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Wackelzahnpubertät – Worauf sich Eltern kurz vor der Einschulung einstellen müssen

Kurz vor der Einschulung erleben Kinder eine emotionale Achterbahnfahrt: die Wackelzahnpubertät. Wutanfälle und Kuschelmomente wechseln sich ab. Familienberaterin Daniela Albert erklärt, warum die Kinder so „schwierig“ sind und worauf es für die Eltern ankommt.

Ich nenne die Wackelzahnpubertät immer mit einem Augenzwinkern meinen persönlichen Endgegner, denn keine Entwicklungsphase hat mich als Mutter so gefordert wie die Zeit rund um den Schuleintritt, wenn die Kinder kognitiv riesige Sprünge machen und sich körperlich vom Kleinkind zum Großkind entwickeln. Man merkt sehr schnell: Arme und Beine werden länger und das ganze Kind scheint plötzlich überall „drüberzuhängen“, wenn man es, wie früher, zum Trösten oder Kuscheln auf den Schoß nehmen will.

Wechselspiel zwischen Nähe und Ablösung

Apropos Trösten und Kuscheln: Vielleicht ist es damit gerade auch gar nicht so einfach? Während es noch vor Kurzem normal war, dass das Kind in emotionalen Nöten zu den Eltern kam und körperliche Nähe suchte, kann es sein, dass es jetzt erst mal ein bisschen Abstand braucht, wenn die Gefühle überkochen. Die Wackelzahnphase ist ein ständiges Wechselspiel zwischen Nähe und Ablösung.

Kinder durchlaufen in dieser Zeit einen wichtigen Autonomieprozess. Schon länger sind neben den Eltern andere Menschen in ihrem Leben wichtig geworden: Betreuungspersonen, Gleichaltrige und auch mediale Idole dienen nun ebenfalls als Orientierungspunkte und prägen das kindliche Universum mit. Der Wunsch nach mehr Selbstständigkeit und eigenen Wegen wird größer.

Ganz und gar angenommen

Gleichzeitig sind Kinder in dieser Phase noch klein und bedürftig. So kann es sein, dass sie nachmittags selbstbewusst mit anderen Kindern um die Häuser ziehen und nicht nach uns fragen und nachts in unser Bett gekrochen kommen. Die meisten Kinder suchen ihren Wutanfällen selbst wieder die Nähe zu den Eltern und möchte eigentlich nur wissen und spüren, dass sie dort geborgen und geliebt ist. Diese innerliche Ablösung kann nur gut funktionieren, wenn unsere Kinder sich bei uns ganz und gar angenommen fühlen und immer einen Ort haben, an dem sie sich sicher wissen.

Wenn ein Kind also in emotionalen Nöten ist, machen Sie als Eltern sich bewusst, dass sich bei ihrem Kind gerade viel verändert. Schauen Sie, wann es Nähe braucht und sich mit Ihnen zusammen wieder beruhigen möchte und wann es gut ist, es erst einmal bei sich und den eigenen Gefühlen zu lassen. Besprechen Sie solche Situationen hinterher mit ihrem Kind, nicht, um es für ihren Wutanfall zu tadeln, sondern um zu verstehen, was da eigentlich in dem Kind vorgegangen ist und um  zu helfen, sich selbst besser zu begreifen.

Die Wackelzahnpubertät ist übrigens nicht nur mein persönlicher Endgegner, sondern auch meine Lieblingsphase in der kindlichen Entwicklung, denn nie wieder darf man so nah dabei sein, wenn sich eine junge Persönlichkeit entwickelt und entfaltet.

Daniela Albert ist Autorin, Eltern- und Familienberaterin, lebt mit ihrer Familie in Kaufungen und bloggt unter: eltern-familie.de

Paartherapeut klärt auf: (Schwieger-)Eltern können nicht alles verlangen!

Manche Eltern und Schwiegereltern sind kein Rückhalt für ihre Kinder. Im Gegenteil, sie enttäuschen ihre erwachsenen Kinder und rauben ihnen Kraft. Müssen Kinder das hinnehmen? Paartherapeut Jörg Berger erklärt, wie sich erwachsene Kinder verhalten sollten und wann es ratsam ist, sich zurückzuziehen.

