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Gesellschaftlicher Zusammenhalt beginnt in der Kindheit: Ein Kinderarzt erklärt den Zusammenhang

Kinder brauchen Sicherheit, Zugehörigkeit und das Gefühl etwas bewirken zu können, sonst fehlt ihnen später das Vertrauen in sich und andere. Kinderarzt Herbert Renz-Polster erklärt, warum Erziehung und gesellschaftlicher Zusammenhalt eng zusammenhängen.

Herr Renz-Polster, viele Menschen in Deutschland sind gerade unzufrieden. Die Mieten sind hoch, bei Ärzten bekommt man keine Termine mehr und Familien finden keine Kinderbetreuung. Manche von ihnen reagieren mit Hass und Ablehnung, manche bemühen sich um Lösungen. Warum ist das so?

Klar haben manche einfach eine kürzere Zündschnur. Aber das hängt auch damit zusammen, was wir in unserer Kindheit gelernt haben. Habe ich erfahren, dass ich mit Herausforderungen umgehen kann? Habe ich Sicherheit erfahren? Habe ich gespiegelt bekommen, dass ich etwas kann? Dass ich wertvoll bin? Kinder, die das nicht oder wenig erfahren haben, sind auch als Erwachsene noch sehr unsicher und neigen stärker zu Feindbildern. Das kann später zu Hass und Ablehnung führen. Und das kann dann durchaus auch eine politische Dimension annehmen, weil diese Menschen anfälliger sind für radikale, autoritäre politische Positionen – ob auf der rechten oder auf der linken Seite.

Innere Stimmigkeit

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass jedes Kind sich vier Grundfragen stellt: Nach Sicherheit, Anerkennung, Zugehörigkeit und Wirksamkeit. Was passiert, wenn die Antworten darauf negativ ausfallen?

Positive Antworten auf diese Fragen führen dazu, dass das Kind so was ausbildet wie eine innere Heimat, ein Gefühl von Stimmigkeit. Es bildet ein grundlegendes Werkzeugset an Ressourcen, mit denen es der Welt gewachsen ist. Es lernt, seine Gefühle zu regulieren und wie es mit sich und anderen gut umgeht. Und auch, wie es aus schwierigen Situationen wieder herauskommt. Sind die Antworten auf diese Fragen negativ, dann ist sein Werkzeugkoffer leer. Das Kind hat nicht die Tools, mit Belastungen produktiv und konstruktiv umzugehen. Stattdessen wird es vielleicht von Angst überflutet oder von Wut. Dann sieht es draußen möglicherweise nur Feindesland und empfindet die Menschen im Grunde als bedrohlich. Diese Grundhaltung nimmt es dann mit ins Erwachsenenalter.

Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?

Menschen, denen diese inneren Sicherheiten fehlen, suchen nach einem Ersatz. Einem Ersatz an Wert, an Größe und an Kontrolle. Welche Züge das annehmen kann, zeigt uns derzeit die MAGA-Bewegung (Make America Great Again, Anm. d. Red.), also die autoritäre Rechte in den USA. Da geht es gar nicht um die Lösung tatsächlicher Probleme, wie etwa der Klimakrise oder der sozialen Ungleichheit, sondern um Identitätsfragen: Wir sind stark, wir sind überlegen, wir sind auserwählt, wir sind die „richtigen Amerikaner“. So entsteht ein heilloses „wir“ gegen die „anderen“, getrieben von Misstrauen. Das zerreibt die ganze Gesellschaft.

Wir spüren das auch hierzulande, aber verglichen etwa mit den USA oder Frankreich leben wir auf einer Insel der Seligen. Wobei auch wir genug Grund zur Sorge haben. Ich sage das vor allem mit Blick auf die östlichen Bundesländer, wo sich gerade in den ländlichen Gebieten Wut und Frust mit extremen politischen Haltungen mischt. Und das ganz stark bei den jungen Männern.

Bedürfnisse beachten

Das heißt, wie wir unsere Kinder heute erziehen, wirkt sich später auch auf unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt aus?

Ja, auf jeden Fall. Aber damit meine ich nicht, dass Eltern keine Fehler machen dürfen. Es geht vielmehr um tiefgreifende Entwertungsprozesse über einen längeren Zeitraum. Etwas, das so tief geht, dass das Kind diese innere Basis nicht mehr aufbauen kann, von der ich vorhin sprach. Eine permanente Unsicherheit zum Beispiel, das Wissen: Ständig kann ich verletzt werden, mir kann jederzeit etwas Schlimmes passieren. Meine lebenswichtigen Beziehungen tragen nicht, ich kann nicht vertrauen. Oder wenn Kinder die ganze Zeit hören, dass sie ein Versager sind und nichts richtig machen. Wenn auch die Wärme in der Familie fehlt. Oft sind die Eltern selbst stark überfordert, kämpfen psychisch ums eigene Überleben. Oder haben einfach nicht die Kraft, weil sie erkrankt sind, Suchtprobleme haben oder unter unsäglichem materiellem Dauerstress stehen.

Stress ist ein gutes Stichwort. Im Alltag ist es für Eltern manchmal nicht so leicht, den richtigen Ton zu finden. Was ist, wenn das nicht immer gelingt?

Nur weil ich meinem Kind mal eine Zeit lang nicht genug Rückenwind gegeben habe, muss ich mir nicht gleich Sorgen um mein Kind machen. Manche Eltern denken vielleicht, sie müssten immer die richtigen Worte finden und alles perfekt machen. Doch eigentlich geht es darum, „ganz normal“ mit den Kindern umzugehen. Damit meine ich: Mach einfach keinen Nonsens. Guck, dass dein Kind das bekommt, was du dir auch wünschen würdest. Was wünscht du dir zum Beispiel von einer erwachsenen Paarbeziehung? Wahrscheinlich, dass dein Partner dir keine Angst macht. Oder dass ihr nach einem Streit wieder zusammenfindet. Und dass ihr gemeinsam Dinge unternehmt, die euch Freude machen. Es ist in Erziehungsfragen mittlerweile alles so theoretisch geworden. Aber dabei geht es eigentlich nur darum, menschlich zu sein. Natürlich unter der Maßgabe dessen, dass Eltern eine Verantwortung für ihr Kind haben und für es sorgen. Aber die Grundhaltung sollte die gleiche sein.

Selbstwirksamkeit lernen

Kinder werden nicht nur durch ihre Eltern geprägt, sondern auch durch den Kindergarten und die Schule. Welche Erfahrungen machen sie dort?

Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt es in der Schule und teils auch in der Kita an Selbstwirksamkeitserfahrungen. Können sie über den Lehrplan mitdiskutieren? Nein. Können sie irgendetwas anderes dort beeinflussen? Im Gegenteil. Immer bestimmen ältere Menschen über sie. Dieses Gefühl des Kontrollverlusts oder der Hilflosigkeit, übertragen sie dann auf die Gesellschaft. Das betrifft vor allem diejenigen Kinder, die nicht das Glück eines bildungsnahen Elternhauses haben oder denen Mutter Natur keine hauptfächertauglichen Talente mitgegeben hat, sondern andere. Gerade diese Kinder könnten Ermutigung und Rückenwind in der Schule gut gebrauchen, machen aber oft Stress-, Angst- und Versagenserfahrungen, weil sie immer zu kurz springen. Was macht das über die Jahre mit einem Kind?

Kein Wunder, dass über die Hälfte der Jugendlichen glaubt, keinen Einfluss auf die Politik zu haben. Was brauchen junge Menschen, um wieder Vertrauen in die Demokratie zu entwickeln?

Sie müssen beim Aufwachsen Vertrauen erfahren: Wir sind ein Team, und niemand wird da dauerhaft ausgegrenzt oder verletzt. Das heißt nicht, dass es nicht auch mal Stress gibt, aber der sollte menschlich gelöst werden. Und dann brauchen sie Strukturen, in denen sie mitbestimmen und mitgestalten können – in den Dingen, die sie schon überblicken können, natürlich. In der Kindheit macht jeder Mensch seine Erfahrungen damit, was es bedeutet, regiert zu werden. Wie wird auf mich und meine Bedürfnisse reagiert? Wie gehen die mir Überlegenen mit Macht um? Habe ich eine Stimme? Lerne ich Rücksicht auf andere zu nehmen? Wir dürfen das nicht unterschätzen. Das sind doch Grundübungen in Demokratie! Und diese Fragen stellt sich das Kind ja nicht nur zuhause in der Familie, sondern auch in den pädagogischen Einrichtungen. Wenn wir von der „Bildung“ reden, die dort passieren soll, dann gehört diese Persönlichkeitsbildung nach meinem Dafürhalten unbedingt dazu.

Rückgrat und innere Stärke

Sind wir da in Deutschland aktuell auf dem richtigen Weg?

Wir dürfen nicht blauäugig sein: Demokratie ist unglaublich schwierig. Sie bedeutet nicht nur irgendwo ein Kreuz zu setzen, sondern Kompromisse zu ertragen, konstruktiv zu denken, und auch die Schwächeren im Blick zu haben. An langfristigen Lösungen zu arbeiten, damit es der ganzen Gesellschaft besser geht. Demokratie braucht also Menschen, die empathisch sind und ein Interesse an anderen Menschen haben. Die mit sich selbst einigermaßen klarkommen und im Leben feststehen.

