Beiträge

Gegen den Riesen kämpfen

Wie können wir auf die Herausforderungen dieser Zeit gut reagieren?

Als er die Neuigkeiten hörte, konnte er nicht anders als zu seufzen. Schon wieder schlechte Nachrichten! Die riesigen Herausforderungen, die vor ihm lagen, waren kaum zu übersehen und zu überhören. Alle redeten darüber. Unheilschwanger lag Verunsicherung in der Luft wie ein trotziger Novembernebel.

Während ich mit den aktuellen Herausforderungen konfrontiert werde, fällt mir David ein. Der David aus der Bibel. Ein schlaksiger Hirtenjunge tapst mit einer Lunch-to-go-Box in das Gefechtsfeld eines Krieges. Allgegenwärtig die Riesen-Herausforderung. Das Volk Israel hatte kein anderes Gesprächs-Thema mehr: Sie dachten an den Riesen, seufzten über die Bedrohung, redeten beim Essen über den Riesen, vergaßen zu spielen und zu lachen. Sicher träumten sie auch von der Gefahr.

Was mir schon als Kind beim Hören der Bibelgeschichte besonders ins Herz schoss, ist die Empörung über den Riesen Goliath, der sich über Gott lustig macht. Er lacht das Volk Israel aus für ihren Gott. David ist schockiert darüber. Er beginnt seinen Kampf gegen den Riesen, indem er die Fokussierung auf ihn aufhebt: Er bringt Gott ins Spiel. Ja, Gott.

Und ich frage mich heute, ob es nicht auch bei mir an der Zeit ist, fromm zu sein. Das Wort „fromm“ kann „scheinheilig“ bedeuten, aber das meine ich nicht. Auf keinen Fall möchte ich Plattitüden herumschleudern. „Fromm“ heißt für mich: vom Glauben an Gott geprägt.

Ich möchte wie David an Gott denken. An das, was er in meinem Leben schon Gutes getan hat. Und dass er mich nicht vergessen hat. Ich möchte Gott ins Gespräch bringen und anderen helfen, sich aus der Fokussierung auf die Riesensorge zu lösen. Das kann ganz praktisch werden:

  • Ich lese alte Family-Magazine und verschicke sie anschließend an alte Weggefährten.
  • Ich reduziere den Konsum von Nachrichten und Talkshows.
  • Ich suche mir bewusst Künstler, die ich durch einen Download unterstützen kann.
  • Ich nehme den November wahr als herbststürmische Vorbereitung auf den Advent.
  • Ich höre Hörbücher und entdecke Klassiker neu.
  • Ich sitze am Fenster und sehe nach draußen.

Ich will meinen Herzensfokus singend und betend auf Gott richten. Ja, das klingt fromm. Vielleicht auf den ersten Blick etwas unbelesen und unreflektiert.  Als mir dieser Vorwurf gemacht wurde, habe ich den Sorgenriesen grölen hören und mich machtlos, uninformiert und überfordert gefühlt. Aber meiner Familie helfe ich so erschöpft nicht. Ich will aus der Wolke der Kommentare und Vermutungen bewusst aussteigen und fromm sein. Meine Kraft für das Gestalten der Familienzeiten nutzen, mich in Nähe üben und Gott ins Spiel bringen.

Und wenn der Riese in mir besiegt ist, ist auch wieder Zeit für Talkshows und Dokumentationen.

Stefanie Diekmann

Klaus Mayer: Dieser Mann überlebte die Nazis und brachte die Chagall-Fenster nach Mainz

Monsignore Klaus Mayer (97) ist es zu verdanken, dass Marc Chagall die Fenster der Pfarrkirche St. Stephan in Mainz gestaltete. Dabei wäre es beinahe ganz anders gekommen. Denn Mayer stand 1945 auf der Deportationsliste der Gestapo.

Pfarrkirche St. Stephan, Mainz. Als Stille-Ort thront sie über der pfälzischen Landeshauptstadt. Ich habe mir die Pole-Position in der Kirchenbank gesichert. Während ich mir die kalten Hände warmhauche, gleitet mein Blick fasziniert über die blau-bunten Kirchenfenster. Marc Chagall, der „Meister der Farbe und der biblischen Botschaft“, predigt durch diese zu mehr als 200.000 Besuchern im Jahr.