Es gibt Eltern, die ihre erwachsenen Kinder zu viel Kraft kosten, die viel von ihren Kindern fordern und nicht auf sie eingehen. Im Folgenden sind Namen verändert und die Lebensgeschichten verfremdet wiedergegeben.

Wenn Eltern zu viel Kraft rauben

Wo Eltern ihre Verantwortung nicht übernehmen, fällt sie den Kindern zu. Kinder sind dann auf sich allein gestellt. Oft übernehmen sie sogar Verantwortung für die Eltern, etwa als Sonnenschein oder Partnerersatz. Das setzt sich meist fort, wenn die Kinder erwachsen sind. Manche Eltern sind von Angst bestimmt. Schon immer haben sie ihre Kinder mit dem alleingelassen, was für sie als Eltern zu anstrengend oder zu bedrohlich war. Das tun sie auch heute noch. Sie verschließen einfach Auge, Ohr und Herz, wenn sie sich überfordert fühlen.

Judith zum Beispiel muss ihre Eltern so nehmen, wie sie sind. Ihre zwei Ältesten sind unkompliziert und robust. Sie kommen mit den Großeltern zurecht. Doch Moritz, der Dritte, ist einfach feinfühlig. Er weint, wenn Opa seine derben Späße macht oder ihm „aus Spaß“ Angst einjagt. Einige Gemüsesorten, die Moritz nicht gern isst, landen trotzdem bei den Großeltern immer wieder auf dem Teller. „Hab dich nicht so“, ist die Botschaft, mit der sich Judiths Eltern das Leben einfach machen.

Gefühl der Verpflichtung

Mit ihren Vorschlägen, wie die Eltern besser auf Moritz eingehen können, stößt Judith auf taube Ohren. Es rührt auch in ihrer eigenen Geschichte, denn Judith war wohl früher so sensibel wie Moritz und hätte Eltern gebraucht, die auf sie eingehen, auch wenn es das Leben etwas komplizierter macht. Judith ist fix und fertig nach Besuchen bei den Eltern. Ihr gehen viele Situationen nach. Sie grübelt, wie es beim nächsten Mal besser werden könnte und kommt doch zu keiner Lösung. Ihre Eltern würden sich gar nicht beschweren, wenn sie weniger zu Besuch kommen würde. Sie nehmen alles hin, solange es sie nicht aus ihrer Komfortzone zwingt. Vermutlich würde auch Judiths Kindern nicht viel fehlen. Aber darf sie die Beziehung einfach auslaufen lassen? Zu den eigenen Eltern? Und aus den Großeltern Fremde machen, zu denen ihre Kinder kaum einen Bezug haben? Gibt es nicht so etwas wie eine Verpflichtung, den Kontakt zu Eltern und Großeltern zu pflegen?

Ein Gefühl der Verpflichtung kann auch noch eine andere Quelle haben. Dann zieht die Not eines Elternteils in die Verantwortung.

Verantwortung für die Eltern

Jonas bekniet seine Mutter: „Mensch, geh’ doch mal zum Arzt.“ Doch seine Mutter entgegnet: „Dein Vater sagt, das sind nur Wehwehchen.“ „Mama, du kannst doch selbst …“, setzt Jonas an, aber er spricht den Satz nicht zu Ende, weil es keinen Sinn hat. Nächste Woche schaut Jonas ohnehin vorbei, dann kann er für die Mutter einen Termin beim Arzt machen. Schon bei dem Gedanken an den Besuch legt sich Jonas eine Last auf die Schultern. Seine Mutter wird klagen: wie sich der Vater schon wieder verhalten hat, dass niemand Zeit für sie hat und dass sie in ihrem Chaos nichts findet. Jonas wird seine übliche Rolle spielen. Er wird zuhören. Er wird ablenken und aufmuntern. Er wird vermutlich wieder vergeblich anregen, dass seine Mutter selbst etwas für ihr Wohlbefinden tut. Danach wird er ausgelaugt zurückfahren.

„Ich könnte das nicht“, sagt Jonas’ Frau, als sie sieht, wie sich Jonas mit Bier, Chips und einer Serie betäubt. Das macht er sonst schon länger nicht mehr, höchstens eben, wenn er bei der Mutter war. „Deine Mutter ist doch erwachsen und gesund. Soll sie doch leben, wie sie es für richtig hält.“ „Stimmt schon“, sagt Jonas und schüttelt vorsichtig die letzten Chips aus der Tüte. „Aber sie ist doch meine Mutter.“ Judith und Jonas haben sich in ihr Schicksal gefügt. Doch Kinder schwieriger Eltern können sich aus der Verantwortungsfalle befreien.

