Weltentdecker haben’s leichter

Wie werden Kinder fit für die Schule? Johannes Köster hat aus seinen Erfahrungen mit Grundschulkindern vier Empfehlungen zusammengestellt.

Sascha sitzt missmutig am Tisch und fummelt mit seinen Händen im Gesicht herum. Er reagiert nur langsam auf meine Versuche, das Schulaufnahmegespräch im Frühjahr vor der Einschulung irgendwie in Gang zu bringen. Auch auf die Frage, ob er denn gern zur Schule wolle, reagiert er nur einsilbig. Er ist sich unsicher und starrt auf die Tischplatte.

Zehn Minuten später – Sascha hat mein Schulleiterbüro bereits wieder verlassen und seine Mutter Richtung Auto gezogen – springt die Tür auf und Maya betritt die Bühne. Die Mama soll draußen warten. Maya aber gibt mir die Hand und schaut mich an. Alles an dem Kind strahlt aus, dass das Mädchen es kaum erwarten kann, diese neue Herausforderung zu meistern: Schulaufnahme. Begierig ist sie darauf, zu zeigen, was sie kann. Gekonnt greift sie zu Stift und Papier, kann ihren Namen schreiben und ein Lied vorsingen. Sie weiß, dass Krokodile Eier legen und kann ausführlich beschreiben, was ihr Vater beruflich macht. Sie freut sich „wie Hulle“ auf die Schulzeit.

Immer wieder frage ich mich, wie es sein kann, dass gesunde und normal entwickelte Kinder so unterschiedlich gut auf den Schuleintritt vorbereitet sind. Was haben die Eltern von Maya richtig gemacht? Was ist bei Sascha schon verloren gegangen? Diese Fragen sind wichtig.

Oft steht schon bei Fünfjährigen auf schrecklich klare Weise fest, ob sie die ersten Schuljahre mühelos meistern werden oder ob die Grundschulzeit des Kindes ein anstrengendes Riesenprojekt für die ganze Familie wird. Was also ist zu tun, um seine Kinder bestens auf die Schule vorzubereiten?

Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man schaut, welche Gemeinsamkeiten Kinder haben, die den Bildungserwartungen mühelos entsprechen können. Dabei lenkt sich der Blick auf die ersten Lebensjahre. Ich denke mittlerweile, es sind vier Dinge, die erfolgversprechende „i-Männchen“ kennzeichnen:

  1. Neugier und selbstbewusstes Weltentdeckertum
  2. eine wortgewandte und empathische Kommunikationsfreude
  3. Beweglichkeit und Ausdauer
  4. eine gewisse Unabhängigkeit und Selbstständigkeit

1 Die große weite Welt

Ich bin zutiefst überzeugt, dass Kinder von Beginn an sehr neugierig sind und alles wissen und ausprobieren wollen. Am allerliebsten gehen sie mit. Mit auf die Dienststelle der Eltern. Mit zur Tankstelle, zum Gottesdienst, zur Forstarbeit, zur Hausbesichtigung, zur Beerdigung oder zum Einkauf. Und es entstehen besondere Momente, wenn kleine Kinder mitgenommen werden in die Welt der Großen. Es erwachsen Fragen, tausende davon, und auch der Wunsch, selbst aktiv zu werden. Wichtig ist es, die Entdeckerfreude der Kleinen zu fördern und alle Fragen stets redlich zu beantworten. Kinder wollen eben nicht nur Lernspiele bearbeiten. Sie wollen auch Papier zusammentackern, Werkzeuge erproben, mit Buchstaben experimentieren, an Instrumenten herumspielen, die Waschmaschine anstellen, Suppe kochen und Salat pflanzen. Und sie wollen wissen, warum die Mutter weint, der Opa im Krankenhaus ist und die Katze hinkt.

Wenn Sie Ihre Sprösslinge mit in die echte Welt hineinnehmen und ihnen keine Frage verbieten, erreichen Sie etwas, das unglaublich wertvoll ist: Sie erhalten jene natürliche Neugierde, die man auch in der Schule braucht.

Weltläufigkeit gewinnen aus Vorschulsicht hieße dann, hier gute und umfangreiche Erfahrungen zu machen: Naturphänomene beobachten und erklären, Geld gebrauchen, Bilder gestalten, mit Tieren umgehen, sinnvoll im Haushalt helfen, die Uhr lesen oder sich selbst passend anziehen.

