„Gaga“ im Kopf

Eine Frage ist Elisabeth Vollmer besonders wichtig geworden.

„Sie müssen nicht erschrecken, wenn Ihre Tochter beim Aufwachen ziemlich desorientiert ist. Der Medikamentencocktail, den sie gekriegt hat, lässt die Kinder beim Aufwachen manchmal ziemlich gaga wirken. Aber das geht vorbei.“ Glücklicherweise hatte mich der Anästhesist mit diesen Worten auf Tabeas Zustand vorbereitet. Aber selbst damit war es noch gruselig genug, meine 14-jährige taffe Teenagertochter so desorientiert zu erleben – „gaga“ traf es ziemlich gut. Neben all dem mehr oder weniger sinnlosen Geblubber, das sie dabei äußerte, kam eine Frage ungefähr alle zwei Minuten klar und deutlich: „Mama, bist du da?“ – und wurde von mir selbstverständlich und liebevoll in gleicher Häufigkeit positiv beantwortet.

Der Zustand ging wie prognostiziert vorbei. Das Ganze ist schon eine Weile her, und eigentlich hatte ich es fast vergessen. Bis ich neulich nachts im Bett lag. Unüberblickbare Problemberge in unterschiedlichen Lebensfeldern, Überforderung, Frust, Chaos in Herz und Kopf – ziemlich „gaga“ lag ich wach. Da kam mir dieser Satz von Tabea in den Sinn: „Mama, bist du da?“ Davon ausgehend formte sich die Frage an Gott: „Du fürsorglicher, liebevoll kümmernder Mama-Papa-Gott, bist du da?“

Und auch wenn ich keine Antwort hörte, so war mir doch das Bild Gottes, der an meinem Bett steht, meine Hand hält und mir zusagt, dass er da ist, plötzlich tröstend nahe. So breitete ich mein ganzes Chaos Stück für Stück aus – immer wieder mit der Frage: „Bist du da – auch in dieser Chaosfacette?“ Und obwohl ich in dieser Nacht in keiner einzigen Problemlage eine Lösung gefunden habe, so hat es mir doch gut getan, mich zu vergewissern, dass Gott in all dem da ist und ich konnte – nach einiger Zeit – einschlafen.

Das hat mir so geholfen, dass ich es seitdem immer wieder übe. Nicht nur nachts, sondern auch sonst. Manchmal eher nebenbei im Alltag oder auch ganz bewusst in einer Pause, die ich mir gönne. Ich schaue mir mein Leben an und vergewissere mich, dass Gott in allem mit mir ist. Nicht nur, wenn ich ziemlich gaga, sondern auch wenn ich grade über etwas oder jemanden froh und dankbar bin.

Diese schlichte, kleine Übung tut mir gut, entlastet mich und ist mir in letzter Zeit zu einer Tankstelle geworden. Und während ich darüber nachdenke, warum das so ist – schließlich habe ich für die meisten Probleme noch immer keine Lösung gefunden! – fällt mir ein, dass Gott sich in der Begegnung mit Mose am Dornbusch „Jahwe“ nennt, was auch als „Der ich bin da“ übersetzt wird. Die Erfahrung ist also nicht neu. Auch wenn bei mir nicht der Dornbusch brennt. Gott weiß, dass wir ihn brauchen. Er weiß auch, dass es uns guttut, zu wissen, dass er da ist. Er vergewissert es uns so gerne, dass er für uns da ist, dass er es sich sogar in den Namen geschrieben hat. Und so frage ich weiter, immer wieder: „Bist du da?“ Und ich vertraue, dass er antwortet. Immer wieder, selbstverständlich und liebevoll: „Ja! Ich bin da!“

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.

 

 

 

 

 

Das Wirrwarr durchstehen

Wie das Linksabbiegen Stefanie Diekmann zum Nachdenken bringt.

Eigentlich ist Autofahren für mich zur Routine geworden. An einer Stelle auf meinem Weg durch Mainz bin ich aber jeden Tag neu angespannt. Hier ist ein richtiges Wirrwarr. Die Straßenbahn läuft parallel zur Straße und die Busspur kreuzt, gleich darf ich links abbiegen. Links – wie denn? An jedem Tag sagt mein Instinkt mir: „Nein, hier geht es nirgendwo über die Straßenbahntrasse. Keine Chance. Nun kommt auch noch ein Bus. Gleich knallt’s!“

In meinem Leben kenne ich diese Momente auch. Ich weiß um Gottes Begleitung, umbete meinen Alltag, und doch erscheint mir das Wirrwarr an Gefühlen, Gedanken, Forderungen und Wünschen ohne klare Zielführung. Manchmal sogar täglich neu. Als hätte ich noch nie eine brenzlige Situation umschifft oder einen Schiffbruch überlebt. Es ist ein mal fröhlich, mal verzweifelt gelebtes Chaos. Der Tag, an dem das Kind innerhalb von Sekunden krank wird und der ganze Tag neu geplant werden muss. Oder eine herausgebrochene Uralt-Zahnfüllung, die mehrere Arztbesuche erfordert. Ein Besuch bei Freunden, der sich als unerfreuliches Diskussionsforum entpuppt und noch Tage in meiner Seele hängt.

