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Ohne Helm?

In vielen Erziehungsfragen können Eltern unterschiedlicher Meinung sein. Und diese auch sehr laut vertreten. Wie können wir einen guten, eigenen Weg finden? Anregungen von Sandra Geissler

Vor einigen Monaten, an einem dieser wunderbar warmen Spätsommerabende, gingen der Gatte und ich aus. Die Winzer in unserem kleinen Städtchen hatten ihre Höfe geöffnet, Musik spielte und Fröhlichkeit lag in der Luft. Wir kamen um 19 Uhr, saßen in geselliger Runde mit alten Freunden zusammen, genossen den Wein, die Gespräche und das quirlige Leben um uns herum. Pünktlich um 22.15 Uhr klingelte mein Handy, und ich wusste sofort, wer dran sein würde.

Fünf Kinder waren allein zu Hause geblieben, hatten sich selbst mit Pizzabrötchen versorgt, die Chips gerecht verteilt und gemeinsam einen Film geschaut. Sie hatten es sich nett gemacht, und nun hatte einer genug. Der Gatte und ich verstanden das Signal zum Aufbruch und machten uns umgehend an das Verabschieden. Am Tisch blickten wir in entgeisterte Gesichter. „Wieso geht ihr denn jetzt schon?“

„Warum bringen sich die Kinder nicht einfach allein ins Bett, die sind doch alt genug?“ „Es ist doch gerade mal kurz nach zehn. Nur weil einer will, dass ihr zurückkommt, rennt ihr gleich los?“ „Schade, wirklich sehr schade.“

Ich bin mir sehr sicher, dass ich nur zwei Tische weiter auf ähnliches Unverständnis gestoßen wäre – nur in die andere Richtung. „Wie, ihr lasst die Kinder allein? Sind die Jüngsten nicht erst sieben? Und dann geht ihr gleich für mehrere Stunden? Das ist leichtsinnig, selbstbezogen und fahrlässig, vor allem, wenn ein Backofen dabei genutzt wird!“ Das ist das ewige Dilemma von Eltern. Welcher Weg unter tausend möglichen ist der richtige? Der, den die meisten gehen, der, der am lautesten angepriesen wird, oder doch der Trampelpfad, den kaum einer nutzt?

Blutrauschmodus deaktiviert

Mit der Geburt eines Kindes beginnt ein nicht enden wollendes Quiz an Rätselfragen, verwirrender und verworrener als das Wegenetz im deutschen Wald. Sie drehen sich um richtige Ernährung, richtige Kleidung, um Schlafgewohnheiten und Mediennutzung, um inhäusige und aushäusige Betreuung, um das richtige Maß an Zuwendung und die Art, wie wir miteinander sprechen, essen, lieben und streiten. Was den einen zu viel ist, ist den anderen zu wenig. Während die einen fröhlich Fruchtquetschies und Kekse unters Kindervolk bringen, halten die anderen einen Muffin in der Brotbox für potenzielle Kindesmisshandlung.

In manchen Familien gilt Peppa Wutz als ausgezeichnete Babysitterin, die immer willig einspringt, wenn Not an Mann oder Frau ist. Zwei Häuser weiter wird ihr der Zutritt strengstens verwehrt, denn das Parken vor Fernseher oder Tablet grenzt an Verwahrlosung und schädigt nachhaltig Kinderseelen und -gehirne. Ich kenne Kinder, die nur mit Helm auf dem Kopf im eigenen Wohnzimmer Bobby-Car fahren und andere, die sich notdürftig geschützt mit Laufrädern steile Rampen herunterstürzen. Während die einen klare Ansagen bevorzugen, halten andere strenge Worte für einen Akt von verbaler Gewalt. Schneller, als man gucken kann, wird in Erziehungs- und Familienfragen mit aller Schärfe ausgefochten, was eigentlich nicht auszufechten geht, weil es eben immer mehrere Wege gibt.

