Einfach mal offline: Warum wir digitalfreie Zeiten brauchen
Die digitale Technologie durchdringt unseren Alltag und bringt viele Vorteile mit sich – aber auch große Herausforderungen. Eine Expertin erklärt, warum regelmäßige digitale Pausen nötig sind.
Frau Miller, sie sind Expertin für digitale Achtsamkeit. In ihrem Buch „Verbunden“ schreiben sie, dass digitale Achtsamkeit eine der großen Herausforderungen unseres Jahrhunderts ist. Was meinen sie damit?
Es geht nicht rein um die Frage der Technologie, sondern darum, wie wir als Menschen mit immer digitaleren Prozessen und dem Eindringen vom Digitalen in all unsere Lebens- und Beziehungsbereiche umgehen wollen. Ich glaube, dass es eine sehr große Herausforderung sein wird, da moralische und ethische Grenzen und Möglichkeiten herauszuarbeiten. Wie wollen wir leben, wie wollen wir Beziehungen führen und wie wollen wir die Digitalisierung wieder so aktiv in die Hand nehmen, dass sie uns in unseren menschlichen Herausforderungen nützt, statt uns zu schaden?
Mittlerweile ist es bei vielen Menschen normal, dass sie morgens als Erstes und abends als Letztes zum Handy greifen. Wieso ist das problematisch?
Es ist nicht nur problematisch: Wenn wir morgens ans Handy gehen, sind wir ja viel schneller wach. Das hat auch damit zu tun, dass die vielen Informationen unser Nervensystem aktivieren und uns dann leichter wecken. Gleichzeitig ist genau das das Problem: Statt uns erst einmal im Dämmerzustand zu sammeln und zu überlegen, was ich mit diesem Tag machen will, statt sich Zeit und Raum für sich und andere zu lassen, wird man mit vielen Dingen konfrontiert, die nicht im unmittelbaren Lebensbereich stattfinden. Das ist eine der Hauptschwierigkeiten der Digitalisierung: Dass wir überall immer Zugriff auf die ganze Welt haben und viele Informationen in unsere Lebensrealität, in unsere Körper, in unsere Seelen eindringen. Das macht etwas mit unserem Nervensystem, mit unserem Selbstwert, mit unseren emotionalen, seelischen und geistigen Ressourcen. Wir müssen einen Sinn für die eigene Kompetenz haben, für einen gewissen Radius der Kontrolle. Das digitale Dauerrauschen führt zu einer emotionalen und seelischen Nervosität. Wenn dann noch eine 50-Stunden-Woche dazukommt und zwei Kinder und man noch einkaufen muss und schlecht geschlafen hat, ist es eine weitere Dauerstressquelle.
Das heißt, wir brauchen grundsätzlich Pausen von digitalen Reizen?
Ja. Wir brauchen nach einer Aktivierung des Nervensystems auch wieder eine Beruhigung, sonst sind wir in einem chronischen Stresszustand. Das macht uns krank und anfällig für psychische Krankheiten.
Und wie verändern sich Beziehungen durch digitale Medien?
Auf der einen Seite sind sie für viele Menschen ein Tor zur Welt und zu anderen Menschen. Beziehungsherstellung im digitalen Raum kann sehr inspirierend sein. Wichtig ist aber, dass es nicht beim Digitalen bleibt. Der Mensch ist ein körperliches Wesen und braucht den dreidimensionalen Raum, um Beziehungen auf allen Ebenen und mit allen Sinnen zu erfahren. Für zwischenmenschliche tiefe Beziehungen ist Präsenz wichtig, das Vermitteln: Ich bin jetzt ganz bei dir und emotional verfügbar für dich. Das spürt das Gegenüber. Das digitale Dauerrauschen reißt viele im Minutentakt aus der Situation und aus der Beziehung heraus. Man kann digitale Kontakte pflegen, aber es ist auch wichtig, immer wieder in sich hineinzuhören: Ist das jetzt befriedigend? Reicht mir dieser digitale Kontakt? Wie möchte ich überhaupt mit Menschen interagieren?
