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„Wir wollen zumindest für drei Menschen das Leid mildern“

Claudia Lambeck und Stefan Görnert haben einer ukrainischen Mutter und ihren beiden Kindern ein neues Zuhause gegeben.

Der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hat uns sehr mitgenommen“, erinnert sich Stefan Görnert. Kurz zuvor hatten er und seine Lebensgefährtin Claudia Lambeck ein neues Haus in Wermelskirchen bezogen – mit einer kleinen Wohnung im oberen Stockwerk, die Claudia Lambecks Tochter Laura nutzen wollte. Aber Laura zog es schließlich doch nach Köln in eine WG.

„Wir wollten die Wohnung eigentlich erst mal nicht vermieten“, erklärt Stefan Görnert. Doch dann sahen sie die Bilder von Geflüchteten aus der Ukraine. „Wir konnten es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, dass wir aus Bequemlichkeit eine Wohnung leerstehen haben, und andere Familien suchen dringend eine Unterkunft.“ Stefan Görnert, der als Verwaltungsleiter der Stadt Wermelskirchen arbeitet, informierte Menschen in der Politik darüber, dass sie eine Wohnung für Geflüchtete zur Verfügung stellen könnten. Darüber entstand der Kontakt zu einem Reporter von RTL, der gerade in Warschau war und dort zwei Familien kennengelernt hatte, die ein neues Zuhause suchten. Als Claudia Lambeck und Stefan Görnert gefragt wurden, ob sie eine der Familien aufnehmen könnten, sagten sie sofort ja.

TRAUMATISIERT

Nun hatten sie eine Woche Zeit, um alles vorzubereiten. Die Wohnung war zwar weitgehend möbliert, aber einiges musste noch besorgt und renoviert werden. Schließlich war es so weit: Nach etwa 20 Stunden Zugfahrt kam Svetlana mit ihrem Sohn Danilo (17) und ihrer Tochter Nastia (12) in Wuppertal an. Dort wurden sie abgeholt und nach Wermelskirchen gefahren. Svetlanas Bruder, der schon länger in den Niederlanden lebt, war auch dabei und half der Familie, erst mal zur Ruhe zu kommen. Über ihn lief auch nach seiner Rückkehr nach Hilversum ein großer Teil der Kommunikation, da er im Gegensatz zu seiner Schwester gut Englisch und auch etwas Deutsch spricht. Ansonsten wird überwiegend über eine Übersetzungs-App kommuniziert. „Ich rede aber auch ganz bewusst Deutsch mit ihnen – mit Händen und Füßen“, erklärt Claudia Lambeck. Vor allem Nastia, die inzwischen eine Sekundarschule besucht, versteht schon ein bisschen Deutsch. Sie und ihr Bruder haben schwere Zeiten hinter sich, sind offensichtlich traumatisiert. Die Familie kommt aus Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, die wiederholt Ziel russischer Angriffe war.

Nastia hat nach der Flucht eine Woche lang nicht gesprochen. Erst als sie Nala, den Hund ihrer Gastgeber, kennenlernte, änderte sich das: „Sie hat Nala sofort ins Herz geschlossen und ist mit ihm durch den Garten getollt. Da ist bei ihr der Knoten geplatzt.“ Außerdem hat sie sich mit Jonathan, dem 12-jährigen Sohn der Nachbarn, angefreundet. Sie skaten zusammen und haben auch schon mit Svetlana einen Ausflug nach Köln gemacht. Danilo fällt es offensichtlich deutlich schwerer, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Viele Jungen in seinem Alter sind in der Ukraine geblieben, um mit den erwachsenen Männern zu kämpfen. In Wermelskirchen gibt es nur wenig gleichaltrige Ukrainer.

MORALISCHE VERPFLICHTUNG

Wichtig ist es Claudia Lambeck und Stefan Görnert, dass Svetlana und ihre Kinder sich nicht als Gäste fühlen, sondern unabhängig und eigenständig ihr Leben gestalten können. Deshalb haben sie ihnen eine eigene Waschmaschine gekauft und auch offiziell einen Mietvertrag gemacht. Die Miete übernimmt das Sozialamt. Trotzdem sind sie natürlich zur Stelle, wenn die ukrainische Familie Unterstützung braucht bei Ämtergängen oder Arztbesuchen. Zu Beginn habe sie das Engagement schon viel Zeit gekostet, erklärt Claudia Lambeck. „Aber mittlerweile ist es nicht mehr so viel.“ Zurzeit versuchen sie, für die Familie therapeutische Hilfe zu organisieren. Und – gerade für Danilo – auch einen Sportverein. In der Ukraine hat er geboxt. Nun suchen seine Gastgeber und Vermieter nach einem passenden Verein oder Angebot in Wermelskirchen.

„Ich habe einfach die moralische Verpflichtung gefühlt, da etwas zu tun“, erklärt Stefan Görnert. „Ich möchte etwas dazu beitragen, dass das Leid zumindest für drei Personen etwas gemildert wird.“ Er gibt zu, dass es ihn belastet, Nachrichten aus der Ukraine zu sehen. „Oft hoffe ich dann, dass sie oben in der Wohnung nicht dasselbe im Fernsehen sehen wie wir …“ Auch Claudia Lambeck bedrückt die Situation der Geflüchteten und der Menschen, die noch in der Ukraine leben. Vor einiger Zeit war sie mit Nastia bei einem Friedensgebet, das von verschiedenen Gemeinden der Stadt veranstaltet wurde. „Auf dem Rückweg flog ein kleines Flugzeug über uns hinweg. Da ist Nastia deutlich zusammengezuckt.“ Das Mädchen liegt ihr besonders am Herzen. Und auch die 12-Jährige hat Claudia Lambeck offensichtlich ins Herz geschlossen. „Letztens hat sie mir ein Bild mit einem Herzen gemalt und ‚Ich liebe dich‘ dazugeschrieben. Da geht einem schon das Herz auf!“

Bettina Wendland ist Redakteurin von Family und Family-NEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

„Mein Zuhause ist dein Zuhause“ – Fünffach-Mama Tabea teilt ihr Haus mit geflüchteten Ukrainern

Die Familie von Tabea Gruhn lässt zwei ukrainische Geflüchtete bei sich wohnen. Jetzt erzählt die Mutter von Freudenmomenten und Herausforderungen.

Seit dem Einmarsch Putins in die Ukraine und den damit verbundenen Bildern flüchtender Menschen war mir klar, dass wir unser Haus und unser Familienleben für die öffnen würden, die uns brauchen. Der Gedanke, Menschen aus der Ukraine bei uns im Haus zu haben, bereitete keinem unserer fünf Kinder Sorgen. Es schien für sie selbstverständlich zu sein. Jeden Tag fragten sie: Sind sie schon da? Wann kommen sie? Wer kommt überhaupt?