2 Der Zauber der Sprache

Sprechen lernen heißt verstehen lernen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein brachte es auf den Punkt, als er schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Unsere Schulärztin Heike Ahrens ergänzte auf einem Vortrag: „Die Sprachentwicklung der Kinder beginnt auf dem Wickeltisch.“ Babys und Kleinkinder betrachten am liebsten das singende und schwatzende Gesicht der Mutter oder des Vaters. Dafür sind Wickeltisch und Kinderwagen die besten Orte. Hier können die ersten Gespräche und Sprachspiele beginnen! Und dann gibt es später noch so viele andere Gelegenheiten, um miteinander zu reden, zu reimen, zu spielen, vorzulesen oder zu singen: Bei Wartezeiten am Flughafen, auf der Wanderung, auf Autofahrten oder während früher Morgenstunden im Elternschlafzimmer.

Sprechen lernen aus Vorschulsicht hieße dann, hier gute und umfangreiche Erfahrungen zu machen: Lieder und Gedichte erlernen, Gefühle und Bedürfnisse erkennen und artikulieren, einen Witz machen, gute Fragen formulieren, höflich und respektvoll auftreten.

3 Schau mal, was ich kann!

Entwicklungsverzögerte oder beeinträchtigte Kinder sind oft nicht besonders sportlich. Kluge Grundschüler sind dagegen fast immer auch sportlich. Sie haben besondere Bewegungserfahrungen im Sportverein, beim Reiten oder beim Tanzunterricht machen dürfen. Es reicht nicht, einfach viel draußen zu sein oder den Waldkindergarten zu besuchen. Es ist für Vorschulkinder und ihr Selbstbewusstsein sehr bedeutsam, auch zielgerichtet die Grenzen des körperlich Machbaren zu erkunden.

Beweglichkeit gewinnen aus Vorschulsicht hieße dann, hier gute und umfangreiche Erfahrungen zu machen: schwimmen und tauchen, lange wandern, klettern und rennen, tanzen und Seil springen, turnen und springen.

4 Lass mich mal!

Ein Letztes: Kinder brauchen auch Zeiten, in denen sie auf sich gestellt bleiben und Probleme selbst lösen müssen. Sie müssen fallen und wieder aufstehen lernen. Sie brauchen Zeiten ohne elterliche Präsenz. Sie brauchen Ruhe und zweckfreie Muße, vielleicht sogar etwas Langeweile. So können intellektuelle Ressourcen reifen und weiterwachsen.

Selbstständigkeit gewinnen aus Vorschulsicht hieße dann, hier gute und umfangreiche Erfahrungen zu machen: vorhandenes Spielzeug kreativ einsetzen, Schmerzen richtig einschätzen, sich selbst beruhigen, Langeweile selbst überwinden, Grenzen des Erlaubten erkunden, aus Fehlern lernen.

Johannes Köster ist Leiter der Primarstufe der Freien Christlichen Schule Ostfriesland. Er lebt mit seiner Frau im Landkreis Leer und hat zwei erwachsene Kinder.

Familienurlaub auf dem Rad

Kann Radfahren, Zelten, Baden und Nudeln mit Tomatensoße ein echter Urlaub für die Familie sein? Ja! Wie das geht, berichtet Familienvater Manuel Lachmann.

Drei Fahrräder, ein Laufrad, ein Fahrradanhänger, zwei Packsäcke und vier Radtaschen – damit starteten wir unseren Urlaub: eine Radreise auf dem Elberadweg in Sachsen. Für unseren Sohn Nathanael (zu der Zeit sechs Jahre alt) begann mit der Ankunft am Bahnhof in Halle/Saale der nervenaufreibendste Teil der Reise: „Schaffen wir den Zug?“, fragte er immer wieder. Und: „Passen wir denn alle in den Zug mit unseren Fahrrädern und dem Anhänger?“ Wir passten hinein!

In unserem Abteil saß ein älteres Ehepaar, ebenfalls mit dem Rad unterwegs, mit dem wir leicht ins Gespräch kamen. Die Zugfahrt verging dadurch wie im Nu. Nach etwa zwei Stunden kamen wir in Coswig an. Nun fuhren wir per Rad die drei Kilometer zum ersten Zeltplatz. Am Zeltplatz angekommen hieß es erst einmal Zelt aufbauen, auspacken und etwas essen. Die Kinder haben direkt den Spielplatz ausfindig gemacht und das Freibad entdeckt, das zum Zeltplatz gehört. Natürlich wurden Freibad samt Rutsche und Spielplatz ausgiebig getestet.