Ein surrendes Geräusch reißt mich aus der Stille. Neben mir parkt ein Rollator. Ich blicke in große, wache Augen. Zwei warme Hände fassen nach den meinen. Verschmitzt lachend begrüßt mich Monsignore Klaus Mayer: „Schön, dass Sie da sind! Hatten Sie eine gute Fahrt? Punkt zehn fangen wir an.“ Spricht’s und verschwindet mit seinem Gefährt schlurfend hinter einer Säule.

Meditation, die 4.032.

Zwölf Minuten später ist das Mikrofonkabel gelegt, haben sich die Reihen neben und hinter mir gefüllt. Die Gehhilfe steht zusammengefaltet vor den Altarstufen. Der 97-jährige (!) Priester begrüßt die Besucher zur Meditation der Chagall-Bilder. Es ist seine 4.032. Andacht. Der soeben noch gebeugt gehende Mann blüht freistehend auf. Mit der Leidenschaft eines scheinbar Dreißigjährigen nimmt er die Besucher mit in die Bilder voll Bewegung, in das Mysterium, in die Farbsymphonie des Glaubens.

Auf der Deportationsliste

Rückblende. Februar 1945. Eine Deportationsliste macht in Mainz die Runde. Auf ihr steht auch der 22-jährige Klaus Mayer. Er ist Halbjude. Der Vater ist nach Argentinien geflohen. Die Mutter hat ihren Sohn bisher mit vielen Winkelzügen vor der Gestapo in Sicherheit gebracht. Doch jetzt scheint der Abtransport unausweichlich. In der Nacht auf den 27. Februar 1945 klinken englische Bomber ihre todbringende Fracht über Mainz aus. 1.209 Menschen sterben. Um Seuchen zu verhindern, verbietet der im Gesundheitsamt zuständige Arzt Transporte. Dadurch gewinnt Klaus Zeit. Er taucht unter. Am 20. März hält ein Panzer der Alliierten direkt vor seinem Versteck. Er öffnet die Haustür, grüßt die Panzerbesatzung und gibt sich als „Half-Jew“ zu erkennen.

Nach 17 Jahren Wiedersehen mit dem Vater

15 seiner Familienangehörigen wurden ermordet oder nahmen sich das Leben. 1950 kommt es nach 17 Jahren zu einem tränenreichen Wiedersehen mit dem Vater. Klaus studiert inzwischen katholische Theologie. 1965 wird er Priester in der Kirche St. Stephan. Der Notverglasung sieht man die Kriegsschäden noch an. Mayer ist überzeugt: Kirchenfenster haben einen hohen Verkündigungswert. Er bekommt ein Buch des Künstlers Marc Chagall in die Hand. Darin: Fotografien seiner Fenster in der Hadassah-Synagoge in Jerusalem und der Kathedrale von Metz. Der Priester fängt Feuer: Wenn jemand Kirchenfenster mit Strahlkraft erstellen kann, dann dieser französische Jude mit russischen Wurzeln. 1973 schreibt Mayer dem 86-Jährigen einen Brief. Der Chef des Glasateliers, Charles Marq, antwortet ihm wenige Wochen später: „Chagall habe den Brief bekommen. Er bedanke sich dafür, das sei eine sehr interessante, aber auch sehr verantwortliche Aufgabe, die viel Zeit und Überlegung bräuchte. Hätten Sie es eilig, sollten Sie sich ruhig an einen anderen Künstler wenden.“

Keine Begegnung gewünscht

Mayer ist von der Nicht-Absage beseelt. Hartnäckig bleibt er dran. Er muss Überzeugungsarbeit leisten, denn der Jude Chagall hatte sich nach den Gräueln der Nazidiktatur vorgenommen, nie wieder etwas für Deutschland zu gestalten. Der Ateliermeister lässt sich nach Mainz einladen. Ein Jahr später bittet Chagalls Frau Vava um einen kleinen Film, da der Künstler aufgrund seines hohen Alters nicht mehr reisen könne. Den fertigen Bildstreifen will Klaus Mayer persönlich nach Saint-Paul-de-Vence bringen. Doch per Post erhält er eine Absage: Der Film sei für Chagall sehr interessant, aber für eine Begegnung sei es noch zu früh.

