Wir sind alle so erschöpft

Das Familienleben ist häufig erschöpfend. Warum das so ist und wie Familien zu neuer Stärke finden, erklärt der Psychotherapeut Jörg Berger.

Erschöpft zu sein ist anders als müde oder erholungsbedürftig. Wer müde ist, schläft ein paar Nächte und fühlt sich wieder fit. Wer Erholung braucht, verbummelt ein Wochenende oder genießt einen Urlaub. Dann ist der Akku wieder geladen. Doch Erschöpfung geht tiefer. Man schläft und bleibt müde. Man ruht und wird nur antriebslos. Der Akku bleibt leer. Wer müde und erholungsbedürftig ist, kann es sich außerdem erklären: Vielleicht waren die Nächte schlecht oder ein Infekt hat den nächsten abgelöst. Oder einer steigt wieder in den Beruf ein und die Kinderbetreuung fällt aus. Das kostet Kraft. Doch wenn die Belastung nachlässt, kommt auch die Energie wieder. Das ist bei Erschöpfung anders. Man ist in normalen Lebensphasen k. o. und fragt: „Warum bin ich so erschöpft?“

Dann gibt es offenbar immer Dinge, die zu viel Energie kosten. Das betrifft erschreckend viele Menschen. Die Sozialforschungsgesellschaft Forsa hat 2019 im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse 1.000 Eltern mit Kindern unter 18 Jahren befragt. Über ein Drittel der Eltern hat angegeben, unter Erschöpfung und Burnout zu leiden. Etwa genauso viele haben auch Gereiztheit, Nervosität, Müdigkeit und Schlafstörungen erlebt. Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht es nicht anders, wie die Befragung „Jugend in Deutschland“ 2022 zeigte: Von den 1.000 repräsentativ ausgewählten jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren berichteten 45 Prozent von Stress, 35 Prozent von Antriebslosigkeit und 32 Prozent von Erschöpfung. In der Forsa-Umfrage wurden gestresste Eltern auch gefragt, was ihnen helfen würde. Sie wünschen sich vor allem zweierlei: mehr Zeit (70 Prozent) und innere Gelassenheit (72 Prozent). Hier können vier Strategien ansetzen, die aus der Erschöpfung führen.

1. Den Selbstwert stärken

Selbstwert und Energie hängen eng zusammen. Menschen, die sich wertvoll fühlen, spüren Energie in ihrem Körper. Sie können sich auf den Augenblick einlassen, genießen ihre Lieben und ihre Aufgaben. Und sie können über sich lachen und nehmen selbst Dinge, die schiefgehen, gelassen. Wer sich dagegen oft hinterfragt, kritisiert und schuldig fühlt, hemmt sich bis in sein körperliches Energielevel hinein. Er nimmt Dinge schwer und persönlich. Wer über Erschöpfung nachdenkt, sollte daher zuallererst am Selbstwert ansetzen: einander ermutigen, einander vertrauen und zutrauen, geräuschlos vergeben, auch das annehmen, was unvollkommen ist.

Aber macht das nicht selbstbezogen und rücksichtslos? Im Gegenteil, Annahme und Ermutigung machen korrigierbar. Wer sich wertvoll fühlt, bei dem kommen Signale an: „Ups, damit fühle ich mich nicht wohl.“ – „Wolltest du nicht noch …?“ – „Ich glaube, du bringst XY gerade in eine unangenehme Situation.“ Wer sich einer Korrektur verschließt, hat meist das Gefühl, nicht zu genügen und dass es ohnehin nie gut genug ist.

Selbstwert brauchen wir vor allem, wenn wir uns gegen das Zuviel wehren, mit dem fast jede Familie zu kämpfen hat. Es ist schrecklich überfordernd, was wir alles wissen, können, tun, leisten, haben und schaffen müssen. Aber müssen wir das wirklich? Vieles nicht. Gerade Verpflichtungen gegenüber Verwandten, Freunden und Bekannten, gegenüber Institutionen wie Kindergarten, Schule, Verein und Kirche können wir überprüfen: Müssen wir wirklich alles tun, was von uns erwartet wird? Wo nicht, können wir lernen, uns fröhlich zu schämen. Doch wer sich wertvoll genug fühlt, kann Erwartungen enttäuschen. Ich könnte eine lange Liste mit Punkten schreiben, in denen ich hinter dem zurückbleibe, was man von einem gebildeten, rücksichtsvollen und engagierten Menschen erwartet. Wo das sichtbar wird, schäme ich mich. Manchmal lassen es mich andere auch spüren, dass sie mehr von mir erwarten. Das lässt mich nicht kalt. Es kränkt, es schmerzt. Aber niemals würde ich mir die Freiheit nehmen lassen, so zu leben, wie es mir entspricht und wie es auch denen guttut, die ich liebe. Dann schäme ich mich lieber fröhlich.

2. Gefühle und Konflikte willkommen heißen

Kennen Sie den Gedanken: „Auch das noch!“, wenn wir es mit Gefühlsausbrüchen oder Konflikten zu tun bekommen? Etwa bei einem Wutausbruch unserer Kinder, einer Sinnkrise unseres Partners oder einem Streit? Doch wenn wir so reagieren, offenbart das: Unser Leben ist so voll, dass für Gefühle und Konflikte keine Kraft mehr da ist. Schon Bücher über berufliche Zeitplanung empfehlen: „Planen Sie in Ihren Arbeitstag Zeit für unvorhergesehene Dinge ein, denn die kommen immer. Wenn Sie den ganzen Tag bereits verplant haben, bringt Sie alles, was unerwartet kommt, unter Druck.“ Was für die Arbeit gilt, trifft in ähnlicher Weise für unser Privatleben zu.

Für Gefühle und Konflikte etwas übrig zu haben, ist schon deshalb entlastend, weil sie sich nicht verhindern lassen. Es gibt aber noch einen besseren Grund. Gefühle tragen viel Energie in sich: Sie brechen aus, reißen uns mit, sie bewegen oder überwältigen uns. Wo wir unsere Gefühle und die unserer Lieben bekämpfen, versiegt eine Energiequelle. Wo wir Gefühle dagegen verstehen, liebevoll beantworten und deren Energie in eine gute Richtung lenken, erhöht sich unser Energielevel. Auch die unvermeidlichen Konflikte können wir unter diesem Gesichtspunkt betrachten: Wo wir verstehen, worum es geht und einen guten Kompromiss finden, setzen wir Motivation und Kraft frei. Das Gegenteil wäre der ungelöste Konflikt, in dem wir uns gegenseitig blockieren, beschneiden, zensieren und das Leben eng machen, damit an dieser Stelle nicht schon wieder ein Streit ausbricht. Das macht nicht nur gereizt und traurig. Es lähmt unsere Lebenskräfte, die wir doch für unseren Alltag brauchen.

3. Energieräuber ausladen

Nichts greift tiefer in unser Nervensystem als das, was sich in unseren Beziehungen abspielt. Hier erneuert sich unsere Kraft, hier verlieren wir sie. Menschen ermutigen uns zu einem Leben, wie es uns entspricht. Menschen versuchen, über uns zu bestimmen und uns zu verbiegen. Für unseren Kräftehaushalt ist es daher entscheidend, wen wir in unsere Nähe lassen und wem wir emotionale Macht über uns geben.

Sozial eingestellte und gläubige Menschen sind großzügig gegenüber den Eigenarten anderer Menschen. Sie übernehmen Verantwortung für das Gelingen von Beziehungen, zur Not einseitig. Sie suchen im Zweifelsfall den Fehler bei sich. Doch manchmal ist das schädlich. Denn wenn andere sich unfair oder ausnutzend verhalten, brauchen wir eine starke Liebe, die den Schwächen anderer Grenzen setzt. Sie stellt andere vor die Wahl: „Möchtest du eine liebevolle, gesunde Beziehung mit mir leben? Oder bestehst du darauf, dich weiterhin unfair zu verhalten? Dann aber ohne mich.“

Nur wer fair und vertrauenswürdig ist, darf in unsere Nähe kommen. Viele Beziehungen sind gesetzt: Verwandtschaft, Nachbarn, Kollegen. Doch wir bleiben frei darin, wie viel Zeit wir mit jemandem verbringen und ob wir uns öffnen. Auch in einer oberflächlichen Beziehung, die sich auf das unvermeidliche Miteinander beschränkt, kann man freundlich, wertschätzend und hilfsbereit sein. Christlich geprägte Menschen erinnere ich manchmal daran, dass selbst Feindesliebe keine seelische Nähe erfordert. Beispiele für Feindesliebe in der Bibel sind beten, ein Kleidungsstück überlassen, etwas zu trinken oder etwas zu essen geben. Das alles ist möglich, ohne einen bösen oder schädlichen Menschen in sein Leben zu lassen. Manchmal spreche ich mit Menschen auch über die Frage, wie sozial man sein muss. Denn wenn sich jeder von schwierigen Menschen abwenden würde, blieben sie ja ganz allein. Doch man sollte das Potenzial schwieriger Menschen nicht unterschätzen, sich auf eine gesündere Beziehung einzulassen. Die Motivation dafür entsteht aber erst, wenn es nicht mehr genug Personen gibt, die sich unfair und ausnutzend behandeln lassen. Wenn das schwierige Verhalten Ausdruck einer psychischen Erkrankung ist, schenkt man einer Person besser in einem kleinen Netzwerk Gemeinschaft – alles andere überfordert oft.