Wir haben in der Erziehung der Kinder eindeutig und messbar Land gewonnen. In den 70ern bis 90ern gab es eine Welle von positiven persönlichkeitsfördernden Entwicklungen für Kinder, eine neue, zugewandtere Haltung in der Erziehung etwa. Und es war auch die Zeit der letzten großen Bildungsreform. An den Schulen wurde beispielsweise versucht, den Kindern mehr eine Stimme zu geben.

Ich wünsche mir, dass wir uns weiter daran orientieren und das bewahren. Lasst uns weiterhin die Kinder so behandeln, dass sie an Rückgrat und innerer Stärke gewinnen. Und lasst uns die Familien im Blick behalten und sie entlasten so gut es geht, damit dort der Lebensstress nicht überhandnimmt. Fürsorge für die heranwachsenden Menschen ist ein gesellschaftliches Gut, vielleicht unser Wichtigstes.

Interview: Sarah Kröger ist freie Journalistin und Autorin.

Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Erziehungsexperte. In seinem aktuellen Buch „Demokratie braucht Erziehung“ untersucht er, welchen Einfluss autoritäre und kaltherzige Erziehung in der Kindheit auf uns hat – und warum Menschen dadurch anfälliger für radikale, autoritäre politische Positionen werden können.

Gewaltfreie Kommunikation: Diese 4 Schritte helfen zum Familienfrieden

Gedankenlose Kommentare führen in Konfliktsituationen schnell zur Eskalation. Gewaltfreie Kommunikation hilft, dies zu vermeiden. Eine Expertin verrät, wie es funktioniert.

Ich kenne, nutze und übe Gewaltfreie Kommunikation (GFK) seit etwa fünf Jahren. Es ist ein Kommunikationskonzept, das von dem amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg entwickelt wurde. Wenn ich Menschen, die GFK nicht kennen, begeistert davon erzähle, ernte ich meist irritierte Blicke. Der Begriff führt leicht zu Missverständnissen. Kommuniziert jemand, der GFK nicht kennt, automatisch gewalttätig? Das wird oft als Vorwurf verstanden und löst wenig Begeisterung aus.

Begriffe wie „kooperative Kommunikation“, „wertschätzende Kommunikation“, oder „Sprache der Verbindung“ würden den Kern der Methode auch treffend beschreiben. Marshall B. Rosenberg erkannte dieses Dilemma, aber der Name war schon sehr verbreitet. Er wurde ursprünglich in Anlehnung an Mahatma Gandhis Konzept des Nicht-Verletzens gewählt.

Am Anfang war die Gewaltfreie Kommunikation für mich ein Werkzeug. Ich suchte nach Lösungen, wie wir in unserer Patchworkfamilie mit sechs Kindern – damals zwischen sechs und sechzehn Jahren – besser mit Konflikten umgehen konnten. Meistens waren es Kinderthemen, die zu Paarkonflikten wurden und sich auf die Stimmung im Haus auswirkten. Wir hatten wenig Möglichkeiten, da wieder herauszukommen, außer abzuwarten. Aber dann kam schon das nächste Thema. Wir begannen mit einem Einführungsseminar über GFK.

Gewaltfreie Kommunikation in vier Schritten

GFK als Werkzeug betrachtet, bietet im Grundsatz vier Schritte an:

  • Beobachtung
  • Gefühl
  • Bedürfnis
  • Bitte

Wenn ich etwas von jemandem möchte, klären oder besprechen will, beginne ich mit einer Beobachtung. Möglichst objektiv benenne ich nur das, was auch eine Kamera beobachten würde. Wenn ich an dieser Stelle mit meiner eigenen Bewertung beginne, kann es sein, dass mein Gegenüber einen Vorwurf hört, sich angegriffen fühlt und sofort in den Verteidigungsmodus schaltet.

Danach nenne ich mein Gefühl, wie ich mich in der Situation fühle und mein Bedürfnis, warum mir das wichtig ist. Mit Bedürfnissen sind Dinge wie Freiheit, Zugehörigkeit, Sicherheit, Ruhe, Anerkennung, Gemeinschaft gemeint. Über Bedürfnisse kann man nicht streiten, wohl aber über die Strategien, mit denen jeder versucht, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Jeder mag seine Lieblingsstrategie im Kopf haben, aber grundsätzlich gibt es immer Alternativen. Marshall B. Rosenberg ist davon überzeugt, dass man das Problem nicht verstanden hat, wenn man nur eine Strategie zur Lösung eines Problems oder zur Erfüllung eines Bedürfnisses kennt. Wenn man also weiß, worum es jedem geht, eröffnen sich mehr Möglichkeiten und man ist der Lösung schon viel näher.

Der vierte Schritt ist die Bitte. Sie wird oft vergessen, ist aber sehr kraftvoll. Es gibt verschiedene Arten von Bitten. Es ist wichtig zu prüfen, ob man eine echte Bitte ausspricht oder doch insgeheim eine Forderung, nur hübscher formuliert. Eine echte Bitte kann ohne Konsequenzen abgelehnt werden. Das gilt auch für Jugendliche. Umso schöner ist es, wenn sie Bitten freiwillig erfüllen, weil sie verstehen, worum es mir geht.

Konflikte lösen

Konflikte sind normal. Gewaltfreie Kommunikation bedeutet nicht, dass wir uns in Watte packen. Im Gegenteil, GFK sorgt oft für die entscheidende Klarheit und ist eine Hilfe, um gut aus einem Konflikt herauszukommen. Wenn ich in einer akuten Konfliktsituation stecke, eine Provokation oder einen Vorwurf höre, habe ich verschiedene Möglichkeiten zu reagieren:

  • Selbstempathie: Ich finde es unmöglich, was da gerade passiert und atme erst einmal tief durch. Warum trifft mich das so? Wie fühle ich mich gerade? Welches Bedürfnis habe ich? Der Fokus liegt bei mir, ich reflektiere kurz. Es hilft, etwas Pfeffer aus der Situation zu nehmen, um gelassener reagieren zu können.
  • Ehrlicher Selbstausdruck bzw. Aufrichtigkeit: Ich reagiere auf die Situation mithilfe der vier Schritte. Aus meiner Sicht schildere ich die Beobachtung, mein Gefühl, mein Bedürfnis und eine Bitte. Wenn es mir vor allem um den Kontakt mit der anderen Person geht, könnte eine Kontaktbitte zum Beispiel lauten: „Wie geht es dir, wenn du das von mir hörst?“ Der Fokus liegt bei mir, denn ich möchte mit meinem Anliegen gesehen werden.
  • Empathie: Ich antworte mit Fokus auf den Gefühlen und Bedürfnissen des anderen. Empathie ist der Schritt, der Mauern einreißt und Verbindung ermöglicht. Um aus Konfliktsituationen wieder herauszukommen, braucht es jemanden, der bereit ist, als Erstes auf den anderen zuzugehen und empathisch zuzuhören.

Empathie hilft zu verstehen

Empathie bedeutet, bereit zu sein, mein Gegenüber wirklich zu verstehen, sich einzufühlen in das Gegenüber, zu versuchen, in seinen Schuhen zu stehen, durch seine Augen zu sehen. Rosenberg hat Empathie als „den Verstand leer machen und mit dem ganzen Wesen zuhören“ beschrieben. Wichtig ist hierbei, mal nichts zu sagen, keine Ratschläge zu geben, keine Lösungen zu präsentieren, sondern einfach meine Präsenz zu schenken.

Es ist, als wäre man Gast im Haus des anderen: Man schaut sich neugierig um, lernt das Haus kennen, fragt nach den Hintergründen. Es bedeutet nicht, dass man die Dinge, die man in diesem Haus sieht, gut finden muss. „Verstehen heißt nicht automatisch einverstanden sein“ lautet der Grundsatz. So kann ich, oft auch in Situationen mit Jugendlichen, interessiert zuhören, den anderen verstehen, auch wenn ich es selbst nicht gut finde. Allein das Verstehen hilft, dass sich mein Gegenüber gesehen fühlt, dass es ihm besser geht und wir im Gespräch bleiben.

Wenn ein Jugendlicher mit einem unfreundlichen „Chill mal“ um die Ecke kommt, muss das kein Vorwurf an mich sein. Vielleicht ist es ein Ausdruck seines Bedürfnisses nach Ruhe. Das Bild, dass Vorwürfe nur Verpackungen für unerfüllte Bedürfnisse sind, hilft mir, damit besser umzugehen. Wenn ich aufgebracht bin, gelingt es mir nicht, empathisch auf andere zu reagieren. Genauso, wenn mein Energietank leer ist. Dann werde ich daran erinnert, dass GFK ein ständiges Entwicklungsfeld bietet. Um Empathie geben zu können, brauchen wir selbst Empathie. Sich selbst Empathie geben zu können, ist besonders schwierig und gleichzeitig sehr hilfreich.