Sollte man Social Media also insgesamt wohldosiert verwenden?
Es gibt ein paar Elemente von Bildschirmkonsum, auf die man achten kann, zum Beispiel Qualität versus Quantität: Wie qualitativ hochwertig ist das, was ich digital konsumiere? Wie lange konsumiere ich das? Und wie oft lasse ich mich unterbrechen? Es ist etwas anderes, wenn ich einmal am Tag eine halbe Stunde auf Instagram gehe oder wenn ich alle Push-Notifications anhabe und alle fünf Minuten nachschaue, ob ich noch ein Like gekriegt hab. Die andere Frage ist ja: Was haben wir in dieser Zeit nicht gemacht? Man ist jetzt im Schnitt mittlerweile fünf Jahre seines Lebens auf Social Media. Wenn du die Antwort für dich finden kannst, dass du eine aktive, beteiligte Person warst, Sachen gepostet und das gemäß deinen Werten und Wünschen für dich gemacht hast, dann wäre das kein Thema. Aber viele Menschen merken ja: Da ist so ein Zwang dahinter. Ich bin viel länger online, als ich will. Und irgendwann bist du müde und hast wenig Energie und Ressourcen übrig für andere Dinge, die dir wichtig wären.
Eine aktuelle Postbank-Studie hat ergeben, dass 41 Prozent der 18- bis 39-jährigen Deutschen weniger Zeit auf Social Media verbringen wollen. Was würden sie ihnen raten?
Überlege dir: Was mache ich stattdessen? Wenn ich abends nach Hause komme und mir vorher schon überlegt habe, dass ich ein Buch lesen möchte oder zusammen mit Freunden kochen will, dann habe ich eine proaktive Antwort darauf, was ich mit meiner Zeit eigentlich anfangen möchte. Aber: Das Digitale übt oft einen viel stärkeren Sog aus. Lesen zum Beispiel stimuliert das Nervensystem und das Gehirn viel weniger als ein YouTube-Video. Das sollte man sich bewusst machen: Die „langweiligeren“ Aktivitäten, die mir aber guttun, weil sie mein Nervensystem beruhigen, sind schwieriger, wenn wir schon total aufgeputscht nach Hause kommen. Deswegen lohnt es sich, diese Aktivitäten auf den Morgen zu verschieben. Damit anzufangen: weniger digitale Inputs, die erste Stunde des Tages digitalfrei, einen analogen Wecker kaufen und in Ruhe starten und sich daran gewöhnen, dass die Welt sich weiterdreht, auch wenn ich den Flugmodus erst um 8:30 Uhr rausnehme. Und diese Zeiträume, wo wir panisch online immer wieder checken, was passiert ist, nach und nach wieder ausdehnen und ohne Handy einkaufen oder spazieren gehen und mal fühlen, dass das wahnsinnig entlastend ist. Also: Handy vom Körper weg. Handy aus den Räumen weg. Ein weiterer Punkt: Viele Leute gehen zum Beispiel abends mit Freunden essen, aber im Büro war noch nicht klar, ob da noch eine Deadline ist, und mit dem Partner hat man noch nicht vereinbart, ob man sich morgen sieht. Da sind noch viele offene Punkte. Natürlich kann ich mich digital nicht abgrenzen, wenn ich Leerbereiche habe, weil das emotional verunsichernd ist.
Eltern machen mit dem Smartphone gern Fotos und Videos von ihren Kindern. Warum sollten sie vorsichtig damit sein?
Weil das Kind lernt, dass es auf diese Weise Lob und Anerkennung kriegt. Das ist das Problem unserer Zeit, wir konditionieren uns ja als Erwachsene auch dazu. Das Kind hat ein Recht auf Privatsphäre und darauf, nicht in einem öffentlichen Zusammenhang Dinge zu erleben. Deswegen finde ich auch Videos von Kleinkindern im Netz problematisch.