4. Glück ist analog

Als Werkzeug ist die digitale Welt unendlich nützlich, als Lebensform erschöpft sie uns. Denn einerseits überreizt sie, andererseits schneidet sie uns von dem ab, was Kraft gibt: Berührungen, persönliche Begegnungen, in der Natur sein, etwas mit den Händen tun, die Welt mit allen Sinnen erfahren, die Wohltat des Nichtstuns genießen, in der Langeweile erleben, wie sich kreative Kräfte entfalten. Was einem schon der gesunde Menschenverstand sagt, können Studien präziser fassen. In der BLIKK-Medien-Studie 2017 wurden zum Beispiel über 5.000 Familien zum Umgang mit digitalen Medien befragt. Gleichzeitig wurde die Gesundheit und Entwicklung von Kindern untersucht. Das Ergebnis: Die Nutzung digitaler Medien begünstigt Schlafstörungen, Fütterstörungen, motorische Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Sprachentwicklungsstörungen, Konzentrationsstörungen und anderes. Je früher der Mediengebrauch einsetzt und je intensiver er ist, desto ausgeprägter sind die Effekte. Sowohl für die betroffenen Kinder als auch für Eltern, die sich Sorgen machen, sind die Folgen des Medienkonsums kraftraubend. Ins Positive gewendet liegt hier ein großes Potenzial für Wohlbefinden. Es gibt zwar den Sog in die digitale Welt und oft auch einen sozialen Druck. Doch wir bestimmen, inwieweit wir dem nachgeben. Je glücklicher wir in der analogen Welt sind, desto leichter wird es.

Wenn ich erschöpfte Menschen begleite, wünschen sie sich nichts mehr, als wieder Kraft zu haben. Um dann so weiterzumachen wie bisher? Lieber nicht. Denn Erschöpfung hat eine Botschaft, die uns etwas Wichtiges zu sagen hat. Wir haben uns von dem abschneiden lassen, was uns Kraft gibt. Wir haben den falschen Menschen oder Dingen Macht über uns gegeben. Wer die Botschaft hört und beherzigt, wird seine Erschöpfung feiern. Denn sie führt auf einen Weg, der das Leben leichter und glücklicher macht. Sie bringt mehr in Übereinstimmung mit dem, was einem wirklich wichtig ist.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (psychotherapie-berger.de/family).

Der Mist mit dem Krönchen

Was kommt nach dem Hinfallen? Sandra Geissler über den Umgang mit den Hindernissen des Lebens.

Seit einigen Jahren schon pflege ich eine innige WhatsApp-Freundschaft mit einer lieben Freundin und damit das moderne Äquivalent einer herkömmlichen Brieffreundschaft. So viele Nachrichten sind über die Wochen und Jahre hin- und hergeflogen, dass wir einander, unsere Familien und Lebensumstände sehr gut kennenlernen konnten. Wir teilen die fröhlichen und die traurigen Momente des Alltags, die Kuriositäten und die Banalitäten des Lebens. Aber auch unsere Sorgen und unseren Kummer, unsere Erleichterungen und unsere Höhenflüge. Trotz der räumlichen Distanz ist über die Jahre hinweg eine herzliche Nähe entstanden, Vertrautheit und damit Vertrauen gewachsen.

Wenn ich so zurückblicke, dann gab es aber auch jede Menge zu erzählen, zu verarbeiten und zu sortieren: die Coronajahre, die in so vieler Hinsicht eine Grenzerfahrung für unsere Familien waren. Schulsorgen, Kindersorgen, Jobsorgen, kleine und große Herausforderungen, tiefe Trauer und manchen Ärger – der ganz normale Alltagswahnsinn ganz normaler Familien. Es gab und gibt jede Menge zu bewältigen und so gehen, stolpern, fallen wir durch unsere Leben und haben das Glück, einander davon auf die Mailbox quatschen zu können.

Keine Zeit zum Wundenlecken

Noch etwas fällt mir beim Zurückschauen, aber auch beim Umschauen in meiner nächsten Umgebung auf. Ist die eine Hürde genommen, die Herausforderung gewuppt, das Tal durchquert, dann schütteln wir uns kurz und traben zur nächsten. Das Leben, vor allem das Leben mit vielen lässt einem kaum eine Pause für langes Wundenlecken, gründliche Reflexionen und ordentliches Verdauen der Ereignisse. Und wir selbst bestehen auch nicht darauf, wie sollten wir auch? Zum einen traben Alltag und Leben ebenfalls munter weiter, längere Haltestellen sind nicht vorgesehen. Zum anderen ist menschliche Funktionstüchtigkeit ein hoher Wert in unseren Breiten.

Es gibt eine allseits beliebte Postkarte zu diesem Phänomen, zu finden auf jedem Spruchpostkartenständer in Supermärkten und Geschenkelädchen: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“, heißt es dort kunstvoll gelettert und gern mit Krönchen verziert. Diese Spruchweisheit ist meines Erachtens eine hübsch getarnte Variante des althergebrachten „Reiß dich am Riemen! Stell dich nicht so an, weiter geht‘s!“. Die Karte bringt auf den Punkt, was ich von mir erwarte: Ich lasse mich durch nichts unterkriegen, habe alles im Griff. Wenn ich falle, stehe ich einfach wieder auf und mache unbeirrt weiter. Denn ich bin ja nicht aus Zucker, kein Weichei, und wenn etwas dumm gelaufen ist, mache ich einen Haken dran.

Grenzen ignoriert

Diese Philosophie lässt sich auf nahezu alle Lebensbereiche anwenden, ganz gleich, ob simple Alltagsherausforderung oder echter Ausnahmezustand, ob kleine Kränkung oder veritable Grenzerfahrung. Eine Postkarte für alle Anlässe. So ein Motto, auch wenn es auf eine Postkarte passt, verlangt sehr viel von meinem Herzen und Hirn, meinem Körper und meinem Geist. Es verlangt vor allem, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen und die Begrenztheit der eigenen Ressourcen zu ignorieren. Du darfst zwar fallen, aber nur, um gleich wieder aufzustehen und den Stolperstein möglichst schnell hinter dir zu lassen. Wir haben alles in der Hand und zwar mit festem Griff. Vielleicht nicht die Ereignisse, aber doch uns selbst.

Das ist ein fataler Irrtum. Eine Postkartenweisheit, die eine Beschaffenheit der menschlichen Seele suggeriert, die der einer Teflonpfanne gleicht und an der alle Herausforderungen abperlen, ohne gravierende Spuren zu hinterlassen. Eine verlockende Illusion hat sie außerdem im Gepäck. Die Idee von Kontrolle, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Wir gestatten uns selten bis nie, innezuhalten und zuzugeben: „Das war einfach zu viel. Ich weiß nicht mehr weiter, heute nicht und morgen aller Wahrscheinlichkeit auch nicht. Ich brauche dringend eine Pause, die letzten Wochen waren herausfordernd. Dieser Kummer hat mein Leben für immer verändert. Mit dieser Schuld muss ich leben. Dieses leidige Thema holt mich immer wieder ein.“ Selbst Trauernden wird häufig nur eine begrenzte Zeit zugestanden, bevor sie sich und ihre Emotionen wieder im Griff haben sollen.

Dellen im Krönchen

Meiner bescheidenen Erfahrung nach melden sich aber Altlasten und Gebrochenheiten in schöner Regelmäßigkeit in Form von Stolpersteinen zurück, über die man dann nicht einfach hinweggehen kann. Wer zu lange immer weiter macht, brennt aus. Auf manchen Schmerz gibt es ein lebenslanges Abo, manche Fehler suchen mich immer wieder heim. Nicht alles, was dir widerfährt, wird wieder gut. Du merkst es spätestens dann, wenn der eigene Körper protestiert, weil das Weitermachen nach dem Fallen die einzige Zielrichtung ist und er lieber in die andere Richtung will. Oder liegen bleiben möchte, nur für ein Weilchen. Du fällst, du stehst auf, richtest dein Krönchen und gehst weiter, aber wie? Hinkend und lahmend? Mit zusammengebissenen Zähnen, weil die Teflon-Beschichtung der Seele in Wirklichkeit nicht allzu haltbar ist und sich die Kratzer nur mit viel Mühe ignorieren lassen?

Ich denke allerdings nicht, dass wir nun dringend Postkartenmotive bräuchten mit Lebensweisheiten wie: „Hinfallen, liegen bleiben, noch tiefer einbuddeln und im Jammertal heimisch werden.“ Das wäre kaum eine praktikable Lösung. Und ich wünsche wirklich niemandem ein Leben zusammengekauert in Ausweglosigkeit. Aber zwischen „sich einrichten im Jammertal“ und „beharrlich weitermachen, als wäre nie etwas gewesen“ darf es Rastplätze geben, Seitenstreifen und Ruhebänkchen: eine Weile neben dem Weg sitzen bleiben und die eigenen Glieder und Umstände sortieren. Möglichkeiten finden, um anzuhalten und sich um dringende Bedürfnisse zu kümmern. Auftanken und ausruhen in dem Wissen, dass ich weder die Ereignisse noch mich selbst immer im Griff haben kann und muss. Zeit zum Weinen und Zeit, Frieden zu schließen. Zeit, Atem zu holen und Zeit, still zu werden, weil das Leben zu laut ist.

Hin und wieder vergessen wir im Strudel der Ereignisse, dass wir Menschen sind und nicht Gott. Menschen müssen und können nicht immer funktionieren, weitermachen und unverdrossen weitergehen. Manchmal hat das blöde Krönchen so viele Dellen, dass man es beherzt in die Ecke schmeißen oder gegen einen Regenhut eintauschen darf. Als Menschenkind bin ich wertvoll und geliebt, auch wenn ich ein Weilchen nicht weiterzugehen vermag. Ich darf stolpern, ich darf hinfallen und mich dann getrost an die Seite setzen, um zu klagen, Kraft zu sammeln, Haare zu raufen und Hilfe zu erbitten.