Urlaub pur: Pause mit Eis

Unser Ziel am nächsten Tag hieß Dresden-Mockritz – 22 Kilometer entfernt. Wir fuhren entlang der Elbe durchs Grüne mit wunderschöner Landschaft. Da die Strecke nur wenige Steigungen enthielt, gab es für den dreijährigen Isaak genug Gelegenheiten, auf seinem Laufrad neben uns herzufahren. Wenn er nicht selbst fahren wollte, fuhr er im Anhänger mit. Das Laufrad haben wir dann am Anhänger mit Spanngummis befestigt.

Der Stadtrand von Dresden war schon in Sicht, als wir hinter einer Kurve ein Café mit Eiswagen entdeckten. Es war dort so schön, dass wir gleich zwei Eis gegessen haben. Zudem hatten die Kinder ihren Spaß im Sandkasten und wir Eltern konnten uns bei einem Kaffee mit Blick auf die Elbe und Dresden entspannt zurücklehnen. Der letzte Teilabschnitt des Tages führte uns quer durch Dresden. Auf gut ausgebauten Radwegen hieß es für Nathanael: immer Mama mit dem Radanhänger folgen! Papa fuhr als Schlusslicht hinterher. Souverän meisterte Nathanael die lange Strecke mit viel Autoverkehr bis zum Zeltplatz. Zur großen Freude unserer Jungs hatte der Zeltplatz einen eigenen Swimmingpool. Nathanael hatte erst wenige Tage vor dem Urlaub sein Seepferdchen gemacht. Umso schöner war es, dass er hier jeden Tag üben konnte.

Beliebte Rituale

Radfahren und Schwimmen macht hungrig. Da gibt es nichts Besseres als frisch gekochtes Essen von Papa. Das klappt auch auf einem einflammigen Campingkocher. Die Speisekarte ist meist begrenzt auf drei Gerichte. Am liebsten mögen die Jungs Nudeln mit Tomatensoße und Würstchen. Das geht auch einen ganzen Radurlaub lang. Während ich die Kochutensilien verstaue, geht meine Frau Franzi mit den Kindern zur allabendlichen Abwasch-Session. Die Kinder verhandeln täglich neu, wer abwaschen darf und wer abtrocknen muss.

Vor Eintritt der Dämmerung heißt es umziehen, Zähne putzen und in den Schlafsack kuscheln, damit Mama die Vorlesezeit beginnen kann. Diese Zeit hat sich zu einem beliebten Urlaubsritual entwickelt. Da beiden Kindern nur eine Radtasche zur Verfügung steht, kann die Gute-Nacht-Lektüre nur aus einem gemeinsamen Buch bestehen, das die gesamte Urlaubszeit abdeckt.

Sonnenuntergang am See

Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Pirna – eine Tour von etwa 24 Kilometern. Auch diese Etappe war sehr schön, allerdings kam immer mal eine kleine Steigung dazwischen. Erst einmal fuhren wir ein Stück durch Dresden, bis wir wieder auf den Elberadweg zurückkehren konnten. Ab da konnten wir die Landschaft genießen. Immer wieder dachte sich Franzi Geschichten aus, um die aus Nathanaels Sicht langweiligen Streckenteile zu überbrücken und ihn bei Laune zu halten.

Auf diesem Wegabschnitt erwartete uns eine ordentliche Steigung hinauf zum Schloss Pillnitz. Nicht nur Nathanael kämpfte mit dem Berg, auch wir Erwachsenen – mit voller Beladung und Anhänger. Belohnt wurden wir mit dem Blick auf das Schloss und der schönen Aussicht ins Tal.

Am Zeltplatz angekommen, bauten Franzi und ich das Zelt auf, während die Kinder Stöcke, Moos und Tannenzapfen sammelten und zu einem Lagerfeuer aufschichteten. Nathanael und Isaak sind kreative Kinder, die in der Natur mit viel Fantasie spielen. Das Lagerfeuer wurde vor unserem Zelt aufgebaut und wie ein „echtes Feuer“ behandelt, an dem wir sitzen und Würstchen grillen.

