Ein leeres Nest – Und nun?
Ja, es tut weh, wenn die Kinder ihr Zuhause verlassen und in die Welt hinausziehen. Wie Eltern gut mit diesem Schmerz umgehen können, beschreibt Sylvia Sobel.
In dem Augenblick, in dem wir uns entscheiden, ein Kind zu bekommen oder es in unserem Leben willkommen zu heißen, wählen wir häufig unbewusst ein Credo oder Motto: zum Beispiel das Sprichwort „Aller Anfang ist schwer“ oder das Hesse-Zitat: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Wir haben die Wahl, welche Weisheit wir uns zu eigen machen wollen. Welche Erkenntnis soll unser Credo, unser Wegweiser werden? Beim ersten Kind wissen wenige von uns wirklich, was auf sie zukommt. Wir haben Hoffnungen, Wünsche, Vorstellungen und vor allem: Träume! Diese Träume geben uns viel Kraft.
Trauer zulassen
Der Auszug von Kindern aus der elterlichen Wohnung ist für viele Eltern ein kritischer Moment im Leben, der – obwohl erwartet – häufig plötzlich eintritt. Robert Bor von der Uni London hat das „Leere-Nest-Syndrom“ folgendermaßen beschrieben: „Abgesehen von Geburt und Tod ist der Auszug eines Kindes die weitreichendste Veränderung, die eine Familie treffen kann. Dies sollte als besonders stressbeladene Phase anerkannt werden.“ Bor stellt ferner fest: „Was nötig ist, ist eine größere Offenheit bezüglich des ‚Leeren-Nest-Syndroms’, eine breitere Anerkennung seiner Existenz und der Schmerzen und Einsamkeit, die es verursachen kann.“ Der Auszug der Kinder bedeutet das Ende eines Lebensabschnitts. Ein wichtiger Lebensinhalt fällt weg, und Eltern erleben das Gefühl, verlassen zu werden.
Als unsere beiden Söhne drei Jahre nach ihrer großen Schwester das Nest verlassen haben, geschah dies in einem Abstand von vier Wochen, also fast gleichzeitig. Während dieser Zeit waren wir Eltern so sehr mit den Vorbereitungen und der Durchführung der beiden Umzüge beschäftigt, dass wir Gefühle der Trauer oder gar des Verlustes zunächst gar nicht wahrnahmen. Wir packten und ordneten, sortierten und diskutierten zwei Monate ohne Unterlass. Diese Aktivitäten hielten uns auf Trab und lenkten uns ab.
An dem Tag, als der jüngste Sohn auszog, um das Leben zu ergründen, empfand ich als Mutter eine tiefe Trauer und Leere, das Gefühl eines tiefgreifenden Verlustes. Diese Empfindung hielt eine Zeitlang an und kehrt selbst noch Jahre später ab und zu wieder zurück. Dann allerdings nur flüchtig und weniger intensiv. Meine Erfahrung ist aber, dass es auf längere Sicht hilfreich, ja sogar notwendig ist, Gefühle der Trauer und des Verlustes zuzulassen und zu ertragen! Anderenfalls flüchten Eltern sich in Verdrängungsmechanismen, die weder uns noch unserer Umgebung helfen, mit der Situation umzugehen und sie in den Griff zu bekommen.
Gezittert und gefeiert
Es ist doch eigentlich logisch: Eine lange und wichtige Phase unseres Lebens haben wir damit verbracht, unseren Kindern beim Aufwachsen und Erwachsenwerden zur Seite zu stehen und sie zu begleiten, wenn nötig sogar mit Rat und Tat. Wir haben uns bemüht, ihnen den richtigen Weg zu weisen, und sie auf ihrem steinigen Weg durch den Schuldschungel begleitet. Wie glücklich und befreit waren wir, als sie endlich – trotz Schule – einen qualifizierten Abschluss errungen haben. Ich sage ganz bewusst: Meine Söhne haben das Abitur abgelegt – trotz Schule! Unvergessen unzählige Elternabende und Anrufe der Lehrer, wenn wieder einmal Mitteilungsheft, Hausaufgaben, Turnbeutel etc. vergessen wurden. Bis kurz vor der Abiturprüfung wurde häufig gemeinsam diskutiert, gelernt, gezittert – und dann endlich gefeiert!
Aber spätestens nach dem Abitur oder einem anderweitigen Schul- oder Ausbildungsabschluss werden die Flügel ausgespannt, und der Radius unserer Sprösslinge erweitert sich schlagartig. Unsere Söhne zog es in die „weite Welt“ hinaus: nach Indien und nach Afrika, wo beide in sozialen Projekten tätig waren. Dies war im Grunde eine gute Hinführung auf das, was danach kam: der endgültige Auszug aus dem Elternhaus. Zunächst aber verblieben noch zahlreiche ihrer Besitztümer zu Hause, es handelte sich um einen Abschied auf Zeit.