Chagall: Liebenswürdig, bescheiden, unverbindlich

Pfarrer Klaus Mayer ist unbeirrt. „Da dachte ich mir, das mach ich jetzt nicht mit. Das ZDF hatte viel Geld in den Film investiert, ich wollte ihn nicht der Post anvertrauen. So teilte ich ihm mit, ich käme allein, er bräuchte mich nicht zu empfangen, wenn er das nicht für gut hielte.“ An der Haustür empfängt ihn Vava Chagall. Sie führt ihn in den Salon. Schlurfend tritt von hinten der weltberühmte Künstler heran. Er fasst den Deutschen an der Hand und drückt ihn in einen großen Ohrensessel. Er selbst setzt sich auf ein kleines Holzbänkchen und hört zu. Marc Chagall ist liebenswürdig, sehr interessiert, äußerst bescheiden, aber auch unverbindlich. Mayer bekommt kein Ja, aber es entwickelt sich eine Freundschaft zum Ehepaar Chagall.

Zu Besuch bei Helmut Kohl

Daheim erklären ihn Freunde, Kollegen und Politiker mit seinem Ansinnen für verrückt. Doch dies stört ihn nicht. Stattdessen kümmert er sich schon mal um die Frage der Finanzierung. Er spricht bei Ministerpräsident Helmut Kohl vor, dem späteren Bundeskanzler. Als überzeugter Europäer ist der von dieser Idee angetan, gibt aber auch zu verstehen, dass er nicht an ein Gelingen glaube. Seinen Ministerialbeamten weist er jedoch an: Wenn Chagall diesen Auftrag übernehmen sollte, wird das Land Rheinland-Pfalz die Kosten für das erste Fenster übernehmen.

Am 30. Dezember 1976 landet ein Brief im Pfarrbüro St. Stephan. Darin teilt Vava Chagall mit, dass ihr 90-jähriger Mann an einem Fenster für die Kirche in Mainz arbeite. Bis zu seinem Tod im März 1985 folgen acht weitere Fenster zur biblischen Heilsgeschichte. Charles Marq vollendet das mit fast 180 Quadratmetern größte Glaskunstwerk der Welt mit weiteren neun Fenstern.

Der lebende Gottesbeweis

Marc Chagall wird zum Mainzer Bilderprophet, ohne die Stadt jemals betreten zu haben. Priester Klaus Mayer übersetzt seine „singenden Farben“. 42 Jahre nach seiner ersten Meditation sitzt er als lebender Gottesbeweis auf seinem Rollator auf den Altarstufen von St. Stephan. Er versteht es, den gebannten Besuchern die 18 Blautöne (von denen Chagall neun erst erfand), die Engel, die Heiligen und den Gekreuzigten, meist mit friedvollen und sanften Gesichtszügen dargestellt, zu erklären und in deren Leben zu übersetzen. Er nimmt die Suchenden und Zweifelnden mit hinein in die Bibel, das Geheimnis Gottes, den Anfang und die Vollendung der Weltgeschichte, die Erde und den Himmel. Der Priester macht Lust auf die Herrlichkeit Gottes. Nach einer Andacht kommt ein Mann auf ihn zu: Herr Pfarrer, gestern noch wollte ich mir das Leben nehmen, hier habe ich wieder Lebensmut geschöpft. Eine Frau schreibt ihm: Hier in St. Stephan im Blick auf die Fenster habe ich meinen verlorenen Glauben wiedergefunden.

Genau die richtige Botschaft

Die Andachtsbesucher sind von der Wanderung in den Ost- und Westchor wieder zurück im Mittelschiff der Kirche. Die Beine des 97-Jährigen scheinen müde, aber aus seinem Mund, seinen Augen sprudelt Lebendigkeit, Lebensfreude und Hoffnung. Mit einem Gebet beendet er seine 90-minütige Andacht. Spontaner Applaus. Menschen stehen auf. Eine Frau schnäuzt ins Taschentuch. Ein Mann im Rollstuhl lässt sich ein Segenswort zusprechen. Jemand drückt berührt seine Hand und sagt: Danke, dies war genau die richtige Botschaft für mich. Ich erlebe hautnah die Mission des Priesters: „Die Bilder machen Menschen froh!“