Am 17. März kam schließlich der Anruf vom Christlichen Integrationszentrum in Augsburg: Natalia und ihr Sohn Mikita (13) waren gerade nach vier Tagen Reise angekommen, erschöpft, ohne Familien- oder Verwandtenanschluss. Natalias Mann und ihr 18-jähriger Sohn waren noch in der Ukraine. Wann ich zum Abholen kommen könnte? Ich sprang ins Auto, holte unsere Kleinste vom Kindergarten ab und fuhr in die Stadt. Nach einer kurzen Begrüßung und ein paar Hinweisen waren wir wieder auf dem Weg nach Hause. Unsere Kinder hatten in der Zwischenzeit das blaugelb angemalte Kalenderblatt mit kyrillischem „Willkommen“ an die Haustür geklebt.

Einstand bei der Eishockey-Mannschaft

Unser Leben hat nun einen neuen Alltag, den wir inzwischen meistens „normal“ leben. Anfangs haben unsere 9- und 11-jährigen Jungs fast ausschließlich mit Mikita gespielt. Inzwischen verbringen sie ihre Zeit auch wieder mit Schulkameraden und Freunden. Wenn unsere Kinder in der Schule sind, bekommt Mikita Online-Unterricht aus der Ukraine. Die Nachmittage verbringt jeder mal für sich, mal miteinander. Mikita, ein passionierter Eishockey-Spieler, durfte schon bei den Augsburger Panthern vorspielen, wo er einen richtig guten Einstand hatte. Natalia hat angefangen, online Deutsch zu lernen und schreibt fleißig Vokabelkärtchen. Die Kinder lieben ihre Pfannkuchen, ich freue mich über zusammengelegte Wäsche und weggesaugte Spinnweben und unsere zwei jüngsten Mädchen über Basteleinheiten. In der Verwaltung des Integrationszentrums hat Natalia im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes eine Stelle bekommen, wozu auch ein Sprachkurs gehört.

Im Großen und Ganzen ist es leicht

Es hört sich vielleicht an, als wäre es zu schön und zu leicht, um wahr zu sein. Aber im Großen und Ganzen ist es das tatsächlich. Ich habe mich inzwischen schon oft gefreut, dass Gott uns (erst mal) nur zwei Personen anvertraut hat – und nicht mehr. Denn mehr – und kleinere Gäste – wären vielleicht zu viel Belastung geworden. Zudem habe ich das Glück, meinen Hauptarbeitsplatz – meine Familie – zu Hause zu haben. Daneben bin ich an einem oder zwei Vormittagen pro Woche im Büro meines Mannes eingeplant. Es ist hilfreich, dass ich viel Zeit zu Hause habe. Denn Registrierung, Anmeldung beim Meldeamt, bei der Asylbehörde und das Ausdrucken und Ausfüllen von Formularen brauchen Zeit und Einsatz. Und die Bereitschaft, manches zu Hause liegen zu lassen.

Mein Kopf ist noch voller als sonst. Ich habe noch mehr auf meinen To-do-Listen stehen und bin vergesslicher. Vor allem am Anfang war es viel Arbeit, unsere Strukturen, Familienregeln und jedes unserer Kinder im Blick zu behalten. Und mich selbst auch nicht zu verlieren. Ich habe deutlich gemerkt, wie wichtig Ruhezeiten für mich sind. Zehn Minuten nur für mich. Keine Kinderfragen, keine Übersetzungs-App. Luft holen, Stille atmen, gar nichts denken.

Familienregeln werden beibehalten

Wirklich wichtig – und in der Anfangszeit manchmal schwierig – fand ich, das eigene Familienleben beizubehalten. Der, der hinzukommt, muss sich anpassen. Denn unsere Familienregeln tragen durch unseren Alltag. Und dann ist es egal, ob Gäste komisch schauen, wenn wir am Anfang des Essens singen und am Ende nicht jeder aufsteht, wie er will. Auch dass sich mittags jeder selbst um seinen Hunger kümmert, hat sich bei uns bewährt. Unsere Mitbewohner haben sich damit arrangiert. Bei so einer Familienvergrößerung auf unbestimmte Zeit hat man keine Gäste, sondern Lebensbegleiter. Das heißt, dass wir unser Leben normal weiterleben und uns nicht im ständigen Ausnahmezustand befinden.

Die ersten zwei Wochen haben das Besuchsgefühl und somit ein Ausnahmezustand bei den Kindern angedauert. Jetzt bringen sich alle wieder in die gewohnten Bahnen – oder werden von uns daran erinnert. Nur so sind wir die Familie, die wir sind und die bereit war, jemanden aufzunehmen. Wir haben aber auch „einfache“ Gäste, die sich selbst beschäftigen und fähig und willig sind, mit Bus und Straßenbahn zu fahren. Zwei, mit denen wir schon viel gelacht und geredet haben.

„Wer nicht mit seiner Schwiegermutter leben kann, kommt auch nicht mit Fremden zurecht“

Vor der Aufnahme hatte ich mir wenige Gedanken über mögliche Probleme gemacht. Ich sehe mich deshalb nicht als naiv an. Eher bin ich ein Typ, der vom Guten ausgeht. Mir war wichtig, von Anfang an die Selbstständigkeit der Geflüchteten zu erhalten. Die beiden haben einen Hausschlüssel bekommen, und es liegt ein kleiner Geldbeutel bereit, für den Fall, dass sie sich etwas kaufen wollen, während ich unterwegs bin. Es gilt: Mein Zuhause ist dein Zuhause. Mein Haushalt ist jetzt unser Haushalt. „Wer nicht mit seiner Schwiegermutter leben kann, kommt auch nicht mit Fremden zurecht“, meint Natalia. Und da ist wohl etwas Wahres dran …

Schwierige Kriegserlebnisse waren bisher selten Thema. Auf meine wenigen Fragen bekam ich aber ehrliche Antworten. Wie sehr die Trennung von Ehemann und Sohn Natalia belastet, wie stark sich Erlebnisse auf der Flucht bei ihr eingegraben haben und ob die Sorge um Freunde, Familie und eine ungewisse Zukunft sie innerlich traurig macht, vermag ich nicht zu sagen. Ich bin niemand, der nachbohrt. Eher warte ich, bis jemand von selbst redet. Kleine Funken der inneren Schwierigkeiten habe ich wahrgenommen, als über unser Wohngebiet laute Flugzeuge oder ein Hubschrauber flogen. Auch laute Geräusche wie Müllautos und Kirchenglocken führten zu angespannten Blicken.