Auf die innere Haltung kommt es an

Rosenberg ging es in seinem Konzept um die innere Haltung, mit der wir uns selbst und anderen Menschen begegnen wollen, um mehr Kooperation, Gemeinschaft und Freude im Zusammenleben. Spätestens hier entfaltet sich die Gewaltfreie Kommunikation als Weg zur Persönlichkeitsentwicklung. Sie hilft, sich selbst und andere besser zu verstehen. Mit einem oder mehreren Seminaren ist es nicht getan. Es ist Übungssache, wie wenn wir eine neue Sprache lernen. Durch weiteres Üben und tieferes Einsteigen in die Thematik werden die eigenen Gefühle und Bedürfnisse weiter erforscht. Je besser das gelingt, desto besser kann man unerfüllte Bedürfnisse benennen und geeignete Strategien finden, um sie zu erfüllen.

Unsere Kinder haben den Vorteil, dass sie diese Haltung bereits als Jugendliche erfahren. Sie erleben, wie wir über unsere Gefühle und Bedürfnisse sprechen, sie danach fragen, und üben so, selbst Worte für ihre Empfindungen zu finden. Ein wertvoller Wortschatz.

Andere begleiten

Mit Gewaltfreier Kommunikation kann ich meine eigene Kommunikation und Haltung reflektieren. Es gibt aber auch Hilfsmittel und unterstützende Fragen, mit denen ich anderen helfen kann, aus schwierigen Situationen einen guten Ausweg zu finden. Das gilt für Ärger und Wut genauso wie für Enttäuschungen und Trauer. Wir versuchen dabei gemeinsam herauszufinden, worum es dem anderen im Innersten geht, sodass es leichter wird, damit umzugehen.

Meine eigene GFK-Reise umfasste nach dem Einführungsseminar eine erste GFK-Familienfreizeit, in der wir das Konzept gemeinsam erleben und lernen durften, sowie eine Jahresausbildung. Für regelmäßige Übungsgruppen, die es überall (auch online) gibt, fehlte mir die Zeit. Die Familienfreizeit wurde bald zu unserem gemeinsamen Highlight des Jahres. Hier erleben und üben wir GFK nicht nur im Seminarraum, sondern im Miteinander. Auch die Kinder lernen die Gemeinschaft und den respektvollen Umgang miteinander sehr zu schätzen. Inzwischen bringen meine Familie und ich uns aktiv in die Organisation dieser Freizeit ein.

GFK schafft Nähe und Verbindung untereinander. Wir lernen uns besser kennen, verstehen uns besser und haben die Sicherheit, auftretende Konflikte gut lösen zu können. Für unsere Familie hat GFK wesentlich zu mehr Familienfrieden beigetragen und vor allem unsere Paarbeziehung gestärkt.

Clara Röder ist Beraterin für Arbeitssicherheitskultur, Mutter und Bonusmutter von sechs Kindern und Organisatorin der GFK-Familienfreizeit „FamilieTanken“ (familietanken.de).

Das steckt hinter den Gefühlen

Starke Gefühle werden häufig von unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen ausgelöst. Wie gehen wir damit um?

Die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken, fällt vielen Menschen schwer. Wenn Kleinkinder Bedürfnisse haben, äußert sich das in einem Ausdruck von Gefühlen. Es wird lautstark gerufen, geschrien oder geweint. Sobald wir Menschen sprechen lernen, fangen wir an, unsere Bedürfnisse verbal auszudrücken. Dennoch bleibt da auch immer eine gewisse Unfähigkeit, sie transparent in Worte zu fassen.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Es gibt grundlegende Bedürfnisse, deren Erfüllung wir zum Überleben brauchen. Die sogenannte Bedürfnispyramide nach Maslow geht davon aus, dass bestimmte Grundbedürfnisse erfüllt werden müssen, bevor andere Arten von Bedürfnissen angestrebt werden können. Die Bedürfnispyramide besteht aus fünf Ebenen. Zur untersten und überlebenswichtigsten Ebene gehören die körperlichen Bedürfnisse. Sie beziehen sich auf grundlegende Dinge wie Schlaf und Nahrung. Auf der zweiten Ebene steht Sicherheit. Hier geht es um einen Zustand der Stabilität in Bezug auf unsere Umgebung, aber auch um finanzielle und seelische Sicherheit. Auf der dritten Ebene stehen soziale Bedürfnisse. Dazu gehören Freundschaften und ein gutes Beziehungsnetzwerk. Die vierte Ebene ist Anerkennung. Hier geht es darum, Respekt und Wertschätzung von anderen Menschen zu bekommen. Auf der fünften Ebene geht es schließlich um Selbstverwirklichung. Auf dieser Ebene möchten Menschen ihre Potenziale ausschöpfen, Ziele erreichen und Neues erschaffen.

Die ersten vier Ebenen werden als Defizitbedürfnisse bezeichnet und die höchste Stufe als Wachstumsmotiv. Werden Defizitbedürfnisse nicht befriedigt, kann der Mensch physischen oder psychischen Schaden erleiden. Hingegen wird das Wachstumsmotiv, also Selbstverwirklichung, nie vollkommen erfüllt werden. Wir brauchen Selbstverwirklichung also nicht zum Überleben, aber wir brauchen sie für unsere Zufriedenheit.

In meinem Nachdenken über Bedürfnisse möchte ich nicht vergessen, dass sich Selbstverwirklichung nur wenige Menschen auf der Erde leisten können. Viele Menschen werden durch Krieg, Flucht, Armut und aus weiteren Gründen niemals die Chance haben, sich um dieses Bedürfnis zu kümmern. Trotz aller Probleme in unserer Gesellschaft möchte ich niemals vergessen, dass es ein Privileg ist, sich um Selbstverwirklichung kümmern zu dürfen.

Gefühle nicht kleinhalten

Ich bin aufgewachsen mit Eltern und Großeltern, die mit dem Wahrnehmen von Bedürfnissen wenig anfangen konnten. Der Umgang mit Schwächen, Bedürfnissen und Gefühlen ist kulturell geprägt und abhängig von dem pädagogischen Mainstream der Zeit. Weder meine Großeltern noch meine Eltern durften als Kinder lernen, über ihre eigenen Bedürfnisse, Gefühle oder Schwächen zu sprechen. Seitdem hat sich viel verändert. Unsere Kinder erleben eine bedürfnisorientierte und gleichwürdige Erziehung. Uns ist es wichtig, was sie fühlen und was hinter ihren Gefühlen steckt. Bestenfalls bieten wir ihnen Wörter für ihre Gefühle an. Das bedeutet nicht, dass wir ihre Bedürfnisse immer erfüllen müssen. Aber wir möchten sie wahrnehmen, anhören und mit ihnen im Gespräch darüber bleiben.

Marshall B. Rosenberg hat mit dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation den Satz geprägt, dass hinter jedem Gefühl ein Bedürfnis steckt. „Ach so ist das“, dachte ich, als ich diesen Ansatz vor zehn Jahren kennenlernte. Dann steckt hinter meiner Wut also ein Bedürfnis. Aber welches? Zu Hause wurde mir keine Sprache dafür mitgegeben. Gefühle wurden kleingehalten und nicht akzeptiert. Wie soll ich denn jetzt an mein Bedürfnis herankommen?

Bedürfnisse herausfinden und anerkennen

Der erste wichtige Schritt dafür ist, das Bedürfnis hinter dem Gefühl herauszufinden. Der zweite ist, mich mit diesem Bedürfnis mitzuteilen. Unsere Gefühle zeigen uns, in welchem Maße unsere Bedürfnisse erfüllt werden oder auch nicht. Gefühle sind wichtige Boten. Wenn wir unser Bedürfnis hinter dem Gefühl erkennen und dieses mitteilen, dann gibt man dem Gegenüber die Möglichkeit, das Gefühl zu verstehen.

Als ich vor zehn Jahren auf eine Liste von Bedürfnissen blickte, wurde mir klar: „Ja, ich habe da einige Bedürfnisse, die nicht gestillt sind und die anfangen zu schmerzen. Aber ich kann ja sowieso nichts daran ändern.“ Außerdem hatte ich gelernt, dass ich nicht bedürftig zu sein habe und dass meine Bedürfnisse nicht wichtig sind. Inzwischen weiß ich: Das ist Blödsinn. Natürlich darf ich bedürftig sein und Bedürfnisse aussprechen. Nur so schaffe ich Nahbarkeit. Erst wenn mein Gegenüber weiß, was ich brauche und was mir wichtig ist, kann ein gesundes Gleichgewicht in einer Beziehung entstehen. Bedürfnisse können auch ausgehandelt werden: Können wir gerade umziehen? Kann ich meinen Job wechseln? Können wir etwas an unserer Partnerschaft verändern? Können wir weniger arbeiten? Kann ich in der Woche Zeit nur für mich allein haben? Bedürfnisse zu teilen, kostet Mut, denn ich zeige mein Inneres und mache mich verletzlich. Es besteht die Gefahr, dass mein Gegenüber die Bedürfnisse nicht versteht. Jeder von uns hat unterschiedliche Bedürfnisse. Das kann uns in Konflikte bringen. Aber es hat auch die Kraft, uns zu verbinden. Das Risiko, das damit einhergeht, wenn wir uns ehrlich mitteilen, lohnt sich. Denn am Ende steht die Chance einer tieferen Verbundenheit.