Vor einigen Jahren schenkten wir unserem Sohn ein Computerspiel zu Weihnachten, das er sich sehnlichst gewünscht hatte. Zwei Tage später las ich, dass genau dieses Spiel ein absolutes No-Go für Teenager sei, und natürlich fuhr mir der Schreck in alle Glieder. Wer will schon einen potenziellen Axtmörder großziehen? Dabei hatten wir schon längst selbst überlegt, abgewogen und gute Lösungen gefunden. Das Spiel durfte nur am Wochenende gespielt werden, zeitlich begrenzt und mit väterlicher Unterstützung. Der Blutrauschmodus war direkt deaktiviert worden. Was blieb, war ein Historienspektakel für den Geschichtsfreak. Und doch geriet ich für einen Moment schwer ins Wanken. War unser Weg denn der richtige? Was, wenn wir irrten und irreparable Schäden an der Kinderseele anrichteten?

Lösungen finden – ohne Unterlass

Die allermeisten Eltern geben sich unwahrscheinlich Mühe, auf die unzähligen Fragen des Familienlebens eine gute Antwort zu finden. Sie informieren sich auf allen gängigen Wegen, sie gleichen mit ihren persönlichen Werten ab, manche Antworten bringen sie aus ihrer eigenen Kinder- und Jugendzeit mit. Jeder Familienmensch weiß, wie mühselig dieses Geschäft mitunter sein kann und wie viel es zu berücksichtigen gilt. Nicht nur, dass wir als Eltern ohne Unterlass Antworten und Lösungen finden müssen, wir hören auch beständig die Antworten und Lösungen unserer Mitmenschen: aus berufenen Großelternmündern, in Ratgebern und auf dem Spielplatz, von Kitaerzieherinnen und dem ganzen Internet. Teilweise widersprechen sie sich, teilweise widersprechen sie unserem eigenen Wesen oder dem Wesen unseres Kindes.

Manche Zeitgenossen vertreten ihre Antworten und Lösungen mit einer Vehemenz und einem Wahrheitsanspruch, dass es einem ganz schwindelig werden kann. Schwindelig, weil man für das eigene Kind und die eigene Familie selbstredend das Beste möchte, den richtigen Weg und die einzig richtige Lösung. Schwindelig aber auch, weil bei aller Mühe die angepriesenen Wege manchmal nicht gangbar scheinen und man nur noch stolpert und klettert. Es muss doch irgendwie zu schaffen sein, was für alle anderen scheinbar mühelos machbar ist.

Und gerade weil man nichts verkehrt machen will und heilfroh ist, endlich die richtige Antwort gefunden zu haben, gerät man manches Mal selbst in Versuchung. Dann sollen es die anderen bitte schön ganz genauso machen, denn unser Weg ist der richtige. Sonst würden wir ihn doch wohl gar nicht gehen! Ehe man sich versieht, beharrt, verurteilt und überrumpelt man fröhlich drauflos, ohne zu bemerken, wie übergriffig das für andere Mütter und Väter sein kann.

Verhärtung der Fronten

Ganz egal, um welche Frage des Lebens es sich handelt, ob um Smartphone-Nutzung, Kinderbetreuung, Schlafgewohnheiten oder Fragen der Ernährung und des guten Umgangs, alle gefundenen Antworten müssen sich zuallererst an ihrer Umsetzbarkeit im eigenen Familienleben messen lassen. Keine Familie gibt es zweimal, jede für sich ist ein bunter Haufen von Individuen. Was also für die eine Sippe hervorragend funktioniert, kann die andere an den Rand der Verzweiflung bringen. Keiner kennt Sie, Ihre Werte, Ihre Eigenheiten und Besonderheiten so gut wie Sie selbst. Auf diese unschlagbaren Kenntnisse kann man durchaus vertrauen. Meiner Erfahrung nach empfiehlt sich dennoch ein großes Maß an Flexibilität, denn eine einmal gefundene Antwort kann unter Umständen ein sehr kurzes Haltbarkeitsdatum haben.

