollen oder nicht. Und was uns am Ende des Tages so müde und unausstehlich macht, sodass wir eigentlich nur noch in Ruhe gelassen werden möchten: Kinderarzttermine ausmachen (erst mal telefonisch durchkommen), Geschenke für den nächsten Kindergeburtstag besorgen (also nicht für das eigene Kind, aber das dann auch irgendwann), optisch ansprechende Kuchen backen in rauen Mengen für diverse Kindergarten- und Schulveranstaltungen, zum geeigneten Zeitpunkt ein leeres Glas, einen Stein oder eine Socke zum Basteln mitbringen, rechtzeitig den Betrag fürs Schul-T-Shirt überweisen, die Kindergarderobe wettergerecht auf den neuesten Stand bringen und aussortieren, Kinderkleiderbasartermine in der Umgebung sondieren, Hausaufgaben kontrollieren, unendlich viele Zettel aus Schulpostmappen zur Kenntnis nehmen, Freizeitaktivitäten koordinieren, Büchereibücher fristgerecht verlängern …

Es könnte ewig so weitergehen. Allein die Liste für einen Kindergeburtstag hat bei meiner Siebenjährigen bereits mindestens 20 Unterpunkte: Motto überlegen, zum Motto passende Piñata und Einladungskarten basteln, Begrüßungsdrink mit Zuckerrand kreieren, mit Serviettentechnik Schmuckkästen verzieren, Mitgebseltüte befüllen und so weiter. Wer das alles organisiert? Tja. Immerhin seid ihr dann aber dabei, einen Teil der Aktivitäten mitzubetreuen.

UNSERE TO-DO-LISTEN ENDEN NIE

Das ist so, wie permanent 14 verschiedene Browser-Registerkarten offen zu haben. Ihr merkt, sie ist nicht gerade sexy, unsere Listenwelt. Sie lässt uns tagsüber und nachts keine Ruhe, sie trägt maßgeblich zu unseren Sorgen- und Zornesfalten bei, sie macht uns unentspannt und nörgelig, obwohl wir nie so sein wollten. Kein Wunder, dass uns die Kraft fehlt, euch abends nur in Klarsichtfolie eingehüllt an der Haustür in Empfang zu nehmen. Oder in der Kleinkindphase einem Hobby nachzugehen beziehungsweise uns beruflich so weiterzuentwickeln, wie wir das gern würden, und die gläserne Decke zu durchbrechen.

Nun gibt es glücklicherweise heutzutage Apps, die einem die Organisation dank punktgenauer Erinnerungsfunktion mit Wecker und regelmäßiger Erinnerungs-Popups sehr erleichtern. Gott sei gelobt für das Smartphone. Noch schöner wäre es allerdings, wenn wir das Gefühl hätten, nicht alles selbst organisieren zu müssen.

SIND WIR FRAUEN SELBST SCHULD?

Ich gebe zu, manche unserer Probleme mit euch sind hausgemacht. Wir könnten unsere Ansprüche herunterschrauben. Wir könnten Papa machen lassen, wie es Papa macht und die Kinder eben nicht noch mal umziehen, wenn ihr sie morgens im Bodo-Illgner-Gedächtnislook angezogen habt. Manchmal sind wir so mutig, euch allein mit dem Nachwuchs loszuschicken – dann allerdings mit vielen guten Ratschlägen und vorgepackten Wickeltaschen, weil ihr beim letzten Mal keine Windeln oder Wechselwäsche dabeihattet oder vergessen habt, gesunde Snacks einzupacken. Und weil wir schon diverse Male erlebt haben, dass ihr die euch aufgetragenen Aufgaben vor euch herschiebt („Das hätte ich schon noch gemacht“) oder sie (vielleicht mit System?) nicht zu unserer vollsten Zufriedenheit erledigt und drei statt zwölf Zitronen besorgt oder hässliche Kinderstiefel gekauft habt, übernehmen wir die Aufgaben dann schlussendlich doch oft zähneknirschend selbst. Weil wir sie selbst oft schneller erledigt haben, bevor wir uns den Mund fusselig erklärt haben. Auch das könnten wir bleiben lassen und uns stattdessen eine Scheibe eurer männlichen Wurstigkeit abschneiden.