Sich von Wünschen nicht beherrschen lassen

„Ein Bedürfnis ist Hunger, ein Wunsch ist Pizza“, meinte neulich ein Freund zu mir. Wünsche resultieren aus Bedürfnissen. Dabei haben wir oft eine klare Vorstellung davon, wie unsere Bedürfnisse gestillt werden sollen. Ich war Gott schon ab und an dankbar, dass er mir meine Wünsche nicht erfüllt hat. Gleichermaßen habe ich schon oft gelitten, weil ich einen Wunsch hatte, wie jenes Bedürfnis gestillt werden sollte, und es ist ebenfalls nicht passiert. Das sind manchmal qualvolle Zeiten, in denen ein Wunsch nicht in Erfüllung geht und ein Bedürfnis nicht gestillt wird. Es ist ein Ringen. Und doch darf ich erleben, dass Bedürfnisse oft anders erfüllt werden als gedacht. Manchmal habe ich versucht, meine Bedürfnisse mit meiner Vernunft abzuschneiden. Erfolglos. Sie machen sich an anderer Stelle wieder bemerkbar. Bedürfnisse sind wichtig und können nicht einfach abgeschnitten werden. In ihnen liegt auch ein Teil meiner Persönlichkeit. Meine Bedürfnisse geben mir Antrieb für Veränderung. Ist etwas im Hier und Jetzt nicht gut, dann melden sich meine Bedürfnisse durch ein ungutes Gefühl. Bedürfnisse schaffen neue Ideen, Räume und Begegnungsflächen.

Sehnsüchte und Wünsche, wie ein Bedürfnis erfüllt werden soll, haben auch die Schlagkraft, mich zu beherrschen. Wenn mein ganzer Fokus auf der Erfüllung meines Wunsches liegt, dann wird er zerstörerisch und sorgt dafür, dass ich das Schöne, das neben dem unerfüllten Wunsch steht, nicht mehr wahrnehme. Dankbarkeit für das, was da ist, hilft gegen den Frust der unerfüllten Wünsche. Auch helfen weitere Perspektiven, wie Bedürfnisse gestillt werden könnten. Es gibt viele Wege dafür und wenn sie mir selbst nicht in den Sinn kommen, haben Freunde und Gott oft weitere kreative Ideen. Folgende Haltung hilft mir: Ich halte meine Handflächen nach unten und lasse los: Alles, was mich beschwert, gebe ich an Gott ab. Ich halte inne. Dann drehe ich meine Handflächen nach oben: Ich empfange. Ich bete mein persönliches Gebet. Mein Taufvers lautet: „Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Darauf will ich vertrauen.

Tamara von Abendroth arbeitet in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Berlin.

Die wahren Gründe hinter dem Streit

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Therapeut verrät: Darum streiten wir wirklich

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Psychotherapeut Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Experten erkären: Warum Kinder nicht nerven wollen!

Auch wenn es manchmal so scheint: Kinder haben nicht die Absicht, ihre Eltern zu ärgern. Aber sie setzen sich für sich selbst und ihre Bedürfnisse ein. Eva-Mareile und Hannsjörg Bachmann erklären im Interview das Prinzip der Gleichwürdigkeit.

Was verstehen Sie unter Gleichwürdigkeit?

Eva-Mareile Bachmann: Unter Gleichwürdigkeit verstehen wir eine innere Haltung, zu der wir uns als Erwachsene bewusst entscheiden. Es geht darum, jedem Menschen, egal welchen Alters, mit demselben Respekt zu begegnen, ihm dieselbe Würde zuzugestehen – von Geburt an. Das ist für viele eine neue Sichtweise. Traditionellerweise wird einem Erwachsenen in unserer Gesellschaft deutlich mehr Achtung entgegengebracht als einem Kind.

Hannsjörg Bachmann: Eine gleichwürdige Eltern-Kind-Beziehung beruht auf einer Liebes- und Vertrauensbeziehung. Sie beinhaltet, dass Eltern ihr Kind mit echtem Interesse, Wohlwollen und Empathie begleiten, fest davon überzeugt, dass ihr Kind immer sein Bestes gibt und sie nicht ärgern, nerven oder provozieren will – auch wenn es manchmal auf den ersten Blick so aussehen mag. Und dass auch schon kleine Kinder in vielen Bereichen kompetent sind und sich wünschen, in ihrer Individualität und als ganze Person gesehen, gehört und ernst genommen zu werden. Hier geht es ihnen ganz genauso wie den Erwachsenen.

Unterschiedliche Bedürfnisse

Haben Sie dafür ein praktisches Beispiel?

EMB: In vielen Familien gibt es morgens Streit. Die kleinen Kinder sind nicht rechtzeitig für den Kindergarten fertig, möchten sich in ihrem eigenen Tempo aber unbedingt selbst anziehen. Die Eltern fühlen sich unter Druck, weil sie pünktlich bei der Arbeit sein müssen. Alle elterlichen Ermahnungen, endlich schneller zu machen, verhallen scheinbar ungehört. Das Kind schreit und wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Bemühungen der Eltern, das Anziehen zu beschleunigen. Und die Eltern sind wütend oder enttäuscht, weil der Start in den Tag mal wieder so nervenaufreibend war. Das Kind ahnt nicht, dass sein Bedürfnis nach Selbstständigkeit mit den Bedürfnissen der Erwachsenen nach Effizienz oder Pünktlichkeit kollidiert. Außerdem fehlt ihm noch jegliches Zeitgefühl. Für Kinder sind deshalb elterliche Wut- oder Ärger-Reaktionen oft überhaupt nicht nachvollziehbar.

HB: Es lohnt sich zu fragen – und dann auch gut zuzuhören: Warum warst du eben so ärgerlich? Auch kleine Kinder können oft schon erstaunlich gut ausdrücken, was sie wütend gemacht hat. Im Kleinkindalter geht es oft um das Thema Selbst-Machen oder Allein-Machen. In dieser Lebensphase erleben Kinder oft mit großem Stolz, wie ihre Kompetenz in vielen Bereichen rasch zunimmt – und natürlich möchten sie diese neuen Fähigkeiten unbedingt weiter erproben, zum Beispiel beim selbstständigen Anziehen. Sie wehren sich, wenn sich Erwachsene hier einmischen. Sie kämpfen für sich und ihre Selbstständigkeit und nicht gegen ihre Eltern. Wir sprechen deshalb heute vom Selbstständigkeitsalter, nicht vom Trotzalter. Die Situation entspannt sich oft schon merklich, wenn man von diesen Bedürfnissen des Kindes weiß und ihnen Rechnung trägt, indem man beispielsweise mehr Zeit für das Anziehen einplant und sich nicht ungebeten in diese Prozesse einmischt.

Prinzip Gleichwürdigkeit

Worin unterscheiden sich Gleichwürdigkeit und Gleichberechtigung?

HB: Kinder und Eltern sind überhaupt nicht gleichberechtigt. Die Führung in der Familie liegt eindeutig und immer bei den Eltern. Nur sie verfügen über den notwendigen Überblick und die Erfahrung, um die Familie in eine gute Zukunft zu führen. Die Eltern tragen somit auch die erste Verantwortung für die Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehung.

Gilt Gleichwürdigkeit für Kinder jeden Alters?

HB: Die Haltung ist immer dieselbe. Sie gilt für die Neugeborenen ebenso wie für die Kinder im Kita- und Grundschulalter, genauso für die jugendlichen oder erwachsenen Kinder. Das ist das Praktische: Wenn Eltern diese Haltung verinnerlicht haben, benötigen sie nicht für jedes Lebensalter neue Ratgeber. In jeder Situation geht es immer wieder neu um das echte Interesse am anderen – die Fähigkeit, sich in die Schuhe des anderen zu stellen, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und die Bereitschaft, aufmerksam zuzuhören und verstehen zu wollen.

EMB: Herausfordernde Äußerungen des Kindes oder des Jugendlichen – sie oder er ist wütend, rennt weg, schreit, erscheint aggressiv – müssen dechiffriert werden. Wenn ich den anderen mit Wohlwollen betrachte und davon ausgehe, dass er oder sie mir nichts Böses will, bleibt die Frage: Warum sonst könnte er sich so verhalten? Es braucht oft viel Geduld und Einfühlungsvermögen, um die Botschaft dahinter zu verstehen. Wichtig ist, in solchen Situationen in Beziehung zu bleiben und nicht aus dem Kontakt zu gehen. Ärger und Aggressivität sind oft Hinweise dafür, dass das Kind oder der Jugendliche davor verletzt, gekränkt, übersehen oder ungerecht behandelt worden ist.

