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Hilfe für Ukraine: Wir können nicht alles stehen und liegen lassen

Menschen (nicht nur) aus der Ukraine brauchen unsere Hilfe. Doch wie viel können wir ihnen geben? Ein Kommentar.

„Man muss doch etwas tun!“ – Dieser Gedanke ist wohl vielen in den letzten Wochen durch den Kopf geschossen. Angesichts des Leids in der Ukraine, angesichts der Menge an Geflüchteten spüren wir den dringenden Wunsch zu helfen. Und viele packen mit an: spenden Geld, Lebensmittel, Kleidung. Helfen an Sammelstellen, Spenden zu verladen. Fahren Hunderte Kilometer, um Hilfsgüter auszuliefern und Menschen mitzunehmen. Viele öffnen ihr Haus, ihre Wohnung, um eine Familie bei sich aufzunehmen.

Ich weiß nicht, was von all dem du schon gemacht hast. Ich kann nicht groß prahlen mit meinen guten Taten. Ja, ich habe gespendet. Ja, ich habe Dinge, die benötigt wurden, zu einer Sammelstelle gebracht. Ja, ich habe mitgeholfen, als an einem Wochenende 50 Menschen aus der Ukraine in unserer Gemeinde untergebracht werden mussten. Aber ich bin nicht mit einem Sprinter an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren. Ich habe keine Familie bei mir aufgenommen. Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen. Weil andere so viel mehr machen. Weil ich mein normales Leben weiterführe, während andere Menschen gerade alles verloren haben.

Komfortzone verlassen – ja, aber nicht um jeden Preis

„Wir müssen einfach mal unsere Komfortzone verlassen“, meint Britta, die sich über Tage intensiv bei der Unterbringung von Geflüchteten in unserer Gemeinde engagiert. Aber es ist auch klar: Diese Notaktion für ein Wochenende, das können wir leisten. Dauerhaft schaffen wir es nicht. Wir können ja nicht alles stehen und liegen lassen – unsere Kinder, unsere Jobs, unser Engagement in anderen Bereichen. Und so verbringe ich tatsächlich mit gutem Gewissen ein Wochenende damit, den Geburtstag meines Sohnes zu feiern. Weil er zwei Jahre lang kaum Highlights hatte in seinem Leben. Und weil das für ihn jetzt wichtig ist.

Es bleibt – wie so vieles – ein Spagat. Besondere Situationen erfordern einen besonderen Einsatz. Wir müssen immer wieder unsere Komfortzone verlassen. Aber wir müssen auch unsere Grenzen sehen – und unsere realistischen Möglichkeiten. Also: Augen auf und sehen, wo wir helfen können. Und dafür auch mal alles stehen und liegen lassen. Aber auch akzeptieren, was nicht geht. Und übrigens: Unabhängig davon, ob ich etwas tun kann oder nicht, hilft es mir, ein Gebet für die Menschen und Situationen an Gott zu richten.

Bettina Wendland ist Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

Unbegleiteter Flüchtling: Als Nayzgi (14) auf seine neue Familie trifft, laufen die Tränen

Maren und Rainer Koch haben 2016 Nayzgi, einem jugendlichen Flüchtling aus Eritrea, ein Zuhause gegeben. Einfach war das nicht …

Es sind zwei Sätze, die Maren und Rainer Koch im Spätsommer und Herbst 2015 immer wieder begegnen. Zwei Sätze aus der Bibel, die sie berühren und bewegen: „Vergesst nicht, Fremden Gastfreundschaft zu erweisen, denn auf diese Weise haben einige Engel beherbergt – ohne es zu merken“, aus Hebräer 13,2 lautet der eine. „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken, ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen“, lautet der andere aus Matthäus 25. Sie sehen die bewegenden Bilder von ankommenden Geflüchteten, sie hören schreckliche Fluchtgeschichten und sie lesen, dass Gastfamilien für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge gesucht werden.

Und das lässt sie nicht mehr los. Sollen sie wirklich? Sie haben schon ein volles Haus – zwei Jungs (16 und 18) und zwei Mädchen (11 und 14). Rainer ist als Referent viel unterwegs. Wird ein Leben mit vier Kindern und einem geflüchteten Jugendlichen nicht zu einer zu großen Herausforderung? „Ich hatte die Sorge: Da kommt jemand in das Innerste unseres Hauses, in unsere Familie, von dem ich nichts weiß. Wie wird das werden?“, erinnert sich Rainer. Doch die Worte aus der Bibel, denen sie immer wieder auf unterschiedliche Weise begegnen, treiben sie um. So ruft Rainer beim Jugendamt an, und sie lassen sich beraten.

Plötzlich muss alles ganz schnell gehen

Weil alles so vage ist, erzählen sie nur ihren Kindern von ihrer Idee. Die sind damit einverstanden. Sie füllen ein Antragsformular als Gastfamilie für einen minderjährigen unbegleiteten Flüchtling aus. Doch lange Zeit passiert nichts. Immer wieder rufen sie beim Jugendamt an, doch aktuell gäbe es keine geflüchteten Jugendlichen, so die Auskunft.