Lerne ich nichts aus den durchstandenen Situationen? Eine Frau sagte mal: „Ich habe mir diese schwere Nacht mit drei Magen- und Darm-Kindern bewusst eingeprägt, um mir später immer wieder sagen zu können: Das hast du überlebt – sogar gemeistert. Das wird jetzt nicht schlimmer sein.“

In meinem Wirrwarr verliere ich oft den Blick auf gute Erfahrungen und auf meine Stärken. Ich verliere auch den Bezug und die Verbindung zu Gott. Ich habe schon so oft erlebt, dass mir Liedtexte guttun, Gott sogar eingreift oder eine Idee schenkt. Wieso erinnere ich mich oft nicht daran, wie viel Kraft darin steckt?

Diese Kreuzung – jeden Morgen – ist meine Erinnerungshilfe. Jedes Mal, wenn ich denke: „Nein – hier geht es nicht weiter! Niemals kann ich hier links abbiegen!“, blinkt das Auto vor mir und zeigt mir die unscheinbare Stelle, wo die Trasse der Straßenbahn abgesenkt ist und ein abgenutzter Linksabbiegerpfeil ahnen lässt, wie die Spur zu nutzen ist.

Und wenn ich den Gegenverkehr lange genug in den Blick genommen habe und die Straße überquere, grinse ich über mich: „Klar! Hier kann man nicht abbiegen!“ Und ich murmle ein Leises „Danke, Jesus!“ Denn die Kreuzung ist wirklich ein echtes Wirrwarr!

Stefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.

 

 

 

 

 

„Nicht verboten, auf Bäume zu klettern“

Elisabeth Vollmer über ihre Sehnsucht nach einem Zuhause.

Willi Weitzel – der von „Willi will’s wissen“ – erzählt im Konzerthaus in Freiburg von seinen wilden Wegen. Die Massen strömen. 800 Kinder sitzen im großen Saal. Begleitet von ihren Eltern. Und wir. Zu zweit. Einfach nur, weil uns Willi Weitzel als Mensch und sein Reisebericht interessieren. Es ist ein beeindruckender, toller und langer Nachmittag. Die Kinder bleiben bei der Stange. Willi macht das einfach großartig. Auch ich bin fasziniert und froh, dass wir uns das gegönnt haben. Der letzte Satz von Willi klingt mir nach: „Zuhause ist dort, wo dein Herz glücklich schlägt!“ Etwas kitschigaltbacken stand dieser Spruch auf einem seiner Wege an ein Haus gepinselt. Und im Nachhall dieses Satzes spüre ich Dankbarkeit und Sehnsucht. Ich bin dankbar. Von ganzem Herzen dankbar für mein Zuhause. Und damit meine ich nicht (nur) das Haus, in dem ich lebe, oder das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Dankbar bin ich vor allem für die Menschen, die mir Raum geben und in deren Gegenwart mein Herz glücklich schlägt. Wo ich sein darf. Angenommen und geliebt bin. Glücklich. Und das nicht einmal vor allem, wenn ich gerade froh und unbeschwert bin. Sondern dann, wenn ich traurig, gescheitert, enttäuschend und unleidig bin. Und für die ich (hoffentlich) auch ein Stück Zuhause bin, in dem ihr Herz glücklich schlägt. Womit ich bei meiner Sehnsucht ankomme. Denn es gelingt mir viel zu selten, solch ein Zuhause zu sein. Und immer wieder bleibt auch meine Sehnsucht nach einem Zuhause in diesem Sinne ungestillt. Vermutlich ist es die Sehnsucht nach dem Zuhause in der Ewigkeit, die da in mir ruft. Und diese Sehnsucht möchte ich als Antrieb und Wegweiser nehmen, um immer mehr Zuhause in meinem Leben zu ermöglichen. Die erste Hürde, die ich dabei nehme, bin ich selbst. „Es ist alten Weibern nicht verboten, auf Bäume zu klettern“, ist von Astrid Lindgren überliefert. Wie oft stehe ich dem glücklichen Herzschlag mit ungeprüft übernommenen Dos und Don’ts im Wege. Wer sagt denn, dass Riesenrutschen im Schwimmbad nur von Eltern mit Kindern und Teenagern genutzt werden dürfen? Wer hindert mich, auf der Straße zu tanzen, wenn die Geige spielt und die Nacht zauberhaft ist? Mein Bruder hat neulich in unserer WhatsApp-Familiengruppe ein Video von meiner Mutter gepostet: schaukelnd, prustend vor Lachen. Sie ist 84 Jahre alt. Auf Bäume klettert sie nicht mehr. Aber ihr Herz schlägt glücklich, wenn sie schaukelt. Ich möchte mir und anderen erlauben, was glücklich macht. Nach dem Motto von Augustinus: „Liebe und tue, was du willst.“ Die zweite Hürde ist die Bereitschaft, mich mit „Okay“ zu versöhnen und darin glücklich zu sein. Ich habe keinen perfekten Haushalt, keinen perfekten Job, keine perfekten Kinder und keinen perfekten Mann. Das passt insofern ganz gut, als ich keine perfekte Frau bin und weder einen perfekten Körper noch einen perfekten Charakter vorweisen kann. Aber ich bin okay. Und meine Lieben und mein Leben sind es auch. Natürlich hoffe ich, dass manches sich noch zum Besseren hin entwickeln wird (also theoretisch vor allem ich, praktisch lieber alle anderen …). Aber zuerst einmal möchte ich dankbar wahrnehmen und annehmen, was mir geschenkt ist und darin mein glückliches Zuhause finden. Diese beiden Hürden habe ich für mich gerade im Blick. Es gibt weitere. Natürlich. Und auch weit mehr als drei. Aber ich habe ja mein Leben lang Zeit. Darf wachsen und wachsen lassen. Ein Zuhause geben und spüren, dass ich immer wieder zu Hause bin, wo mein Herz glücklich schlägt.