Ich bin Gott dankbar für die Gelassenheit, die ich in vielen Bereichen habe. Das ermöglicht es mir, ein Zusammenleben auf Zeit nicht nur zu „überleben“, sondern gern zu leben.

Tabea Gruhn lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern zwischen 4 und 13 Jahren in Augsburg.

Plötzlich dröhnt der Bombendonner: So erlebte Roman die Flucht mit 157 Waisenkindern

Über Nacht flieht der Arzt Roman Kornijko von Kiew nach Freiburg. Um Waisenkinder zu retten, lässt er sogar seine Familie zurück.

„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, formuliert Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar in einer Ansprache. In eine andere Welt katapultiert hat diese Nacht auch Roman Kornijko. Aber geschlafen hat der 55-jährige Arzt nicht. Er hat sie im Luftschutzkeller verbracht. Zusammen mit den Waisenkindern des Waisenhauses Otchy Dim (auf Deutsch „Vaterhaus“) in Kiew. In dieser Nacht ist passiert, worauf er und sein Team sich die letzten Tage vorbereitet und womit sie im Letzten aber doch nicht wirklich gerechnet hatten: Bomben schlagen in unmittelbarer Nähe ein. Die vermeintliche Sicherheit durch die nahegelegene militärische Flugabwehr macht sie zum Fokus der russischen Bomben in der ersten Kriegsnacht.

Eine mögliche Evakuierung war schon zuvor im Blick. Mit dem Kooperationspartner „S’Einlädele“, einer gemeinnützigen GmbH in Freiburg, die sie schon seit vielen Jahren über Patenschaften und anderen Aktionen unterstützt, und der Stadt Freiburg selbst sind Vorgespräche gelaufen und Einladungspapiere für die Ausreise fertiggemacht worden. Mit ukrainischen Busunternehmen haben sie sich abgestimmt. Doch als es ernst wird, ist keiner der zugesagten Busse verfügbar. Die Koffer sind gepackt. Panzer rollen über die Straßen. Die Angst setzt Kindern und Betreuern zu. Aus den Medien erfahren sie, dass die geplante Fluchtroute das Ziel der nächsten Bombardierung sein könnte. „Ich habe zu den Kindern gesagt, dass uns jetzt nur Gott helfen kann und wir haben alle zusammen gebetet“, erzählt der Leiter im Interview: „Und dann war es, als würden Engel uns auf dem Weg begleiten.“

Schweren Herzens lässt Roman seine Familie zurück

Ein ihm unbekannter Busunternehmer hat von der aussichtslosen Evakuierungssituation gehört. Der ist nicht nur bereit, die Fahrt bis zur polnischen Grenze umsonst zu übernehmen, sondern hat auch noch einen Freund bei der Polizei, der bereit ist, die Eskortierung der Busse zu organisieren. Aber bevor es losgeht, steht Roman noch der schwerste Moment dieser Tage bevor: Er muss sich von seiner Familie verabschieden. Der Platz in den Bussen ist begrenzt. Priorität hat die Rettung der 157 Kinder und ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Und so lässt er schweren Herzens seine Frau und seine vier Töchter zwischen 16 und 36 Jahren zurück. Diese Entscheidung tragen sie alle mit und sie fällt allen schwer. Keiner weiß, ob und wann sie sich wiedersehen.

Als sie endlich loskommen, sind die Straßen verstopft. Viele Menschen sind auf der Flucht gen Westen. Doch die Polizisten haben eine unkonventionelle Lösung für dieses Problem: Sie leiten die Busse auf die – leere – Gegenfahrbahn. So können sie zügig am Stau vorbeifahren. Als sie sich rund 300 Kilometer hinter Kiew in relativer Sicherheit wiegen und am Rastplatz eine Pause einlegen, gehen in unmittelbarer Nähe Bomben nieder. Instinktiv werfen sich die Kinder auf den Boden. Dann haben sie es eilig, wieder in den Bus zu kommen. „In dieser Nacht sind die Kinder alle zehn Jahre älter geworden. Aber ich habe ihnen versprochen, dass sie ihre Kindheit wieder zurückbekommen werden“, erzählt der Arzt.

Ein Segen zum Abschied

Vor und hinter dem Bus fahren die Polizeiwagen jetzt mit Notbeleuchtung. Der Bus selbst fährt ohne Licht, um kein Ziel für eine Bombardierung abzugeben. Auch die Strecke, die bereits hinter ihnen liegt, ist in dieser Nacht das Ziel von Bomben. Drei Stunden später wären sie nicht mehr durchgekommen. Aber so gelangen sie unbeschadet zur polnischen Grenze. „‚Fahrt los, unsere Freunde, und seid gesegnet‘“, haben uns die Polizisten an der Grenze verabschiedet. Das war wirklich ganz besonders. Sie waren für uns wie Engel“, erzählt Roman berührt.

Und es sind nicht die letzten Engel, die ihren Weg begleiten. So übernehmen in Dresden ausgeruhte Busfahrer das Steuer und auch eine unterwegs notwendige Reparatur an einem der Busse ist möglich. Als sie am Sonntagvormittag in Freiburg ankommen, ist es ein bewegendes Fest für Ankommende und Erwartende. In einer beispiellosen Aktion haben in Freiburg Stadtverwaltung, S’Einlädele-Team, evangelische Stadtmission, Malteser Hilfsdienst, Deutsches Rotes Kreuz, die deutsch-ukrainische Gesellschaft und andere zusammengearbeitet, um die Evakuierung zu ermöglichen und die Unterkunft vorzubereiten.

Zwischen Trauma und Fußballmatch

Drei Wochen sind seitdem vergangen. In der Zwischenzeit haben sich manche der Kinder schon gut eingelebt. Romans Augen leuchten, als er vom spontanen deutsch-ukrainischen Fußballmatch erzählt. Da hätten sich einige ihre Kindheit schon wieder zurückerobert. Andere tragen noch schwer an den traumatischen Erlebnissen und haben begonnen zu stottern oder nässen wieder ein. Umso wichtiger ist es Roman, eine verlässliche Tagesstruktur, entspannende Spielangebote und die vertrauten Bezugspersonen für seine Schützlinge zu haben.