Wünsche und Bedürfnisse

Bedeutet Gleichwürdigkeit, jedem Wunsch des Kindes nachzugeben?

HB: Nein. Auf keinen Fall! Eltern lernen gewöhnlich rasch, gut hinzuhören und auch zwischen Wunsch und Bedürfnis des Kindes zu unterscheiden. Wichtig ist, sich für die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes echt zu interessieren, sie verstehen zu wollen. Das bedeutet nicht, sie auch erfüllen zu müssen. Kinder sind oft schon zufrieden, wenn Mutter oder Vater klar signalisieren: Ich habe verstanden, was du gesagt hast, dein Wunsch ist bei mir angekommen, auch wenn sich diese Antwort mit einem Nein verbindet: „Heute Abend kannst du nicht mehr draußen spielen.“

EMB: Wie in jeder anderen Beziehung ist auch für Eltern Nein-Sagen erlaubt und unbedingt erforderlich. Jeder darf und muss Grenzen äußern. Und jeder hat unterschiedliche Ideen, Gefühle, Befindlichkeiten und Bedürfnisse – auch wenn sich daraus Konflikte ergeben und man damit umgehen lernen muss. Wichtig ist aber, dass sich jeder gesehen, gehört und verstanden fühlt und das Wohlwollen des anderen spürt. Dann ist die gefundene Lösung oft zweitrangig.

Eigene Prägung hinterfragen

Ist ein gleichwürdiger Umgang miteinander erlernbar?

EMB: Erfreulicherweise ja. In unserer Gesellschaft werden die meisten Kinder in Familien groß, in denen Eltern und Kinder nicht gleichwürdig miteinander umgehen. Viele der heutigen Eltern sind selbst noch eher autoritär erzogen worden und geben diese Haltung als das ihnen vertraute Erziehungsmodell an ihre Kinder weiter. Insbesondere in Konfliktsituationen, wenn bei allen die automatisierten Muster greifen. Dabei geht es zentral um Gehorsam, Funktionieren und Anpassung. Der Erwachsene definiert, was richtig oder falsch ist, und sorgt dafür, dass das Kind diesen Vorgaben folgt. Schimpfen, Kritisieren, Strafen oder manipulatives Belohnen oder Loben sind gängige Erziehungsmethoden. Die Erziehung steht im Vordergrund, nicht die gleichwürdige Beziehung. Viele Kinder erleben, dass sie klein gemacht werden – ein gesundes Selbstwertgefühl kann sich so nicht entwickeln. Und natürlich leidet auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern unter diesen Erfahrungen.

HB: Dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul ist es zu verdanken, dass die Haltung der Gleichwürdigkeit in den vergangenen Jahrzehnten eine Renaissance erlebt hat. Diese Haltung ist ja nicht wirklich neu. „Geh mit dem anderen so um, wie du selbst behandelt werden möchtest“, ist die alte biblische Formulierung von Gleichwürdigkeit. Trotz dieser Verankerung in der Bibel hat sich die gleichwürdige Haltung jedoch noch nicht durchgesetzt.

Wie kann man Gleichwürdigkeit in familiären Beziehungen umsetzen?

HB: Sehr einfach. Die Eltern beginnen damit, sie machen es vor. Sie reflektieren ihre eigenen – oft autoritären – Prägungen, Einstellungen und Verhaltensmuster kritisch und entscheiden sich für eine neue Haltung. Indem sie selbst erproben und vorleben, wie ein gleichwürdiger Umgang in den Erwachsenen-Beziehungen und in der Eltern-Kind-Beziehung aussieht, haben die Kinder ein neues Vorbild, an dem sie sich orientieren und das sie übernehmen können. Gleichwürdige Beziehungen fühlen sich warm, angenehm, herzlich und lebendig an, die Beziehungen bekommen eine ganz neue Qualität. Gleichwürdigkeit schafft Vertrauen und Offenheit. Wer gleichwürdige Beziehungen kennengelernt hat, möchte nie mehr darauf verzichten.

Das Interview führte Lisa-Maria Mehrkens. Sie ist Psychologin und Journalistin.

Dr. Eva-Mareile Bachmann ist Psychotherapeutin in eigener Praxis und Mutter von zwei Zwillingspaaren.

Prof. Dr. Hannsjörg Bachmann, geboren 1943, war 20 Jahre lang Leiter einer Kinderklinik in Bremen. Er machte Ausbildungen bei Jesper Juul und Karl-Heinz Brisch und ist Mitbegründer der „Familienwerkstatt im Landkreis Verden e. V.“.

Bedürfnisse von Eltern und Kindern ausbalancieren

Bei der „Bedürfnisorientierten Erziehung“ stehen die Kinder im Fokus. Doch auch die Bedürfnisse der Eltern zählen. Therapeutin Melanie Schüer gibt Tipps, wie Eltern und Kinder zufrieden bleiben.

Babys nah am Körper tragen, nach Bedarf stillen, Matratzenlager als Familienbetten … all das ist zurzeit bei jungen Eltern längst keine Ausnahme mehr, sondern gehört immer häufiger zur Normalität im Alltag mit Säuglingen und Kleinkindern. Seit einigen Jahren orientieren sich immer mehr Eltern am Ansatz der sogenannten „Bedürfnisorientieren Erziehung“. Diese Denkweise schenkt der Eltern-Kind-Beziehung besonders viel Beachtung. Körpernähe, Tragen, Einschlafbegleitung beziehungsweise gemeinsames Schlafen sind dabei wichtige Elemente. Die Bedürfnisorientierte Erziehung geht davon aus, dass Babys und Kleinkinder immer einen legitimen Grund für ihr Verhalten haben, denen bestimmte Bedürfnisse zugrunde liegt, und nie weinen oder quengeln, um ihre Eltern zu „ärgern“ oder „Grenzen auszutesten“.

Die Angst vor dem Verwöhnen

Tatsächlich ist ein Verständnis im Sinne von „Passt auf, der will nur schauen, wie weit er gehen kann!“ oder „Wenn ihr auf jedes Weinen reagiert, tanzt sie euch bald auf der Nase herum!“ und damit eine Angst vor dem „Verwöhnen“ noch weit verbreitet. Jedoch geht das an der Realität vorbei.

Wichtig dabei ist aber, zu verstehen: Eltern, die kindliche Bedürfnisse erkennen und erfüllen, verwöhnen nicht. Sie nehmen ihre Kinder ernst und geben ihnen eine wichtige Erfahrung mit auf den Weg: Nämlich, dass sie ernst genommen und liebevoll umsorgt werden. Das ist eine wichtige Basis für die Entstehung von Urvertrauen und Beziehungsfähigkeit.

Natürlich kann man Kinder „verwöhnen“ oder „verweichlichen“, doch das bedeutet etwas ganz andres:

  • wenn Kindern ständig Aufgaben abgenommen werden, die sie schon selbst ausführen könnten
  • wenn Kindern der Eindruck vermittelt wird, dass nur ihre Bedürfnisse zählen und sich die ganze Welt um sie dreht
  • wenn Kindern nie Frust oder die Erfahrung der Folgen ihres Handelns zugemutet werden

Die 7 Kernpunkte der bedürfnisorientierten Erziehung

Konkret betont die bedürfnisorientierte Erziehung sieben wesentliche Elemente:

  • Birth Bonding: Direkt nach der Geburt sollte Augen- und Körperkontakt zwischen Mutter und Kind ermöglicht werden.
  • Stillen statt Flaschennahrung (Stillen nach Bedarf, ca. ein bis vier Jahre lang, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu stärken)
  • Häufiges Tragen des Babys nah am Körper
  • Schlafen in der Nähe des Babys (z.B. Familienbett, Beistellbett)
  • Rasches Reagieren auf das Weinen des Babys
  • Verzicht auf Schlaftrainings, die „(allein) weinen lassen“ beinhalten
  • Balance zwischen den elterlichen und den kindlichen Bedürfnissen

Wünsche oder Bedürfnisse?

Die Balance zwischen kindlichen und elterlichen Bedürfnissen ist Teil der sieben Kernelemente der bedürfnisorientierten Erziehung. Und doch kann der starke Fokus auf die Bedürfnisse des Kindes dazu führen, dass Eltern sich selbst aus den Augen verlieren. Insbesondere dann, wenn Ansprüche wie natürliche Ernährung, windelfreie Erziehung, Familienbett usw. hinzukommen. Eine weitere Schwierigkeit: Die Begründer der Bedürfnisorientierten Erziehung, das Ehepaar Sears, erwähnen zwar den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen, führen dies aber nicht weiter aus. So ist nicht klar, was das Problem ist: Steht hinter dem fünften Aufstehen nach einem liebevollem Einschlafritual mit Kuscheln und Vorlesen ein Bedürfnis nach Nähe, das wir auf keinen Fall verweigern dürfen? Muss ich das Bedürfnis meines Kleinkindes nach Selbstbestimmung erfüllen, wenn es sich weigert, seine Zähne zu putzen? Was zählt mehr, wenn die Mutter abstillen will, das Kind aber nicht?