Alte Muster hinter sich lassen

Erwachsene Kinder fühlen sich gegenüber den Eltern so hilflos, wie sie es als Kinder waren. Doch heute verfügen sie über mehr positiven Einfluss, als sie erwarten. Sie sind überrascht, wie leicht sich Eltern manchmal führen lassen und wie gut es gelingt, Grenzen zu setzen. Judith zum Beispiel hat die Zeiten mit ihren Eltern am Telefon vorbereitet: „Papa, du weißt, dass es Moritz nicht gut damit geht, wenn du ihn aus Spaß erschreckst. Das wirst du dieses Mal nicht tun, oder?“ – „Mama, was wirst du denn am Wochenende kochen? (…) Nein, tut mir leid. Bohnen mag Moritz einfach nicht. Das kann nächstes Jahr schon anders sein. Gibt es noch etwas anderes, das du zu den Würstchen kochen kannst?“ Verständnisvoll haben Judiths Eltern auf diese Führung nicht reagiert. Sie haben sich gerechtfertigt und ihr „Hab dich nicht so“ wiederholt. Aber Judith braucht nicht unbedingt Verständnis. Sie hat den Widerstand der Eltern überwunden, indem sie freundlich auf ein paar Dinge bestanden hat.

Jonas hat seiner Mutter eine Grenze gesetzt: „Mama, ich möchte keine negativen Dinge über meinen Vater hören. Das ist doch eher ein Thema für eine Freundin.“ Dass die Mutter keine Freundin hat, mit der sie so offen reden könnte, heißt ja nicht, dass Jonas diese Rolle übernehmen muss. Wann immer Jonas’ Mutter mit Klagen über den Vater beginnt, wiederholt Jonas freundlich seinen Satz. Er wechselt das Thema oder geht in einen anderen Raum, um etwas zu erledigen. Interessanterweise sind die Gespräche mit seiner Mutter dadurch besser geworden. Es haben sich neue Themen ergeben und Jonas hat manches von seiner Mutter erfahren, was er so noch nie gehört hat. Wo sich erwachsene Kinder ihrer Sache sicher sind, kommen sie erstaunlich weit, wenn sie in der Beziehung eine positive Führung übernehmen.

Erwartungen zurücknehmen

Ein weiterer Schritt hat mit der inneren Ablösung von den Eltern zu tun. Ablösung bedeutet, ihnen gegenüber heute als gleichberechtigte Erwachsene zu empfinden und zu handeln. Dabei stirbt mancher kindliche Wunsch. Für Judith zum Beispiel ist es unendlich enttäuschend, wie wenig ihre Eltern auf sie eingehen. In diese Enttäuschung hat sie bis heute nicht eingewilligt. Sie ahnt, wie viel Trauer und Schmerz das auslösen wird. Doch es führt erwachsene Kinder in einen heilsamen Trauerprozess, wenn sie kindliche Hoffnungen begraben: „Ja, es ist nicht schön, aber meine Eltern sind, wie sie sind. Mehr kann ich an dieser Stelle nicht von ihnen erwarten. Ich nehme das an. Ich kämpfe auch nicht mehr dagegen an. Ich überlege stattdessen realistisch, was das für unsere Beziehung heißt.“

Traurige Stimmungen und Gedanken, schmerzliche Erinnerungen an früher und vielleicht auch Träume, die mit den Eltern zu tun haben, sind Zeichen, dass eine tiefere Ablösung stattfindet. Die Beziehung zu den Eltern ordnet sich in dieser Zeit neu. Judith hat ihren Eltern zum Beispiel mehr Verantwortung für die Beziehung zu den Enkeln gegeben: Sie hat ihnen erklärt, was den Enkeln Freude macht, womit sie sich wohlfühlen und womit nicht. Jetzt ist Judith gespannt. Wenn ihre Eltern das nicht aufgreifen, kommen ihre Enkel vermutlich nicht mehr gern zu ihnen. Judith wird sie dann nicht überreden, von ein paar Familienfesten vielleicht abgesehen. Etwas scheitern lassen zu dürfen, ist ein Kennzeichen einer gelungenen Ablösung. Doch neben den Gefühlsfragen tut sich auch die Gewissensfrage auf.