Klagen und Haareraufen

Die Psalmen Davids gehören zu meinen liebsten Texten. Sie sind in gewisser Weise sehr viel menschenfreundlicher als unsere Postkartenweisheiten. Vielmehr sind sie ein wahrer Schatz für beanspruchte Menschenherzen, die dringend eine Pause brauchen. Dort findest du eine wortgewaltige Fülle an Gezeter und Gejammer, an Klagen und Haareraufen. Du findest aber auch Rufe nach Hilfe und Vergebung. Lieder der Zuversicht und des Vertrauens auf Gott, der weiß, dass seine Menschenkinder in schöner Regelmäßigkeit fallen, nicht zuletzt über ihre eigenen Füße, der Zuflucht ist und sichere Burg. Die Psalmen besingen nicht, wie man sich am Riemen reißt oder die Zähne zusammenbeißt.

Ich mag sie, weil sie Gott mitten hinein ins allermenschlichste Leben holen, meinen Gott, der mich tröstet und hält, wenn es mich umgehauen hat. Der Psalmist hat offenbar überhaupt keine Hemmungen, sein Straucheln und Fallen Gott entgegenzusingen, seine Bedürftigkeit nach Zuwendung, Trost und Hilfe. Genau das möchte ich mich häufiger trauen. Wenn das Leben mich zu Fall bringt, muss ich nicht sofort weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Ganz praktisch darf ich Termine streichen und das Tempo rausnehmen. Ich darf Nein sagen, wenn es mir zu viel wird. Früh zu Bett gehen und spazieren, traurig sein und mir ratlos die Haare raufen, solange es eben dauert. Wenn ich dann so weit bin, wenn die Kraft wiederkehrt, wenn die Tränen getrocknet und die Sorgen sortiert sind, dann kann ich mich auf den Weg machen. Vielleicht sind die ersten Schritte wacklig und unsicher, langsamer und suchender. Aber ich gehe, in meinem Tempo. Die nächste Herausforderung kommt bestimmt. Wo ein Weg, da auch Hürden. Vielleicht brauchen wir eine Postkarte, die uns erinnert: „Hinsetzen, zu Kräften kommen und mit Gott und lieben Freunden quatschen!“

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und arbeitet als Lehrerin und Schulseelsorgerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Nierstein am Rhein und bloggt unter: 7geisslein.com

Mein Begehren – dein Begehren

Wenn Ehepartner unterschiedlich stark ausgeprägte sexuelle Lust haben, kann das die Beziehung sehr belasten. Was hilft, damit die Lust nicht zum Frust wird? Von Susanne und Marcus Mockler

„Wie oft habt ihr beide Sex?“ Als uns in einer anonymen Fragerunde bei einem Eheseminar diese Frage gestellt wurde, waren wir uns einig: Darauf geben wir keine konkrete Antwort! Garantiert keine Zahl – denn wem sollte das helfen? Anders Martin Luther, der einst frei heraus den Ratschlag gab: „In der Woche zwier, schaden weder ihm noch ihr, macht im Jahre hundertvier.“ Doch wir glauben, dass Sexualität sich nicht so verallgemeinern lässt. Es gibt kein Richtig oder Falsch in Praktiken oder Häufigkeit. Entscheidend ist, wie es beiden damit geht. Viel wichtiger als die genaue Zahl der Sexualkontakte ist die Qualität der Paarbeziehung. Allerdings bedingt sich beides oft: Paare, die in Befragungen eine hohe Beziehungszufriedenheit angeben, haben in der Regel häufiger Sex als Paare, die insgesamt unzufrieden sind.

Unzufriedenheit und Konflikte

Das Problem kennt fast jedes Paar: unterschiedliches sexuelles Verlangen und verschiedene Vorstellungen darüber, was eine angemessene Frequenz für Intimverkehr sei. Tendenziell beobachten wir mehr Interesse an Sex bei Männern. Das variiert aber von Paar zu Paar. Immer häufiger sind es auch Frauen, die sich mehr intime Aktivitäten erhoffen, während ihre Partner sich zurückziehen. Die Gründe sind vielfältig: Stress, Erschöpfung, medizinische Probleme, hormonelle Schwankungen, traumatische Vorerfahrungen, psychische Erkrankungen, häufiger Pornokonsum. Oft ist es eine Störung der Beziehungsdynamik insgesamt, Unzufriedenheit über die Qualität des gemeinsamen Lebens und mit dem gegenseitigen Umgang, die einem (oder beiden) die Lust rauben.

Die Kluft im sexuellen Begehren führt zu Unzufriedenheit und Konflikten. Schließlich ist Sexualität ein starker Motor und Teil der Identität. Wer immer wieder im Bett abgewiesen wird, entwickelt Frustgefühle und fühlt sich manchmal sogar persönlich abgewertet. Allerdings gerät auch die Person, die weniger Lust hat, unter Druck. Viele plagt ein schlechtes Gewissen, wenn sie nicht auf das Drängen des anderen eingehen. Sie fühlen sich möglicherweise auf ihren Körper reduziert und als Ehepartner ungenügend. Wenn dann Sex regelrecht eingefordert oder einzig aus Angst vor Ablehnung ertragen wird, hilft das der Liebe auf keiner Seite weiter.

Was sind gute Strategien, um mit diesen unterschiedlichen Bedürfnissen umzugehen?

Offen über Sex reden

Wer Probleme mit der Sexualität hat, sollte darüber reden, und zwar offen und mit der ehrlichen Absicht, die Sicht des anderen zu hören und zu verstehen. Vielen ist das Thema unangenehm und sie ziehen sich zurück oder attackieren einander auf anderen Ebenen. So halten sie den anderen auf Abstand, um sich dem eigentlichen Problem nicht mehr stellen zu müssen. Das verfestigt aber den Keil zwischen beiden.

Ein ehrliches Gespräch über unterschiedliche Wünsche, Bedürfnisse und sexuelle Gefühle hilft, einander wieder näherzukommen und möglicherweise auch die Gründe hinter der starken Lust oder Lustlosigkeit zu entdecken. Dabei ist wichtig: Man darf den anderen nicht angreifen oder Vorwürfe machen, sondern sollte ausschließlich die eigenen Gefühle und Erwartungen beschreiben. Währenddessen sollte der Partner einfühlsam und interessiert zuhören. Nicht selten führt allein schon diese offene Kommunikation dazu, dass sich etwas in der Paardynamik bewegt und sich Lösungen, mit denen beide gut leben können, finden lassen.

Forschungen weisen sogar darauf hin, dass Einfühlungsvermögen, aktives Zuhören und die Bereitschaft, auf den Partner einzugehen, sexuelles Verlangen fördern können.

Wichtig ist, dass sich das Gegenüber wertgeschätzt und geliebt fühlt: „Auch wenn du meine Sehnsüchte gerade nicht befriedigen kannst, liebe und achte ich dich.“ „Auch wenn mir deine sexuelle Energie manchmal zu heftig ist, glaube ich dir, dass du mich als Person liebst und es dir nicht nur ums Körperliche geht. Ich respektiere deine größere Lust und kann sie als Ausdruck deiner Leidenschaft für mich annehmen.“ „‚Nein, nicht heute‘ bedeutet nicht, dass ich dich nicht liebe. Es liegt nicht an deiner Attraktivität und deinem Wert.“

Zugegeben, das klingt idyllisch und manchmal ist es ein schmerzlicher Weg, bis Paare dahin kommen. Einige schaffen es nicht ohne therapeutische Hilfe. Die Moderation einer dritten Person und der neutrale, wohlwollende Blick von außen können hilfreich sein, um gute Lösungen zu finden.

Sex ist nicht alles

Wie steht es um die Paarbeziehung insgesamt? Paare, die Probleme im sexuellen Bereich haben, sollten viel Zeit in andere Aktivitäten investieren, die beiden guttun: gemeinsame Hobbys, Ausflüge, ehrenamtliches Engagement, sportliche Aktivitäten. Wer auf dem sexuellen Pfad so gar nicht weiterkommt, muss Druck rausnehmen. Es hilft nicht, wenn einer dem anderen permanent ein schlechtes Gewissen macht. Vielleicht ist es für den sehr bedürftigen Partner auch dran, Selbstbeherrschung zu lernen und sich bei der geliebten Person weniger auf den Körper als vielmehr auf die inneren Werte zu konzentrieren.

Manche Paare gehen einander regelrecht aus dem Weg, um ja nicht in die Situation zu geraten, nach Sex gefragt zu werden. Da kann es helfen, zu vereinbaren, das Thema für eine gewisse Zeit ganz ruhen zu lassen und sich stattdessen bewusst auf andere Gemeinsamkeiten zu fokussieren. Manche brauchen diese Sicherheit, um wieder vertrauen zu können.

Gott um Hilfe bitten

Einige Christen tun sich schwer, Gott in das Thema Sexualität einzubeziehen. Aber auch so eine „fleischliche Angelegenheit“ wie sexuelle Unzufriedenheit ist etwas, womit man sich direkt an den Schöpfer wenden darf. Immerhin war das seine Idee! Wer sonst wüsste am besten, welche Wege einem Paar zu mehr Freiheit und Zufriedenheit verhelfen könnten? Wer leidet, sollte Gott um Hilfe bitten. Am besten gemeinsam, laut und im Vertrauen, dass er Wege kennt, wo wir noch keinen Ausweg sehen. Aber auch das persönliche Gebet wird nicht unerhört bleiben.

Die Lust auf Sex anregen

Oft leidet der Partner mit geringerer Libido darunter und würde eigentlich dem anderen zuliebe, aber auch für sich selbst gerne mehr sexuelle Intensität entwickeln. Die Forschung sagt: Menschen, die öfter Sex haben, empfinden auch ein höheres Maß an Lust auf Sex und wollen öfter intim werden. Ist Sex eine gute Erfahrung, möchte man sie häufiger machen.