Der Winter kommt, Weihnachten, das neue Jahr 2016 beginnt. Am 7. Januar, einem Donnerstag, ruft eine Mitarbeiterin vom Jugendamt an und teilt ihnen mit, am kommenden Dienstag würden acht Jugendliche in den Landkreis Schaumburg kommen, darunter auch ein Junge namens Nayzgi aus Eritrea, mit einem christlich-orthodoxen Background. Mehr Informationen bekommt die Familie nicht. Sie müssten sich bis morgen Nachmittag entscheiden, ob sie diesen Jungen wirklich aufnehmen wollen. Und so geht auf einmal alles sehr schnell. Die zwei biblischen Sätze aus der Anfangszeit entfalten noch mal ihre ganze Wirkkraft. Das Wochenende nutzt die Familie, um im Haus umzuräumen und das Zimmer von Nayzgi herzurichten. Und sie bekommen Klarheit, Rainer nennt es geistliche Verdichtung: „Es war eine sehr klare, gemeinsame, verdichtete Erfahrung, was jetzt unsere Sendung ist. Und ich habe gespürt, ich finde die diffuse Angst vom Anfang nicht mehr wieder.“

„Uns sind allen die Tränen gelaufen“

Am Dienstag, den 11. Januar 2016, fahren Maren und Rainer in die Kreisstadt, wo sie Nayzgi in Empfang nehmen sollen. Neben ihnen steht eine andere Gastmutter, ansonsten haben sich Mitarbeiter von Jugendwohngruppen eingefunden. Acht Jugendliche, manche mehr Kinder, kommen in den Raum. Für alle ein bewegender Moment. „Ich hab zum ersten Mal verstanden, was es heißt, mutterseelenallein zu sein“, erinnert sich Rainer. „Uns sind allen die Tränen gelaufen, so emotional war dieses erste Aufeinandertreffen. Ich hatte den Eindruck, dass in diesem Moment ganz viel Liebe wie eine Welle durch uns hindurchfloss.“ Übersetzer helfen den Ankommenden und neuen Bezugspersonen, zueinanderzufinden. „Als Nayzgi hörte, dass er zu uns in die Familie kommen sollte, haben wir direkt in seinem Gesicht gesehen, dass er das auf keinen Fall wollte. Er hat später erzählt, dass ihn jemand davor gewarnt hatte, in eine Familie zu gehen. Doch in diesem Moment, ohne dieses Wissen, war es für uns schon irritierend“, denkt Maren zurück.

Nach neunmonatiger Flucht durch Äthiopien, den Sudan, Libyen und über das Mittelmeer versucht der 14-Jährige, in der neuen Welt, der neuen Umgebung anzukommen. Mit Hilfe von Händen, Füßen und Bildkarten sowie ein paar Brocken Englisch bemühen sich alle miteinander, ins Verstehen zu kommen. Doch die schwierige Kommunikation wird zur ersten großen Herausforderung. „Maren hat vieles verstanden, sie hat einen siebten Sinn dafür, eine Sprache des Herzens, während ich gar nichts verstanden habe“, erinnert sich Rainer. Einmal in der Woche kommt ein Dolmetscher, und so wird in dieser einen Stunde das Allerwichtigste geklärt und besprochen.

Kaum Menschen anderer Hautfarbe

Anfangs zieht sich Nayzgi viel in sein Zimmer zurück, macht seine traumatischen Erfahrungen während der Flucht mit sich aus – und vernetzt sich dank Facebook mit Freunden und Verwandten in der ganzen Welt. Ein Stück eritreische Heimat im deutschen Dorf. Die ersten Begegnungen mit den Menschen an ihrem Lebensort sind verhalten. „Uns ist zum ersten Mal bewusst geworden, dass es in unserem Umfeld kaum Menschen anderer Hautfarbe gibt“, erzählt Rainer. „Ich erinnere mich an eine Szene vom Anfang: Ich bin mit Nayzgi zum Fußballplatz gegangen. Als wir ankamen, merkte ich, wie er immer mehr in meinen Windschatten trat und wir vom gesamten Fußballplatz angestarrt wurden. Da hab ich das ‚Anderssein‘ richtig körperlich gespürt.“ Zum Glück reagieren enge Freunde und ihre Familien sehr positiv auf das Menschenkind, das sie als neues Familienmitglied kennenlernen. Der Fremde, der Andere hat ein Gesicht, einen Namen, eine Geschichte – und ein Zuhause.

Zwischen Freude und Frust

Die ersten Monate und Jahre waren sehr herausfordernd, berichten Maren und Rainer. Neben erfüllenden Momenten und vielen wertvollen, kulturellen Lernerfahrungen gibt es natürlich auch Konflikte und Frust. Nayzgi baut immer wieder eine Mauer um sich herum auf, reagiert abweisend und unfreundlich auf seine neue Familie. Kommunikation und Nähe fallen ihm schwer. Rainer erinnert sich: „Es war nicht leicht, herauszufinden, was an seinem Verhalten gerade Pubertätsdynamik war, was sein Charakter, was kulturell bedingt und was traumatisch.“ Sie suchen stetig nach Wegen, wie sie den Jungen gut und wohlwollend als Familie und mit Unterstützung von Freunden, Sozialarbeitern und dem Jugendamt begleiten können. Und so wird aus dem sechsmonatigen Gastaufenthalt recht schnell eine dauerhafte Lösung, ein andauerndes Lernen, „wie wir gemeinsam Zusammenleben und Familie leben“.

Als entscheidend in all den Jahren hat Maren vor allem ihre Herzenshaltung empfunden. Die echte Hingabe zu diesem Menschen, das tiefe Interesse, immer wiederkehrende Barmherzigkeit. Und auch die Erkenntnis, dass Nayzgi einen festen Platz in ihren Herzen hat, verbunden mit dem tiefen Wissen, dass er ihnen „nur“ anvertraut ist, da er Eltern in Eritrea hat, die die Familie auch würdigt. „Wir möchten achtsam auf all die Momente blicken, in denen wir beschenkt werden. Unsere Familie ist seither mit vielen eritreischen Geflüchteten freundschaftlich verbunden, hat an kultureller Sensibilität gewonnen, Fremdheitsgefühle überwunden und spürt auf eine besondere Weise, Teil der weltweiten Menschheitsfamilie zu sein“, resümiert Maren.