All das sind nicht nur knifflige Fragen, sondern ganz schnell auch Auslöser für Streitigkeiten zwischen Elternteilen. Und das ist oft eng verbunden mit der großen Angst, etwas falsch zu machen und damit die Eltern-Kind-Bindung zu gefährden oder dem Kind anderweitig zu schaden. Wichtig ist dabei, dass das Bedürfnis, das sich hinter dem Verhalten verbirgt, oft einem größeren Thema entspricht, z.B. „Selbstbestimmung“ oder „Nähe“. Wenn das klar ist, können Eltern schauen: Wie können wir diesem Bedürfnis auf andere Weise gerecht werden, auch wenn wir in dieser Sache etwas durchsetzen müssen – wie: „Die Zähne müssen geputzt werden, damit dein Mund gesund bleibt. Aber du darfst selbst bestimmen, ob vor oder nach dem Lesen. Und wenn du willst, darfst du auch meine Zähne putzen.“

Risiko Eltern-Burn-out

Eigene Bedürfnisse zurückzustellen, auch deutlich mehr als in anderen Lebensbereichen, gehört zum Elternsein dazu. Wenn das Baby nachts Koliken hat, tagsüber wegen Trennungsängsten ständige Nähe sucht oder das Kind zehnmal am Tag erbricht – all das sind Erfahrungen, die Eltern nur bewältigen können, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen.

Aber: Dass die eigenen Bedürfnisse kaum noch zählen, sollte nie zum Dauerzustand werden. Nach einigen Tagen, spätestens Wochen, in denen nur zählt, was das Kind braucht, spüren Eltern immer mehr Anzeichen für einen leeren emotionalen Akku. Gereiztheit, depressive Verstimmungen, Schlafprobleme, körperliche Schmerzen … Vieles kann uns zeigen: Achtung! Me-Time ist kein Luxus, sondern dringend nötig!

Me-Time ist kein Luxus

Dieser Satz kann Eltern kaum oft genug gesagt werden. Wir denken doch oft still und heimlich: „Solange die Kinder glücklich sind, geht’s mir auch gut. Das passt schon. Irgendwann sind sie ja groß.“ Das Problem ist nur: Kinder spüren deutlich, wie es ihren Eltern geht. Und wenn es den Eltern schlecht geht, dann leiden früher oder später auch die Kinder darunter.

„Euer Alltag ist ihre Kindheit“, sagte die Autorin Nicola Schmidt und das bedeutet eben auch: Die elterliche Erschöpfung, Überforderung, permanente Stressbelastung – all das ist Teil dessen, was die Kinder später als „meine Kindheit“ in Erinnerung behalten werden. Natürlich bedeutet das nicht, dass Kinder keine Probleme mitbekommen sollten. Im Gegenteil, sie dürfen wissen, dass nicht immer alles einfach ist und auch Eltern mal zu kämpfen haben. Gerade so lernen sie auch den Umgang mit Stress und Schwierigkeiten. Aber eben das nur, wenn Eltern genau das angehen: Einen guten Umgang mit den Herausforderungen des Alltags zu verfolgen. Und das geht nur, indem sie auch eigene Bedürfnisse absolut ernst nehmen und ihnen Priorität einräumen.

Die „Spätestens-Regel“

Dazu ist es sinnvoll, erst einmal zu sammeln, bei welchen Aktivitäten ich als Elternteil auftanken kann – beispielsweise Schwimmen, in die Sauna gehen, wandern. Dann wird überlegt:

  • Wie oft würde ich das gern machen?
  • Wie oft könnte ich es im aktuellen Alltag womöglich schaffen, Zeit zu finden, wenn ich es wirklich versuche, einzubauen?
  • Wann mache ich das aber spätestens wieder, wenn ich es vorher wegen Krankheiten, Problemen der Kinder o.ä. aufgeschoben habe? (z.B. nach drei Wochen)
  • Was lasse ich dafür auch mal liegen?

Mini-Oasen

Zeitaufwändige Me-Time-Aktivitäten funktionieren im Alltag oft höchstens alle 1-2 Wochen. Umso wichtiger ist es, auch kürzere Möglichkeiten zur Erholung zu finden, z.B.

  • das Hören von Entspannungsmeditationen, Musik oder von einem Hörbuch
  • ein Telefonat mit einer vertrauten Person
  • ein leckeres Essen nur für mich selbst oder als Paar, wenn die Kinder schlafen
  • ein kleiner Spaziergang oder eine halbe Stunde Sport

Bedürfnisse der Eltern: Paar-Zeit

Die Paarbeziehung zu pflegen ist ein ganz wichtiger Teil der elterlichen Bedürfnisse. Auch das hat für die Kinder wesentlichen Vorbild-Charakter und stellt die Familie auf Dauer auf ein stabiles Fundament. Hier hilft es, sich für einmal pro Woche einen Paarabend vorzunehmen für gute Gespräche, Filme, Spiele o.ä. Auch leckeres Essen oder ein Wein können dazu gehören. Wenn die Abende noch mit Einschlafbegleitung gefüllt sind, kann für eine Weile auch eine Paar-Zeit 1-2 mal im Monat reichen – dann aber gern etwas länger, zum Beispiel mit Unterstützung von lieben Menschen, die auf die Kinder aufpassen. Natürlich geht das auch tagsüber, wenn die Kinder abends nur von ihren Eltern in’s Bett gebracht werden mögen.

Kindern Grenzen kommunizieren

Um diese Balance zwischen Eltern-Bedürfnissen und Kind-Bedürfnissen zu erreichen, ist es wichtig, dass die Kinder erfahren: Was ich will und brauche, ist wichtig. Und was meine Eltern wollen und brauchen, ebenfalls! Gemeinsam suchen wir nach Kompromissen.

Deshalb ist es gut, wenn Eltern ihren Kindern auch aufzeigen, wo ihnen selbst etwas wichtig ist oder zu viel wird. Kinder dürfen mitbekommen, dass auch Eltern Pausen brauchen, respektvoll behandelt werden wollen und traurig, verärgert oder frustriert sein können. Und, dass auch ein “Nein” liebevoll sein kann – weil zum guten Elternsein eben auch eine gute Selbstfürsorge zählt. Das können und sollten Eltern dann auch formulieren, zum Beispiel:

„Ich sehe, dass du gern noch bleiben möchtest. Das verstehe ich – du hast gerade viel Spaß auf dem Spielplatz. Aber weißt du, ich bin heute auch verabredet, mit Pia. Und es ist mir wichtig, sie zu treffen. Deshalb müssen wir jetzt los. Aber wenn du magst, können wir übermorgen wieder hierherkommen und dann mehr Zeit mitbringen!“

Melanie Schüer Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Autorin.

 

Resilienz – Was Kindern hilft, stark zu werden

Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder stark werden. Sie sollen Resilienz, also Widerstandsfähigkeit entwickeln, um den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Was dabei helfen kann, erklärt Resilienz-Trainerin Dorothea Beier.

Aus der Forschung wissen wir, dass ein sehr wichtiger Faktor für die Entwicklung einer gesunden Resilienz eine gute Bindungsbeziehung ist. Sie entsteht durch die wechselseitige Kommunikation – zunächst mit einer Bezugsperson – vom Säuglingsalter an. Durch feinfühliges Antworten auf die Signale des Babys, wobei es angeschaut wird und bereits Gespräche mit Gestik und Mimik geführt werden, bilden sich Urvertrauen und ein positives Grundgefühl aus. Das Kind nimmt wahr: „Ich bin sicher und geborgen, ich bin richtig, ich darf sein, wie ich bin, meine Welt ist in Ordnung.“ Durch diese Wahrnehmung prägen sich bereits ein gesundes Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit aus. Kinder lernen durch liebevolle Interaktion mit der Bezugsperson, ihre Gefühle zu regulieren und Stress zu bewältigen. Hierdurch erlangen sie auch die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und mit ihnen zu fühlen. Sie werden beziehungsfähig, entwickeln Freundschaften, was wiederum eine starke Säule ist, die in stürmischen Zeiten Halt und Stütze gibt.

Manchmal haben Eltern bei einem ihrer Kinder den Eindruck, dass die Bindung instabil geworden ist. In jedem Lebensalter wirkt es dann Wunder, Zeit zu zweit mit dem Kind zu pflegen. Unternehmungen mit einem Elternteil allein, Gespräche auf Augenhöhe, etwas gemeinsam tun, was beiden Spaß macht, kann die verloren geglaubte Bindung wiederherstellen. „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.“ Dieser Satz des bekannten Psychotherapeuten Milton Erickson macht Mut, positiv in die Zukunft zu schauen, Visionen und Ziele zu verfolgen und dies auch unseren Kindern zu vermitteln. Selbst wenn ein Mensch keine sichere Bindung in seinen ersten Lebensjahren erfahren hat, kann das nachgeholt werden.

Humor macht stark

Es gibt keine perfekten Eltern und das ist gut so! Aber wir können uns Anregungen holen, wie unser Miteinander schöner werden kann und was Kinder in der Entwicklung zu starken Persönlichkeiten unterstützt.