Insofern könnten Partner, die eine geringere Libido haben, versuchen, sich in Stimmung zu versetzen. Eine Frau kann sich gedanklich auf Lust programmieren, indem sie im Lauf des Tages immer wieder bewusst ihre Geschlechtsorgane wahrnimmt, den Beckenboden durch Anspannen trainiert, hübsche Unterwäsche trägt, in der sie sich schön fühlt. Angenehme erotische Anspielungen des Partners, schmeichelnde Bemerkungen und zärtliche Berührungen im Alltag können luststeigernd wirken. Manchen hilft es, Termine für Sex zu setzen. Was für manche befremdlich klingt, hilft anderen, weil sie sich kontrolliert auf diese Paarzeit vorbereiten und intensiv darauf einstellen können.

Sich auf die unterschiedlichen Empfindungen einlassen

Es klingt ein bisschen verrückt, aber tatsächlich: Der Appetit kommt mit dem Essen. Befriedigender, lustvoller und erfüllender Sex steigert die Lust auf Wiederholung. Enttäuschende Erfahrungen beim körperlichen Zusammensein haben gegenteilige Wirkung. Das heißt auch: Der Partner mit der stärkeren Lusterfahrung sollte intensiver danach fragen, wie Sex für den anderen zu einem beglückenderen Erlebnis werden könnte.

Vor allem Frauen haben oft nicht spontan Lust auf Sex, können aber durch liebevolles Werben des Partners und durch erotische Berührungen, die sie mögen, dafür gewonnen werden. Hier ist Kommunikation besonders wichtig! Viele Partner wissen nämlich gar nicht, was sich für den anderen tatsächlich gut anfühlt und was der andere erotisch findet. Auch ändert sich das im Verlauf des Zyklus einer Frau stark. Während zum Beispiel in einem Stadium die Berührung der Brustwarzen elektrisiert, kann es an anderen Tagen wehtun und abschrecken. Ein bisschen ist Sex eben wie ein Tanz: Einer fordert auf, der andere lässt sich ein, beide finden in den Rhythmus und erst nach einigen Takten ist die Harmonie hergestellt.

Kompromisse aushandeln

Wenn die Erwartungen an die Häufigkeit der sexuellen Begegnungen stark abweicht, können Paare versuchen, Kompromisse auszuhandeln. Vielleicht hätte er gerne am liebsten täglich Sex, während ihr alle zwei Wochen vollkommen ausreichen. Wie wäre es, wenn die beiden sich zum Beispiel auf einmal pro Woche einigen? Dann sind die Parameter klar und beide können sich darauf einstellen und diese Begegnungen bewusst gestalten.

Sicher wird es nicht für alle die vollkommen zufriedenstellende Lösung geben. Einige körperliche oder hormonelle Ursachen sind zwar medikamentös behandelbar, aber manchmal kommt die Medizin an ihre Grenzen. Nebenwirkungen von Medikamenten hemmen teilweise die Lust und machen es schwer bis unmöglich, sexuelle Leidenschaft zu entwickeln. Auch psychische Belastungen wie Stress oder Depressionen können nicht einfach durch einfühlsame Kommunikation überwunden werden.

Aber auch solche Paare können Wege finden, wie sie einander dennoch nah bleiben: Zärtlichkeiten müssen nicht immer im Beischlaf enden, sorgen aber für die Ausschüttung von Glücks- und Bindungshormonen und stärken damit das Wohlbefinden. Alternative Formen von Intimität ohne Penetration können helfen, dass der lustbetonte Partner trotzdem auf seine Kosten kommt.

Marcus und Susanne Mockler – er ist Journalist, sie ist Paartherapeutin mit eigener Praxis und Vorsitzende der MarriageWeek Deutschland.

Enttäuschung: Wenn mein Kind nicht so ist, wie ich es dachte

Kinder entsprechen nicht immer den Erwartungen, die ihre Eltern an sie haben. Stefanie Diekmann über die schädliche Dynamik der Enttäuschung und wie wir sie durchbrechen können.

Über ein Thema in der Eltern-Kind-Beziehung wird wenig gesprochen und geschrieben: die Enttäuschung über das eigene Kind. Dabei kennen dieses Gefühl wohl die meisten Eltern mehr oder weniger stark. In manchen Momenten ist mir mein Kind vertraut und herzensnah. Aber je älter das Kind wird und je deutlicher die Persönlichkeit sichtbar wird, desto eher müssen wir uns dem Gefühl der Enttäuschung stellen.

Unerfüllte Wünsche

Aber darf ich als Mutter oder Vater überhaupt enttäuscht von meinem eigenen Kind sein? Vorsichtig formuliere ich eher: „Ich mache mir Sorgen“ oder „Ich verstehe nicht, warum …“. Ich wage es nur selten, meine Gedanken über meine innere Zerrissenheit zu teilen. In der Psychologie gibt es eine Sicht auf diese Irritation zwischen Eltern und Kindern. Die Definition des Begriffes Enttäuschung ist darauf zurückzuführen, dass die Betroffenen darunter leiden, dass ihre Wünsche oder Hoffnungen nicht in Erfüllung gegangen sind. Wenn die Wünsche der Eltern nicht erfüllt werden, entsteht bei ihnen Kummer und Enttäuschung.

Das sind oft kleine Alltagsmomente: So kann zum Beispiel ein Kind, das ständig die Nähe seiner Mutter sucht und an ihr klebt, für sie zur Herausforderung werden. Wenn sie ehrlich ist, eskaliert es schon in ihr, wenn sie spürt, dass das Kind sich im Raum näher zu ihr orientiert. Immer wieder bekommt sie Rückmeldungen, wie wichtig es sei, dass sie ihr Kind ermutigt, sich von ihr zu lösen. Sie gibt sich alle Mühe, hat aber das Gefühl, ihr anhängliches Kind lässt sich nicht darauf ein. Nach überstandenen Stresssituationen sammelt sich in ihr eine Mischung von Erschöpfung und Ratlosigkeit, die sie in ihrem mütterlichen Handeln lähmt. Das innere Bild ihres Kindes nimmt die Mutter mit zum nächsten Geburtstag, wo scheinbar alle Kinder miteinander spielen – ihr Kind aber auf ihrem Schoß wie festgeklebt ist. Das Bild verstärkt sich beim Besuch in der Stadtbücherei, wo das Kind jammert und keine Ruhe zum Verweilen hat. Das Gefühl der Verunsicherung und der inneren Abwehr klebt an dieser Mutter und lässt sie nicht los.

Die Enttäuschung ansehen

Die Dynamik der Enttäuschung kann vor allem dann zerstörerisch sein, wenn ich die Enttäuschung nicht bewusst wahrnehme, sondern verdränge. Sogar vor Gott, dem ich doch vertraue, fällt es mir oft schwer, ehrlich zu sein. Die inneren Enttäuschungsmomente führen dann mehr und mehr zu einer Distanz zum Kind. Diese Distanz spürt das Kind und wird dadurch noch mehr verunsichert.

Es können viele unterschiedliche Dinge sein, die bei mir als Mutter ein Gefühl der Enttäuschung auslösen: Mein Kind ist nörgelig oder unmusikalisch oder ängstlich oder unfreundlich oder unsportlich … Dabei ist es wichtig, meine Enttäuschung anzusehen und auszusprechen. Wenn ich wegsehe, machen mich die gesammelten Enttäuschungsmomente immer weniger liebesfähig. Enttäuschungen haben so viel mit meinen Hoffnungen, Wunschvorstellungen und Erwartungen zu tun. Bei Enttäuschungen handelt es sich um eine subjektive Wahrnehmung. Das bemerke ich allein dadurch, dass mein Mann ganz anders mit bestimmten Situationen umgeht.

Es ist wichtig, meine Emotionen, Erwartungen und Handlungen zu verstehen, um letztendlich meinen Frieden mit der Enttäuschung zu schließen: Ich wäre so gern verständnisvoll. Ich verstehe mein Kind nicht. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Je mehr ich meinen Kummer vor Gott ausbreite, desto mehr fällt mir mein „Ich“ auf. Ja, mein Kind ist vom Charakter und vom Handeln her anders, als ich es mir ausgemalt habe. Es geht hier aber tatsächlich um mich!

Eigene Erwartungen

Die Dynamik der Enttäuschung hat etwas mit meinem Bild von meinem Kind und von mir als Mutter zu tun. Die Enttäuschung fühlt sich so an, als würde ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht. Die ursprüngliche Erwartung war demnach höher als das tatsächliche Ergebnis. Aber die Beziehung zu meinem Kind ist keine abrufbare Investition. Sie ist ein offener Prozess voller Nähe- und Distanzübungen.

Wenn nun diese Dynamik der Enttäuschung erneut loslegen will, möchte ich mich hinterfragen: Die Entwicklung einer Persönlichkeit ist keine Gleichung: Liebe rein – Charakter raus. Situationen, die nicht meinen Erwartungen gerecht werden, sollten nicht immer als komplett negative Situationen gewertet werden. Ich darf versuchen, der Situation etwas Positives abzugewinnen und sie als Chance für mich und mein Kind zu betrachten. Ich möchte diese objektiv beurteilen und hinterfragen: Was will mir mein Kind mit seinem Verhalten mitteilen? Als Mutter kann ich Vorbild sein und einen Platz zum Austausch unserer Gefühle finden, um diese zu verarbeiten.

Mutige Schritte

Dabei verzichte ich auf negativ festlegende Gedanken und Aussagen über mich. Mich als Mutter an den Pranger zu stellen und mir Vorwürfe zu machen, belastet nicht nur mich, sondern auch die Nähe zum Kind. Um mich von meiner Enttäuschung zu lösen, gebe ich meine Vorstellungen, Hoffnungen und Wünsche ganz bewusst an Gott zurück. Ich bemühe mich um ein Miteinander mit meinem Kind, sodass es sich angenommen und geliebt weiß. Dabei können diese kleinen Übungen helfen:

  • Ich lächle mein Kind an, wenn es den Raum betritt.
  • Ich kommentiere das Spiel meines Kindes nicht.
  • Ich frage: Wie ging es dir in dieser Situation?
    Oder: Was schlägst du vor?