Sie halten vielleicht flammende Plädoyers gegen Smartphones für Kinder unter vierzehn, genau so lange, bis Sie Ihrem Fünftklässler beim Einsamsein zuschauen, weil keiner eingeladen wird, der nicht in der Klassen-Whats-App-Gruppe auftaucht. Sie schwören heilige Eide, dass Plastikspielzeug niemals ins Haus kommt, und dann ist der einzige Wunsch Ihres Kindes eine Plastikbabypuppe oder ein blinkendes Lichtschwert. Da können Sie weiter auf Ihrer Wahrheit beharren, oder es müssen neue Lösungen her, die für alle tragbar sind. Manche Wahrheit hat eine sehr kurze Halbwertszeit. Es ist wertvoll, von anderen Familien, anderen Werten, anderen Herangehensweisen zu hören, sich auszutauschen und neue Perspektiven einzunehmen. Vielleicht ist etwas dabei, was auch für Sie eine großartige Lösung wäre.

Wenn nicht, lassen Sie sich nicht verunsichern, verbuchen Sie es unter „interessante Information“ und verwerfen Sie getrost, was für Sie nicht passt. Beharrt Ihr Gegenüber vehement auf seiner Lösung, dann können Sie ihn freundlich darauf hinweisen, wie wunderbar es ist, dass sie diesen Weg für sich gefunden haben, und dass Sie sich auf Ihrem wohler fühlt. Damit leisten Sie einen wertvollen Beitrag für Ihren eigenen Seelenfrieden und gegen die Verhärtung der Fronten im Elterngefecht der Meinungen.

Nicht die Wahrheit für alle

Das gilt im Übrigen auch im umgekehrten Falle. Stell Sie sich vor, Sie haben recht. Sie sind von Ihrer Antwort und Ihrem Weg zutiefst überzeugt, und Ihr Gegenüber will es einfach nicht einsehen. Das kann einen schon fuchsig machen, nicht wahr? Gerade wenn es um Kinder, Familie und alle damit zusammenhängenden Weltanschauungsfragen geht. Ehe Sie sich versehen, liegt auch in Ihrer Stimme ein fieser Ton von Vehemenz und Schärfe. Schlucken Sie es runter, ich weiß, wie schwer das manchmal fällt. Ich finde es in solchen Situationen ausgesprochen hilfreich, mir für einen kurzen Moment diese Frage zu stellen: „Was ist, wenn der andere recht hat?“ Damit ziehe ich für einen Augenblick die Notbremse und mir fällt wieder ein, dass meine Wahrheit nicht die Wahrheit aller sein muss und ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie eine andere Familie tatsächlich funktioniert und was für sie gut ist.

An jenem warmen Sommerabend überhörten der Gatte und ich die vorwurfsvollen Abschiedsworte unserer Freunde mit einem freundlichen Lächeln, denn wir hatten nicht die leiseste Lust auf ein Gefecht über Erziehungsfragen. Wir zogen zufrieden in die Nacht hinaus, denn wir hatten ein paar schöne Stunden erlebt. Jetzt freuten wir uns darauf, nach Hause zu kommen, wo fünf Kinder es nett gehabt hatten und nun gern ins Bett gebracht werden wollten. Für diesen Abend war unsere Familie hochzufrieden mit dem Weg, den wir für uns gefunden hatten. Und das ist schließlich das Einzige, was wirklich zählt.

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.

Buchtipp
Gerade ist Sandra Geisslers Buch „Dieses kleine Stück Himmel. Mit allen Sinnen Familie leben“ bei SCM Hänssler erschienen. Anhand der fünf klassischen Sinne und des sechsten, des Herzenssinns, gibt sie Eltern Ideen und Anregungen an die Hand, das Familienleben zu gestalten und zu genießen.

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  1. […] wieder erlebe ich meine Familie – ich nenne das Kind beim Namen – als übergriffig und fühle mich überwältigt. Dann frage ich mich, ob meine Abgrenzungsfähigkeiten mangelhaft […]

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