Papst Franziskus lächelt

Zehn Minuten später sitze ich dem Vater der Chagall-Bilder in der kahlen Sakristei gegenüber. Gedämpft dringt der Lärm der Stadt herein. Der Putz bröckelt von der Wand. Papst Franziskus lächelt aus einem Bilderrahmen. Er lacht in meine letzte Frage und die Antwort von Monsignore Klaus Mayer hinein. Wie lange wollen Sie noch die Chagall-Meditationen durchführen? „Solange ich noch krabbeln kann, muss ich dies tun. Ich bin dazu berufen. Viele Menschen haben doch heute keinen Boden mehr unter den Füßen. Ich will ihnen den Glauben und die Gute Nachricht verkündigen. Und dann stehe ich hier als alter Mann für Völkerverständigung. Ein Jude, der nie mehr etwas in und für Deutschland gestalten wollte, ließ sich durch meine Beharrlichkeit gewinnen, die Fenster einer christlichen Kirche zu gestalten. Das ist doch die Botschaft, die unsere Welt braucht, die wir zu verkündigen haben, damit wir nicht wieder mit Nationalismus geplagt und von ihm heimgesucht werden.“

Plötzlich gelähmt: Wenn der Sohn im eigenen Körper gefangen ist

Am 7. Juni 2015 verändert sich das Leben von Jutta Schmidt schlagartig. Ihr Sohn Max erleidet eine Hirnblutung. Die Ärzte geben ihn auf. Doch dann geschieht das Wunder.

Jutta Schmidt sitzt am Tisch eines Cafés. Ihre Ellenbogen hat sie auf den Tisch gestützt, ihre Hände umfassen ein Wasserglas. Sie schaut nach vorn. Ihre grünen Augen wirken müde, aber fokussiert. Cafébesuche wie dieser haben in ihrem durchgetakteten Alltag normalerweise keinen Platz. Gerade hat sie ihren Sohn Max zum Physiotherapeuten gebracht. In einer Stunde muss sie ihn abholen und zu den nächsten Therapiestunden fahren, Ergotherapie und Logopädie. Zwischendrin muss sie ihre anderen beiden Kinder versorgen, die von der Schule kommen. Für sie ein ganz normaler Tag – sofern man von normal sprechen kann. „Das Familienleben ist nicht mehr das, was es vorher war. In keinem Punkt.“, sagt sie, und ihr Blick verliert sich.

Vier Jahre sind inzwischen vergangen, seit die alleinerziehende Mutter ihre drei Kinder ins Auto gepackt hat und mit ihnen nach Holland gefahren ist. Eis essen, im Meer baden, am Strand liegen – es ist ein ganz normaler Familienurlaub, bis Max, ihr ältester Sohn, Kopfschmerzen bekommt, die immer heftiger werden. Als sein Zustand sich verschlechtert, fährt sie ihn ins nächstgelegene Krankenhaus. Die zwei jüngeren Geschwister Ben und Nora bleiben bei Freunden. „Ich wusste, dass da etwas nicht stimmt.“ Nach einem CT ist klar: Es gibt eine Blutung in Max‘ Gehirn. Sofort wird er ins Klinikum nach Brügge verlegt. Dort können die Ärzte wenig für ihn tun. Eine OP ist zu riskant, die Ursache für die Blutung unklar. Als er anfängt zu krampfen, wird er in ein künstliches Koma gelegt. Jutta Schmidt sitzt hilflos an seinem Bett. Alles, was sie hört, sind das Piepen der Überwachungsmonitore und die Geräusche der Beatmungsmaschine, die ihren Sohn am Leben erhält.