Der Psychologe und Logotherapeut Viktor E. Frankl betont: „Resilienz entsteht durch gute Gefühle und durch Humor.“ Tatsächlich hat die Art, wie wir miteinander kommunizieren, einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Resilienz unserer Kinder. Würzen wir unsere Kommunikation mit Humor, so nimmt dies oftmals Stress aus einer Situation. Kinder lieben es, wenn sie mit uns lachen können und Spaß haben. Wir erfüllen damit nicht nur ihnen, sondern auch uns eines der wichtigsten seelischen Grundbedürfnisse, in diesem Fall Lustgewinn und Unlustvermeidung. Und zahlreiche Studien aus aller Welt bestätigen: Humor hilft Kindern, mit widrigen Lebensumständen umzugehen.

„Ich bin dumm, blöd und viel zu klein“

In unserer hektischen und schnelllebigen Zeit fällt es oft schwer, einfühlsam zuzuhören. Aber gerade dies fördert eine gute Kommunikation und damit auch Resilienz. Es kann helfen, wenn wir uns klarmachen, wie sehr es unsere Kinder lieben, wenn wir Blickkontakt aufnehmen und ihnen aktiv zuhören. Was möchte mein Kind mir sagen? Noch einmal nachfragen, mit Gestik und Mimik zugewandt sein, zeigt, dass wir wirklich zuhören.

Für unsere Kinder ist es wichtig, dass wir ihre verbalen und nonverbalen Botschaften verstehen, dass wir ihre Gefühle, Gedanken und Überzeugungen wahr- und ernst nehmen, indem wir sie aufnehmen und noch einmal mit unseren Worten wiederholen. Auf diese Weise fühlen sie sich von uns verstanden und mit uns verbunden. Diese Art der Kommunikation – auch aktives Zuhören genannt – ist eine sehr hilfreiche Methode, die in eine Familie viel Entspannung bringen kann. Welchen Unterschied es macht, wenn man sie anwendet, soll mit dem folgenden Beispiel verdeutlicht werden: Der 8-jährige Yannis konnte sich nur sehr schwer in der Schule mit Gleichaltrigen zurechtfinden. Zu Hause erklärte er eines Tages seiner Mutter, dass er dumm, blöd und viel zu klein sei. Erschrocken über seine Worte versuchte sie sofort, ihm das auszureden, worauf er mit einem Wutanfall reagierte.

Gemeinsam Resilienz entwickeln

Nach einer kompetenten Beratung verstand die Mutter, dass sich ihr Kind durch ihre Reaktion nicht verstanden gefühlt hat. Als sich die Situation wiederholte, versuchte sie es mit aktivem Zuhören. Sie sagte: „Ich weiß, was du denkst. Du kommst dir zu klein vor, glaubst, dass du blöd und dumm bist. Ich bin sehr froh, dass du mir das sagst, auch wenn ich anders darüber denke. Ja, es gibt Dinge, die dir noch nicht so gut gelingen. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir herausfinden können, was dir helfen könnte, besser über dich zu denken“. Die Mutter hatte mit ihrer Aussage die Wahrnehmung ihres Sohnes bestätigt, er fühlte sich verstanden und ernst genommen.

Wir machen unsere Kinder stark, wenn wir sie darin unterstützen, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen. Gemeinsam mit Kindern über Lösungen für ein Problem nachzudenken und abzuwägen, was man tun könnte, hilft ihnen, gesunde, resiliente Erwachsene zu werden. Wenn wir sie darin anleiten, Handlungspläne zu entwickeln, fördert das ihre Eigenständigkeit, erfüllt ihr Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle. Dies fördert wiederum ihre Selbstwirksamkeit und stärkt ihr Selbstwertgefühl.

Fehler feiern

Es bleibt nicht aus, dass unsere Kinder auch mit Misserfolgen konfrontiert werden. Viele Menschen leiden unter der Angst, Fehler zu machen. Das kostet viel Kraft. Wir machen unsere Kinder stark fürs Leben, wenn wir ihnen helfen, zu verstehen, dass Fehler zum Leben dazugehören und dass man daraus lernen kann.

Eine Lehrerin fragte dazu am Beginn eines Schuljahres ihre Schüler: „Wer von euch hat das Gefühl, in diesem Jahr vielleicht Fehler zu machen oder manche Dinge nicht zu verstehen?“ Dann hob sie als erstes ihre Hand, woraufhin auch die Kinder sich trauten, das zuzugeben. Sie stellte einen Krug und einen Behälter mit Steinen auf ihr Pult und erklärte den Kindern: „Immer, wenn einer von uns einen Fehler macht, werfen wir einen Stein in den Krug. Wenn der Krug voll ist, feiern wir.“ Da der Krug nicht sehr groß war, konnte die erste Party schon bald darauf beginnen. Kinder, die sich zuvor – oft aus Angst vor Fehlern – nicht getraut hatten zu antworten, waren jetzt ermutigt und beteiligten sich am Unterricht. Das Leistungsniveau der Klasse steigerte sich hierdurch enorm und es gab so gut wie keine Disziplinschwierigkeiten.

Optimismus und Glaube

Kinder lieben es, wenn Eltern optimistisch in die Zukunft schauen. Das macht gute Gefühle und gibt ihnen Sicherheit. Sie beobachten, wie Eltern Probleme lösen und Entscheidungen treffen. Nicht allein hier kann auch der Glaube an Gott, der zu jeder Zeit einen Weg und eine Hilfe für uns hat, für den nichts zu schwer und unmöglich ist, eine große Hilfe sein. Wir können es mit den Kindern zu einem Ritual werden lassen, darüber nachzudenken, was am Tag besonders schön war. Gemeinsames Staunen über schöne Dinge, Dankbarkeit und Frohsinn helfen zu einem optimistischen Familienklima. Zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, sich nicht von Negativem herunterziehen zu lassen, sondern zu vertrauen, macht stark und fördert Resilienz.

Einfach Kind sein

Kinder brauchen auch Zeiten, in denen sie sich entspannen können und zur Ruhe finden. Ein ausgewogener Zeitplan, in dem unsere Kinder Kinder sein dürfen, unterstützt eine ausgewogene Hirnentwicklung. Sie entwickeln emotionale Regulationsfertigkeiten und sogar die Intelligenz wird gefördert, wenn sie zu spontanem und kreativem Spiel Zeit finden. Hierbei wird ihnen die Gelegenheit geboten, neugierig und erfinderisch zu sein. Sogar Langeweile kann förderlich sein, um die Welt und sich selbst zu entdecken.

Jede Interaktion mit unseren Kindern bietet die Gelegenheit, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie einzigartig und wertvoll sind. Wie wichtig und nötig auch „Extra-Zeiten“ sind, die wir in der Familie einrichten können, und in denen jedes einzelne Kind ganz besonders bedacht wird, kann man immer wieder beobachten. Kinder nehmen hierdurch in besonderer Weise die Liebe der Eltern wahr. Diese Zeiten sind Kraftquellen für Kinder. Hier können sie auftanken, den Stress des Alltags hinter sich lassen und einfach glücklich sein. Nicht zuletzt sind besondere Familienzeiten mit Spiel und Spaß, gemeinsame Ausflüge, Wanderungen und vieles mehr Oasenzeiten, die unsere Kinder resilient machen und ihnen helfen, mit Stress in gesunder Weise umzugehen.

Dorothea Beier ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Selbstbehauptungs- und Resilienz-Trainerin, Spiel- und Bewegungstrainerin sowie Coach für Kinder und Jugendliche. Sie lebt und arbeitet in Uelzen. praxis-dbeier.de

Pause! Wie Familien wieder auftanken können

Der Familienalltag ist oft anstrengend und hektisch. Sozialpädagogin Julia Otterbein verrät, wie Pausen individuell geplant und bewusst genutzt werden können.

Familienalltag fühlt sich manchmal wie das Durchqueren einer großen Wüste an: brütende Hitze, anstrengende Tage – und Pausen in der prallen Sonne sind keine echte Option. Zumindest lässt sich so nicht nachhaltig Kraft schöpfen für die nächste Wegstrecke. Es braucht also eine sinnvolle Routenplanung, die es ermöglicht, in regelmäßigen Abständen eine Oase aufzusuchen.

Pausen einplanen

Eltern, die immer versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen, erzeugen damit einen Familienalltag, der eng getaktet ist. Und auch die Kinder sind durch (Ganztags-)Schule und verschiedene Hobbys zeitlich eng eingebunden. Wofür dann häufig keine Zeit mehr bleibt, sind die eigentlich so wichtigen Pausen und unverplante Zeiten.

Generell hilft es, unnötigen Druck herauszunehmen, To-do-Listen zu verschlanken und wieder eine aktivere Haltung einzunehmen. „Nein“ zu sagen zum dritten verbindlichen Hobby mit entsprechend festen Terminen unter der Woche oder sogar noch am Wochenende, und stattdessen Pausenzeiten fest einzuplanen, in den Kalender einzutragen und mit der gleichen Priorität zu versehen wie einen Arzttermin.