Noch einmal sieht Nayzgi seine Eltern

Ende 2017 reift in Maren und Rainer der Gedanke, ob sich ein Treffen von Nayzgi mit seinen Eltern arrangieren lassen könnte. Aktuelle Friedensverhandlungen zwischen Eritrea und Äthiopien würden eine Ausreise der Eltern ins Nachbarland ermöglichen, da eine Rückkehr nach Eritrea für Nayzgi nicht gefahrlos möglich ist. Als der Junge mit 13 Jahren floh, verabschiedete er sich nicht von seinen Eltern. Inzwischen ist sein Vater sehr alt, die Mutter nach wie vor voller Sorge um ihren Ältesten. Wie heilsam wäre da wohl eine reale Begegnung?

Anfang 2018 besuchen Maren, Rainer und Nayzgi dessen Eltern bei einer Cousine in Addis Abeba, Äthiopien. Endlich hat Nayzgi die Möglichkeit, sich von seinen Eltern zu verabschieden. Und seine Eltern lernen endlich die Menschen kennen, die ihrem Sohn ein Zuhause geben. Es ist eine sehr emotionale Begegnung, auch weil die Familie in Eritrea kaum Kontakt zu ihrem Sohn in Deutschland hat. Post gibt es nicht, ebenso besitzt die Familie weder einen Fernseher noch einen Computer, geschweige denn Internet. Alle paar Wochen, wenn das Mobilnetz stabil ist, telefoniert der Junge mit seinen Eltern. Dieses Zusammentreffen ist vielleicht das einzige, das Nayzgi mit seinen Eltern haben wird.

Endlich Bleiberecht

Aus dem verschlossenen Kerlchen ist mittlerweile ein starker junger Mann geworden, der seinen Platz in Deutschland gefunden hat. Nach der Realschule beginnt er eine Ausbildung, macht den Führerschein und bespielt einen eigenen YouTube-Kanal. Er hat engen Kontakt zu eritreischen Freunden und einer eritreisch-orthodoxen Gemeinde. Anfang 2021 wird – nach über fünf Jahren in Deutschland – der Aufenthaltsstatus von Nayzgi in ein dauerhaftes Bleiberecht überführt. Gefeiert hat die Familie das mit einem Lieblingsessen ihres Pflegesohns: Döner.

„Denn so haben einige von euch Engel bei euch aufgenommen.“ Oft war es nicht leicht, in dem Heranwachsenden, dem ruppigen Kerl einen Engel zu sehen, aber für Familie Koch ist Nayzgi ein Geschenk. Ein Geschenk Gottes, was sein Name übersetzt bedeutet.

Hella Thorn lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Iserlohn. Sie arbeitet als Redakteurin, Texterin und Lektorin.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Weichherzigkeit

CLOWNS STATT DÖNER

Katharina Hullen kann manchmal nicht Nein sagen.

Katharina: Neulich beim Abendbrot: Es klingelt an der Tür. Wie üblich stürmt eine Horde neugieriger Kinder zur Tür, um sie lautstark zu öffnen und wenige Sekunden später „Mama“ herbeizurufen. Ich schlurfe los und sehe mich alsbald einem jungen Studenten gegenüber, der einen roten Teppich vor unserem Eingang ausgerollt hat. Er stellt uns sympathisch und hintergründig die gute Arbeit des „Rote Nasen Deutschland e.V.“ vor, einer Organisation, die durch Clownerie Lachen und Lebensfreude zu leidenden Menschen bringt. Umringt von enthusiastischen Kindern, die fröhlich in die Ausführungen des Studenten hineingrätschen mit ihren Geschichten vom eigenen Krankenhausaufenthalt, bei dem man damals um einen Tag den Clown leider verpasst hatte, oder dem tollen Schul-Zirkus-Projekt, bei dem es auch so lustige Clowns gab, erahne ich natürlich schon den Spendenaufruf. Angesichts der freudigen Anteilnahme meiner Kinder, dem wirklich guten Ansatz, Leid mit Humor zu begegnen, und vielleicht auch wegen des prominenten Unterstützers – Dr. Eckart von Hirschhausen – bin ich innerlich schon im Spendenmodus. Wie sich zeigt, ist es leider nicht möglich, nur einmalig zu spenden. Aber gut, die Kinder betteln, doch bitte, bitte, bitte mitzumachen – dann eben monatlich ein kleiner Beitrag. Gesagt, getan. Unter dem Jubel der Mädchen sind die Formalien schnell geklärt. Eine freundliche Verabschiedung und wir strömen zurück zum Abendbrottisch – wo mich ein resigniert kopfschüttelnder, etwas verärgerter Ehemann erwartet. Er murmelt etwas von Familieneinkommen und „Mal sehen, was wir stattdessen mal streichen können, damit wir ab jetzt Clowns unterstützen können“.

Oje, er hat Recht! Es ist schon wieder passiert! Normalerweise versuche ich recht rigoros Haustürgeschäfte abzuwimmeln. Was mir in der Regel auch gelingt. Ich will keine Fassadenreinigung und auch keine neuen Dachfenster.

Aber trotzdem gibt es manchmal Anfragen, die treffen mich so sehr ins Herz – oder besser in den Bauch –, dass plötzlich zum Beispiel eine Malteser-Mitgliedschaft dabei herauskommt.

Hauke ist viel besser in so etwas – bei ihm löst der Bauch (außer an der Dönerbude) niemals den Kopf ab. Er schafft es, angemessen freundlich oder unfreundlich jedes Gespräch zu einem Punkt zu bringen. Er lässt sich nicht von sentimentalen Geschichten einfangen. Ihm passiert es auch niemals, im Wartezimmer oder beim Einkaufen in ein Gespräch verwickelt zu werden. Nein, in der Zeit, in der mir das passieren würde, füttert Hauke seinen Kopf mit den Informationen der Verpackungen, der Rechtschreibung der Werbeschilder oder den Magazinen im Wartebereich.