Vielleicht finden wir zusammen eine Idee für mutige Schritte. So lange übe ich mich darin, das Gute in meinem Kind zu sehen und zu benennen.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.

3 bis 5 – Was tun im Kindernotfall

Elternfrage: „Mein Sohn (3) ist motorisch ganz schön umtriebig und ich habe häufig Angst, dass ihm etwas passiert. Was tue ich im Kindernotfall? Und was sind eigentlich die häufigsten Kindernotfälle im Familienalltag?“

Infekte, Verletzungen und Krampfanfälle – das sind typische Beispiele für einen Kindernotfall. Besonders häufig sind Atemwegs- und Magen-Darm-Infekte. Diese können, gerade bei Babys, die durch die verlegte Nasenatmung schlechter trinken beziehungsweise durch ständiges Erbrechen und/oder Durchfall Flüssigkeit verlieren, zur Austrocknung führen und so zu einem Notfall werden. Auch Verletzungen, zum Beispiel durch Stürze oder Verbrühungen und Verbrennungen, können rasch zum Notfall werden, wenn innere Organe oder große Flächen betroffen sind. Krampfanfälle wirken auf Eltern besonders bedrohlich. Fieberkrämpfe treten typischerweise zwischen dem sechsten Lebensmonat und sechsten Lebensjahr auf, dauern zwei bis drei Minuten und hören von allein auf. Die Kinder haben offene Augen, einen starren Blick und zittern symmetrisch. Dauert der

Krampf länger, hört nicht von allein auf, tritt innerhalb von 24 Stunden mehr als einmal auf oder zeigt eine Asymmetrie, muss das dringend abgeklärt werden.

Woran erkenne ich einen Notfall?

Um einzuschätzen, ob ihr Kind wirklich kritisch krank ist, können sich Eltern am sogenannten „pädiatrischen Beurteilungsdreieck“ orientieren. Mit diesem Tool beurteilt man durch Hören, Sehen und Fühlen:

  • Den Allgemeinzustand: Lässt sich das Kind beruhigen? Ist es noch agil? Spielt und interessiert es sich noch? Lässt sich das Fieber zwischendurch senken und scheidet es noch gut aus? Dann heißt es oft Entwarnung! Schreit es schrill, ist apathisch, trinkt nicht mehr und fiebert unter Therapie weiter hoch auf, dann ab zum Arzt!
  • Die Atmung: Zeigt das Kind Luftnot, atmet es angestrengt, also schneller und flacher oder weniger als sonst? Macht es komische Geräusche bei der Ein- oder Ausatmung? Hustet es so stark, dass es nicht mehr in den Schlaf kommt? Dann besser früher als später zum Arzt.
  • Den Kreislauf: Ist das Kind blass-marmoriert, hat kalte Arme und Beine oder blaue Lippen? Dann handelt es sich um einen Notfall!

Was gehört in jede Hausapotheke?

Meine Top Five sind:

  • Kochsalz- und abschwellende Nasentropfen, um die Nasenatmung freizuhalten
  • Fiebersenkende und schmerzlindernde Mittel in Zäpfchen- und in Saftform
  • Verbandskoffer mit Wunddesinfektionsmittel, Verbänden/Pflaster und Pinzette
  • Antihistaminika in Tropfen-, Gel- und Saftform zur Bekämpfung allergischer Reaktionen oder Juckreiz
  • Mittel gegen Stuhlunregelmäßigkeiten wie zum Beispiel Kümmelzäpfchen, Milchzucker, Elektrolytlösungen

Sollten Eltern in einem Kindernotfall ihr Kind selbst ins Krankenhaus fahren?

Wenn man mithilfe des pädiatrischen Beurteilungsdreiecks zu dem Schluss gekommen ist, dass das Kind stabil genug ist, kann man problemlos selbst in die Klinik fahren. Dabei ist es generell von Vorteil, zu zweit zu fahren, damit sich eine Person ums Kind kümmern kann. Wenn das Kind gerade einen Fieberkrampf hatte oder etwas verschluckt hat, sollte man das Kind auf keinen Fall mit dem PKW selbst in die Klinik transportieren. Das Kind könnte auf der Fahrt nochmals krampfen und dabei erbrechen oder der verschluckte Gegenstand auf einer holprigen Fahrt doch noch in die falsche Röhre gelangen. Sind Atmung, Kreislauf und Allgemeinzustand oder Bewusstsein stark beeinträchtigt, sollte immer ein Notruf abgesetzt werden.

Dr. med. Katharina Rieth ist Kinderfachärztin, Intensivmedizinerin und Notärztin. Sie engagiert sich auf Social Media unter drrieth für Aufklärung und Prävention in Sachen Kinder- und Familiengesundheit und ist Buchautorin von „Fit für den Kindernotfall“.

0 bis 2 – Ernährung: Wenig Zucker, leichte Geburt?

Elternfrage: „Ich bin jetzt im sechsten Monat schwanger und über die Louwen-Ernährung gestolpert, die die Geburt erleichtern soll. Was ist das und wie sinnvoll ist es, sich so zu ernähren?“

Kurz gesagt geht es bei der Louwen-Ernährung um eine Optimierung der Ernährung in den letzten sechs bis acht Schwangerschaftswochen mit dem Ziel, eine Übertragung zu vermeiden, die Geburt – besonders die erste Phase (die sogenannte Latenzphase) – zu verkürzen und das Schmerzempfinden zu reduzieren.

In dieser Zeit sollen die Schwangeren auf Kristallzucker und Weißmehlprodukte verzichten. Oft wird gefordert, nur Lebensmittel mit einem niedrigen glykämischen Index (die den Blutzuckerspiegel nicht schnell ansteigen lassen) zu verzehren, aber das ist eine erweiterte Variante, die nicht von Professor Louwen, dem Urheber der gleichnamigen Ernährungsform, stammt.

Was dahintersteckt

Der theoretische Hintergrund ist folgender: Besonders Industriezucker und Weißmehlprodukte lassen den Insulinspiegel stark in die Höhe schnellen. Dieses Insulin dockt an denselben Rezeptoren an, die auch das Prostaglandin benötigt, um seine Wirkung zu tun. Das Hormon Prostaglandin wird in den letzten Schwangerschaftswochen und zur Geburt hin vermehrt gebildet. Seine Aufgabe ist es, den Muttermund und die Zervix reifen zu lassen, also weich und empfänglich für eine effektive Wehentätigkeit zu machen.

Dieser Aufgabe kann es nicht nachkommen, wenn seine Rezeptoren durch Insulin besetzt sind. Auch das Schmerzempfinden ist stärker, wenn die vom Körper produzierte Menge an Prostaglandin seinen „Landeplatz“ nicht finden kann, weil dieser belegt ist. Außerdem ist die Reduzierung der Gewichtszunahme bei Mutter und Kind ein positiver Effekt bei dieser Art der Ernährung.

Entspannung geht vor

Ich halte dies für eine sehr schlüssige Theorie, zu der es allerdings leider – meines Wissens nach – noch keine Studien gibt, die sie bestätigen. Trotzdem glaube ich, dass sie einen Versuch wert ist. Leider kann ich auf keine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, sodass ich mich nur mit der Theorie beschäftigen konnte, und diese klingt für mich logisch und nachvollziehbar. Abgesehen davon ist es für jeden Menschen in jeder Lebensphase gesund, auf die genannten Produkte zu verzichten.

Aber eines ist mir zu diesem Thema wichtig zu sagen: Quälen Sie sich nicht! Lassen Sie es sich besonders in den letzten Wochen der Schwangerschaft vor allem gutgehen. Gehen Sie spazieren und gönnen Sie sich so viel Entspannung wie nur möglich. Und wenn dazu ein Stück Schokolade oder Kuchen gehört, darf das hin und wieder auch mit Freude genossen werden – manchmal braucht die Seele das einfach.

Martina Parrish war viele Jahre lang Hebamme und Stillberaterin und lebt in Berlin.

Soziale Netzwerke – gehören Kinderbilder auf Insta und Co?

Soziale Netzwerke laden dazu ein, das eigene Leben mit dem Rest der Welt zu teilen. Dabei stehen Eltern oft vor der Frage: Kann ich ein Bild von meinem Kind posten? Mediencoach Iren Schulz rät zur Vorsicht.

Das Familienleben hält jede Menge aufregende, lustige und besondere Momente bereit. Und weil Eltern sich gern daran erinnern und stolz auf ihre Kinder sind, werden die Erlebnisse mit der Smartphone-Kamera festgehalten und in privaten oder eben auch öffentlichen Communities geteilt. Insbesondere soziale Netzwerke bieten eine Plattform. Auch wenn Eltern positive Gedanken dabei haben, übersehen sie leider, dass solches Bildmaterial im Prinzip für jede(n) zugänglich ist und in falsche Hände geraten kann.

Grundsätzlich muss man sagen, dass digitale Medien wie das Smartphone heute selbstverständlicher Bestandteil des Familienalltags sind und nicht nur bei der Organisation helfen, sondern auch eine Art Erinnerungskiste, Verbindungsschnur und Sammelalbum darstellen. Gleichzeitig ist aber die Kindheit eine besonders schützenswerte Lebensphase. Wir als Erwachsene tragen die juristische und erzieherische Verantwortung dafür, dass Kinder sicher und gut aufwachsen können.