Auf dem Weg zu einem freien Gewissen

Manche Psychologinnen und Psychologen sehen im vierten der zehn Gebote – du sollst deine Eltern ehren – eine fragwürdige kulturelle Prägung. Zu oft haben sie erlebt, wie es Kinder aus schwierigem Elternhaus in die Pflicht nimmt und wehrlos macht. Missbräuchliche Eltern beanspruchen das vierte Gebot als Komplizen, um auch noch erwachsene Kinder gefügig zu machen. Kirchlich geprägte Eltern berufen sich dabei sogar auf die Bibel, andere müssen nur sagen: „Ich als deine Mutter …“ oder „Willst du etwa deinem Vater …“ – und geben ihren Worten unumstößliche Autorität. Eine ganze Kulturgeschichte von Verpflichtung schwingt in solchen Worten mit. So wird Druck aufgebaut, von dem sich Kinder ohne schlechtes Gewissen ablösen können.

Kinder, die sich von schwierigen Eltern ablösen, entscheiden sich nicht gegen die Eltern. Sie entscheiden sich für etwas. Sie empfangen das Geschenk des Lebens und stellen sich mit liebevollem Einsatz den Aufgaben, die ihnen Familie, Beruf und ihr Umfeld stellen. Wo Eltern und Schwiegereltern das unterstützen, kann man Leben teilen. Wo nicht, ist ein heilsamer Abstand nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Auch dann finden sich Gelegenheiten, den Eltern Wertschätzung und Liebe zu schenken. Doch auch schwierige Eltern haben nicht das Recht, ihren Kindern das Geschenk des Lebens zu verderben oder ihnen die Kraft zu rauben, die sie für ihr eigenes Leben brauchen.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (epaartherapie.de). Mehr zum Thema gibt es in seinem Buch „Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Frieden schließen und versöhnt leben“ (Francke).

„Ich vermisse unseren Sohn“

„Unser Sohn ist ausgezogen. Nun drehen sich meine Gedanken den ganzen Tag darum, was er gerade macht, vor welchen Schwierigkeiten er stehen könnte und ob ich ihm helfen sollte. Ich weiß, dass ich loslassen muss, aber es fällt mir schwer. Wie kann ich es lernen?“

Unsere Kinder in die Selbstständigkeit zu entlassen, ist ein wichtiger und oft auch schmerzhafter Prozess. Er vollzieht sich in vielen kleinen Schritten, die schon früh beginnen: Das erste Mal allein im Kindergarten, das erste Mal allein zu Fuß zur Schule gehen, das erste Mal allein zum Zahnarzt – all das sind wichtige Meilensteine. Wenn eines der wichtigsten Erziehungsziele ist, dass aus den Kindern selbstständige, verantwortungsvolle Menschen werden, die ihren Platz in der Welt finden, ist jeder dieser Schritte ein Grund zur Freude. Es ist eine wichtige Aufgabe von uns Eltern, unsere Kinder darin zu fördern und diese Dinge nicht für sie zu erledigen.

Vermeiden Sie zu häufige Telefonate!

Wenn dann der große Schritt des Auszugs nach Ausbildung oder Abitur kommt, sind die jungen Erwachsenen hoffentlich gut darauf vorbereitet, auch die nächsten Schritte zu gehen: eine passende WG aussuchen, sich in einer neuen Stadt orientieren, dafür sorgen, dass man genug zu essen im Kühlschrank hat, Menschenkenntnis in den vielen neuen Begegnungen anwenden … Wer seine Kinder darauf in den ersten 20 Jahren vorbereitet hat, hat gute Grundlagen gelegt.

Für die meisten Kinder ist der Auszug ein großes Abenteuer und eine aufregende Zeit, die sie genießen und zelebrieren. Das sollten wir ihnen gönnen und uns über die Erfolge freuen. Widerstehen Sie auf jeden Fall der Versuchung, mehr als einmal in der Woche anzurufen oder unablässig Nachrichten zu schicken. Telefone funktionieren in beide Richtungen. Wenn es unlösbare Fragen gibt, wird Ihr Sohn sich schon melden.