 

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.

Aufatmen im Terminstress

Wie gut es tun kann, andere wertzuschätzen, hat Ingrid Jope erlebt.

Urlaubsreif. Mit diesem Wort ließ sich bestens beschreiben, wie es mir ging. Ein volles (Schul-) Jahr lag hinter mir. Der Schulwechsel unserer großen Tochter steckte darin und das letzte, intensive Kindergartenjahr unseres inzwischen auch großen Sohnes. Aufgrund meines beruflichen Wiedereinstiegs und einer damit verbunden Weiterbildung hatte ich ein Jahr lang eine 75-Prozent- Stelle und musste nebenbei noch eine Abschlussarbeit und einiges an Fortbildungsterminen stemmen. Die letzte Woche vor den großen Ferien hatte es mit sämtlichen Abschiedsfeiern und beruflichen Herausforderungen besonders in sich. Da musste der Termin fürs Abschlussgespräch im Kindergarten in die erste Urlaubswoche verschoben werden. Müde stand ich an diesem Tag morgens auf und hätte am allerliebsten darauf verzichtet, heute überhaupt einen Termin zu haben. Ich schleppte mich mehr zum Kindergarten, als dass ich radelte. Dann saß ich zwei freundlichen Erzieherinnen gegenüber. Sie hatten sich sorgfältig vorbereitet und stellten mir die Bildungsdokumentation meines Kindes vor. Nach wenigen Minuten war das Gefühl „Ich hätte keinen Termin gebraucht“ verdrängt vom Eindruck: „Toll, dass diese aufmerksamen und engagierten Erzieherinnen unseren Wirbelwind von Sohn durch seine Kindergartenzeit begleitet haben.“ Ich erfuhr Einzelheiten aus dem Kindergartenalltag, ich schnupperte die Sichtweise der Erzieherinnen auf mein Kind, kam so manches Mal ins Schmunzeln, weil ich typische Verhaltensweisen, Stärken und Schwächen vom Alltag zu Hause wiedererkannte. Und ich habe ganz viel Zugewandtheit gespürt, Wertschätzung und Respekt vor dem ureigenen Wachstumsprozess, den jedes Kind nach seiner „inneren Uhr“ und in seiner Einzigartigkeit durchläuft. In mir wuchs ein Glücksgefühl, es schmeckte nach Dankbarkeit, nach beschenkt sein und nach tief durchatmen. Ich fasste eine Erkenntnis, die uns schon lange begleitete, in Worte: Das war genau der richtige Kindergarten für unser Temperamentsbündel. Ich könnte mir keinen besseren für unser Kind und unsere Familiensituation vorstellen. Ich zählte einige Beispiele auf, die ich am Kindergartenalltag und dem ihn prägenden Erziehungsstil schätzte. Die vier Augen der Erzieherinnen strahlten. Meine Erschöpfung war wie weggeblasen. Achtsamkeit und Respekt zu erleben und Wertschätzung zu geben – das tat durch und durch gut. Auch wenn der Alltag voll ist und ich eigentlich viel zu erschöpft bin, will ich das nicht aus dem Blick verlieren: Danke sagen, Gutes wertschätzen, Menschen zeigen, dass ich wahrnehme, wie sehr sie sich einsetzen. All das tut auch mir und meiner Seele gut.