Ich glaube nicht, dass es uns Frauen per se schwerfällt, abzuschalten. Aber es fällt uns schwer, abzuschalten, wenn wir wissen, dass ihr eben vieles nicht auf dem Schirm habt. Und je mehr wir selbst an alles denken, umso mehr schaltet ihr ab. Anders gesagt: Je mehr wir die Rolle der Projektmanagerin oder Familienunternehmensleiterin übernehmen, desto mehr verhaltet ihr euch wie Praktikanten, die ohne Arbeitsanweisung erst mal gar nichts machen. Oder nur genau das, was euch aufgetragen wurde.

GETEILTE ARBEIT IST HALBE ARBEIT

„Um wirklich frei zu sein, müssen wir den Kopf von Frauen freibekommen“, schreibt die Soziologieprofessorin Lisa Wade in einem Artikel des TIME-Magazins. „Natürlich muss immer jemand daran denken, Toilettenpapier zu kaufen. Aber wenn diese Arbeit geteilt wird, werden Frauen ihre Zusatzbelastungen abgenommen. Und erst dann haben Frauen genauso viel geistige Leichtigkeit wie Männer.“ Es ist nicht nötig, dass ihr genauso ständig alle Details im Kopf behaltet. Aber wir würden uns freuen, wenn ihr mitdenken würdet. Wenn ihr mit uns an einem Strang zieht. Wenn ihr proaktiv und unaufgefordert eure Hilfe anbietet. Mir persönlich ist es dabei ehrlich gesagt relativ egal, ob ihr das jetzt echt richtig wollt oder nicht – Hauptsache machen.

Wenn ihr mit anpackt und uns für die vielen unsichtbaren Dinge wertschätzt, die wir so erledigen – dann kann aus uns das werden, was wir immer gern werden wollten: ein unschlagbares Team.

Debora Kuder arbeitet als freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in München.

 

Von Opa lernen …

… möchte Sandra Geissler. Denn wie ihr Schwiegervater von seinem Leben erzählt, ist für sie vorbildhaft.

„Der Opa kommt!“, tönt ein lauter Schrei durchs Haus. Irgendeiner entdeckt ihn immer, lange bevor er auch nur in die Nähe unserer Türklingel gelangen kann. Und schon rast die gesamte Kinderschar wie eine wildgewordene Büffelherde zur Haustür. In kürzester Zeit weiß die ganze Nachbarschaft Bescheid: Der Opa kommt! Es dauert immer eine Weile, bis sich die tumultartigen Zustände wieder gelegt haben, bis jeder ausgiebig gedrückt und durch feste Klopfer auf den Rücken auf seine Vollständigkeit hin überprüft wurde. Dann erst kann sich der ersehnte Gast endlich bis ins Wohnzimmer vorarbeiten und auf seinem Stuhl verschnaufen. Meistens hat er für jeden eine Kleinigkeit dabei. Eine Handvoll Schlümpfe von 1980 vielleicht, die er irgendwo in den Tiefen seines Hauses entdeckt hat, einige alte Matchboxautos, ein paar Schokokugeln oder eine Tüte Gummibärchen zum Teilen. Mein Schwiegervater ist 88 Jahre alt, und man merkt es ihm langsam ein wenig an. Doch immer noch ist er stark wie eine alte Eiche, groß, gewaltig und ein bisschen polterig. Er lacht gern und laut, ist diskussionsfreudig und herzlich. Nur das mit dem Hören funktioniert nicht mehr richtig, was den Lärmpegel in unserem eh schon immer lauten Haus in ungeahnte Höhen treibt. Man stelle sich fünf Kinder vor, die gleichzeitig versuchen, sich einem schwerhörigen Opa verständlich zu machen …