Bei diesem Zeltplatz lag der Badesee mit Sandstrand gleich nebenan. Da wir Eimer und Schaufel immer dabeihaben, ging es nach dem Zeltaufbau zum Spielen, Sandburgenbauen und Planschen an den See. Nach dem Abendessen kehrten wir zum Badesee zurück und genossen die untergehende Sonne.

Staudamm bauen

Wenn man mehrere Tage mit Fahrrad und Zelt unterwegs ist, verfolgt man den Wetterbericht genauer als sonst. Da für den kommenden Tag Regen gemeldet war, entschieden wir, eine Etappe mit Zeltplatz auszulassen und ein Stück mit dem Zug zu fahren. Dafür wollten wir dann drei Nächte an unserem letzten Zeltplatz in Bad Schandau bleiben.

So ging es am nächsten Tag von Pirna eine gute halbe Stunde an der Elbe entlang bis in die Stadt Wehlen. Während wir auf den Zug warteten, gesellten sich Paddler mit einem großen aufblasbaren Schlauchboot zu uns. Schnell kamen wir ins Gespräch. Sie kamen aus der Gegend und meinten, wir hätten eine gute Entscheidung getroffen, gerade diese Strecke mit dem Zug zu fahren. Die Gegend ist hier besonders reizvoll, da die Elbe sich mit ihren vielen Kurven und Biegungen durch die Landschaft schlängelt, was man vom Zug aus am besten sieht.

In Bad Schandau angekommen, ging es entlang der Kirnitzsch zu unserem letzten Zeltplatz. Wir kannten ihn schon von einem früheren Kletterurlaub. Das Gelände ist stufenartig gebaut, wir hatten unseren Platz ganz oben. Bei wunderbarem Sonnenschein war alles schnell aufgebaut. Danach ging es mit den Kindern hinunter an die Kirnitzsch zum Spielen, Bootfahren und Staudammbauen im eiskalten Wasser. Franzi fuhr nach Bad Schandau, um Postkarten und Lebensmittel zu kaufen. In der Touristeninformation erkundigte sie sich nach dem Wetter. Die Verkäuferin versicherte ihr: „Die letzten Tage war schon häufig Regen gemeldet, es kam aber nie etwas herunter!“ Mit dieser Aussage kehrte sie fröhlich zum Zeltplatz zurück.

Nächtliche Überraschung

Müde vom Spielen im kalten Fluss waren wir alle zunächst schnell eingeschlafen. Nach einiger Zeit wurde ich wach, weil ich Regen hörte. Ich spürte ihn auch im Zelt – meine Isomatte war nass! Es gewitterte ordentlich. Meine große Sorge war, dass die Kinder davon wach werden könnten, aber sie schliefen seelenruhig weiter. Franzi und ich versuchten, die Kinder mitsamt ihren Schlafsäcken immer wieder auf die noch trockenen Stellen im Zelt zu platzieren. Mittlerweile floss ein kleiner Fluss durchs Zelt. Daher war an Schlafen nicht mehr zu denken. Am nächsten Morgen beschlossen wir einstimmig, unseren Urlaub zu beenden. Nun mussten wir bei Regen packen. Wegen der schweren nassen Sachen ging es nur langsam zum Bahnhof nach Bad Schandau. Von dort fuhren wir bis Halle/Saale mit dem Zug.

Unser Fazit: Es war ein wundervoller Urlaub, auf den wir mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurückblicken. Es gab tolle unerwartete Schwimmgelegenheiten, Natur pur, Sonne, Zeit zum Erholen. Und es gab Wasser im Zelt. Wir hatten uns das Zelt – ein älteres Modell – für den Urlaub geliehen. Nach dem Urlaub stand fest, dass es Zeit für ein eigenes neues und regenfestes Zelt ist. Wir sind sehr dankbar für die gemeinsame Zeit, die wir als Familie erleben durften. In diesen Tagen haben wir gelernt, gemeinsam stark zu sein und aus jedem Erlebnis das Positive hervorzuheben.

Manuel Lachmann ist Hausmann, lebt mit seiner Familie in Halle/Saale, leitet dort „Die Männerreise – Abenteuer Identität“ 

Empathisch

Was ist Empathie? Nicht das, was viele denken.