Ich liebe meinen Mann für seinen klugen, kühlen Kopf! Ich brauche dieses Korrektiv. Aber die Welt braucht auch mitfühlende Warmherzigkeit und impulsive Großzügigkeit. Dann essen wir halt einen Döner weniger im Monat und geben dieses Geld in Hände, die mehr daraus machen als nur einen satten Bauch. Ganz schön klug von mir, oder?

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

HOTSPOT FÜR SPENDENSAMMLER

Hauke Hullen könnte Nein sagen, aber dafür ist es oft schon zu spät.

Hauke: Man stelle sich vor: Während des Urlaubs in einer ausländischen Einöde passiert etwas, ein Unfall oder eine schwere Erkrankung – wäre es dann nicht toll zu wissen, dass man kostenlos einfach nach Hause geflogen wird? Eine beruhigende Vorstellung, nicht wahr?

Diese Vorstellung war der besten Ehefrau von allen dann auch direkt eine Mitgliedschaft und einen jährlichen Beitrag wert. Prompt fühlte sie sich sicherer und der Vertreter, der ihr den Deal an der Haustür aufgeschwatzt hatte, zog fröhlich weiter.

Dazu muss man wissen: Wir fahren kaum ins Ausland. Unser Radius endet meist an der Nordsee – die Lust auf längere Fahrten sank proportional mit der Anzahl der quengelnden Kinder auf den Rücksitzen. Auch habe ich nie verstanden, warum Urlaubsorte nur dann attraktiv sein sollen, wenn sie weit weg sind. Und schließlich kommt dazu, dass die Abenteuerlust meiner Frau auf einer Skala von 1 bis 10 bei minus 1 liegt. Letzteres macht verständlich, dass sich Katharina besser fühlt, wenn sie weiß, dass stets ein vollgetankter Jet im Dschungel bereitsteht, um sie nach einem Schlangenbiss nach Duisburg auszufliegen. Nur: Wir sind halt nie im Dschungel.

Nachdem wir die statistische (Un-)Wahrscheinlichkeit ausgiebig erörtert hatten, einen Nottransport in Anspruch nehmen zu müssen, den unsere Krankenkasse nicht bezahlen würde, hat Kathi die Mitgliedschaft schweren Herzens wieder gekündigt. In anderen Bereichen lassen sich die Folgen von Kathis Weichherzigkeit deutlich schwieriger eingrenzen. Und das hat vor allem moralische Gründe. Denn während ich bei der Flugrettung argumentieren kann: „Das brauchen wir nicht!“, sagt Kathi bei all den anderen Großherzigkeiten zu Recht: „Das brauchen die anderen!“ Und in der Tat – die Not in der Welt ist groß, es gibt unzählige unterstützungswerten Anliegen, und natürlich bricht unser Lebensstandard nicht zusammen, wenn einer weiteren Organisation mit 5 Euro im Monat geholfen wird.

Doch wo will und darf man da die Grenze ziehen? Dank meiner Frau ist unsere Haustür zum Hotspot der lokalen Spendensammel-Szene geworden und die Bettlerinnen vor unserem Supermarkt bekommen wahlweise Münzen, komplette Einkäufe oder kistenweise ausrangierte Kinderkleidung geschenkt. Doch was, wenn jetzt alle kommen und die Hand aufhalten? Was, wenn das alle machten?

Tief in meinem Herzen weiß ich, dass genau dies die eigentliche Frage ist: Was, wenn das alle machten? Was, wenn alle sich erweichen ließen und auf ein (durchaus ansehnliches) Stück ihres Wohlstandes verzichteten, um den Nächsten mit dem Nötigsten zu versorgen und um für den Übernächsten die passende Hilfsorganisation zu unterstützen? Während in meinem Kopf noch der Stellungskrieg tobt, ist meine Frau schon längst über meinen Schatten gesprungen und hat ohne groß nachzudenken wieder Geld ausgegeben für irgendetwas, was irgendjemandem eine große kleine Freude bereiten wird.

Streng genommen hat sie dabei auch mein Geld mit ausgegeben – und ich lasse sie gewähren.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Jetzt erst recht!

Gerade wenn wir von unseren Kindern enttäuscht sind, sollten wir sie lieben und unterstützen. Von Christine Gehrig

Irgendwie kamen eine Bekannte und ich auf das Thema „Liebe und Unterstützung für unsere großen Kinder“ zu sprechen. „Was auch immer das eigene Kind für einen Mist verzapft – und wenn es im Gefängnis sitzt – es hat ja nur die eine Familie. Wenn die sich abwendet, was soll dann werden? Durch Ablehnung hat sich ja noch nie jemand positiv verändert. Ich finde, gerade in Krisen brauchen unsere Kinder uns erst recht“, vertrat ich meine Ansicht. „Woher weißt du, dass mein Kind im Gefängnis war?“, fragte meine Bekannte. Ich sah sie überrascht an. Nein, davon hatte ich keine Ahnung gehabt. Trotz ihrer Enttäuschung hatte sie sich zu ihrem Kind gestellt. Dessen Leben verläuft heute in ruhigeren Bahnen. Vielleicht gerade wegen der Unterstützung durch die Mutter?

Unlogisch lieben

In der Regel wissen unsere Kinder, was sie falsch gemacht haben. Sie können einen vorwurfsvollen, harten Blick aus einem sorgenzerfurchten Gesicht nur schwer ertragen. Trotz ihrer Fehler oder ihres Versagens wollen sie sich in ihrer Person nicht abgewertet wissen. Ob es der Abbruch der Schule, des Studiums, der Ausbildung ist, das Driften ins Drogenmilieu, das Verharren in zerstörerischen Beziehungen, selbstverletzendes Verhalten, der leichtfertige Umgang mit Suchtmitteln, das Abrutschen in Kriminalität, die Schwangerschaft mit 14 …

Bei aller höchst verständlichen Schockiertheit, Verzweiflung und Wut – bleiben Sie nüchtern und besonnen! Niemals hat Ihr Kind Ihre Unterstützung dringender gebraucht. „Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen“, dieser Satz der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach geht unter die Haut. Machen Sie es wie Gott: Seien Sie völlig unlogisch, lieben Sie trotzdem und jetzt erst recht.