Unser jüngster Sohn wurde selbst in Westafrika von mir, seiner Mutter, „heimgesucht“, natürlich nach Absprache und mit seinem vollsten Einverständnis. Dieser Besuch hat unserer Beziehung nicht geschadet, im Gegenteil. Ich durfte ihn dort als fürsorglichen und kompetenten Reiseführer und als voll integriert in seinen Aufgabenbereich erleben! Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Eltern-Kind-Beziehung auch nach dem Auszug andauern kann, aber auch gepflegt werden sollte, in dem Bewusstsein, dass wir nun ein erwachsenes „Kind“ vor uns haben! Dieses „Kind“ will respektiert, aber keineswegs reglementiert oder eingeengt werden.
Geborgenheit vermitteln
Ich habe nach dem Auszug des dritten Kindes begonnen, regelmäßig und intensiv für alle drei Kinder zu beten. Ich vertraue sie dem Schutz und der liebenden Allmacht Gottes an, versäume aber dennoch nicht, ab und an einige „lebensnotwendige“ Hinweise mit auf den Weg zu geben: Fahr vorsichtig, benutze Sonnenschutz, genieße dein Bier oder Wein in Maßen … Vor besonderen Anlässen beten wir mit ihnen und für sie. Wir segnen sie mit dem Zeichen des Kreuzes, wenn sie heimkommen. Dies ist unsere Art und Weise, ihnen auch in der Ferne Geborgenheit zu vermitteln.
Experten sagen, dass ein geordneter Abschied auch bedeutet, dass wir unsere Sache gut gemacht haben. Wir bereiten die Kinder schließlich kontinuierlich auf den Auszug aus dem elterlichen Nest vor, versuchen, sie zur Selbstständigkeit zu erziehen und aus ihnen gerade und selbstbewusste Menschen zu machen. Am Ende dieser Bemühungen schließlich verlassen sie dann Haus und Eltern, um ihre eigenen Wege zu suchen und zu beschreiten. Viele Eltern beklagen, dass gerade in dem Moment, wo die mitunter stressigen Phasen der Pubertät abnehmen und wir unseren Kindern auf Augenhöhe begegnen könnten, sie ihre eigenen Wege einschlagen.
Hier stellt sich die Frage: Haben wir unsere Kinder mit viel Liebe und Fürsorge großgezogen, damit sie unser Leben auf Dauer bereichern und erleichtern? Die Antwort muss hier leider „Nein“ lauten! Das Fortgehen der Kinder gehört zum normalen Kreislauf des Lebens.
Schuldgefühle loslassen
„Das größte Geschenk, das wir unseren Kindern mitgeben können, ist Unabhängigkeit, emotionale Stärke und Freiheit von Schuldgefühlen“, schreibt Shelley Bovey in ihrem Buch „Und plötzlich sind sie flügge“. Diese Freiheit von Schuldgefühlen gilt ebenso für Mütter und Väter. Viele Eltern berichten von Schuldgefühlen, die sie vor allem in der Rückschau quälen. Vor allem Mütter leiden darunter, aber die Tatsache, dass sie ihr Bestes gegeben haben, ist eigentlich schon beachtlich und oftmals auch genug. Shelley Bovey schreibt: „Es ist wichtig, dass wir nicht an einer Stelle festhaken, wo wir die Vergangenheit nicht loslassen können, weil wir überzeugt sind, wir hätten es damals besser machen können.“
Lassen Sie Ihre Gefühle zu, erzwingen Sie nichts, trauern Sie und reden Sie! Auch die Resilienzforschung kann helfen: Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit der menschlichen Fähigkeit, auch in schwierigen Lebensphasen Kraft und Zuversicht zu entwickeln. Resiliente Menschen können Krisensituationen besser durchstehen und gestärkt daraus hervorgehen. Die Resilienzforschung hat herausgefunden, was helfen kann:
- Optimismus bzw. eine positive Einstellung Problemen gegenüber
- Akzeptanz: gegebene Lebensumstände zunächst annehmen
- Lösungsorientierung: nicht bei den Hindernissen stehenbleiben
- Ablegen der Opferrolle
- Übernehmen von Verantwortung: Dinge in die Hand nehmen – Probleme anpacken
- Aufbau von Netzwerken, Gleichgesinnte suchen
- Zukunftsplanung: vorwärts denken
Diese Einstellungen zum Leben können Menschen einüben. Die Erkenntnis, dass auch aus einer Krise etwas Gutes entstehen kann, ist dabei grundlegend für die Entwicklung einer resilienten Lebenshaltung. Jeder von uns kennt diese Situationen oder Phasen im Leben, wo etwas zerbricht und wir beinahe selbst daran scheitern. Reinhard Mey, selbst Vater dreier erwachsener Kinder, singt an einer Stelle: „Und ich mach mit Liebe alles falsch, so gut ich kann.“ Und für die Zeit nach dem Fortgehen der Kinder sei noch ein Ausspruch Karl Lagerfelds zitiert: „Zukunft ist die Zeit, die übrig bleibt.“ Mögen wir sie bewusst und intensiv nutzen, für uns und ab und an auch für unsere erwachsenen Kinder.
Sylvia Sobel lebt in Berlin und arbeitet als Lehrerin, Autorin und Schulmediatorin. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und verheiratet mit Alfred Sobel, mit dem sie das Buch „Stärke fürs Leben entwickeln: So meistern Sie den Alltag mit einem behinderten Kind“ (Neufeld Verlag) geschrieben hat.