GESCHICHTEN AUS ALTEN ZEITEN

Hat der Opa dann endlich sein Plätzchen gefunden, sein Stückchen Kuchen verzehrt, die zweite Tasse Kaffee vor sich und ein Enkelchen auf dem Schoß, dann kommt meist der Moment, den meine Kinder lieben. Der Opa fängt an zu erzählen. Von seinen Weltreisen als junger Mann, ganz ohne All Inclusive und ausgebauter Infrastruktur, von den Nächten in Heuschobern oder in freier Wildbahn, von den Abenteuern, die er mit seinen Brüdern erlebt hat, von der Liebe seiner Eltern und von seiner Zeit als junger Familienvater. Die Kinder hängen an seinen Lippen, wenn der Opa erzählt, und sie erfahren Geschichten aus fernen Ländern und alten Zeiten, von der Oma, die sie nie kennenlernen konnten, von Tagen, an denen ihr Papa ein kleiner Junge war und wieviel Blödsinn er mit seinen Brüdern angestellt hat. Oft sitze ich da und staune, wie sehr meine Kinder sich von den alten Geschichten fesseln lassen. Noch mehr aber bestaune ich diesen Mann, der mit fast neunzig Jahren so ganz im Reinen ist, mit sich und der Welt, der nicht schimpft und nicht hadert, weder mit der Vergangenheit, noch mit dem Jetzt. Nach zwei Stunden verabschiedet sich der Opa wieder und unter lautem Hupen und wildem Winken fährt er davon. Wir winken und brüllen alle hinterher. Bis zum nächsten Mal.

NICHT DAS SCHWERE ZÄHLT

Oft schon haben mein Mann und ich nach solchen Stunden mit dem Opa überlegt, dass dieser Mann auch eine ganz andere Geschichte seines Lebens erzählen könnte. Die Geschichte einer Kriegskindheit, vom Hunger und einem zerbombten Zuhause. Von der Granate, die ihm beim Spielen einige Finger kostete. Von den Mühen, vier nicht gerade einfache Jungs auf den rechten Lebensweg zu bringen und der großen Trauer um seine viel zu früh verstorbene Frau. Von der Einsamkeit in einem nun längst zu großen, leeren Haus, den Beschwerlichkeiten des Alters und den alten Freunden, die nicht mehr sind. Aber so erzählt er die Geschichte nicht. Er erzählt seine Geschichte anders. Es ist nicht so, als wäre das alles nicht gewesen. Er negiert das Schwere nicht, es gehört dazu und ist Teil seiner Erzählungen. Aber es ist nicht das, was zählt. Was zählt, ist das wilde, schöne Leben in all seinen Facetten. Die Freude an diesem Leben, an Familie und zehn Enkelkindern, an Reisen und an guten Erinnerungen, an ungewöhnlichen Problemlösungen und überstandenen Krisen. Er feiert dieses Leben, das vergangene und das gegenwärtige, indem er es bejaht. Und er vergrault es nicht, indem er hadert. Der Opa behält das Gute und schaut gespannt nach vorne. Denn 95 wolle er auf jeden Fall werden, sagt er.

DAS WILDE, SCHÖNE LEBEN

So möchte ich die Geschichte meines Lebens auch einmal erzählen können, wenn ich eine Oma geworden bin. Und wenn ich es recht bedenke, dann muss ich gar nicht so lange warten. Ich kann direkt damit loslegen, jeden Tag auf ein Neues. Das Leitthema meines Lebensbuches sollen nicht die schweren und traurigen Kapitel sein, auch wenn sie natürlich auch zu meiner Geschichte dazugehören. Das Leitthema soll das wilde, schöne Leben sein in all seinen Facetten, die guten Begegnungen und das Abenteuer Familie, die Liebe, die ich erfahren und schenken durfte, die Dankbarkeit für die guten Momente und das große Glück in den kleinen Dingen. So möchte ich mein Leben feiern, das mir geschenkt wurde, mit allem, was dazu gehört, jeden Tag. In diesen Wochen ist es schwer für unseren Opa. Viele seiner alten Weggefährten sterben, er kämpft mit den Lücken, die sie hinterlassen. Und entschließt sich wieder einmal bewusst für das Leben. Plant ein paar kurze Reisen, lässt die Hörgeräte neu einstellen und lädt sich bei uns zum Kaffee ein. Wir freuen uns. Denn das Leben in all seinem Reichtum zu feiern, anstatt nur seine dunklen Seiten zu lesen, ist manchmal eine Frage des eigenen Entschließens. Das ist das Erbe, das der Opa seinen Enkeln hinterlassen wird. Das ist das Erbe, das ich meinen Enkeln irgendwann schenken möchte.

Sandra Geissler lebt mit ihrer Familie in Nierstein und bloggt unter 7geisslein.wordpress.com.

Zum Dossier-Thema „Das Leben feiern“ gibt es weitere Artikel in der Family 01/2019.