Wieso sollten Kinder lieber analog als digital spielen?
Weil das echte Leben ein bisschen dreckiger und chaotischer ist. Im echten Leben funktionieren Leute nicht wie Roboter. Beim Spielen kann es sein, dass der Lukas dir an deinen Haaren rumzieht und du dann ein ganz anderes Problem zu lösen hast. Das ist das, was das Leben ausmacht und dir soziale und emotionale Kompetenz und Emotionsregulation beibringt. Das Kind erfährt im dreidimensionalen Raum und über den Körper, über Lernen am Modell der Eltern und Erziehungsberechtigten. Das ist ein viel komplexeres Ding, als vorm Bildschirm zu sitzen und fünf Knöpfe zu drücken. Das heißt nicht, dass man das nicht auch mal machen kann, aber das sollte nicht tägliche Routine sein.
Was würden sie Eltern sagen, die Angst haben, dass ihre Kinder später digital abgehängt werden?
Das stimmt einfach nicht. Auf einem iPad drückt ein Siebenjähriger eine halbe Stunde rum, dann hat er das begriffen! Das ist nicht das gleiche wie laufen lernen, wo man anderthalb Jahre üben muss. Die Welt ist so digital, da kommt man sowieso nicht dran vorbei, da muss keine Frühförderung betrieben werden. Es ist viel wichtiger, die digitalen Prozesse proaktiv zu begleiten. Da geht es um emotionale und soziale Kompetenz, um Fragen wie: Wo kann dieses Foto hin? Wie gehe ich im digitalen Raum mit Menschen um? Das hat nicht nur mit den Kindern zu tun, da müssen sich auch viele Eltern und die Schule regulieren.
Welche Anregungen würden sie Eltern mitgeben, um ihren Kindern digitale Achtsamkeit zu ermöglichen?
Erstens: gemeinsame, digitalfreie Zeiten. Zweitens: Wie kann ich proaktiv vormachen, dass das Handy nicht meinen Alltag bestimmt? Zum Beispiel, indem man als Familie einen Ort definiert, wo die digitalen Geräte liegen bleiben können. Und das Dritte ist, sich dafür zu engagieren, dass sich das System ändert. Die 365 Nachrichten im Klassenchat über Mittag belasten das Kind. Es ist völlig logisch, dass ein 8-Jähriger oder ein 12-Jähriger genau das Gleiche machen will wie seine Peers – der hat keinen Bock, der Einzige ohne Handy zu sein. Da kann man mit der Schule und politisch und gesellschaftlich das Gespräch suchen, einen Schüler- oder Elternrat gründen und sich da engagieren.
Was wünschen sie sich für unsere digitalisierte Gesellschaft in der Zukunft?
Ich wünsche mir als Allererstes, dass die Leute merken: Die Digitalisierung hat mit jedem Einzelnen was zu tun! Das ist eine Bürgerfrage und eine politische Frage, nämlich, welche menschlichen Werte in Zukunft überhaupt noch geschützt werden und von wem und wie. Da muss man auch nichts verstehen von Digitalisierung, sondern davon, wie man leben will. Wir müssen uns alle für nachhaltige Digitalisierung engagieren, um tatsächlich die Menschenwürde aufrechtzuerhalten. Das ist nicht einfach ein bisschen Candy Crush. Das ist wie der Klimawandel und Gleichstellung! Wir müssen anfangen, den digitalen Raum würdevoll zu gestalten, Menschen zu schützen und das Positive zu stärken. Da braucht es jeden – nicht einfach ein paar Leute, die nicht ins Internet gehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Diana Heidemann.
Anna Miller hat einen Master-Abschluss in Positiver Psychologie und ist Autorin und Expertin für digitale Achtsamkeit.