„In dem Moment waren der Schmerz und die Angst, mein Kind zu verlieren, so groß. Er war doch gerade noch gesund und plötzlich lag er da und ich konnte einfach nichts machen“, sagt sie. Immer noch liegt Fassungslosigkeit in ihrer Stimme. Das Einzige, was Jutta Schmidt damals tun konnte, war, zu hoffen, dass die Blutung aufhört und keine weitere Nachblutung auftritt. Die Ärzte machen ihr jedoch wenig Hoffnung und legen ihr und ihrer Familie nahe, sich von Max zu verabschieden. Nacheinander treten sie an sein Bett, um Lebewohl zu sagen. „Das ist das Schlimmste, was man sich als Mutter vorstellen kann.“

WIE EINGESCHLOSSEN

Wie ein Wunder überlebt Max und erwacht wenige Wochen später aus dem Koma, ist aber fortan in seinem Körper gefangen. Als „Locked-in-Syndrom“ bezeichnen die Mediziner seinen Zustand. Max ist zwar bei vollem Bewusstsein, jedoch körperlich vollständig gelähmt und unfähig, sich durch Sprache oder Bewegungen verständlich zu machen – wie „eingeschlossen“.

„Das war schlimm. Max war ein richtiges Draußen-Kind, schon immer. Er hat nie Computer gespielt und wenig Fernsehen geguckt. Klettern, springen, laufen, das war seins.“ Nun muss Max gehoben, gewaschen, gefüttert und gefahren werden. Ihn so hilflos zu sehen, macht sie unendlich traurig.

Max am Strand in Holland, kurz bevor er die Hirnblutung erleidet. Foto: Privat

Max muss in die Reha. „Für mich war klar, dass ich ihn nicht allein da hinlasse. Er ist doch mein geliebtes Kind!“ Jutta Schmidt muss Anträge stellen, Formulare ausfüllen, Ben und Nora umschulen, eine Unterkunft suchen. „Ich habe so oft gedacht: Ich schaffe das nicht. Ich kam mir so vor, als stünde ich in einem Nebelschleier.“ In diesem Nebel tauchen immer wieder Menschen auf, die ihr helfen: Ihr Bruder, der sofort nach der Hirnblutung nach Brügge reist, um das Fachenglisch der Ärzte zu übersetzen, ihr Ex-Mann und Max‘ Vater, der ihr zur Seite steht, sie am Bett ablöst und mit Max im Rollstuhl spazieren fährt, einfühlsame Pfleger und Therapeuten, kompetente Sozialarbeiter, Menschen, die sich um ihre anderen Kinder kümmern. Viele Freunde mobilisieren sich in den kommenden Monaten und setzen sich für die Familie ein. „Während Max‘ Reha in Gailingen haben zwei Freundinnen von mir ihren Urlaub storniert und sind stattdessen zu uns nach Baden-Württemberg gekommen. Sie haben mit meinen beiden jüngeren Kindern Ausflüge gemacht, sodass ich mich voll und ganz auf Max konzentrieren konnte“, erinnert sie sich. Auch heute sei sie dafür noch unendlich dankbar.

Entgegen allen ärztlichen Erwartungen und dank intensiver Therapien kämpft sich Max allmählich ins Leben zurück. Heute ist er 18 Jahre alt. Er ist wieder zu Hause, kann sich im Elektrorollstuhl fortbewegen und dank intensiver Logotherapien auch wieder einigermaßen verständigen. Dennoch braucht er rund um die Uhr Betreuung und Pflege – er hat Pflegegrad vier. „Er wird von mir geduscht, angezogen, an den Frühstückstisch gefahren. Ich reiche ihm das Essen und Trinken, mache ihn für die Schule fertig. Ich fahre ihn zu 14 Therapien in der Woche, hole ihn wieder ab, schlage seine Schulbücher auf, schreibe seine Vokabeln groß, sodass er sie sehen kann. Gehe mit ihm zur Toilette. Nachts muss seine Urinflasche geleert werden.“ Jutta Schmidt zählt all die Aufgaben, die jetzt zu ihrem Alltag als Mutter gehören, an ihren Fingern ab. „Seit dem Tag, an dem die Blutung kam, funktioniere und renne ich nur noch und komme mir manchmal vor wie in einem stürmischen Meer: Die Wellen schlagen über mir zusammen.“ Sie nimmt einen Schluck Wasser. Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt da nicht.