Ohne ein großes Netzwerk ehrenamtlicher Helfer, die hier unterstützen, wäre das ebenso wenig möglich wie die Organisation mehrerer Hilfstransporte. So wurden in den letzten drei Wochen in Freiburg viele Pakete gepackt und in die Ukraine gebracht. Auf dem Rückweg war dann Platz, um weitere Menschen aus den Kriegsgebieten zu evakuieren. Im Bus am letzten Sonntag war dann endlich auch Romans Familie dabei und sie konnten sich glücklich und gesund wieder in die Arme schließen. „Sie haben im Vaterhaus noch so lange es ging Menschen aufgenommen und versorgt, die auf der Flucht waren. Darauf bin ich wirklich stolz.“

„Hätten nie gedacht, dass wir selbst einmal flüchten müssen“

Die Welt ist eine andere geworden seit dem 24. Februar. Schreckensbilder und -nachrichten dieses Krieges dominieren die Schlagzeilen und Wahrnehmung. „Wir haben damals 159 Kinder und 90 Erwachsene aus Donezk aufgenommen“, erzählt Roman. „Wir hätten doch niemals gedacht, dass wir selbst einmal flüchten müssten.“

Gleichzeitig gibt es viel Gutes: eine beispiellose Solidarität, Spendenbereitschaft, unbürokratische Hilfen, das Zusammenwirken unterschiedlicher Organisationen. So dauert es grade mal sechs Stunden von Anfrage bis Zusage der Stadt Freiburg, die Unterbringung der Geflüchteten zu übernehmen. Die deutsch-ukrainische Gesellschaft stellt ihre Kompetenz als Dolmetscher zur Verfügung. Und das Schweizer Team von Amnesty International profitierte von den Erfahrungen der Vaterhaus-Evakuierung, als es darum ging, Kindern eines ukrainischen Pestalozzi-Waisenhauses den Fluchtweg zu ermöglichen.

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt mit ihrem Mann in Freiburg.

Unbegleiteter Flüchtling: Als Nayzgi (14) auf seine neue Familie trifft, laufen die Tränen

Maren und Rainer Koch haben 2016 Nayzgi, einem jugendlichen Flüchtling aus Eritrea, ein Zuhause gegeben. Einfach war das nicht …

Es sind zwei Sätze, die Maren und Rainer Koch im Spätsommer und Herbst 2015 immer wieder begegnen. Zwei Sätze aus der Bibel, die sie berühren und bewegen: „Vergesst nicht, Fremden Gastfreundschaft zu erweisen, denn auf diese Weise haben einige Engel beherbergt – ohne es zu merken“, aus Hebräer 13,2 lautet der eine. „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken, ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen“, lautet der andere aus Matthäus 25. Sie sehen die bewegenden Bilder von ankommenden Geflüchteten, sie hören schreckliche Fluchtgeschichten und sie lesen, dass Gastfamilien für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge gesucht werden.

Und das lässt sie nicht mehr los. Sollen sie wirklich? Sie haben schon ein volles Haus – zwei Jungs (16 und 18) und zwei Mädchen (11 und 14). Rainer ist als Referent viel unterwegs. Wird ein Leben mit vier Kindern und einem geflüchteten Jugendlichen nicht zu einer zu großen Herausforderung? „Ich hatte die Sorge: Da kommt jemand in das Innerste unseres Hauses, in unsere Familie, von dem ich nichts weiß. Wie wird das werden?“, erinnert sich Rainer. Doch die Worte aus der Bibel, denen sie immer wieder auf unterschiedliche Weise begegnen, treiben sie um. So ruft Rainer beim Jugendamt an, und sie lassen sich beraten.

Plötzlich muss alles ganz schnell gehen

Weil alles so vage ist, erzählen sie nur ihren Kindern von ihrer Idee. Die sind damit einverstanden. Sie füllen ein Antragsformular als Gastfamilie für einen minderjährigen unbegleiteten Flüchtling aus. Doch lange Zeit passiert nichts. Immer wieder rufen sie beim Jugendamt an, doch aktuell gäbe es keine geflüchteten Jugendlichen, so die Auskunft.

Der Winter kommt, Weihnachten, das neue Jahr 2016 beginnt. Am 7. Januar, einem Donnerstag, ruft eine Mitarbeiterin vom Jugendamt an und teilt ihnen mit, am kommenden Dienstag würden acht Jugendliche in den Landkreis Schaumburg kommen, darunter auch ein Junge namens Nayzgi aus Eritrea, mit einem christlich-orthodoxen Background. Mehr Informationen bekommt die Familie nicht. Sie müssten sich bis morgen Nachmittag entscheiden, ob sie diesen Jungen wirklich aufnehmen wollen. Und so geht auf einmal alles sehr schnell. Die zwei biblischen Sätze aus der Anfangszeit entfalten noch mal ihre ganze Wirkkraft. Das Wochenende nutzt die Familie, um im Haus umzuräumen und das Zimmer von Nayzgi herzurichten. Und sie bekommen Klarheit, Rainer nennt es geistliche Verdichtung: „Es war eine sehr klare, gemeinsame, verdichtete Erfahrung, was jetzt unsere Sendung ist. Und ich habe gespürt, ich finde die diffuse Angst vom Anfang nicht mehr wieder.“

„Uns sind allen die Tränen gelaufen“

Am Dienstag, den 11. Januar 2016, fahren Maren und Rainer in die Kreisstadt, wo sie Nayzgi in Empfang nehmen sollen. Neben ihnen steht eine andere Gastmutter, ansonsten haben sich Mitarbeiter von Jugendwohngruppen eingefunden. Acht Jugendliche, manche mehr Kinder, kommen in den Raum. Für alle ein bewegender Moment. „Ich hab zum ersten Mal verstanden, was es heißt, mutterseelenallein zu sein“, erinnert sich Rainer. „Uns sind allen die Tränen gelaufen, so emotional war dieses erste Aufeinandertreffen. Ich hatte den Eindruck, dass in diesem Moment ganz viel Liebe wie eine Welle durch uns hindurchfloss.“ Übersetzer helfen den Ankommenden und neuen Bezugspersonen, zueinanderzufinden. „Als Nayzgi hörte, dass er zu uns in die Familie kommen sollte, haben wir direkt in seinem Gesicht gesehen, dass er das auf keinen Fall wollte. Er hat später erzählt, dass ihn jemand davor gewarnt hatte, in eine Familie zu gehen. Doch in diesem Moment, ohne dieses Wissen, war es für uns schon irritierend“, denkt Maren zurück.

Nach neunmonatiger Flucht durch Äthiopien, den Sudan, Libyen und über das Mittelmeer versucht der 14-Jährige, in der neuen Welt, der neuen Umgebung anzukommen. Mit Hilfe von Händen, Füßen und Bildkarten sowie ein paar Brocken Englisch bemühen sich alle miteinander, ins Verstehen zu kommen. Doch die schwierige Kommunikation wird zur ersten großen Herausforderung. „Maren hat vieles verstanden, sie hat einen siebten Sinn dafür, eine Sprache des Herzens, während ich gar nichts verstanden habe“, erinnert sich Rainer. Einmal in der Woche kommt ein Dolmetscher, und so wird in dieser einen Stunde das Allerwichtigste geklärt und besprochen.