Das Recht am eigenen Bild

Juristisch gesehen ist das zum Beispiel darüber geregelt, dass auch Heranwachsende ein Recht am eigenen Bild haben. Weil sie aber noch nicht selbst über die Veröffentlichung entscheiden können, sind Eltern gefragt, hier besonders sensibel und sorgsam zu entscheiden. Denn sicher ist, dass Kinderfotos im Netz das Risiko für unerwünschte Kontakte oder eine problematische Weiterverwendung bergen. Deshalb sollten sich Eltern gut überlegen, ob und auf welche Art und Weise sie Kinderfotos im Netz und in sozialen Netzwerken verbreiten.

Öffentlich zugängliche Profile, Portale und Programme sind dafür nicht geeignet. Wenn Bilder veröffentlicht werden, sollten Kinder auf diesen Fotos nicht direkt erkennbar sein, sondern beispielsweise nur im Anschnitt, von hinten oder mit Sonnenbrille. Außerdem ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Fotos keine Kontextinformationen wie personenbezogene Daten zum Kind, Standortdaten oder Ähnliches enthalten. Zudem sollten Eltern regelmäßig die Sicherheits- bzw. Privatsphäre-Einstellungen in ihren Social-Media-Profilen überprüfen. Fotos von Kindern in peinlichen, unangenehmen oder unangemessenen Situationen sind absolut tabu!

Gute Routinen und Regeln

Mit dem Älterwerden sollten Heranwachsende in die Entscheidung einbezogen und gefragt werden, ob sie einverstanden sind, dass ein Foto von ihnen erstellt und geteilt wird. Kinder haben nicht nur ein gutes Bauchgefühl, sondern eben auch ein Recht darauf und lernen so, bewusst und souverän mit den Möglichkeiten digitaler Medien umzugehen. Hierbei ist auch noch einmal die Vorbildrolle von uns Erwachsenen angesprochen. Wenn wir uns verantwortungsvoll mit und in digitalen Medien bewegen, gute Routinen und Regeln in der Familie etablieren und auch mal ohne Smartphone zum Ausflug antreten, wird es eher gelingen, diese Handlungsweisen an unsere Kinder weiterzugeben. Und mal ehrlich: Ist nicht jeder Ausflug und jedes Erlebnis schöner, wenn die Familie mit allen Sinnen – und nicht mit allen Bildschirmen – dabei ist?

Dr. Iren Schulz ist Mediencoach bei der Initiative „SCHAU HIN! Was Dein Kind mit Medien macht.“

Warum Faulsein nicht immer schlecht ist

Faulsein hat einen schlechten Ruf. Zu Recht? Family-Redakteurin Bettina Wendland findet, dass Faulheit sowohl hilfreich als auch hinderlich sein kann.

Pippi Langstrumpf hat uns diesen Ohrwurm beschert: „Faulsein ist wunderschön, denn die Arbeit hat noch Zeit.“ Allerdings assoziiere ich die Efraimstochter eher mit „hyperaktiv“ als mit „faul“. In meiner Erinnerung ist sie immer in Bewegung: Sie jagt Verbrecher, klettert Wände hoch, bespaßt ihre Freunde und reist durch die Südsee. Aber ja, es gibt auch diese andere Seite bei ihr: Sie schwänzt die Schule, chillt in der Villa Kunterbunt und schwebt mit dem Heißluftballon über die schwedische Landschaft. Und das ist irgendwie typisch für das Thema Faulsein: Es ist vielschichtig und wird, je nachdem, aus welcher Perspektive man es anschaut, sehr unterschiedlich bewertet.

Der Begriff „Faulsein“ oder „Faulheit“ ruft verschiedene, zum Teil sogar gegensätzliche Assoziationen hervor. Eher positive wie ausruhen, Pause, Entspannung, das Leben genießen … Und eher negative wie Trägheit, Arbeitsscheu, Bequemlichkeit, abhängen … Die Synonyme Nichtstun und Müßiggang sind ähnlich mehrdeutig. „Nichtstun macht nur dann Spaß, wenn man eigentlich viel zu tun hätte“, wird der englische Schriftsteller und Komponist Noël Coward (1899-1973) zitiert. Ein wahres Wort. In stressigen Zeiten ist die Sehnsucht danach, einfach mal nichts zu machen, besonders hoch. Für Menschen, die aufgrund ihres Alters oder einer Erkrankung nur wenig aktiv sein können, ist das Nichtstun dagegen eher eine Belastung. Und die Herausforderung des Alltags liegt für sie eher darin, „die Zeit totzuschlagen“.

Zwischen Todsünde und Dolce far niente

Von der Antike bis in die Neuzeit hinein war der Müßiggang kulturell meist höher angesehen als die Arbeit. Sokrates lobte die Muße als „Schwester der Freiheit“. Die Arbeit war eher etwas für das einfache Volk und mit Mühsal und Nöten verbunden. Diese Einstellung zur Arbeit – und damit zum Nichtstun – änderte sich maßgeblich mit der Reformation. Luther zitiert ein Sprichwort seiner Zeit: „Wer treu arbeitet, der betet zweifach.“ Gott nachzufolgen und die irdischen Pflichten zu erfüllen, gehört für ihn zusammen. Damit knüpft er an die katholische Tradition an, in der die Acedia (Nichtstun, Trägheit) seit dem Ende des vierten Jahrhunderts zu den sieben Todsünden gehörte. Der Dichter Hans Sachs, ein Zeitgenosse und Anhänger Martin Luthers, bringt die Kritik an der Faulheit in seinem Gedicht „Die frau Sorg und frau Faulkeit“ auf den Punkt: „ste auf, sunst bist verloren!/wiltu der Faulkeit hulden,/so mustu armut dulden./Faulkeit tregt auf dem rücke/wol mengerlei unglücke.“

Für den Reformator Calvin waren Fleiß und der damit im Idealfall verbundene Reichtum Begleitumstände eines gottgefälligen Lebens und der Gnade Gottes. Die sich in dieser Zeit entwickelnde so genannte protestantische Arbeitsethik prägt viele von uns bis heute.

Wohlergehen braucht Auszeiten

Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten die Wahrnehmung des Nichtstuns in unserer Gesellschaft gewandelt. Dr. Yvonne Robel von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg hat erforscht, wie sich die gesellschaftliche Haltung zum Müßiggang historisch verändert hat: „In den 50er- und 60er-Jahren herrschten auf der einen Seite extreme Sehnsüchte, etwa nach dem sogenannten ‚Dolce far niente‘ – dem süßen Nichtstun im Italienurlaub. Auf der anderen Seite gab es bis 1969 Arbeitshäuser zur Disziplinierung von sogenannten Arbeitsscheuen.“ (zit. n. uni-hamburg.de). Seitdem hat sich einiges geändert, wie Dr. Yvonne Robel feststellt: „Inzwischen steht mehr im Fokus, dass jeder für sich und sein Wohlergehen verantwortlich ist – und dazu gehört eben auch, sich um Auszeiten zu kümmern.

Nichtstun erfährt dabei übrigens eine vermehrte Bedeutungsaufladung. Das eine wichtige Stichwort ist Gesundheit, ein weiteres ist Kreativität. Nichtstun ist ja nicht einfach nur Rumhängen, sondern wird mit Ratgebern, die erklären, wie man richtig und effektiv nichts tun kann und dabei noch kreativ wird, quasi gestaltet.“ Das Faulsein ist salonfähig geworden.

Schöpferisches Faulsein

„Nichts bringt uns auf unserem Weg besser voran als eine Pause“, sagte schon die englische Dichterin Elizabeth Barrett Browning (1806-1861). Was zu ihrer Zeit nur der „Upper Class“ vorbehalten war, ist heute Allgemeingut. Nichtstun, Ausruhen, Pausieren ist wichtig. Ohne regelmäßiges Abschalten brennen wir aus. Wie unsere technischen Geräte müssen auch wir uns immer wieder herunterfahren und ausschalten, bevor wir neu durchstarten können.

Allerdings geht es meist weniger darum, dass wir uns von etwas erholen, sondern dass wir uns für etwas ausruhen – um anschließend mit voller Kraft weiterzuarbeiten. Die Faulheit und das Nichtstun sind nicht in sich selbst wertvoll, sondern weil sie uns gesundheitlich und kreativ weiterbringen. Nicht umsonst sprechen wir gern von einer schöpferischen Pause. Eine Pause ist nur dann „erlaubt“, wenn dabei etwas herausspringt. So richtig faul ist das nicht.

Es fällt uns wohl tatsächlich schwer, einfach nur faul zu sein. Ohne Hintergedanken. Ohne Überlegung, wie wir davon wieder profitieren können. Dabei ist doch das Nichtstun um seiner selbst willen wertvoll. Aber in unserer Lebensrealität kaum auszuhalten. Das schlechte Gewissen ist unser ewiger Begleiter. Wenn wir mal faul sind, dann nur mit gutem Grund und einer Entschuldigung oder Erklärung auf den Lippen.

Hinderliches Faulsein

Aber das ist ja auch nachvollziehbar. Denn faul zu sein ist nicht nur wunderschön. Faulheit kann uns Wege verbauen, Entwicklungen behindern – unsere eigenen oder auch die unserer Kinder. Wobei ich an dieser Stelle eher von Bequemlichkeit sprechen würde. Bequemlichkeit hindert uns daran, notwendige Schritte zu gehen und positive Veränderungen einzuleiten. Wem es zu anstrengend ist, Jobmöglichkeiten zu recherchieren und Bewerbungen zu schreiben, der wird aus seinem ungeliebten Berufsalltag nicht herauskommen und möglicherweise immer unzufriedener. Wer zu bequem ist, Zeit mit seinen Kindern zu verbringen, verliert vielleicht die enge Beziehung zu ihnen. Auch in Bezug auf die Bewahrung unserer Schöpfung ist Bequemlichkeit eine der größten Hürden. Mit dem Auto lassen sich Wege schneller und vor allem bequemer zurücklegen als mit dem Rad oder der Bahn. Nachhaltig einzukaufen kann anstrengend sein. Müll trennen nervt …

Problematisch finde ich auch Faulheit im zwischenmenschlichen Bereich. Beziehungen zu pflegen, kann anstrengend sein. Gemeinschaft zu leben, fordert uns heraus, weil der andere so anders ist als ich. Dabei lohnt es sich, hier zu investieren, weil gute Beziehungen echte Lebensqualität bedeuten.