GESCHWISTERKINDER MÜSSEN ZURÜCKSTECKEN

„Es dreht sich zu 98 Prozent um Max. Und damit meine ich gar nicht unbedingt die Aufmerksamkeit, sondern die Zeit, die ich investiere“, erklärt sie. „Nora und Ben mussten total schnell selbstständig werden und sind beide ihrem Alter weit voraus. Für andere klingt das vielleicht positiv, aber mich macht das oft traurig.“ Sie schluckt. „Mein Herz wird schwer, wenn ich mich frage, wo die Jahre hin sind. Ich war nie mit ihnen im Schwimmbad oder im Kino, konnte nie das mit ihnen unternehmen, was Kinder in ihrem Alter mal mit ihrer Mutter unternehmen möchten.“ Tränen schießen ihr in die Augen. Wenn sie ihre Tochter, die inzwischen 15 Jahre alt ist, fragt, wie sie die letzten Jahre geschafft haben, antworte sie immer: „Mama, wir mussten ja.“ Erst vor kurzem hat sie in der Schule ihre mündliche Realschulprüfung über das Thema „Schattenkinder“ abgelegt – Kinder, die weniger Aufmerksamkeit bekommen, als ihnen zusteht, weil ein Geschwisterkind krank oder behindert ist. Das Beschaffen und Lesen der Literatur habe Mutter und Tochter dabei geholfen, das Geschehene Revue passieren zu lassen und miteinander über die Familiensituation ins Gespräch zu kommen.

Und Max? „Max sagt immer: Glaubt an mich, schreibt mich nicht als behindert ab. Ich möchte laufen lernen, ich möchte gesund werden.“ Daran glaube sie und darum bete sie auch immer wieder. Trotzdem gebe es auch immer wieder ganz schwere Momente. Seine alten Schulfreunde machen jetzt ihren Führerschein, haben Freundinnen, machen ein Auslandsjahr oder Abitur. Das kriegt er natürlich mit und es macht ihn traurig, dass er nicht mehr dazu gehört. Er selbst wird jeden Morgen von einem Krankentransporter abgeholt, weil er nicht mal mehr einen Fuß vor die Tür setzen kann. Schon häufig sei er am Morgen deshalb in Tränen ausgebrochen. Es gebe aber auch viele Momente der Hoffnung und Freude. „Max war immer schon witzig, ironisch und schlagfertig. Er hatte immer schon diese Power, ihm war nie eine Hürde zu groß. Da hat er sich nicht verändert.“ Selbst die Ärzte und Therapeuten seien erstaunt gewesen, als sie gesehen haben, wie er in der Reha seine Therapien durchgezogen hat. „Er hat immer noch den Witz und Humor von damals. Das sind Dinge, die ich sehr an ihm bewundere. ‚Ich schaff das‘, sagt er immer. Da ziehe ich echt den Hut, er hat so eine Energie.“

WÜTEND AUF GOTT

Gerade hat er seinen Realschulabschluss absolviert und ganz nebenbei ein Buch über seine Erfahrung mit dem Locked-in-Syndrom geschrieben, das nun unter dem Titel „Tsunami im Kopf“ erschienen ist und innerhalb kürzester Zeit bereits viele Leser berührt hat. 18 Kapitel hat er dafür mühsam oftmals bis tief in die Nacht in sein Handy eingetippt, weil neben Unterricht, Therapien und Hausaufgaben tagsüber keine Zeit dafür war. Er hat jeden Buchstaben großgezogen, damit er sie trotz Sehschwäche besser sehen konnte. „Ich habe davon keinen einzigen Satz gelesen, bis es fertig war und er mich bat, nach Fehlern zu suchen“, staunt Jutta Schmidt. Es ist ein bewegender Bericht über seinen Kampf zurück ins Leben. Immer wieder berichtet er darin auch von seiner Mutter: „Ich habe wahre Liebe vor allem durch meine Mutter erfahren, die nicht eine Sekunde von meinem Krankenbett wich (…). Irgendwie bin ich überzeugt davon, dass ihre Liebe und Gebete in diesem Zimmer spürbar gegenwärtig waren und die Atmosphäre verändert haben“, schreibt er. Dabei habe sie sich selbst oft überhaupt nicht stark gefühlt, erklärt Jutta Schmidt. „Ich habe Gott so oft angefleht und um Hilfe gerufen. Oder ich war einfach nur wütend auf ihn und hab ihm geklagt: Du hast gesagt, du lädst nur so viel auf, wie wir ertragen können, aber eigentlich kann ich nicht mehr.“