 

Die Sommer-Liste

Kommt euch das bekannt vor? Jedes Jahr nehmen wir uns für den Sommer Dinge vor, die wir unbedingt machen wollen. Und die wir eigentlich auch schon im letzten Sommer auf der Liste hatten: Erdbeeren selbst pflücken, ein Wochenende nach Holland fahren, Besuch im Open-Air-Kino, öfter ins Freibad, eine richtig lange Radtour, eine Theateraufführung bei den Ruhrfestspielen, Tretboot fahren … „Diesen Sommer machen wir das aber ganz bestimmt“, sagen wir und ahnen, dass wir im Herbst doch wieder enttäuscht sein werden.

Denn immer, wenn wir grad zum Erdbeerfeld aufbrechen wollen, regnet es. Oder die Sonne scheint zu stark. Oder es stehen noch Hausaufgaben an. Für das Holland-Wochenende fehlt das nötige Geld in der Haushaltskasse. Und bei den Ruhrfestspielen sind die interessanten Stücke längst ausverkauft. Am Ende des Sommers blicken wir wehmütig zurück auf das, was wir wieder nicht „geschafft“ haben: nur einmal im Freibad, nur die Mini-Radtour bis Castrop-Rauxel und für die Marmelade haben wir dann doch lieber den Marktstand unseres „Erdbeerfritzen“ aufgesucht.

Ja, Pläne machen ist gut. Sie umsetzen auch. Aber wenn es nicht klappt – ist das so schlimm? Statt auf die nicht-erlebten Sommer-Highlights zu blicken, können wir doch auch auf die vielen schönen Momente sehen, die wir genossen haben: den Grillabend mit Freunden, den kleinen Spaziergang um die Felder, die köstliche Marmelade aus nicht selbstgepflückten Früchten, das unspektakuläre Picknick im Garten, das erfolgreiche Fußballturnier …

Genießt den Sommer mit allen Sinnen! Nehmt euch nicht zu viel vor! Und vielleicht klappt das eine oder andere dann ja doch. Wir waren dieses Jahr endlich mal wieder bei den Ruhrfestspielen. Okay, es war ein Geschenk, und wir mussten uns nicht selbst um die Karten kümmern – aber wir haben es genossen!

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

Aufgaben Verteilung

WO DIE FÄDEN ZUSAMMENLAUFEN
Katharina managt das siebenköpfige Familienunternehmen. Ihren Mann sieht sie als hochengagierten Mitarbeiter.

Katharina: „Fünf Kinder! Wie schaffst Du das bloß?“ Diese Frage höre ich häufig. Meine Antwort variiert je nach Tagesform zwischen „Gar nicht!“ über „Das frag ich mich auch!“ zu „Einfach machen!“ Dabei bin ich ja nicht allein für alles zuständig, sondern habe ein Netz von Unterstützern: Schwiegereltern, Freunde und nicht zuletzt meinen Mann. Er und ich wollen diese Kinderschar und wir möchten auch partnerschaftlich mit der Aufgabenverteilung umgehen. So übernimmt Hauke den Fahrdienst zur Schwimm-AG oder den Großeinkauf, er putzt Küche und Bäder (oder das Flusensieb der Waschmaschine) und staubsaugt die Wohnung. Er kocht für alle am Wochenende – vor allem, wenn er selber Hunger hat. Zudem übernimmt er mit viel gutem Willen alle Hausmeisterdienste, die, nun ja, in seinem Vermögen stehen. Und da unser 3-Jähriger beschlossen hat, sich nur noch vom Papa ohne Theater wickeln, baden und Zähne putzen zu lassen, freue ich mich sehr über die Selbstverständlichkeit, mit der Hauke diese Aufgaben übernimmt. Das ist eine Menge bei gleichzeitiger beruflicher Tätigkeit. Hauke schneidet gut ab in punkto Familien-Engagement. Warum denken trotzdem viele, ich würde die Last alleine tragen? Ich glaube, es liegt an der Art der Arbeit. Während Hauke mit seiner Unterstützung den Rahmen zusammenhält, versuche ich, den Kasten mit Leben zu füllen. Ich organisiere die Familienzeit, habe den Überblick, wer wann wo mit welchen Dingen sein muss. Meine Überlegungen und Vorbereitungen prägen unsere Familientraditionen – die Rituale an Festtagen, aber auch im Alltag. Ich bin zuständig für die Wäsche, weiß, wem welche Hose gehört und mache mir Gedanken über Familienregeln. Abends lege ich mich häufig noch zu Kindern und kläre den Weltschmerz oder höre mir die Schulgeschichten an. Mir sind die Namen der Schulfreunde und -streitigkeiten der Kinder ein Begriff, und das Foto-Jahrbuch der Familie gestalte ich ebenso wie die Pflege unserer Freundschaften und Familienbanden. Mit all diesen Dingen übernehme ich die Familien-Denkarbeit, während Hauke bei der Umsetzung hilft. Will er das? Provoziere ich mit meinen schnellen Entscheidungen dieses Verantwortungsungleichgewicht? Bevormunde ich ihn? Aber wenn ich warte, bis er anfängt, ist der Kindergeburtstag schon morgen, und wenn es gut läuft, lässt sich nur noch ein absoluter Notfallplan umsetzen. Aber mein Plan A funktioniert eben auch nur mit Haukes Hilfe. Bei allem Gemaule („Du könntest dir ja auch mal was überlegen“ von mir und „Selber schuld, wenn du immer so schnell bist“ von Hauke) sind wir wohl beide eigentlich zufrieden mit dieser Aufteilung. Ich darf gestalten, Hauke will mitmachen und unterstützen. Beides kann von Zeit zu Zeit ermüdend sein. Das einander zuzugestehen ist die Kunst, die wir noch lernen.