Und jetzt?

Mein persönliches Fazit nach meiner intensiven Beschäftigung mit dem Faulsein – was in sich ja schon irgendwie unlogisch ist: Im Kleinen, Alltäglichen ist Faulsein, ist Nichtstun überlebenswichtig, um den Kopf freizubekommen, den Moment zu genießen, neue Kraft zu schöpfen und eine gesunde Balance für sein Leben zu entwickeln. Das heißt nicht, dass ich nun bei meinen alltäglichen Aufgaben schluderig werden soll. Aber ich darf es mir leisten und gönnen, auch mal einfach nur faul zu sein und in die Luft zu gucken.

Vor allem in großen Entscheidungen des Lebens kann Faulheit allerdings dazu führen, dass ich Chancen verpasse und Träume irgendwann ausgeträumt habe, weil es zu spät ist, sie umzusetzen. Das kann berufliche Entscheidungen betreffen, Erziehungsziele, Ideen, wie ich meine Begabungen auslebe oder mich persönlich weiterentwickeln kann. Ich möchte mich nicht im Nachhinein ärgern, dass ich aus Bequemlichkeit etwas nicht getan habe, was ich eigentlich gern tun und erreichen wollte. Aber es fällt mir definitiv leichter, mich für die großen Schritte zu motivieren, wenn ich mir im Kleinen ein bisschen Faulheit gönne. Und deshalb brauche ich jetzt erst mal eine Pause!

Bettina Wendland ist Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT.

Familienstreit an Weihnachten – So können Sie Ihrem Kind helfen

Der Traum einer besinnlichen Weihnacht platzt oft, wenn nicht alles perfekt ist. Der Stress steigt und dann nerven noch die Verwandten. Doch wie erleben das erst die Kinder? Therapeutin Melanie Schüer erklärt, wie Sie Ihrem Kind helfen können.

„Einerseits ist Weihnachten ja echt schön – aber andererseits bin ich auch froh, wenn es vorbei ist. Denn die Erwachsenen sind an diesen Tagen immer so wahnsinnig gestresst …“

So in etwa äußerte sich in der Weihnachtszeit einmal meine Tochter über ihr Erleben der „schönsten Zeit des Jahres“ und ich musste erst einmal schlucken – das saß!

Diese gemischten Gefühle bezüglich der zugleich festlichsten und doch auch anstrengendsten Wochen des Jahres kennen wir vermutlich alle. Kinder und Jugendliche nehmen dies oft noch stärker wahr, weil sie sich besonders freuen – alles ist noch neu und so aufregend! – und gleichzeitig die bestehende Anspannung und Stressbelastung noch weniger reflektieren und einordnen können.

Es könnte alles so schön sein…

Auch in meiner psychotherapeutischen Arbeit erlebe ich, dass gerade depressive Symptome um die Weihnachtszeit herum zunehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig, zum Beispiel:

  • Hohe Erwartungen: Es soll schön werden, besinnlich, gemütlich, lecker, freudvoll, besonders – und das möglichst für alle! Das bedeutet viel Arbeit bei der Vorbereitung und viel Druck, denn Weihnachten ist eben nur einmal im Jahr.
  • Unterschiedliche Bedürfnisse, die alle an drei Tagen unter einen Hut gebracht werden sollen
  • Die Anspannung darüber, Familienmitglieder wiederzutreffen, denen man sonst eher aus dem Weg geht

Weihnachten mit strahlenden Augen

Was kann helfen, damit Kinder und Jugendliche Weihnachten so erleben, wie wir es ihnen wünschen – mit vor Freude geröteten Bäckchen, strahlenden Augen und einem fröhlichen Herzen?

Als erstes ist es hilfreich, zu reflektieren und zu erklären, was los ist: Stress lässt sich in der Adventszeit nicht immer vermeiden. Aber es hilft Kindern, wenn Erwachsene diese Erfahrungen altersgemäß einordnen: „Puh, es tut mir leid, dass ich vorhin so gereizt war! Der Advent ist so schön, aber manchmal auch so stressig, weil so vieles zu erledigen ist. Und das alles neben der normalen Arbeit, die ja auch nicht liegen bleiben kann. Deswegen kommt es vor, dass ich genervt reagiere, weil ich müde bin von all dem, was zu tun ist. Aber morgen machen wir uns einen gemütlichen Tag, ja?“

Das Schlagwort „Weniger ist Mehr“ hilft tatsächlich dabei, die randvolle Zeit zu entzerren. Es bringt oft ungemein Entlastung, wenn man sich zumindest einen Tag vor Heiligabend freinehmen kann, den Baum schon etwas früher als sonst aufstellt und schmückt, die Geschenke schon im November besorgt oder auch mit einigen Leuten bespricht, sich nichts zu schenken, sondern lieber mit weniger Trubel einfach die gemeinsame Zeit zu genießen.

Auch hilft es, wenn wir in den Terminkalender bewusst Zeiten für Stille und Besinnlichkeit einplanen. Das kann auch mit altersgemäßen Medien gelingen, wie:

  • Videos wie „Superbuch – das erste Weihnachten“ (ca. 6-12 Jahre)
  • Der Weihnachtsfolge der Serie „The Chosen“ (ab ca. 12 Jahren)
  • Fortlaufenden Adventskalender-Büchern wie „Komm doch mit nach Betlehem!“ (SCM-Verlag, ca. 5-10 Jahre) oder „Ricas Weihnachtsüberraschung“ (ca. 2-6 Jahre)

Für Erwachsene besonders schwer, aber für das Familienleben ungemein wichtig ist es, Unperfektheiten auszuhalten. Wenn wir Erwachsene an unsere Weihnachtserinnerungen denken oder überlegen, wie wir damals Weihnachten gern erlebt hätten – wäre dann wirklich eine einwandfrei saubere Wohnung oder ganz besondere Deko das Wesentliche? Letztlich entscheidet viel mehr das Maß der Herzlichkeit, Liebe und einer fröhlichen Stimmung darüber, wie positiv Kinder und Jugendliche Weihnachten erleben.

Weihnachten – das Fest der Widersprüche

Jugendliche empfinden das ach-so-friedliche Beisammensein einmal im Jahr mit allen Verwandten, auch der unliebsamen Tante Agatha, oft als heuchlerisch. Daher brauchen sie Unterstützung darin, das Geschehen differenziert einzuordnen. „Das ganze Jahr über wird gestritten und gezankt und dann plötzlich spielen wir uns Friede, Freude, Eierkuchen vor!?“ Hier können Erwachsene am besten reagieren, indem sie:

  • Die Ungereimtheiten und auch mögliche Konflikte und Fehler anerkennen und einräumen, dass nicht alle Beziehungen heil und friedlich sind
  • Und gleichzeitig hervorheben, dass gerade in diesem „sowohl als auch“ eine Chance stecken kann: Nämlich, dass die gemeinsame Besinnung auf etwas Größeres (die Geburt dessen, der sich selbst als „Licht der Welt“ bezeichnet und die Menschen auffordert, Frieden mit Gott und dem Nächsten zu machen) helfen kann, über Uneinigkeiten hinweg zu sehen oder diese zumindest nicht größer werden zu lassen, als sie sein müssten.

Kinder mit einbeziehen

Ein wichtiges Element für ein harmonisches Weihnachtsfest ist, Kinder und Jugendliche in das Geschehen einzubeziehen. Das kann sowohl bedeuten, dem Nachwuchs altersgemäße Aufgaben zu übertragen (beim Putzen, Dekorieren, Backen, etc. helfen) als auch, die kindlichen Ideen und Wünsche bei der Planung zu berücksichtigen. Hier gilt es, ein gesundes Maß zu finden – Eltern sollen und dürfen einen gewissen Rahmen vorgeben, der ihnen wichtig ist. Aber Kinder fühlen sich wertgeschätzt, wenn sie in gewissen Bereichen mitgestalten können, zum Beispiel: Was könnten wir den Großeltern schenken? Wie wollen wir die Bescherung gestalten? Was gibt es als Nachtisch?

Die Advents- und Weihnachtszeit, so schwierig sie oft ist, ist eine ganz besondere Zeit. Daher ist es so immens wichtig, vor allem die Zeit mit den Menschen, die wir lieben, zu genießen, auch wenn manches nicht perfekt ist.

Melanie Schüer Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Autorin.

Schweigen ist Silber, Reden ist Gold

Mit Nicht-Gläubigen über Gott und den Glauben zu sprechen, ist nicht einfach. Das gilt umso mehr in der Familie. Wie es aber trotzdem gelingen kann und uns nebenbei noch selbst weiterbringt, berichtet Matthias Kleiböhmer.

Wir sitzen vor dem Kamin und sprechen darüber, wie die letzten Jahre gelaufen sind. Meine Frau sagt: „Wir können doch ganz zufrieden sein: Job okay, Kinder gesund und wir wohnen in einer guten Gegend.“ Ich denke: „Ja, Gott hat uns gesegnet.“ Aber ich sage es nicht. Meine Frau glaubt nicht an Gott. Und ich möchte den Augenblick nicht kaputt machen. Denn davon zu sprechen, was Gott in unserem Leben tut, führt eigentlich immer zu Diskussionen. In diesem Fall wäre das Thema: „Wieso segnet er dich und andere nicht?“ Aber wir werden noch darüber sprechen. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.