Ingrid Jope ist Theologin und Sozialpädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wetter/Ruhr.

Erwartungen

Elisabeth Vollmer blickt zurück und nach vorn.

Zwischen Weihnachten und Neujahr lese ich immer meine Tagebücher. Diese Tradition ist mein persönlicher Jahresrückblick und hat sich bewährt. Auf wenige Tage konzentriert durchlebe ich noch einmal lesend mein Jahr – Höhen, Tiefen, Banalitäten, der ganz normale Wahnsinn. Ich stelle fest, dass sich Themen wiederholen (Warum muss ich diese Felder immer wieder beackern?) und Fettnäpfchen von mir auch mehrfach ausgelatscht werden (Bin ich so lernresistent?). Aber ich lese auch wunderbare Kleinigkeiten, die mein Leben bereichert haben (und die ich längst vergessen hatte). Und die wirklich guten Dinge und Begegnungen nehme ich mit großer Dankbarkeit noch einmal wahr. „Unerwartet“ ist ein Wort, das dabei öfter fällt und mir zum Schlüssel wird – im Guten wie im Schlechten. Beispiel gefällig? Ich erwarte nichts zum Muttertag, denke ich im Mai. Das ganze geschäftsmäßige Gedöns ist mir auch zuwider. Nicht nur einen Tag, sondern das ganze Jahr möchte ich schließlich als Mutter gesehen und geschätzt werden! Als der Muttertag kommt, ist es ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Keiner in der Familie bedenkt mich mit liebevollen Gesten oder Worten. Ich bin beleidigt. Wie blöd ist das denn? Da mache ich Sprüche und belächle milde die Frauen, denen der Muttertag wichtig ist, und merke beschämt, dass ich auch nicht so wirklich darüberstehe. Also wenigstens so ein kleines bisschen wollte ich dann doch bedacht werden … Nur habe ich nicht mal mir selbst eingestanden, dass ich solche Erwartungen habe. Ent-Täuschung tut weh. Ein Gegenbeispiel: Es ist Anfang Dezember, ein freier Samstag, ich habe Zeit und beschließe, Plätzchen zu backen. Kaum begonnen, kommt Jonas dazu: „Oh, Plätzchen! Ich mach mit!“ Kurz darauf klinkt sich auch Tabea ein. Wir werkeln, unterhalten uns und lachen. Eine Idylle wie im Bilderbuch. Einen Moment stehe ich in der Tür, nehme diese geschenkte Zeit in ihrer ganzen Schönheit wahr. Es kommen mir die Tränen vor Dankbarkeit. Völlig unerwartet werde ich beschenkt mit dieser Zeit mit meinen Teens. Im Rückblick auf mein Jahr merke ich, dass ich oft gerade dann beschenkt werde, wenn ich frei von Erwartungen bin. Wenn ich nichts er-warte, warte ich nicht auf das, was ich mir vorstelle, sondern bin frei, das wertschätzend wahrzunehmen, was mir begegnet. (Der Muttertags-Sonntag war nämlich eigentlich kein schlechter Tag, bis ich ihn mit grummeliger Miene vermiest habe …) Und ich merke, dass meine Erwartungen schnell zur Falle werden – besonders dann, wenn sie unausgesprochen sind. In diese Falle will ich im nächsten Jahr nicht mehr ganz so oft tappen. Am Valentinstag ist mir das schon mal gut gelungen. Es war ein ganz normaler, guter Tag in einer vollgepackten Zeit. Nichts Besonderes und völlig okay. Ich möchte lernen, mir meine Erwartungen einzugestehen und selbst zu entscheiden, ob diese Erwartung angemessen und wichtig für mich ist (und dann muss ich sie kommunizieren!), oder ob ich diese Erwartung auch loslassen kann. Bewusst und vielleicht mit ein bisschen Wehmut. Der Rückblick wird zeigen, wie mir das gelungen ist.

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.

Alltagskokon

Woran liegt es, wenn die Kraft fehlt, um die Flügel auszubreiten?