 

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache. Sie
und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

DER GROSSE KNALL
Hauke bewundert das Durchgreifen seiner Frau und ist überzeugt, dass sie seinen Beitrag im Familienunternehmen falsch einschätzt.

Hauke: Manchmal grüble ich darüber nach, ob Gott die Welt nicht vielleicht mit Hilfe des Urknalls erschaffen hat. Denn wie das im Prinzip gehen könnte, zeigen mir unsere fünf Kinder nahezu täglich: Aus dem absoluten Nichts heraus gibt es plötzlich einen lauten Knall und tosendes Gezeter (oder fröhliches Gekreische, das spielt fürs Resultat keine Rolle), und Millisekunden später herrscht Chaos in der Wohnung. Der atomar zerstäubte Inhalt mehrerer Spielzeugkisten schwebt, liegt und kullert herum. Materie überall, vollständig ungeordnet. Und die Wohnung war wüst und die Schränke leer … Wem nun der Urknall schon wie ein großes Wunder vorkommt, der wird nicht glauben können, was anschließend in diesem Tohuwabohu passieren wird: Ebenfalls aus dem Nichts heraus gibt es einen zweiten Knall, noch viel, viel größer, diesmal auf jeden Fall verbunden mit tosendem Gezeter, wieder fliegt Materie in Lichtgeschwindigkeit durch die Wohnung, diesmal aber in umgekehrter Richtung, und kurz darauf ist alles wieder an seinem ursprünglichen Platz. Und siehe, es war sehr gut aufgeräumt. Welche unfassbare Macht wohl für den zweiten Knall verantwortlich ist? Sie ahnen e s: m eine Frau. O hne z u z ögern n immt s ie den K ampf m it d er l okalen A narchie- Bewegung auf, wirft sich ins Getümmel und stürmt die Barrikaden vor dem Kinderzimmer. Und da meine Frau keine Gefangenen macht, wird jeder kleine Revoluzzer sofort umgedreht, so dass er fortan für die Gegenseite arbeiten muss. Warum nicht der Göttergatte für Recht und Ordnung sorgt? Dafür gibt es zwei Gründe: Oft bemerke ich aufgrund einer deutlich höheren Toleranzschwelle die Anzeichen für den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung nicht rechtzeitig – und wenn ich sie doch registriere, dann bleibt mir meist nur noch Zeit für eine einzige Gegenmaßnahme: mich hinterm Sofa zu verstecken, um den zweiten Knall zu überstehen … Ich bewundere meine Frau aufrichtig dafür, wie sie in der Familie alles ordnet und regelt. Mit schier unerschöpflicher Energie managt sie das Leben von sieben Personen mit Weitund Umsicht. Da ich weiß, dass nicht die eigentliche Erledigung der vielen Aufgaben so anstrengend ist, sondern das Tragen der ständigen Verantwortung, versuche ich, Katharina zu entlasten. Ich will zumindest die Arbeiten erledigen, die mir auffallen – das ist wenig genug. Dazu kommen die Arbeiten, die mir nicht auffallen, aber meiner Frau. Auch dann packe ich mit an, fröhlich und frei von jedwedem traditionellen Rollendünkel. Katharina denkt übrigens, dass ich vergleichsweise viel zu Hause helfe. Ich halte das eher für ein Wahrnehmungsproblem: Meine Mithilfe sieht sie, die der anderen Männer nicht. Aber sei‘s drum, in diesem Punkt soll Kathi gerne bei ihrer Meinung bleiben. Bitte verraten Sie ihr nicht die Wahrheit!