Außerhalb der Kirchenmauern

Es braucht Mut, über den Glauben zu sprechen. Nicht in der Gemeinde – da geht es einfach. Aber fast überall sonst. Meine letzte Blitzumfrage nach dem Gottesdienst hat gezeigt: Es geht vielen so. Was Businesstrainer für den Smalltalk empfehlen, haben wir schon längst verinnerlicht. Geld, Politik und Glaube lässt man besser außen vor, sonst wird es zu persönlich, übergriffig oder einfach zu emotional – und es kann eskalieren. Deswegen bleiben wir mit unserem Glauben unter uns in der Gemeinde oder in der Anonymität unserer Social Media-Bubble. Alle anderen lassen wir besser außen vor.

Wenn man – wie ich – „die anderen“ direkt in der Familie hat, geht das nicht. Für den Moment kann man Gott schon mal aus einem Gespräch ausklammern. Aber auf Dauer gelingt es nicht. Man kommt sich sonst vor, als müsste man öffentlich erklären, dass die Erde eine Scheibe ist. Wir können unser Christsein nicht an der Haustür neben dem Schlüsselbrett ablegen. Wir bringen den Glauben mit. Er begleitet uns durch eine Gesellschaft, in der der Unterschied zwischen denen, die glauben, und „den anderen“ immer größer wird. Immer mehr haben Gott nicht nur vergessen; sie vergessen, dass sie ihn vergessen haben. Schon allein deshalb glaube ich, dass es in Zukunft mehr Beziehungen wie unsere geben wird. Zu Hause kann man sich aber nicht dauerhaft verbiegen. Deswegen können wir nicht permanent auf den Gottesdienst verzichten. Und wir können Gott – wie alles andere Wichtige im Leben auch – nicht für immer aus allen Gesprächen verbannen.

Also braucht es Mut. Denn wir wissen ja selbst, wie brüchig, unvollständig und schwach unser Glaube manchmal ist. Und das kann ein solches Gespräch offenbaren. Wie peinlich! Dabei ist das nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer ist es, dass es uns oft schwerfällt, unsere Liebe zu Gott in Liebe zu den Menschen zu übersetzen. Schließlich erleben uns unsere Angehörigen immer und überall in der Nahaufnahme. Sie kennen unsere Stärken und Schwächen sehr genau. Der Mut besteht nicht nur darin, von Gott zu erzählen und die verständnislosen Blicke, das Desinteresse oder die anschließende Diskussion auszuhalten. Er besteht vor allem darin, sich selbst mit dem Maßstab des Glaubens messen zu lassen.

Der Anspruch ist gewaltig

Viele Menschen haben zwar Gott vergessen, aber trotzdem gewaltige Ansprüche an Christinnen und Christen, was Geduld, Barmherzigkeit und Nächstenliebe angeht. Drei Disziplinen, in denen ich ständig versage. Als Bibelleser denke ich dabei oft an Paulus, und das macht es nicht leichter. Er ist nämlich der Meinung, dass in Beziehungen wie meiner nicht-gläubige Partnerinnen und Partner gewonnen werden können durch die vorbildliche Lebensweise der Christinnen und Christen. Das ist die wichtigste Art, wie wir über unseren Glauben sprechen, und es ist die schwierigste.

Man kann das alles maximal groß und kompliziert denken oder man kann die Freiheit des Glaubens ernst nehmen. Was ich meine: In meiner Situation spürt man den Erwartungsdruck der anderen, man liest Paulus und hört vielleicht sogar Jesu Aufforderung, „alle Welt“ mit dem Evangelium in Kontakt zu bringen. Das überfordert nicht nur mich, sondern auch Menschen, die im Glauben fester sind als ich. Tatsächlich hat Gott aber die Neigung, Menschen mit großen Schwächen zu Zeugen seiner Liebe zu machen. Petrus war ein Verräter, Paulus ging keinem Streit aus dem Weg und ein Berufssoldat der verhassten Römer erkennt als Erster: „Dieser Mann ist Gottes Sohn gewesen!“ Willkommen in der Gemeinschaft der Unvollkommenen!

Nicht-Gläubige, die wissen, dass wir Christen sind, werden sich sicher immer mal wieder fragen, wie glaubwürdig wir leben. Aber sie verstehen darunter meist etwas anderes, als Gott darunter versteht. Sie meinen meist eine moralische Christlichkeit mit selbstlosem Einsatz für den Nächsten. Dabei sind sie so ungnädig, wie wir Menschen eben sind. Gott kann da liebevoller drüber hinwegschauen und das sollte unser Maßstab sein. Wir müssen es trotzdem mit aller Kraft versuchen. Wir sind dran, weil es eben niemand anderen gibt, der es tun kann. In der Familie kann man sich nicht vertreten lassen.

Aber wie macht man das?

Wie findet man Worte für den Glauben und wie spricht man ihn aus? Ich meine, der einfachste Weg ist, mit einem eigenen Erlebnis zu beginnen. Da braucht man keine große Theologie und keine Argumente. Man darf einfach erzählen, wie man etwas erlebt hat. Zum Beispiel, dass man Gott erlebt hat, wo andere nur einen glücklichen Zufall sehen. Beispielsweise so, dass Gott in mein Leben positiv eingreift.

So habe ich es gemacht, als ich mich bei einem Beinahe-Unfall auf der Autobahn „bewahrt“ gefühlt habe. Das ist so ein typisches „Christenwort“, aber so habe ich es erlebt: Ein BMW fuhr viel zu schnell an meinem und einigen anderen Fahrzeugen vorbei und prallte in die Leitplanke. Dabei drehte er sich nur wenige Meter vor mir um die eigene Achse. Beim Aussteigen war ich geschockt – und fühlte mich bewahrt. Ich habe das bewusst auch denen genau so erzählt, die meinen Glauben nicht teilen. Was ich erlebe, darf ich auch so erleben. Wenn dann daraus eine theologische Fragestunde entsteht, in der ich nicht alle Antworten habe – sei es drum. Da bin ich trotz Studium und Predigtdienst manchmal nicht so gescheit, wie ich gern wäre. Aber was macht das schon? Ein anderer Christ oder eine andere Christin ist eben nicht da.

Bestätigung statt Zweifel

Was wir erleben, ist das eine. Das andere sind die Worte dafür. Und die kann man sehr gut mit Menschen üben, die den Glauben teilen. Nicht, weil es ein Formulierungstraining braucht, sondern weil man sich am Anfang etwas dazu überwinden muss. Und das geht leichter in einem Umfeld, das ein solches Erlebnis nachempfinden kann. Der Partner oder die Partnerin ahnt ja vielleicht nicht, dass die Situation auch für uns eine Herausforderung ist. Wir wissen es aber und wir brauchen gerade am Anfang Bestätigung und nicht Zweifel. Deswegen kann man solche Erlebnisse (ich meine solche mit Gott, sie müssen nicht unbedingt so spektakulär sein wie in meinem Fall) gut zunächst in der Gemeinde oder im Hauskreis erzählen. Später dann in der Familie.

Als dritte Möglichkeit, neben einem authentischen christlichen Lebensstil und dem Reden über den Glauben, bleibt noch die subtilere Sprache der Symbole. Wer keine Worte findet, kann die Kunst in Bild oder Ton sprechen lassen. Dabei geht es weniger darum, die Wohnung sakral zu möblieren. Aber wenn der Glaube zu deinem Leben dazugehört, findet er auch einen Platz im Wohnraum, in der Spotify-Playlist oder beim Streaming. Ich selbst schaue die Streaming-Version der Jesusgeschichte („The Chosen“) zwar meist allein, aber ich erzähle davon, was ich daran gelungen finde und was nicht. Solange es nicht zu nerdig wird, ist es in Ordnung. Solange es kein dogmatischer Vortrag ist, sondern persönlich, darf es einen Platz im Familienleben haben. Deswegen gibt es im Wohnzimmer auch ein Kreuz, obwohl es nicht allen Familienmitgliedern etwas bedeutet. Es berührt mich, also darf es bleiben.

Aushalten

Trotzdem ist meine Erfahrung, dass man im Gespräch mit Nicht-Gläubigen einiges aushalten muss. Und das empfinden die Gesprächspartner umgekehrt auch manchmal so. Die gegenseitige Zumutung besteht darin, sich zu lieben und dennoch wichtige, grundlegende Sichtweisen auf das Leben nicht zu teilen. Das lässt sich aushalten, wenn man sich der Beziehung grundsätzlich sicher ist und die Tagesform passt. Bei beiden. Denn auch der Partner oder die Partnerin erlebt dann im Gespräch einen „Die-Erde-isteine-Scheibe“-Moment. Deswegen kommt es auf den richtigen Moment für das Gespräch an.

Ich weiß, dass solche Gespräche trotz guter Vorbereitung, entspannter Stimmung und tiefer, inniger Liebe scheitern können. Niemand möchte das und doch passiert es. Ich kann nur für mich selbst sprechen. Aber ich muss sagen, dass mich solche Gespräche letztlich immer weitergebracht haben. Denn sie führen dazu, dass ich meine Gedanken neu ordne und meine Antworten neu durchdenke. Und das stärkt auch meinen eigenen Glauben. Mein Christsein wird tiefer, wenn es regelmäßig durchgeschüttelt wird. Denn manchmal lernt man aus gescheiterter Kommunikation mehr als aus gelungener.

Matthias Kleiböhmer ist mit einer atheistischen Naturwissenschaftlerin verheiratet. Der Theologe leitet den YouTube-Kanal der Stiftung Creative Kirche.

BUCHTIPP

Matthias Kleiböhmer „Sonntagmorgensingle – Wie es ist, der einzige Christ in der Familie zu sein“ (Gütersloher Verlagshaus)