Loslassen ist ein Trauerprozess

Und trotzdem bleibt die innere Unruhe und Trauer. Ja, es ist wirklich ein Trauerprozess, den wir als Eltern durchlaufen. Vom Nicht-wahr-haben-Wollen („Mein Sohn kommt ja noch ganz oft nach Hause, das Kinderzimmer lassen wir so, wie es ist“) über eine gewisse Wut („Anderes ist ihm jetzt viel wichtiger als ich, obwohl ich alles für ihn getan habe“) bis zum Einrichten in die neue Situation, die ja auch Angenehmes hat. Aber zunächst muss ich loslassen. Ich konnte meine Kinder viele Jahre umsorgen und mich für sie einsetzen, aber jetzt weiß ich nicht mehr, wo sie sich Tag für Tag genau aufhalten und wie es ihnen geht.

Die Beziehung zum Kind wird nicht mehr die gleiche sein wie vorher. Allein das anzunehmen, kostet Kraft und Zeit. Mir persönlich hat es geholfen, Sorgen und Ablösungsschmerzen bei Gott abzugeben. Ihm konnte ich sowohl die Sicherheit meiner Kinder als auch meinen eigenen Schmerz anvertrauen. Kontrolle, Klammern und ständiges Nachfragen sind dagegen keine Option. Wir werden als Eltern aber auch auf uns selbst geworfen, wenn die Kinder ausziehen: Eine neue Lebensphase beginnt, in der wir viel Freiheit haben. Wie will ich diese Lücke füllen? Was kommt jetzt für mich als Vater oder Mutter? Es dauert meistens eine ganze Weile, bis man darin etwas Positives entdecken kann.

Anke Kallauch ist Referentin für Kindergottesdienst im Bund Freier evangelischer Gemeinden und Mutter von drei erwachsenen Kindern. 

Kontakt abgebrochen

„Unser Sohn (22) ist vor einem Jahr ausgezogen. Nun hat er uns sehr deutlich gemacht, dass er erst einmal keinen persönlichen Kontakt zu uns möchte. Er müsse sich abgrenzen. Das verletzt uns sehr. Wie können wir damit umgehen?“

In der Bibel lesen wir in 1. Mose 2,24: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen.“ Die Ablösung von den Eltern ist – seit jeher ein Thema. Für Sie als Eltern ist es allerdings sehr hart, wenn Ihr Sohn diese Ablösung so drastisch vollzieht, dass er gar keinen persönlichen Kontakt mehr wünscht.

„Familien kann man sich nicht aussuchen“, heißt es und bedeutet, dass Familienbande auch dann bestehen bleiben, wenn es mal „nicht so gut läuft“. Doch das ist nicht immer so. Denn erwachsene Kinder haben nach ihrer Volljährigkeit die Möglichkeit, ihr Verhältnis zu den Eltern neu zu gestalten, bis hin zur radikalen Trennung.

VERLASSENE ELTERN

Für Sie als Eltern ist es sehr schwierig, mit diesem Schmerz umzugehen. Da ist es ein schwacher Trost, dass es rund 100.000 Familien in Deutschland und der Schweiz gibt, denen es ähnlich ergeht. In Berlin haben sich Betroffene zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen: www.verlassene-eltern-berlin.de.

Betroffene erzählen, dass es den Schmerz lindert, wenn man Briefe an das eigene Kind schreibt. Das können handgeschriebene Briefe sein, E-Mails oder Grußkarten. Das kann Ihnen guttun, und vielleicht sind die Briefe irgendwann wieder eine Brücke zu Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter. Eine betroffene Mutter, Angelika Kindt, formuliert ihre Briefe als Blogartikel und stellt sie ins Netz: www.wenn-kinder-den-kontakt-abbrechen.de. Zudem hat sie über ihre Erfahrungen ein gleichnamiges Buch geschrieben.

SCHMERZ FÜHLT SICH WIE TRAUER AN

Verlassene Eltern empfinden dieselbe Trauer, als wäre das eigene Kind gestorben. Vielleicht sogar noch mehr, denn sie können nicht zu ihm, obwohl das Kind lebt. Sie wissen auch nicht, ob der Sohn oder die Tochter den Kontakt jemals wieder aufnehmen wird, oder ob lebenslange Funkstille herrscht. Das ist eine sehr belastende Situation.