Welten aufeinandergeprallt

Ein Rückblick auf die eigene Jugend kann helfen, die Dinge klarer zu sehen. Tief unter der katastophenträchtigen Kratzbürsthülle hauste ein unsicheres, nach Anerkennung und Bestätigung hungerndes Teenagerwesen. Hinzu kam bei uns eine zeitgeschichtliche Besonderheit: In den 60er, 70er und auch noch in den 80er Jahren sind Welten aufeinander geprallt. Vertreter konservativer Wertvorstellungen und die 68er Bewegung standen einander als völlig unvereinbare, unversöhnliche Fronten gegenüber. Das schlug sich auf die Generationenbeziehungen in den Familien nieder.

Heute haben wir eine Art Baukastensystem – wir können aus allem das Positive herauspicken. Und vor allem: Das abweichlerische Kind gehört nicht mehr automatisch ins Feindeslager. Dennoch kann sein Verhalten als Bedrohung für die eigene, vielleicht mühsam zusammengezimmerte Welt empfunden werden. Alles Fremde macht zunächst Angst.

Herzförmige Brillengläser

Aber: Wenn wir unsere Herzen weit aufmachen, kommt nichts Schlimmes hinein, sondern Gottes Liebe hinaus zu unseren Kindern. „Liebe deckt alle Vergehen zu“ (Sprüche 10, 12). Wenn ich solche und ähnliche Sätze in der Bibel lese, bin ich wieder versöhnt mit Aussagen, die uns Menschen scheinbar klein machen. Diese Aussagen lesen sich wie durch eine richterliche Brille: Der Mensch ist ein zum Destruktiven neigendes Geschöpf und kriegt es einfach nicht richtig auf die Reihe, Eltern und Kinder inklusive.

Diese nüchterne Feststellung darf mal kurz sein – jetzt aber bitte die Brille mit den herzförmigen Gläsern aufsetzen, denn: Alles Strafende, Ablehnende, Verurteilende schafft Brüche, Distanzen und Abgründe in den Beziehungen zu unseren Kindern. Jahre später werden wir uns selbst dankbar sein, wenn wir unser Ding mit der Liebe durchgezogen haben.

Ich weiß von Eltern, deren Kind kaum einen Schlammassel ausließ. Zum Teil rieten Fachleute, das Kind auf Grundeis laufen zu lassen, es völlig abzuschneiden und den Folgen seines Handelns zu überantworten. Ja, Eltern sollen die Verantwortung für sein Handeln beim Kind lassen. Aber genauso ist es ihr Job, die Beziehung zu ihrem Kind niemals abreißen zu lassen. Eine Mutter hörte auf ihren Instinkt. Sie durchlebte Jahre des Hoffens und Bangens, ohne jemals den Kontakt und die offene Tür zu ihrem Kind aufzugeben. Nachdem dieses wieder Land gewonnen hatte, sagte es: „Danke Mama, dass du mich nie aufgegeben hast. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“

Geduldig, geduldig, geduldig …

Setzen Sie immer wieder neu Ihre Brille mit den herzförmigen Gläsern auf: Welche altersangemessene Zuwendung braucht mein Kind jetzt? Freut es sich besonders über ein nettes Überraschungsgeschenk? Fühlt es sich durch eine bestimmte Unterstützung wertgeschätzt? Wirken anerkennende Worte, Anteilnahme und Verständnis wie Balsam auf seine Seele? Loben Sie im Zweifelsfall auch scheinbar Kleines und Selbstverständliches!
Bloß weil das Kind groß ist, bedeutet das nicht, dass es das alles nicht mehr braucht. Wir selber brauchen es ja auch. Und wenn das (spät)pubertierende Kind gerade sämtliche roten Knöpfe drückt? Was, wenn es mit uns so sehr auf Kriegsfuß steht, dass wir uns für unsere Existenz schon fast schuldig fühlen?

Dann arbeiten Sie als „verdeckter Ermittler“. Zum Beispiel, indem Sie für Ihr Kind und Ihre Beziehung zu ihm beten. Vielleicht fehlt Ihnen angesichts des schweren Wellengangs die Vorstellungskraft, dass es jemals wieder anders werden könnte. Seien Sie geduldig, geduldig, geduldig. Gott hat Vertrauen noch nie unbelohnt gelassen. Es kommen wieder ruhigere Fahrwasser. Kinder mit Besonderheiten in der Biografie sind die besten Lebenslehrmeister. Und: Behalten Sie die Zuversicht, dass Ihre guten, vorgelebten Werte wie Erbgut fest verankert in Ihrem Kind sitzen. Es wird nicht ausbleiben, dass Sie früher oder später etwas davon in irgendeiner Form erleben werden.

Christine Gehrig lebt mit ihrem Mann in Bamberg. Sie hat vier erwachsene Kinder und arbeitet als Nordic-Walking- und Gymnastik-Trainerin und als Lebe-leichter-Coach.

Behüte dein Herz!

Nicht selten komme ich mir gerade so vor wie ein Kaktus: Um mein Herz zu schützen, fahre ich Stacheln aus. Fein, stark und mit Widerharken. Ganz unterschiedlich können diese sein: Ich bin empört, ich schweige oder ich gehe in den wortreichen Gegenangriff. Wann ich stachelig werde? Ach, beim vollen Biomülleimer, dem fragenden Blick meines Sohnes, einer anklagenden Mail, einem Post mit schönen Fingernägeln. Irgendwie sehr schnell und sehr oft.