Ich höre es immer wieder: „Ich bin so k.o.!“ Oder: „Warum bin ich bloß so dauermüde?“ Ich kann gerade selber fühlen, was gemeint ist. Heute ist Kopfwehtag, die Wäsche oben piept mahnend und erinnert mich auch noch an die zwölf Hemden, die ich für Henrik bügeln muss. Ich lasse Tarik TV gucken, weil ich so lahm bin. So müde und matt. So sehr mit dem Jetzt beschäftigt und eingewickelt, das mir nicht mal Kaffeetrinken Spaß macht. Ich fühle mich schlecht dabei. Ich sehe mich um und überall liegt etwas herum: Schuhe, Marmeladengläser, Bastelsachen für diverse Gruppen, Bücher, kopierte Artikel, Abholscheine für Schulbücher, aussortierte Kleidung aller Kids – die wollte ich eigentlich schon seit Tagen wegbringen … Es fühlt sich in diesem Moment an, als wickle mich mein Alltagsgewimmel wie Klarsichtfolie ein. Zu einem bewegungsunfähigen Wurm. Ich stecke in einem Kokon aus Murren und Seufzen fest. Ich komme nicht dagegen an. Während ich in dieser Starre aus Müdigkeit bleibe, sehne ich mich nach den Flügeln eines Adlers. Die Bibel beschreibt dieses Bild. Menschen, die Gott vertrauen, fliegen kraftvoll in den Himmel und nutzen dabei die große Spannbreite der Flügel voll aus. Warum dann meine Lähmung? Wieso genieße ich mein Jetzt nicht? Mir fällt auf, dass ich mein Pensum und Tempo erhöhe und mich dann wundere über Müdigkeit. Einerseits liebe ich zum Beispiel Blogs von Menschen, die dekorieren und aus Zutaten Leckeres machen und bei denen ein Sonntagskaffeetisch aussieht wie aus dem Malbuch. Ich lasse viel Zeit beim Bewundern und Nachmachen, bis ich enttäuscht und kraftlos aufgebe und Waffeln backe. Denn in meinem Leben gibt es nicht nur den Fotoausschnitt, sondern es liegen neben dem 1A-Kuchentisch auch noch Wäsche, Rechnungen, Altpapierberge und Berge an Post. Ich lege mir den beengenden Kokon oft selbst an. Hochglanz versus Alltag. Sehnsucht gegen Müdigkeit. Enge gegen Freiheit. Eine Spannung. Eine Spannung, die Kraft raubt. Kraft, die Gott mir anbietet. Ich darf neue Kraft ertasten, wenn ich Gott vertraue. Ich will Gott meine engen Kokon-Schichten hinhalten. Um neue Sichtweisen bitten. Ich will durch mein Vertrauen mit seinen Möglichkeiten rechnen. Will mich wie ein Adler auf die Luftströme legen und gleiten. Das ist nichts, was ich selbst tun muss, sondern was ich nutzen darf. Gottes Kraft ist da. Sie lässt sich nutzen. In ganz kleinen Schritten kann ich mit diesem Aufwind aussortieren, was heute hilfreich ist. Ich lebe den Tag mit der Kraft, die ich heute habe. Ich lasse meine inneren Forderungen an mich los. Nun gehe ich den Trockner ausstellen, meinen Sohn knuddeln und dabei das TV ausschalten.

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Stefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.

Oktopus-Sehnsucht

Ingrid Jope hätte manchmal gern zehn Arme.