In vielen Fällen benötigt Ihr Kind einfach nur Abstand auf Zeit. Vielleicht ist es für Ihren Sohn lediglich wichtig, eigene Erfahrungen zu machen, ohne auf Belehrungen oder Kommentare der Eltern Rücksicht nehmen zu müssen. Wenn er seine eigenen Erfahrungen gemacht hat oder wenn er selbst eine Familie gründen will, kommt er möglicherweise wieder auf die Herkunftsfamilie zu.

Wichtig ist in jedem Fall, dass Sie selbst Ihr eigenes Leben weiterleben. Versuchen Sie, Ihre Wut zu überwinden und Ihrem Sohn, trotz allem, den Kontaktabbruch zu vergeben. So bleibt die Tür für ihn offen, So bleibt die Tür für Ihren Sohn offen, und der Kontakt kann dann wieder aufleben, wenn Ihr Sohn dazu bereit ist.

Ingrid Neufeld ist Erzieherin und Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Sie lebt in Schlüsselfeld in Oberfranken.

 

 

„Kinder müssen ermutigt werden, die Familie zu verlassen“

In Family und nun besonders in FamilyNEXT beschäftigen wir uns regelmäßig mit dem Thema „Ablösung“. Für viele Eltern ein schwieriger Prozess, der sie ihr ganzes Elternsein begleitet: vom Abstillen über den ersten Tag im Kindergarten bis zum Auszug aus dem Elternhaus gibt es viele kleine und große Abschiede. Oder andersherum: Viele Schritte des Kindes in Richtung Selbstständigkeit. Das fordert Eltern einiges ab.

Der Soziologe Dirk Baecker spricht in diesem Zusammenhang von einer Paradoxie: „Die Familie muss ihre Kinder unglücklich genug machen, um die Familie verlassen zu wollen, und glücklich genug, um selbst eine Familie gründen zu wollen.“ Im Interview mit dem Philosophie Magazin, das sein Dossier der aktuellen Ausgabe dem Thema „Die Familie – Zuflucht oder Zumutung?“ widmet, erläutert Baecker die komplexen Herausforderungen, denen sich Eltern gegenüber sehen:

„Familie ist ja zunächst nichts anderes als Sorge für den Nachwuchs. Dieser Nachwuchs darf aber nicht auf alle Zeiten an die Eltern gebunden werden, sondern muss irgendwann selbst Nachwuchs zeugen und beim Aufwachsen begleiten. Dazu muss die Herkunftsfamilie verlassen und eine eigene Familie gegründet werden. In die Familie ist somit zwangsläufig der Keim ihrer Selbstauflösung zugunsten ihrer Neugründung miteingebaut.“ Eine Perspektive, die viele Eltern im Alltag wahrscheinlich nicht so sehr im Blick haben. Oder erst dann, wenn die Kinder so langsam erwachsen werden. Dabei fängt die Erziehung zur Selbstständigkeit ja schon viel früher an.

Dirk Baecker erklärt: „Eltern denken oft, ihre Kinder müssten sich ganz natürlich für ähnliche Dinge wie sie selber interessieren. Doch dann stellen sie bereits beim Sandkastenspiel, auf dem Basketballfeld oder in der Schule fest, dass ihre Kinder andere Kategorien und Präferenzen entwickeln und sich von anderen gesellschaftlichen Möglichkeiten anziehen lassen. Besteht zwischen Eltern und Kindern nun keine Gesprächsebene, auf der solche Eindrücke ausgetauscht werden können, entsteht zunehmend ein Gefühl der Irritation.“

Damit Ablösung gut gelingen kann, ist eine gewisse Balance gefragt: „Die Kinder müssen dazu
ermutigt werden, ihr eigenes Leben zu führen und ihre Familie verlassen zu wollen. Doch zusammen mit dieser Ermutigung muss das Bedauern mitgeteilt werden, dass man sich auseinanderlebt – um eben im Gegenzug die Kinder darin zu unterstützen, selbst wieder eine Familie gründen zu wollen.“

Im Dossier des aktuellen Philosophie Magazins sind neben dem Interview mit Dirk Baecker viele weitere Einblicke in die Zusammenhänge und Herausforderungen von Familie zu lesen: Wie kann es sein, dass Familie gleichzeitig als Zuflucht und Zumutung empfunden wird? Ist Zorn auf die eigenen Eltern normal? Wie können Kinder ihren eigenen Weg finden? Was schulden sie ihren Eltern? Ist das klassische Modell der Kleinfamilie überholt? Weitere Infos: http://philomag.de/