Kaum Menschen anderer Hautfarbe

Anfangs zieht sich Nayzgi viel in sein Zimmer zurück, macht seine traumatischen Erfahrungen während der Flucht mit sich aus – und vernetzt sich dank Facebook mit Freunden und Verwandten in der ganzen Welt. Ein Stück eritreische Heimat im deutschen Dorf. Die ersten Begegnungen mit den Menschen an ihrem Lebensort sind verhalten. „Uns ist zum ersten Mal bewusst geworden, dass es in unserem Umfeld kaum Menschen anderer Hautfarbe gibt“, erzählt Rainer. „Ich erinnere mich an eine Szene vom Anfang: Ich bin mit Nayzgi zum Fußballplatz gegangen. Als wir ankamen, merkte ich, wie er immer mehr in meinen Windschatten trat und wir vom gesamten Fußballplatz angestarrt wurden. Da hab ich das ‚Anderssein‘ richtig körperlich gespürt.“ Zum Glück reagieren enge Freunde und ihre Familien sehr positiv auf das Menschenkind, das sie als neues Familienmitglied kennenlernen. Der Fremde, der Andere hat ein Gesicht, einen Namen, eine Geschichte – und ein Zuhause.

Zwischen Freude und Frust

Die ersten Monate und Jahre waren sehr herausfordernd, berichten Maren und Rainer. Neben erfüllenden Momenten und vielen wertvollen, kulturellen Lernerfahrungen gibt es natürlich auch Konflikte und Frust. Nayzgi baut immer wieder eine Mauer um sich herum auf, reagiert abweisend und unfreundlich auf seine neue Familie. Kommunikation und Nähe fallen ihm schwer. Rainer erinnert sich: „Es war nicht leicht, herauszufinden, was an seinem Verhalten gerade Pubertätsdynamik war, was sein Charakter, was kulturell bedingt und was traumatisch.“ Sie suchen stetig nach Wegen, wie sie den Jungen gut und wohlwollend als Familie und mit Unterstützung von Freunden, Sozialarbeitern und dem Jugendamt begleiten können. Und so wird aus dem sechsmonatigen Gastaufenthalt recht schnell eine dauerhafte Lösung, ein andauerndes Lernen, „wie wir gemeinsam Zusammenleben und Familie leben“.

Als entscheidend in all den Jahren hat Maren vor allem ihre Herzenshaltung empfunden. Die echte Hingabe zu diesem Menschen, das tiefe Interesse, immer wiederkehrende Barmherzigkeit. Und auch die Erkenntnis, dass Nayzgi einen festen Platz in ihren Herzen hat, verbunden mit dem tiefen Wissen, dass er ihnen „nur“ anvertraut ist, da er Eltern in Eritrea hat, die die Familie auch würdigt. „Wir möchten achtsam auf all die Momente blicken, in denen wir beschenkt werden. Unsere Familie ist seither mit vielen eritreischen Geflüchteten freundschaftlich verbunden, hat an kultureller Sensibilität gewonnen, Fremdheitsgefühle überwunden und spürt auf eine besondere Weise, Teil der weltweiten Menschheitsfamilie zu sein“, resümiert Maren.

Noch einmal sieht Nayzgi seine Eltern

Ende 2017 reift in Maren und Rainer der Gedanke, ob sich ein Treffen von Nayzgi mit seinen Eltern arrangieren lassen könnte. Aktuelle Friedensverhandlungen zwischen Eritrea und Äthiopien würden eine Ausreise der Eltern ins Nachbarland ermöglichen, da eine Rückkehr nach Eritrea für Nayzgi nicht gefahrlos möglich ist. Als der Junge mit 13 Jahren floh, verabschiedete er sich nicht von seinen Eltern. Inzwischen ist sein Vater sehr alt, die Mutter nach wie vor voller Sorge um ihren Ältesten. Wie heilsam wäre da wohl eine reale Begegnung?

Anfang 2018 besuchen Maren, Rainer und Nayzgi dessen Eltern bei einer Cousine in Addis Abeba, Äthiopien. Endlich hat Nayzgi die Möglichkeit, sich von seinen Eltern zu verabschieden. Und seine Eltern lernen endlich die Menschen kennen, die ihrem Sohn ein Zuhause geben. Es ist eine sehr emotionale Begegnung, auch weil die Familie in Eritrea kaum Kontakt zu ihrem Sohn in Deutschland hat. Post gibt es nicht, ebenso besitzt die Familie weder einen Fernseher noch einen Computer, geschweige denn Internet. Alle paar Wochen, wenn das Mobilnetz stabil ist, telefoniert der Junge mit seinen Eltern. Dieses Zusammentreffen ist vielleicht das einzige, das Nayzgi mit seinen Eltern haben wird.

Endlich Bleiberecht

Aus dem verschlossenen Kerlchen ist mittlerweile ein starker junger Mann geworden, der seinen Platz in Deutschland gefunden hat. Nach der Realschule beginnt er eine Ausbildung, macht den Führerschein und bespielt einen eigenen YouTube-Kanal. Er hat engen Kontakt zu eritreischen Freunden und einer eritreisch-orthodoxen Gemeinde. Anfang 2021 wird – nach über fünf Jahren in Deutschland – der Aufenthaltsstatus von Nayzgi in ein dauerhaftes Bleiberecht überführt. Gefeiert hat die Familie das mit einem Lieblingsessen ihres Pflegesohns: Döner.

„Denn so haben einige von euch Engel bei euch aufgenommen.“ Oft war es nicht leicht, in dem Heranwachsenden, dem ruppigen Kerl einen Engel zu sehen, aber für Familie Koch ist Nayzgi ein Geschenk. Ein Geschenk Gottes, was sein Name übersetzt bedeutet.

Hella Thorn lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Iserlohn. Sie arbeitet als Redakteurin, Texterin und Lektorin.

Happy End: So wurde Eremias aus Eritrea ein Teil von Alexanders Familie

Der Geflüchtete Eremias ist mittlerweile ein Dauergast bei Alexander. Jetzt erzählen beide, was ihre Freundschaft ausmacht.