Diese Pandemie macht etwas mit uns allen. Mit mir. Ich sollte mich aber nicht nur um Finanzen und Wirtschaft sorgen, sondern die Aufforderung Gottes ernst nehmen: „Behüte dein Herz!“ Mein Herz braucht gerade einen Schutzraum im Rahmen der Lockerungen in der erlebten Krise. Ich will näher hinsehen: Wie geht es mir damit? Was sind meine ausgefahrenen Stacheln? Wo sind sarkastische Untertöne über Freunde, Fremde oder Politiker in meinen Alltag eingezogen? Wo habe ich das Gefühl, nicht gesehen zu werden? Wo ist der Ton in meiner Familie rauer geworden? Wen halte ich auf Abstand? Von wem bin ich verletzt worden?

Ja, ich fühle mich wirklich wie ein hormongesteuerter Teenager, der seine empfindsame Seele mit Stacheln schützt, um nicht verletzt zu werden. Überall lese ich von Lockerungen und dabei schnürt sich mein Herz mir zu. Ich befürchte, diese Zeit nicht gewinnbringend genutzt zu haben, mich nicht genug über die Chancen gefreut zu haben. Ich habe jeden Tag überlebt. Mehr nicht. Und vor allem nicht weniger!

Ich schütze mich, weil mir viel auffällt, was ich NICHT lebe und schaffe. Dabei brauche ich gerade jetzt jemanden, der sagt: Trau dich wieder in deinen Familienalltag. Mach dich locker, wenn noch kein Rhythmus zu erkennen ist und ihr als Familie derzeit um 16.00 Uhr Mittag esst. Mach dich locker, wenn du genervt vom Schulwiedereinstieg bist. Mach dich locker, wenn du die Präsenz deines Mannes nicht immer feierst.

Ich schütze mich mit Stacheln und ersehne dabei so sehr, dass jemand in mein Herz spricht und es wagt, mich zu sehen. Ich bin so froh, dass ich nicht stachelig bleiben muss. Denn das macht mich einsam und zickiger, als ich sein möchte. Ich male mir aus, wie Gott mich umarmt und sich nicht in die Flucht stacheln lässt. Wie gut!

Ich kann mit dieser Vorstellung spüren, dass die gerade erlebten Lockerungen Veränderungen wie alle sind und Kraft kosten. Immerhin schaffe ich es, den Impuls zu unterdrücken, die drängelnden Senioren an der Kasse scharf anzuzischen und stattdessen zu zwinkern. Ein kleiner Anfang – aber für mich heute ein Schritt, mein Herz zu behüten.

Stefanie Diekmann, Gemeindereferentin

Auf dem Weg zum Ideal

Warum Ideale eine gute Motivation sein können. Und wo ihre Grenzen liegen. Von Mirjam Groß

Als unser erstes Kind unterwegs war, machten wir uns manche Gedanken und einige Anschaffungen, um uns auf den Neuankömmling vorzubereiten. Wir waren uns schnell einig, dass wir versuchen wollten, mit Stoffwindeln zu wickeln – laut unserer Recherche war es die umweltfreundlichere, kostengünstigere Variante und hatte noch andere Vorteile. Wir kauften gebraucht einen großen Karton Windeln, Einlagen und Vlies. Nach kurzer Zeit bekamen wir im Stoffwickeln Routine und unserem Sohn schienen die „Windelpakete“ auch nichts auszumachen.

Anderthalb Jahre später war ich am Anfang meiner zweiten Schwangerschaft und mir war häufig übel. Ich fühlte mich kraftlos, hatte keinen Appetit, brauchte sehr viel Schlaf. Und ich war sehr geruchsempfindlich. Ich brachte es kaum mehr über mich, den stinkenden Windeleimer in die Waschmaschine zu räumen. Das Auf- und Abhängen der Windeln strengte mich an. Mein Mann und ich beschlossen, eine Stoffwindel-Pause einzulegen, und kauften Einwegwindeln. Als wir uns weiter auf das Leben zu viert vorbereiteten und überraschend auch noch ein Umzug anstand, wurden wir uns wenige Wochen später einig, dass wir es dabei vorerst belassen würden.

AUF DIE FINGER SCHAUEN LASSEN

Das Leben mit zwei Kleinkindern ist bunt und voll. Im Moment bin ich dankbar, nicht abends noch Windeln falten zu müssen. Im Gespräch mit anderen Eltern merke ich zwar immer wieder, dass ich eigentlich vom Wickeln mit Stoff überzeugt bin. Aber ich bin auch versöhnt mit unserer Lösung. Nur manchmal nagen Zweifel an mir: Darf ich das überhaupt? Versöhnt sein mit etwas, das die Umwelt so belastet und meinen Idealen entgegensteht?

Ich habe Angst davor, unglaubwürdig zu sein. Wer Ideale propagiert, muss sich auch auf die Finger schauen lassen. Mein Eindruck ist, dass jeder nach Idealen strebt, auch wenn diese sich durchaus unterscheiden und sich nicht jeder gleich stark daran orientiert. Aber Ideale sind hip. Die Werbung spricht nicht nur unsere Bedürfnisse an, sondern auch unser Gewissen. Von Nachhaltigkeit und Fairness über Beziehungsideale, Sauberkeit und Individualität. Das stumme Versprechen lautet dabei: „Halte dich an diese Ideale und du wirst ein gutes, zufriedenes und glückliches Leben führen.“ So sehr ich auch selbst eine Idealistin bin, muss ich gestehen, dass die Sache nicht nur einen Haken hat: Zum einen sagt der Name schon, dass wir Ideale nicht ganz erfüllen können. Zum anderen wird es um uns herum und in uns selbst immer widerstreitende Ideale geben.