Oasen im Familienalltag

Damit diese Pausen auch zu wirklichen Oasen werden, darfst du dir folgende Fragen stellen: Was möchte ich tun oder lassen? Was tut mir gut? Wie sieht meine persönliche Oase aus? Denn Oasen im Familienalltag sind so verschieden, wie wir Menschen verschieden sind. Vielleicht hilft dir dabei auch dieses Experiment:

Nichts tun. Nur aus dem Fenster schauen. In der Sonne sitzen und die Augen schließen. Einfach nur sein. Auf deinen Atem oder Herzschlag achten. Und dann kannst du mal deine unerfüllten Bedürfnisse erkunden: die körperlichen, sozialen und geistigen Bedürfnisse. Was fehlt dir gerade? Ist es Schlaf, Essen, Trinken, Bewegung, Entspannung, Austausch mit anderen (erwachsenen) Menschen, Inspiration?

Gemeinsam und getrennt

Im nächsten Schritt gilt es, eine passende Strategie für das Bedürfnis zu finden: Gärtnern oder lesen? Freunde treffen oder Zeit für sich haben? Musik hören oder Musik machen? Aktiv sein oder chillen? Da hat jeder so seine persönlichen Favoriten. Was allen Strategien gemeinsam ist: Jeder tut es mit Freude und Genuss.

Manche von uns laufen allerdings schon so lange durch die sprichwörtliche Wüste, dass sie nur noch eine vage Erinnerung daran haben, wie die persönliche Wohlfühloase aussieht. Daher ist es wichtig, (mal wieder) herauszufinden, was zu einem passt und was nicht. Dafür kannst du den Test in der Box nutzen (siehe unten).

Nicht selten steht man als Familie aber vor folgendem Problem: Die Strategien der einzelnen Familienmitglieder passen nicht zusammen. Was die einen entspannt, ist für die anderen eher anstrengend, zum Beispiel der Besuch eines Indoor-Spielplatzes. Da gilt es dann, individuelle Lösungen zu finden und sich vielleicht in der Familie aufzuteilen.

Gerade diejenigen, die im Alltag eine hohe Belastung durch die Übernahme von Sorgearbeit in der Familie haben, brauchen auch Zeiten, in denen sie die Verantwortung für andere Menschen abgeben und ihren eigenen Bedürfnissen ohne Einschränkungen und Kompromisse nachgehen können.

Dennoch ist es toll, wenn es das eine oder andere Familienritual gibt, das bei allen für Ruhe und Entspannung sorgt: kuschelige Vorlesezeiten, ein Familien-Heimkino-Abend, gemeinsam in Erinnerungen schwelgen…

Oder einmal im Monat einen Wochenendtag bewusst unverplant zu lassen und sich gemeinsam treiben zu lassen. Zeit zum Nichtstun oder mal wieder eine Runde „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Uno“ spielen. Oft sind es gerade solche Kleinigkeiten, die zu besonderen Erinnerungen werden.

Was passt zu dir?

Vielleicht braucht es aber auch mal eine größere Oasenzeit und mehr Abstand zum Alltag, zum Beispiel auf einer Freizeit zum Auftanken oder einem Urlaub ohne die Familie. Auch eine Mutter- oder Vater-Kind-Kur oder bei älteren Kindern eine Kur allein kann dafür sorgen, mal für drei Wochen fern des Alltags Entlastung zu erleben und die Beziehung untereinander zu stärken.

Finde heraus, welche Dimension deine Oase haben soll und was zu dir passt. Erinnere dich an frühere Hobbys, die vielleicht im Trubel des Familienalltags aus dem Blick geraten sind. Wenn Strategien von früher nicht mehr funktionieren, probiere etwas Neues aus. Ausgetretene Pfade zu verlassen und kleine Abenteuer zu erleben, sorgt für Abwechslung – und schon sieht die Wüste ein bisschen lebendiger aus.

Julia Otterbein ist Diplom-Sozialpädagogin und Selbstfürsorge-Coach und lebt mit ihrer Familie in Süderbrarup/Schleswig-Holstein. familywithlove.de

 

SELBSTTEST ZUM AUFTANKEN

Introvertiert oder extrovertiert?
Während introvertierte Menschen besser regenerieren, wenn sie allein sind, können Extrovertierte im Kontakt mit anderen Menschen ihre Akkus aufladen.

Aktiv sein oder entspannen?
Brauchst du mehr Bewegung als Ausgleich zu deinem Alltag oder bewusstes Nichtstun und Ent-Spannung?

Inspiration für den Kopf oder Gedanken zur Ruhe kommen lassen?
Ermüdet dein Geist durch zu wenig oder zu viel Input? Sorge dann bewusst für das Gegenteil durch ein interessantes Buch, einen inspirierenden Podcast oder durch Stille und das Niederschreiben von Gedanken.

Raus in die Natur?
Viele Menschen halten sich viel zu oft in Innenräumen auf – da kann Zeit an der frischen Luft und außerhalb von bebauten Gebieten den nötigen Ausgleich schaffen.

Mittagsschlaf?
Gerade wenn der Nachtschlaf im Familienleben häufiger zu kurz kommt, kann ein Mittagsschlaf oder eine gemeinsam vereinbarte Mittagsruhe zu einer wohltuenden Oase werden.

Gemeinsame Familienrituale oder Zeit für sich allein?
Mal braucht es das eine und mal das andere – plant am besten beides für euch ein.

Heute schon gelacht?
Lachen ist gesund für Körper und Psyche. Es entspannt den Körper, reduziert Stress und lindert sogar Schmerzen. Probiert es mal aus!

Hilfe, mein Kind (4) spielt Krieg! Expertin beruhigt: Das ist nicht ungewöhnlich

Viele Jungs im Kindergarten spielen gerne Krieg. Angesichts der derzeitigen Lage kann das befremdlich wirken. Es ist allerdings nicht ungewöhnlich, sagt Familienberaterin Daniela Albert und erklärt die Hintergründe.

Manche Eltern sind völlig aufgelöst wenn die Kinder im Kindergarten gerne Krieg spielen. Manch Eltern berichten, dass eine Kindergartengruppe als Ukraine gegen eine andere Gruppe als Russland kämpft. Dabei äußern auch einie Kinder den Wunsch, Soldaten zu werden und gegen Putin zu kämpfen. Das stellt Eltern vor eine wichtige Frage: Wie gehen wir damit um? Sollen wir das unterbinden?

Grundsätzlich ist es nicht ungewöhnlich, dass Kinder sich in diesem Alter auch spielerisch miteinander messen und „kämpfen“, oder, wie in diesem Fall, „Krieg“ spielen. Zum einen ermöglichen ihnen solche Raufspielchen, die eigenen Kräfte und Grenzen zu entdecken und auch Erfahrungen mit den Kräfen und Grenzen anderer Menschen zu machen. Zum anderen verleiht ihnen das Schlüpfen in eine Rolle, in der sie als Superheld oder Krieger mit Waffen oder besonderen Kräften auftreten können, ein Gefühl von Macht und Stärke, das ihnen im normalen Alltag oft verwehrt bleibt.

Kinder verarbeiten im Spiel

So ist auch der Wunsch, „Soldat“ zu werden einzuordnen. Es geht dabei nicht darum, wirklich einmal in den Krieg zu ziehen und Menschen zu töten, sondern der eigenen Hilflosigkeit, die Kinder in dieser Krise spüren, etwas entgegenzusetzen. Was man hier beobachten kann, ist Teil einer spielerischen Verarbeitung von Realität, die die Kinder gerade miterleben müssen.

Wir alle spüren ja im Moment ein Gefühl von Machtlosigkeit, wenn wir den Krieg in der Ukraine beobachten. Nur haben wir als Erwachsene andere Möglichkeiten, damit umzugehen. Kinder finden hier einen Ausweg über Spiel und magisches Denken. Da wird ein kriegsführender Diktator auf einmal besiegbar wie eine Gruppe anderer Vierjähriger und ein kleiner „Soldat“ kann kommen und ihn stoppen.

Die Bedürfnisse dahinter

Vor diesem Hintergrund wäre ein reines Verbot dieses Spiels nicht zielführend. Wenn Eltern oder das pädagogische Personal in der Kita trotzdem ein ungutes Gefühl bei diesem Spiel haben – was ich angesichts der Lage nachvollziehen kann –, ist es besser, die dahinterstehenden Bedürfnisse auf andere Art zu füllen: Zum einen sollte es Raum zum Toben, Raufen und Kämpfen geben, der von den Erwachsenen so gestaltet wird, dass sich die Kinder darin möglichst frei ausleben dürfen. Erwachsene und Kinder können sich gemeinsam Fantasiegestalten ausdenken, die dort aufeinandertreffen.

Zum anderen muss aber auch Raum da sein, mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen: Hier geht es vor allen Dingen darum, den Blick der Kinder auf das zu lenken, was sie tun können, um zu helfen, und wo ihre tatkräftige Unterstützung wirklich nützlich sein kann. Es geht darum, der Machtlosigkeit Selbstwirksamkeit entgegenzusetzen.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin (familienberatung-albert.de).