Teil 1: Der familienlose Vater Eremias (35)

Vor zwei Jahren kam ich aus Eritrea nach Deutschland. Meine Frau und unsere zwei Söhne sind noch in Afrika. Ich vermisse sie sehr. Ich hoffe, dass sie bald alle Papiere bekommen, um nachzureisen. Bis dahin versuche ich, Geld zu verdienen, eine Wohnung zu finden und Deutsch zu lernen. Gott sei Dank habe ich Freunde gefunden, die mir helfen. Alexander ist einer von ihnen. Er übt mit mir Deutsch. Gemeinsam füllen wir Anträge aus, er begleitet mich zum Amt oder zu einem Vorstellungsgespräch. Es ist sehr anstrengend für mich, denn alles ist fremd und ungewohnt.

Im Flüchtlingsheim wohne ich mit vier Männern in einem kleinen Zimmer. An der Wand neben meinem Bett hängen die Fotos meiner Frau und unserer beiden Söhne. Mein Jüngster war ein Baby, als ich ihn zuletzt sah. Jetzt kann er laufen und sprechen. Manchmal telefonieren wir und dann höre ich meine Kinder plappern.

Gemeinsam deutsch lernen

Ich war sehr glücklich, als mich Alexander in seine Familie einlud. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder im Schulalter. Wir gingen gemeinsam in den Gottesdienst und aßen zusammen Mittag. Je besser wir uns kennenlernen, umso häufiger bin ich bei ihnen. Ich versuche, keine Mühe zu machen und will die Familienroutine nicht stören. Anfangs lehnten sie meine Hilfe ab, aber es ist kein gutes Gefühl, wenn ich meine Dankbarkeit nicht ausdrücken kann. Nun mähe ich den Rasen oder helfe in der Küche mit. Wenn die Kinder am Küchentisch Hausaufgaben machen, übe ich auch. Ich lese und schreibe in Deutsch. Die Kinder lachen, wenn ich etwas falsch ausspreche. Dann verbessern sie mich. Ich versuche, ihre Bücher zu lesen. Manche sind sehr lustig. Alexanders Frau sagt immer: „Wenn man Humor versteht, versteht man sehr viel.“

„Ich war das erste Mal in einem Kino“

Seit ich Alexanders Familie besuche, bin ich fröhlicher. Ich darf bei ihnen duschen und kann mir dabei Zeit lassen. Ich habe eine gute Internetverbindung, um mit meiner Familie in Afrika zu chatten. Bei schlechtem Wetter verbringe ich die Zeit auf ihrem Sofa. Es ist so gemütlich bei ihnen. Sie geben mir ein Gefühl von Heimat Alexander und seine Familie nehmen mich mit auf Ausflüge, zu Festen oder auf den Spielplatz. Ich freue mich schon darauf, meinen Kindern den See, den Wald oder die Stadt zu zeigen. Mit Alexander war ich das erste Mal in einem Kino. Ich habe nicht alles verstanden, aber die Bilder und die Stimmung waren großartig. Ich aß Popcorn aus einem Eimer.

Alexander schenkte mir sein altes Fahrrad. Wir haben es gemeinsam repariert. Ich bin ziemlich schlecht gefahren. Wir übten auf einem Weg und die Kinder flitzten mit ihren kleinen Rädern neben mir her. Wenn ich die Hoffnung verliere, bald mit meiner Familie vereint zu sein, macht mir Alexander Mut.

Teil 2: Der Familienvater Alexander (46)

Immer wieder kommen Flüchtlinge in unseren Ort. Es werden immer Helfer gesucht, und ich will gern helfen. Eremias lernte ich im Deutschkurs kennen. Er ist ein junger Familienvater. Ich stellte mir vor, wie schrecklich es sein muss, die eigene Familie nicht beschützen und versorgen zu können. Ich unterstütze Eremias, damit er möglichst schnell selbstständig wird. Die vielen Anträge und Behördengänge sind mühsam, aber jedes Dokument bringt uns ein Stück vorwärts. Er hat Aussicht auf eine Arbeitsstelle als Küchenhilfe in einem Hotel. Der Arbeitgeber würde ihm eine Dienstwohnung zur Verfügung stellen. Das wäre ein großer Fortschritt.

Als ich sah, wie Eremias in der Flüchtlingsunterkunft lebt, lud ich ihn zu uns ein. Anfangs behandelten wir ihn wie einen Gast. Er sollte sich einfach nur wohlfühlen. Aber wir merkten, dass er helfen will. Er will kein Gast sein, er möchte eher ein Hausfreund sein. Er ist sehr hilfsbereit. Also packt er im Garten mit an. Beim Rasenmähen erwischt er manchmal die Pflanzen meiner Frau. Jetzt stellt sie bunte Plastikhütchen hin, damit er weiß, was stehen bleiben soll. Wir lernen, die Dinge nicht zu eng zu sehen. Wenn etwas kaputtgeht oder misslingt, dann ist es so. Wir kauften für ihn Wäsche, aber er bestand darauf, sie selbst zu bezahlen. Ich muss lernen, ihn nicht zu betüddeln oder zu bedrängen.

„Immer wieder schreibt er RIP unter die Bilder“

Manchmal mache ich mir Sorgen, dass ihn unser Familienleben erst recht traurig macht. Als meine Schwiegereltern zu Besuch waren, suchte er den Kontakt zu meiner Schwiegermutter. Seine Großfamilie fehlt ihm und es scheint ihn zu trösten, dass er bei uns Anschluss hat.

Meine Söhne spielen gern mit Nerfs, diesen Spielzeugwaffen, die Schaumstoffpfeile abschießen. Durch Eremias verstehen sie, wie schrecklich Krieg und Flucht sind. Jetzt sind sie in einem Alter, in dem Shooter Games interessant werden. Sie sind sensibler geworden und lehnen die Spiele ab, die zu realistisch sind. Eremias zeigt uns die neuesten Fotos seiner Familie, spielt eritreische Musik vor oder wir suchen auf Google Earth sein Heimathaus. Er versucht, uns mit in seine Welt zu nehmen. Aber er erzählt nur wenig von seiner Flucht und was er in den unterschiedlichen Camps erlebt hat. Als katholischer Christ wurde er von Andersgläubigen schikaniert. Seine Art, den Glauben zu leben, hat mich sehr berührt. Auf Facebook teilt er immer wieder Traueranzeigen von Freunden aus seiner Heimat. RIP. Immer wieder schreibt er RIP unter die Bilder. Eremias lebt mit so viel Zerbruch, dass mir meine Probleme ganz klein erscheinen. Wir beten mit ihm. Meine Kinder spüren auch die Traurigkeit in ihm.