DER KAMPF DER IDEALE

Grundsätzlich erlebe ich Ideale als guten Ansporn, in eine Richtung zu gehen. Der Anreiz eines gesunden Körpergefühls motiviert mich zur Bewegung an der frischen Luft. Der Wunsch, meine Kinder in die Eigenständigkeit zu führen, hilft mir, die sieben Extra-Minuten beim Anziehen einzuplanen oder zumindest auszuhalten. Dennoch fühle ich mich schon in der eigenen Familie herausgefordert zu hinterfragen, woher meine Ideale kommen: Welchen Stellenwert hat Arbeit? Woher kommt mein Ideal zum Medienkonsum? Sind diese Ideale wirklich so ideal, wie ich meine?

Sind sie von Gott eingesetzt oder Teil meiner kulturellen, familiären oder meiner Persönlichkeits-Prägung?

Dann gibt es da noch widerstreitende Ideale in mir selbst. Mein schwäbisches Ich möchte gern so günstig wie möglich einkaufen, mein sozialkritisches Ich möchte auf jeden Fall gute Arbeitsbedingungen unterstützen und mein kreatives Ich hätte das Kleid am liebsten selbst genäht.

Mein Lehrerinnen-Ich möchte eine anregende Englischstunde für die Siebtklässler entwerfen, mein Hausfrauen-Ich mahnt mich dazu, jetzt wenigstens noch die Krümel unterm Tisch zusammenzufegen und mein Achtsamkeits-Ich ruft dazwischen, dass es nach dieser Erkältung das einzig Vernünftige wäre, gleich ins Bett zu gehen.

Mein Beziehungs-Ich ist nicht bereit, den Anruf einer kranken Freundin länger vor sich her zu schieben, mein Mama-Ich sträubt sich dagegen, den kleinen Bücherwurm mit seinem Wunsch nach Sofa-Bilderbuch-Zeit wegzuschicken und mein Gottesfreund-Ich gibt zu bedenken, dass auch die Sofazeit mit Gott die letzten Tage ausgefallen ist.

Mir wird klar: Ich kann es mir selbst nicht ganz recht machen. Einer der Idealisten in mir wird immer etwas beanstanden. Ähnlich verhält es sich mit meiner Umgebung:

Auch hier wird mein Verhalten nicht die Ideale aller Mitmenschen und sogar Mitstreiter erfüllen. Das tut manchmal weh und kann sogar Freundschaften beenden. Es kann an Ehen rütteln und Gemeinden auf die Probe stellen. Und: Es kann uns selbst ins Wanken bringen.

SELBSTZWEIFEL

Ideale prägen unsere Lebensführung und auch unseren Umgang mit uns selbst. Eine Bekannte, die ich wirklich bewundere für ihr Engagement in Richtung Selbstversorgung und nachhaltigem Lebensstil, war vor einiger Zeit am Boden zerstört, als wir miteinander sprachen. Der Fuchs hatte nachts all ihre selbst aufgezogenen Hühner erwischt. Sie hatte wohl die Tür nicht ausreichend gesichert und machte sich schwere Vorwürfe. „So etwas darf nicht passieren – und ich bin schuld …“

Ich finde es spannend, dass häufig gerade Menschen, die sich bewusst aus gesellschaftlichen Konventionen lösen, für sich selbst anhand von Idealen neue Erwartungen schaffen, an die sie sich umso stärker gebunden fühlen. Ich glaube, das ist sogar symptomatisch für unsere Gesellschaft von Individualisten. Wenn wir im Erreichen unserer (selbstgewählten) Ideale versagen, stellen sich bei vielen von uns tiefgreifende Selbstzweifel ein. Ich jedenfalls komme häufig an den Punkt, von mir selbst enttäuscht zu sein. Ideale offenbaren uns letztlich auch immer wieder, was wir alles nicht sind und nicht können. Ich kann nur unendlich dankbar dafür sein, dass ich an dieser Stelle weiß, wo mir vergeben wird und wer mich wieder aufbauen kann. Gott hat mir schon viele Lasten abgenommen.

Im „Idealfall“, wenn wir unseren selbstgesteckten Zielen nahe kommen, können Ideale uns auch selbstgerecht machen – aber eben nicht wirklich gerecht. Nur weil ich etwas so hinbekomme, wie ich es für richtig halte, bin ich nicht ein besserer Mensch. Wie gehe ich um mit Leuten, die meine Ideale nicht teilen? Liegen sie mir trotzdem am Herzen?

LIEBE UND BARMHERZIGKEIT

Bei einem Seminar hat ein älterer Pastor uns als junge Generation herausgefordert, die Ideale Gottes für voll zu nehmen. Sein Beispiel war: Soziales Engagement ist hip wie nie in der heutigen Zeit, Engagement in diesem Bereich und bewusster Konsum selbstverständlich für viele. Worauf liegt Gottes Augenmerk? Daniels Rat lautete: „Geht den ganzen Weg mit den Menschen, die Gott so sehr liebt. Könnt ihr Menschen aus Prostitution befreien oder ihre Arbeitsbedingungen verbessern, ihrer Integration helfen? Herrlich! Dann leitet sie auch darin an, wie man zu Jesus‘ Jüngern wird. Und dann zeigt ihnen, wie sie selbst Gottes Werke tun und Menschen zu Jüngern machen können!“ Die Bibel formuliert in 1. Korinther 13: „Wenn ich all dies erreiche, habe aber keine Liebe, dann bin ich nichts.“

Mich hat das nachdenklich gemacht, weil „gute Taten“ dann nicht mehr Selbstzweck sein können. Darüber kann und sollte ich mich nicht definieren. Alle Ideale müssen sich daran messen lassen, ob sie Gott Freude machen und Menschen (inklusive mir selbst) dienen. Wir können nicht wählen zwischen Idealen und Liebe. Wir brauchen beides. Wir brauchen das Bild vom großen Ganzen, das unser Tun motiviert. Wir brauchen Barmherzigkeit, um mit anderen Arm in Arm unterwegs zu sein, trotz derer und unserer Unvollkommenheit.