Mamaaaa!“ – Unüberhörbar dringt der Ruf aus der Richtung des stillen Örtchens an mein Ohr. Unser Dreijähriger hat sein großes Geschäft fabriziert. Während ich abwische, fordert er mich (als späte Nachwirkung des Ohne-Windel-Trainings) auf: „Du kannst sagen: Ich bin stolz auf dich!“ Ich muss schmunzeln, und anerkennende Worte kommen ganz von selbst über meine Lippen. Die Drittklässlerin hat eine Frage bei den Mathehausaufgaben. Noch bevor ich die Antwort geben kann, klingelt das Telefon. Der Handwerker schafft es nicht rechtzeitig und fragt, ob er zwei Stunden später kommen kann. Zu diesem Zeitpunkt bin ich allerdings mit den Kindern beim Zahnarzt vorgemerkt. Das Essen auf dem Herd riecht verdächtig angebrannt. Es klingelt an der Haustür. Eine Nachbarin bringt das Paket, das sie heute Vormittag für uns angenommen hat. Aus dem Kinderzimmer höre ich frustriertes Heulen. Das fast fertiggestellte Bügelperlen-Herz ist auf den Boden gefallen. Die Perlen sind auf dem ganzen Fußboden verteilt. Manchmal wünsche ich mir, Gott hätte sich Mütter mit zehn Armen und zehn Händen ausgedacht. Die fehlenden acht könnten doch während der Schwangerschaft dazuwachsen. Mit dieser Oktopus-Ausstattung könnte man gleichzeitig im Suppentopf rühren, mit der Arztpraxis telefonieren, bei den Hausaufgaben assistieren, den umgekippten Saft aufwischen und Bügelperlen aufsammeln. Oder wahlweise das Baby trösten, mit dem Kindergartenkind puzzeln und nebenbei noch ein berufliches Meeting per Telefonkonferenz bewältigen und die Einträge im Kalender machen. Ja, warum eigentlich nicht? Er muss sich etwas dabei gedacht haben. Darin, dass Gott uns keine zehn Hände zugedacht hat, steckt die Botschaft: Er wollte keine Multitasking-fähige, ständig beschäftigte Alleskönner-Super-Mutti. Er schenkt uns Zeit und Kraft und Liebe – aber eben nur für 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche. Er schenkt uns so viel Kraft und Nerven, wie man mit zwei Händen und einem Herzen aufbringen kann. Wir dürfen Grenzen haben. Wenn wir alles könnten, was wir wollten und was andere in Form von Bedürfnissen und Wünschen an uns herantragen – Hand aufs Herz –, dann würden wir noch mehr hetzen und uns noch mehr in den Tag packen. In unserer Begrenzung liegt die Chance, dass wir lernen, gute Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen, dass wir den Wald der Erwartungen ausforsten und im Stehenlassen von Lücken barmherzig werden mit uns selbst und anderen. Nebenbei buchstabieren unsere Kinder, was es heißt, zu warten, Verständnis zu haben, nicht alle Wünsche erfüllt zu bekommen – auch wenn das manchmal ein mühsamer Weg ist. Und daran, dass ihre Eltern keine Alles- gleichzeitig-super-Könner sind, lernen sie, gut mit ihren eigenen Gaben und Grenzen zu leben. Alles in allem bin ich doch froh, dass ich keine Oktopus- Mutter sein muss.

Ingrid Jope ist Theologin und Sozialpädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wetter/Ruhr. Weitere Mutmach-Texte für Mütter sind in ihrem neuen Buch zu finden: „Mit dem Papst nach Bullerbü. Von Mamastress und Maxiglück“ (Brunnen)

Alles wird gut

Elisabeth Vollmer muss akzeptieren, dass sie ihre Kinder nicht vor allem beschützen kann. Zuversichtlich ist sie trotzdem.

Oktober 2001: schweißgebadet wache ich auf. Der 11. September hat mich in meine Träume verfolgt: Tabea im Tragetuch, die Jungs an der Hand befinde ich mich auf der Rolltreppe eines Einkaufzentrums, das in sich zusammenfällt. Mit meinem Körper versuche ich, meine Kinder zu schützen. Meine beruhigenden Worte „Alles ist gut, ich passe auf euch auf“ sind schlicht falsch, und genau dieses Bewusstsein trifft mich tief und lässt mich schweißgebadet aufwachen. Der Traum vergeht, das Bewusstsein bleibt: Ich kann meine Kinder nicht in allem beschützen. Und es ist auch nicht gewiss, dass alles in diesem Leben gut ausgehen wird. Meine Grundzuversicht ins Leben wird in dieser Nacht erschüttert. Vielleicht bin ich auch dort erst erwachsen geworden.

Inzwischen sind meine Kinder groß. Ich bin immer noch Mutter und würde so gerne beschützen und beruhigen, stärken und auf einen guten Weg begleiten. Und in vielen Bereichen kann und darf ich das auch noch. Aber meine (vermeintlichen) Beschützer-Möglichkeiten sind geringer, die Risikofaktoren sind größer (und mir bewusster) geworden. Damit zu leben und umzugehen, fordert mich immer wieder heraus. Ich stolpere und schlingere dabei. Aber es gibt drei Lebensweisheiten, die mir dabei hilfreiche Krücken geworden sind:

Die Erste stammt von meiner Schwester Ulrike: Jonas war ein paar Tage alt und ich im postnatalen Hormontief, als ich aufgrund einer heftigen Neugeborenengelbsucht um seine Gesundheit bangte. Im Telefonat gab sie mir ein Bild weiter: „Du bist das Mutterschaf. Du kümmerst und sorgst dich um dein Lämmchen und das ist gut so. Aber du kannst und musst nicht alles machen. Es gibt auch noch den guten Hirten. Er hält dich und dein Lämmchen und kümmert sich um euch beide. Du darfst ihm auch und gerade jetzt vertrauen.“ Das übe ich seitdem. Mein Job ist nur der des Mutterschafs. Der Hirte ist ein anderer.