„Die Freundschaft macht uns bescheidener“

Eremias lädt uns auch zu sich ein. Dann hocken wir in dem kleinen Zimmer zwischen den anderen Männern. Er hat für uns gekocht und ist stolz, uns zu bewirten. Das Essen sieht seltsam aus. Ich kann die Zutaten nicht erkennen, aber es schmeckt erstaunlich gut. Mein ältester Sohn liebt die scharfen Speisen. Den Kindern gefällt es, dass sie mit den Händen essen dürfen. Sie stippen Fladenbrot in Soßen und dicke Suppen. Wenn mir das Essen zu scharf ist und ich einen roten Kopf bekomme, lachen die Männer.

Es ist schön, mit Eremias etwas zu unternehmen, das er nicht kennt. Wir sind mit ihm in die Berge gefahren, gingen ins Konzert und besuchten ein Schwimmbad mit Sprungturm. Dadurch entdecken auch wir immer etwas Neues. Nichts ist selbstverständlich. Es macht uns bescheidener. Die Freundschaft zu Eremias hat mir gezeigt, wie kostbar Familie ist. Die besten Träume und Wünsche nützen nichts, wenn man nicht in Frieden leben darf.

Protokoll: Susanne Ospelkaus

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Was tun, wenn in der Nachbarschaft ein Asylbewerberheim eröffnet? Ganz einfach: klingeln, Hallo sagen, unglaublich süßen Tee schlürfen. Aber Vorsicht: Am Ende entstehen dabei womöglich Freundschaften! Katrin Faludi und ihre Familie haben das erlebt

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Was für ein Jahr!

Das hatten wir nicht geahnt, als wir vor zwei Jahren begannen, das „Jahr der Dankbarkeit“ zu planen. Der Flüchtlingsstrom hat Deutschland in 2015 voll erreicht. „Flüchtlinge“ ist das Wort des Jahres geworden, nicht „Dankbarkeit“. Ich habe aber im Lauf dieses Herbstes schon oft gedacht: Die beiden Worte und die beiden Bewegungen passen in ganz besonderer Weise zueinander. Denn an vielen Stellen sehen wir: Wer dankbar ist für sein eigenes Leben, der kann auch die Tür öffnen für Menschen, die aus schwierigen Lebensverhältnissen zu uns kommen. An ganz vielen Orten im Land wird gerade deutlich, dass Großzügigkeit und Freundlichkeit stärker sind als Habgier oder gar Hass. Ich freue mich riesig, dass es so ist, und hoffe, dass es so bleibt. Wenn ich jemals stolz darauf war, in diesem Land zu leben, dann jetzt.

Wir haben nach den ersten drei Monaten im „Jahr der Dankbarkeit“ einen schönen Zwischenstand zu verzeichnen: Der Start im September in der Schweiz, im Oktober in Deutschland ist gelungen, unzählige Veranstaltungen sind gelaufen, viele Magazine und Internetanbieter haben über das Thema und über die Initiative berichtet.

Aber auch 2016 ist noch das Jahr der Dankbarkeit. Vieles, was geschieht, kann man auf der Internetseite www.jahr-der-dankbarkeit.net finden — oder vor Ort. Denn viele Gemeinden, die vor Weihnachten keinen Nerv für irgendwelche Aktionen hatten, rücken erst im Frühjahr das Thema „Dankbarkeit“ in den Fokus.

Jetzt aber erst mal ein paar ruhige Tage zur Weihnachtszeit. Ich hoffe, dass euch beim Eintauchen in die Weihnachtsgeschichte ebenso Dankbarkeit wächst wie beim Rückblick auf das vergangene Jahr. Vielen Dank allen, die das „Jahr der Dankbarkeit“ in irgendeiner Form gefördert haben. Gesegnete Weihnachten!

 

Martin Gundlach

Chefredakteur Family und Vorsitzender im Vorstand vom „Jahr der Dankbarkeit“

 

 

 

Martin und die Flüchtlinge

Bald wandern wieder Kinder mit Laternen durch die Straßen, singen Lieder und beißen genussvoll in Martinsbrezeln. Das Sankt-Martins-Fest ist in diesem Jahr aktueller denn je. Seine Botschaft handelt vom Wert des Teilens. Eine wichtige Botschaft angesichts der vielen Flüchtlinge, die bei uns Hilfe und Heimat suchen.

Passend dazu ist im Tyrolia-Verlag ein Bilderbuch erschienen, das die Martins-Geschichte mit der Flüchtlings-Thematik in Verbindung bringt: Der kleine Amir ist gerade mit seinem Vater in einer Flüchtlingsunterkunft angekommen. Es ist kalt. Ein Mann, der in eine rote Decke gehüllt ist, nimmt sein Taschenmesser, schneidet die Decke in zwei Hälften und gibt eine dem Jungen. Eine Betreuerin in der Flüchtlingsunterkunft erzählt ihm daraufhin die Geschichte vom heiligen Martin.

Dieses liebevoll erzählte und zurückhaltend illustrierte Bilderbuch vermittelt Kindern ab vier Jahren (und Erwachsenen), dass die Geschichte vom heiligen Martin auch heute noch relevant ist. Weitere Infos zum Buch gibt es hier: Der rote Mantel

Bettina Wendland

Family-Redakteurin

Was zum Feiern dazugehört!

Morgen, am 3. Oktober, jährt sich die deutsche Einheit zum 25.Mal! Feiern Sie aber bitte nicht nur 25 Jahre Deutsche Einheit, sondern auch 70 Jahre ohne Krieg. Feiern Sie die Errungenschaften der Demokratie, feiern Sie viele Jahrzehnte der Meinungsfreiheit in unserem Land, der Reisefreiheit, der Pressefreiheit, der Glaubensfreiheit. Dinge, die den meisten von uns längst selbstverständlich sind. Für die in anderen Teilen der Welt aber Menschen – manchmal unter Einsatz ihres Lebens – kämpfen.

Ich hoffe, dass sich uns im Feiern unserer Errungenschaften die Frage stellt, wie wir dazu beitragen können, diese Freiheit auch über unsere Grenzen hinaus zu tragen. Ein erster Schritt dazu ist es, die oben genannten Themen im Bewusstsein zu halten.

Ein zweiter Schritt ist es, die Menschen zu unterstützen, die aus Gebieten zu uns kommen, wo an Presse-, Meinungs- und Glaubensfreiheit nicht zu denken ist. Und die Flüchtenden, die uns erreichen, menschenwürdig zu empfangen. Ich wünsche mir praktische Hilfen und nahbare Menschen. Ich wünsche mir Begegnungen ohne Berührungsängste und viel Mut von allen Seiten.