Daher will ich mich fragen: Verfolge ich ein Ideal, weil ich mich von anderen abgrenzen möchte? Brauche ich es, um mein Selbstwertgefühl wieder aufzurichten? Muss ich mir oder anderen damit etwas beweisen? Oder kann ich mit diesem Ideal Menschen lieben, wie Gott sie liebt? Meine Familie zum Beispiel mit vollwertigem, gesundem Essen – aber auch mit einer Nachtisch-Milchschnitte.

DER OBERSTE LEITSTERN

Für mich lösen sich Ideale damit von dem Anspruch, „erfüllt“ zu werden. Es geht darum, in eine Richtung unterwegs zu sein und nicht darum, das Ziel schon erreicht zu haben. Denn das ist in den meisten Fällen unmöglich. Wenn Liebe meine Motivation ist, dann bleibt es nicht bei guten Vorsätzen. Liebe ist tätig. Ich kann immer wieder an mir arbeiten und meine bisherige Routine überdenken. Dabei sind für mich als Nachfolgerin von Jesus aber Ideale nicht mein oberster „Leitstern“ – das ist und bleibt Gott selbst. Er möchte auch nicht, dass ich nach meiner Befreiung durch ihn wieder Sklave von Idealen werde. Ich bin so dankbar, dass Jesus nicht nur ein Ideal zur Orientierung ist, sondern eine Person. Ich werde zwar in diesem Leben nie seine Vollkommenheit erreichen, aber ich darf mit ihm in Beziehung leben und von ihm persönlich lernen – das ist besser als jede Idealvorstellung, an der ich mich orientieren könnte, weil er mich schon jetzt so annimmt, wie ich bin. Das motiviert mich am meisten!

Ich bin also nicht in erster Linie, was ich vielleicht gerne wäre:

  • eine Super-Mama
  • eine Künstlerin
  • eine Gesellschaftsaktivistin
  • eine Umweltschützerin
  • eine Selbstversorgerin
  • die beste Ehefrau

Ich bin in erster Linie ein geliebtes Geschöpf. Das macht mich fähig, andere zu lieben. Es macht mich auch fähig, viele Entscheidungen in Richtung guter Ideale zu treffen. Ich bin aber auch dann ein vollkommen geliebtes Geschöpf, wenn ich das nicht schaffe. Gleiches trifft für meine Mitmenschen zu! Weder sie noch ich halten es aus, an Idealen gemessen zu werden. Abgesehen davon hat sicher keiner von uns Idealisten bisher die perfekte Balance in all den widerstreitenden Leitideen gefunden. Hier will ich lernen, barmherzig zu sein mit mir selbst und anderen, ohne die als richtig erkannten Ideale aus dem Blick zu verlieren. Und ich will auf dem Weg bleiben, offen für Veränderungen: Vielleicht wird das nächste Kind ja doch wieder mit Stoff gewickelt, wer weiß? Die Hauptsache jedenfalls ist, dass es geliebt wird.

Mirjam Groß ist Ehefrau, Mama und Lehrerin und wohnt mit ihrer Familie auf der schwäbischen Alb.

Bis aufs Blut!

Für unsere Kinder würden wir auch noch unseren letzten Blutstropfen geben. Aber warum nur für unsere Kinder?

In unserem Verein gibt es gerade eine schöne Aktion: Für jedes Vereinsmitglied, das Blut spendet, zahlt das örtliche Blutspendezentrum 30 Euro an den Verein. Ein doppelt guter Zweck: Menschen erhalten die lebensrettende Blutkonserve und die Jugendarbeit des Vereins die notwendige finanzielle Unterstützung. Und so fand die Aktion auch großen Anklang. Alle äußerten sich positiv: „Super Idee!“ „Tolle Aktion!“ – Bis es darum ging, sich für fünf bis zehn Minuten auf eine Liege zu legen und 500 ml Blut abzugeben. In der ersten Aktionswoche waren zwei Vereinsmitglieder zum Spenden da. In der zweiten Woche sechs. Und ich bin maßlos enttäuscht.

Die meisten Erwachsenen in unserem Verein sind selbst Eltern. Für ihr Kind sind sie zu (fast) allem bereit. Sie würden ihm wahrscheinlich noch den letzten Blutstropfen opfern. Aber für fremde Kinder und Erwachsene sind sie nicht mal bereit, 500 ml abzugeben, die der Körper in der Regel problemlos wieder ausgleicht. Wie in so vielen Lebensbereichen engagiert man sich erst dann, wenn man selbst oder die eigene Familie betroffen ist. Dabei benötigen laut einer Info des Schweizerischen Roten Kreuzes vier von fünf Menschen – also 80 Prozent der Bevölkerung – mindestens einmal in ihrem Leben Blut oder ein Medikament aus Blutprodukten. Demgegenüber stehen in der Schweiz nur 2,5 Prozent der Bevölkerung, die regelmäßig Blut spenden. In anderen Ländern sieht es wohl nicht besser aus. In Deutschland werden pro Tag (!) 15.000 Blutspenden benötigt. Der Bedarf steigt. Und die Spender werden eher weniger als mehr.

Deshalb mein Plädoyer: Geht Blut spenden, liebe Eltern! Nicht nur, weil es jederzeit passieren könnte, dass euer Kind Blutkonserven benötigt. Es ist ein Akt der Nächstenliebe, der einen nicht viel kostet: ein bisschen Zeit und ein bisschen Blut.

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.