Von Sören Kierkegaard stammt das Zitat: „Gott macht aus dem Verkehrten noch das Bessere, als es das Richtige gewesen wäre.“ Aus unbekannter Quelle stammt das ähnliche Zitat: „Gott macht aus Mist Dünger.“ Verkehrte Entscheidungen, Schuld, Fehler … gehören zum Leben dazu. Das darf ich mir, meinen Kindern, meinem Mann und allen anderen zugestehen. Gott kann daraus trotzdem „Dünger“ oder sogar „das Bessere“ machen. Falsch bleibt es trotzdem und fühlt sich auch so an. Das ist nicht schön, aber normal!

Und zum Dritten dann noch Joachim Ringelnatz: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass dir der Kragen platzt“ in Kombination mit dem Zitat von Papst Johannes XII: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.“ Ich kann mich dafür entscheiden, meine Sorgen sich nicht dadurch aufblähen zu lassen, dass sie meine beständige Aufmerksamkeit bekommen. Zum zweiten hilft eine gute Portion Humor sogar dann, wenn mir nicht zum Lachen zu Mute ist. Lachen baut Stress ab, entspannt und setzt Glückshormone frei. Schon Lächeln hilft.

Nun kann ich zwar nicht behaupten, dass ich dadurch zur Expertin in Zuversicht, Loslassen und Glaubensstärke geworden wäre. Krücken sind Krücken. Marathon läuft man damit nicht und manchmal gibt es sie immer noch, diese gruselig-große Sorge ums Leben und meine Liebsten. Aber ich bin dran und zuversichtlich, dass am letzten Ende wirklich alles gut sein wird.

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.

 

Verschmierte Brille

Oder: Die Unmöglichkeit, einen Granatapfel ohne Spritzer zu entkernen. Von Stefanie Diekmann.

Quirliges Toben in der Teengruppe. Interessant, wer die Witze reißt und wer nicht darüber lacht. Wer sich entspannt verhält und wer nicht, so wie Dustin. Ein Junge wie ein explosives Pulverfass. Immer wieder wandert mein Blick zu Dustins Brille. Sie ist so schmierig und verschmutzt, dass fast jeder irgendwann fragt: „Soll ich dir mal die Brille putzen? Du siehst doch gar nichts.“ Vehement schüttelt der herausfordernde Teen dann den Kopf: „Finger weg! Ich will das so!“

Mit meinem Muttersein geht es mir ähnlich. Mein Alltag hat an meinem Blickfeld Spuren hinterlassen. Einiges an meinem Mutter-Ich funktioniert automatisch: das Heraussuchen von Büchern zum Familienlesen, das Feste-Vorbereiten zum Zeugnis, Geburtstag oder einfach so, meine Reaktionen bei versemmelten Mathearbeiten. Einiges aber braucht mehr Hinsehen und Üben: gerecht bleiben beim Streiten, Nähe suchen, zuhören. Das fühlt sich dann so an, als würde ich einen Granatapfel entkernen. Trotz YouTube-Videos finde ich Spritzer im Gesicht und auf dem Shirt. Meine Tätigkeit hinterlässt Spuren. So ergeht es mir auch bei meinem Mutter-Sein: Das „Kümmern“ und Im- Blick-Behalten, das Fördern und Loslassen sind Übungen für mich, die nicht ohne „Spritzer“ und „Flecken“ an mir vorübergehen.

Ein Treffen mit Freunden nach langer Zeit. Sie lieben unsere Kinder, und im Gespräch fallen Rückmeldungen zu unserem Familienalltag. Zunächst fühle ich mich so wie Dustin und möchte rufen: „Ich brauche keine Kommentare. Ich sehe klar. Ich will das so!“ Mein Blick auf meine Kinder, meine Art, Liebe zu vermitteln, meine Art, mit ihnen zu glauben, wird vom Alltag verschmiert und manchmal bleiben sogar verzerrte Bilder übrig.

Meinem Helfer und Freund Jesus Christus die Brille zum Reinigen anzubieten, fühlt sich unnötig an. Ich bin doch als Mama gut unterwegs. Oder? Durch das Beispiel von Dustins Schatten- und Schlieren-Brille ahne ich: Ich habe den klaren Blick verloren.

Wie gut, dass Jesus mir eine Idee gibt, neu hinzusehen, die Spritzer wegzuwischen. Geht es allen Kindern mit unserer Lösung gut, wie wir den Haushalt organisieren? Sind die Rollen, die ich durch Kommentare, Stöhnen und Blicke festlege, fördernd für meine Familie? Ist das kritische Denken über mich nicht auch dem verschmierten Blick durch die Alltagsbrille geschuldet? Was sehen andere, wenn sie uns als Familie sehen?