Damit verbindet sich meine dritte Hoffnung: die Hoffnung, dass Kirchen und Gemeinden sich zukünftig weniger um sich selbst drehen. Sondern mehr verstehen, dass sie von Christus geliebt sind und selbst aufgefordert sind zu lieben, insbesondere die Hilflosen und Armen. Das erfordert Mut zu Veränderungen und vielleicht den Verzicht auf lieb gewordene Gewohnheiten.

Martin Gundlach

Chefredakteur von Family

Flüchtlinge willkommen heißen

Bei seiner letzten Vorstandssitzung hat sich der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen e.V. (AEM) intensiv mit der aktuellen Flüchtlingslage in Europa befasst und erklärt dazu:

  1. Die Bibel ist voll von Migrationsgeschichten: Adam, Noah, Abraham, Jakob, Joseph, Mose, David, Hesekiel, Jeremia, Nehemia, Daniel, Jesus, die Apostel und frühe Gemeinde… Trotz allem Versagen von Menschen handelt Gott; er ist souverän und wirkt durch die weltweite Migration, macht Heilsgeschichte und will dem Einzelnen ein guter Hirte sein.
  2. Die Gemeinde Jesu war von Anfang an eine Gemeinschaft, die Menschen aus allen Völkern, sozialen Ständen und Sprachen, Männer und Frauen in gleicher Weise einschloss. Sie bildeten eine große Familie. Das zeichnet die Gemeinde Jesu aus; das gilt es auch heute in unseren Gemeinden zu lehren und zu leben.
  3. In Deutschland haben wir große Erfahrung, Flüchtlinge willkommen zu heißen und Migranten zu integrieren. Nach der Vertreibung von Juden, Christen und Andersdenkenden im Dritten Reich, haben wir nach 1945 13 Mio. Vertriebene aus den Ostgebieten integriert, in den 60-iger Jahren Millionen Gastarbeiter eingeladen, ab den 70-iger Jahren kamen viele Russlanddeutsche hinzu, nach 1989/90 Hundertausende Spätaussiedler aus Osteuropa. Auch jetzt haben wir wieder Gelegenheit, Menschen in großer Not eine Zuflucht und neue Heimat zu bieten. Darum fordern wir alle Gemeinden auf, sich den neuen Nachbarn in ihrer Umgebung zuzuwenden – im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25ff) erklärt Jesus, wer unser Nächster ist, dem wir helfen sollen.
  4. Wir fordern alle Missionswerke auf, Missionare, die aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland zurückkommen, hier im Dienst unter Flüchtlingen einzusetzen. Sie sind unschätzbare Brückenbauer zwischen den Kulturen und helfen Gemeinden, ihre Möglichkeiten zu nutzen und zu entwickeln.
  5. Die meisten Flüchtlinge sind Bürgerkrieg oder Terror entkommen, oft traumatisiert von der Flucht. Hier gilt Jesu Wort: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet… Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,35ff). Viele Flüchtlinge aus Eritrea, Syrien, Irak, Iran und Westafrika sind Christen. Sie brauchen unsere Solidarität und Hilfe. Wir bitten darum, ihnen großzügig Privatquartiere, Gemeindehäuser und Freizeitheime als Unterkunft anzubieten, zumal viele auch in Gemeinschaftsunterkünften in Deutschland weiter um ihres Glaubens willen verfolgt werden.
  6. Viele Flüchtlinge sind als Muslime islamistischem Terror entkommen. Sie (wie auch die 5 Mio. Muslime, die schon länger in unserem Land leben) sind tief schockiert über die menschenverachtenden Grausamkeiten, die im Namen ihrer Religion angerichtet werden. Sie hatten nie die Gelegenheit, frei zu denken und kritisch zu hinterfragen. Jetzt brechen viele Fragen auf: Warum öffnen ihnen die aus ihrer Sicht „ungläubigen“ Europäer die Tür und nehmen sie freundlich auf, während ihre Cousins auf der arabischen Halbinsel sie herzlos abweisen? Das bringt viele ins Fragen.
  7. Die meisten muslimischen Flüchtlinge sind in ihrer Heimat nie einem Christen begegnet; sie hatten nie einen Nachfolger von Jesus zum Freund und haben nie das Evangelium im Alltag erlebt. Das ist unsere Gelegenheit, ihnen in der Liebe Jesu zu begegnen.
  8. Untersuchungen zeigen zudem, dass viele syrische Flüchtlinge hochgebildet sind, hart arbeiten wollen und relativ wenige Kinder Bereits vor Beginn des Bürgerkriegs lag die Geburtenrate mit 2,3% pro Jahr recht niedrig (UN, Worldbank). Die Ängste vor einer „biologischen Übernahme“ widersprechen den Fakten.
  9. Natürlich sind Flüchtlinge ebenso wenig „Heilige“ wie Menschen im Westen. Es gibt darunter selbstlose und egoistische, so wie auch unter uns. Jeder Mensch braucht die Erlösung und das neue Leben in Jesus. In den meisten Herkunftsländern gibt es jedoch große Einschränkungen für christliche Gemeinden und die Verkündigung des Evangeliums. Hier haben wir alle Freiheit, die Liebe Jesu zu bezeugen.
  10. Wir stehen ein für die Allgemeinen Menschenrechte, Religionsfreiheit in allen Ländern sowie den Schutz der Minderheiten vor Manipulation und Gewalt durch Andersdenkende. Wir setzen uns ein für Frieden, menschenwürdige Lebensverhältnisse und nachhaltige Entwicklung. Christen sind weltweit besonders sozial diskriminiert und verfolgt. Wir fordern ihren Schutz durch staatliche Organe – auch in unserem Land.
    Nur so werden die Ursachen für Flucht und Vertreibung abgebaut.
  11. Wir nehmen die Ängste in der Bevölkerung wahr und erkennen die großen finanziellen und sozialen Leistungen, die jetzt für die Versorgung und Integration so vieler Flüchtlinge erforderlich ist. Als eines der reichsten und wirtschaftlich stärksten Länder der Erde können wir diese Herausforderung anpacken.
  12. Viele Muslime wollen dem allmächtigen Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erde, dienen, doch erscheint der Allmächtige ihnen stets fremd, unendlich weit entfernt. Und so suchen sie mit großem Eifer religiöse Pflichten zu erfüllen in der verzweifelten Hoffnung, dass es im Endgericht reicht. Denn sie wissen nichts von der Gerechtigkeit Gottes (Röm 10,3), dass Gott selbst die gefallene Schöpfung mit sich selbst versöhnt hat in Jesus Christus. Diese wunderbare Botschaft dürfen wir mit Menschen in unserer Nachbarschaft teilen. Wir haben heute die einzigartige Gelegenheit, vor Ort zahllose Menschen mit Jesus bekannt zu machen, die noch nie die Gute Nachricht gehört haben.