„ALS WÜRDE JESUS NEBEN MIR SITZEN“

Trotzdem ist sie sich sicher: „Ohne meinen Glauben an Jesus hätte ich das nicht überstanden. Er ist mein Anker, mein Rettungsschirm, mein Halt, mein Trost, mein Alles.“ Oft habe sie in der Zeit die Bibel aufgeschlagen und genau das gelesen, was sie brauchte. „In der akuten Phase brauchte ich gar nicht unbedingt Freunde zum Reden“, erzählt sie. „ Es war mir alles viel zu anstrengend. Ich hätte mich da nicht so mitteilen können. Ich wollte einfach nur bei Max sein. Mein Gespräch war mit Jesus. Er kennt mich, er kennt meine Situation. Ich muss nichts erklären, ich muss nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Er weiß um uns. Es war für mich, als würde er neben mir sitzen, und das reichte mir. Auch heute noch.“

Ihre Angst ist immer noch groß. Die Angst, dass eine Nachblutung kommt, die Angst, wie sie es als Alleinerziehende in der Zukunft schaffen soll. Bevor Max die Hirnblutung bekam, war sie bereits fünf Jahre mit den Kindern allein, „der Mann im Haus“, wie sie sagt. Doch die neue Situation stellt sie vor ganz neue Herausforderungen. „Angst gehört zu meinem Leben dazu. Es gibt Christen, die sagen: Wenn man an Gott glaubt, dann kennt man keine Angst. Aber sie vergessen, dass Jesus auch Angst hatte. Wir sind nicht frei von Angst und Leid, aber Jesus geht mit uns hindurch. Und das macht mich wiederum stark“, betont sie. Auf dem Transporter, der Max jeden Morgen zur Schule abholt, steht auf dem Nummernschild neben dem Ortskürzel „MH“. „Wenn Max nach so einem traurigen Moment seinen Mut wiederfindet und mit seinem Elektrorollstuhl in dieses Auto fährt, sehe ich ihm immer hinterher. Und da steht MH für mich jedes Mal für ‚Mein Heiland‘. Dann gehe ich erst mal rein, heule eine Runde, lese in der Bibel, bete und lege Gott meinen Schmerz hin. Und dann geht‘s weiter.“

Ruth Korte ist freie Schriftstellerin und lebt mit ihrer kleinen Familie in Gießen.

Jubiläum: „Feiert Jesus! 20“

Die erfolgreichste deutsche Lobpreisreihe „Feiert Jesus!“ veröffentlicht ihre 20. Ausgabe. Family gratuliert und freut sich mit.

„Gott zu loben, darf sich nie auf Gewohnheit, Tradition, Kulturpflege beschränken“, sagt Musikproduzent und Songwriter Albert Frey über die CD. Damit erklärt sich, warum in den beinahe 20 Jahren der Reihe das Konzept immer wieder überarbeitet wurde und so viele „Ableger“ entstanden sind. Auch die 20. „Feiert Jesus!“-CD entspricht nicht ganz dem üblichen Reihen-Modell. Für sie wurde auf den Chor verzichtet und stattdessen mit sechs Solisten aufgenommen: Andreas Volz, Anja S. Lehmann, Pamela Natterer, Dennis Maaßen, Veronika Lohmer und Sebastian Cuthbert.

Inhaltlich geht es in den zwölf Titeln der CD neben klassischen Lobpreisthemen und die persönliche Beziehung zu Gott auch um das Thema Leid, das nach Albert Freys Ansicht im Lobpreis zu oft ausgeklammert wird.

Die Lieder der neuen CD werden am 10. und 11. Oktober 2014 in Heilbronn und Siegen im Rahmen der „Feiert Jesus!“-Festivals live vorgestellt. Weitere Informationen unter: www.feiertjesus.de

Glauben und Zweifel ernst nehmen

In der letzten Family berichtete Tobias Faix von einer Studie, die untersucht hat, warum junge Erwachsene ihren Glauben verlieren. In dieser Ausgabe beschreibt er, welche Konsequenzen Familien aus den Erkenntnissen der Studie ziehen können.

Weiterlesen

Meine Eltern dürfen das nicht wissen

Warum junge Erwachsene ihren Glauben verlieren und wie Familien damit umgehen können. Von Tobias Faix

Weiterlesen