 

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

„Wir haben beide unseren Platz gefunden“

Patric Graf ist Hausmann, seine Frau arbeitet Vollzeit. Ein Modell, das sich für sie bewährt hat.

Als meine Frau Kerstin mit unserer heute 18 Jahre alten Tochter schwanger war, war ich für längere Zeit krankgeschrieben. Meine damalige Arbeit konnte ich nicht wieder aufnehmen. Da ich durch meine Arbeitszeiten in der Bäckerei schon von Beginn unserer Beziehung an die Haushaltstätigkeiten überwiegend übernommen hatte und auch gerne koche, kam uns die Idee, die typischen Rollen zu tauschen. Nach der Geburt unserer Tochter und dem gesetzlichen Mutterschutz arbeitete meine Frau wieder zu 100 Prozent in ihrem Beruf als Krankenschwester. Schnell merkten wir, dass ihre Arbeit im Dreischichtbetrieb viele Vorteile für uns hatte: Wir konnten zum Beispiel Kinderarzttermine so legen, dass wir gemeinsam hingehen konnten. Später, als die Kinder im Kindergarten waren, hatten wir als Eltern die Möglichkeit, ohne Kinder etwas zu unternehmen, sei es der Wocheneinkauf oder ein gemeinsames Frühstück in einem Café.

Bei unserem Sohn (15) und unserem Nesthäkchen, unserer achtjährigen Tochter, behielten wir diese Rollenverteilung bei. Seit 13 Jahren arbeite ich zusätzlich auf 450-Euro- Basis in der Systemgastronomie. Ich habe das Glück, dass ich meine Arbeitszeiten dem Dienstplan meiner Frau anpassen kann. Diese Arbeit ist für mich ein Ausgleich zum Hausmannsjob. Ich komme mit vielen Menschen aus verschiedenen Nationen in Kontakt, da unser Betrieb auf einem Autohof an der Autobahn liegt.

Unsere Freiheit, ganz anders zu leben. Oder auch nicht.

Anja Schäfer plädiert dafür, dass Familien ihren eigenen Weg finden, das Familienleben zu planen – ohne sich gegenseitig kritisch zu beäugen.

Die ältere Dame hob ihre Augenbrauen und blickte mich tadelnd an. Wir waren auf einer christlichen Veranstaltung, hatten geplaudert, und ich erzählte ihr, dass wir unseren zweijährigen Sohn an drei Vormittagen in der Woche zu einer Tagesmutter brachten. Auf dem kleinen Bio-Bauernhof spielte er zwischen Hühnern und Treckern mit drei oder vier anderen Kindern, und mittags holten wir ihn ab. Perfekt, fanden wir. Die ältere Dame nicht. Fremdbetreut in diesem Alter, das hielt sie für entschieden nicht mit dem biblischen Familienmodell vereinbar.

Zwei oder drei Tage später traf ich mich mit Freunden in der Kneipe. Anschließend, vor der Tür, kamen wir auf das damals hochbrisante Thema „Betreuungsgeld“ zu sprechen, das ausgezahlt werden sollte an Familien, die ihre Kinder zwischen null und drei (!) Jahren zu Hause betreuten. Indiskutabel, empörten sich meine Freunde. Relikte alter Rollenbilder. Typisch bayerische Schnapsidee. Und so stand ich da in unserer Runde vor der Kneipe. Erst ein paar Tage zuvor hatte ich mich noch rechtfertigen müssen für unsere liebevolle Tagesmutter. Und hier stand ich mit meinen Freunden, für die es undenkbar war, eine Lebensform staatlich zu unterstützen, bei der Mama oder Papa eine Weile für ihre Kinder zu Hause bleiben. Ich musste fast lachen.