Ich darf einen neuen Blick wagen. Neue Worte finden zu den täglich gleichen Dingen und Konflikten. Neue Seiten an meinem Mann, an mir und sogar an Gott entdecken. Ich sehe mit Abstand sogar, wo mich mein Sohn bei den Medienzeiten um den Finger wickelt. Ich bin verblüfft: Durchblick kann sogar Spaß machen, erleichtern. Ob ich das Dustin mal erzähle?

DiekmannStefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin
und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.

 

 

Wertvolle Freundschaft

Ingrid Jope schätzt tiefgehende Beziehungen – auch zu Büchern.

Manchmal kostet es mich einiges an Überwindung. Wenn an einem Abend mal keine Behördenpost zur Erledigung ansteht, mir kein Abgabetermin im Nacken sitzt, kein Elternabend stattfindet und auch kein Treffen in der Gemeinde, wenn keines der Kinder Fieber hat oder Husten oder Albträume oder einfach nur Einschlafschwierigkeiten, kein wichtiges Telefonat Aufmerksamkeit fordert – dann lasse ich beim feierabendlichen Zusammensinken auf unseren Polstermöbeln gern mal die aufschiebbare Arbeit Arbeit sein. Bei Wäschebergen und Nadel-und-Faden-Reparaturen besteht schließlich keine akute Fluchtgefahr.

Dann widerstehe ich der Versuchung namens Fernbedienung und greife stattdessen zu einem der vielen Bücher auf meinem Stapel. Gute Lektüre hilft mir, aus dem Alltag auszusteigen, mal auf andere Gedanken zu kommen. Sie inspiriert mich mehr als das Allermeiste, was aus der Kiste flimmert. Zum Besten gehört für mich gelebtes Leben zwischen zwei Buchdeckeln.

Zwei davon haben mich in den vergangenen Monaten bereichert: Die Biografie von William Wilberforce und die von John Newton, beides Engländer. Newton hat einen echten Vom-Saulus-zum-Paulus-Lebenslauf: Zunächst brutaler Sklavenkapitän, später Pfarrer und passionierter Prediger der Gnade Gottes. Er war nicht nur der Verfasser des weltweit bekanntesten Chorals „Amazing Grace“, sondern auch Mentor und Wachstumshelfer für Schlüsselpersonen seiner Zeit in Kirche und Politik. William Wilberforce war kein Prediger, sondern schnöder Politiker. Mehr als zwei Jahrzehnte lang setzte er sich im britischen Unterhaus für die Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei ein. Er verwirklichte damit auf politischer Ebene, wovon Newton so leidenschaftlich predigte. Wilberforce kämpfte unermüdlich dafür, das Herzensanliegen seines Freundes in praktische Gesetze und tatsächliches Handeln zu übersetzen. Newton wiederum war ein entscheidender Mentor und unerlässliche Inspirationsquelle für seinen jüngeren Freund. Ohne ihn hätte es Wilberforce‘ Lebenswerk nicht gegeben. So unterschiedlich die Betätigungsfelder der beiden Männer waren, ihre Freundschaft zueinander stärkte ihre jeweilige Lebensberufung. Ohne den einen hätte es die Leistung des jeweils anderen nicht gegeben. An diesem Punkt hat ihr Leben viel mit mir zu tun.

Gute Freundinnen helfen mir, meine Berufung zu entdecken, zu entfalten und nachzujustieren, wenn der Alltag mir das Ruder aus der Hand gerissen hat. Bücher selbst können in gewissem Maß solche Freunde sein. Aber es braucht auch Exemplare aus Fleisch und Blut. Die Freundin, die ich anrufen kann, wenn mir das Wasser bis zum Halse steht. Die mir zuhört und gute Fragen stellt, mir Gedankenblitze schenkt, mich begleitet, für mich betet, die mir hilft, meinen Lebensmarathon nicht mittendrin aufzugeben. Freundinnen helfen einander, das ureigene Leben zu leben, das Gott sich gedacht hat, als er sie geschaffen hat. So knapp bemessen die Zeit auch ist – es lohnt sich immer, eine oder wenige solcher Freundschaften zu pflegen. Das Problem der Langeweile hatten Wilberforce und Newton garantiert nicht, aber sie wussten um den Wert von tiefgehenden Beziehungen.

JopeIngrid Jope ist Theologin und Sozialpädagogin.
Sie lebt mit ihrer Familie in Wetter/ Ruhr.