Wenn ich mit Menschen über ihre Partnerschaft spreche, sagen mir viele, dass sie sich wünschten, ihr Partner oder ihre Partnerin hätte mehr Empathie. Vor allem von Frauen höre ich, dass es ihren Männern schwerfällt, das Mitgefühl aufzubringen, das sie eigentlich bräuchten. Stattdessen bekommen sie viele gut gemeinte Hinweise, wie man die Situation lösen könnte. Auch Aufmunterungen im Sinne von „Du schaffst das schon!“ stehen hoch im Kurs.

Anknüpfungspunkte

Wenn uns der andere erzählt, was ihn bedrückt, ist es manchmal schwer, einfühlsam darauf zu reagieren. Wenn wir ehrlich sind, finden wir das Gehörte oft schwer nachvollziehbar, manchmal sogar haarsträubend. Meistens findet der Zuhörer keinen Anknüpfungspunkt an die Erfahrungen seines Gegenübers, weil er selbst die gleichen Ereignisse ganz anders wahrgenommen und interpretiert hätte. Wie kann man mitfühlen, wenn man selbst nie etwas Ähnliches erlebt hat? Und wahrscheinlich auch nie etwas Ähnliches erleben wird, weil man anders gestrickt ist und anders mit dem Leben umgeht?

Diesen Überlegungen liegt ein großes Missverständnis über Empathie zugrunde. Als Gesellschaft haben wir hier eine kollektive Bildungslücke. Empathisch zu sein, bedeutet nämlich nicht, dass ich das Erleben meines Partners/meiner Partnerin nachvollziehen kann. Vielmehr bedeutet es, dass ich ihm/ihr aufmerksam zuhöre und ihm/ihr glaube, wenn er/sie mir davon erzählt, was ein bestimmtes Erlebnis bei ihm/ihr ausgelöst hat. Auch wenn das nicht mit meinem Erleben zusammenpasst. Die Empathieforscherin Brené Brown bringt es auf den Punkt: „Empathie bedeutet nicht, sich mit einer Erfahrung zu verbinden, sondern mit den Gefühlen, die durch eine Erfahrung ausgelöst wurden.“

Ungerecht behandelt

Als empathische Zuhörerinnen und Zuhörer versuchen wir also, in uns selbst etwas zu finden, das das Gefühl kennt, das unser Gegenüber beschreibt, und daran anzudocken. Ein Beispiel: Nadine erzählt Tobias, wie schwierig es für sie ist, dass ihr Kollege alle Lorbeeren für ein Projekt erhält, zu dessen Erfolg hauptsächlich sie beigetragen hat. Gerade heute hat ihr Vorgesetzter wieder vor dem ganzen Team die hervorragende Arbeit des Kollegen gelobt und ihren Beitrag mit keinem Wort erwähnt.

Tobias liegt die Lösung auf der Zunge: „Dann musst du dich halt wehren.“ So hätte er es gemacht. Ist ja absurd, dass man sich so etwas bieten lässt. Doch stattdessen fragt er sich: „Gibt es etwas in mir, das mir helfen könnte, zu erkennen und mich mit dem zu verbinden, was Nadine fühlt?“ Und tatsächlich kennt auch Tobias Situationen, in denen er sich ungerecht behandelt fühlt oder das Gefühl hat, dass ihn niemand wahrnimmt. Und wenn er dort anknüpft, wird es ihm gelingen, einfühlsam auf Nadine zu reagieren.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter: familylife.ch/five

Als Paar einen Treuebruch überleben

Wenn ein Treuebruch passiert, fällt die betrogene Person oft aus allen Wolken. Ist eine Ehe nach einer Affäre noch zu retten? Von Christina Glasow

Kati (alle Namen geändert) hatte schon wochenlang so ein Gefühl … Jetzt hält sie Tills Handy in der Hand und starrt mit klopfendem Herzen auf seinen Chatverlauf mit Lena. Kati kennt sie schon lange. Sie arbeitet für die gleiche Firma wie Till. Was sie da liest, lässt sie erstarren: Herzchen, Küsschen, „Ich vermisse dich“, „Ich sehne mich nach dir“ …

In Katis Kopf und Herz bricht Chaos aus: Schmerz. Wut. Angst. Enttäuschung. Scham. Wie konnte er das nur tun? Bin ich nicht gut genug? Ist unsere Beziehung eine einzige Lüge? Wie lange geht das schon so? Was hat er ihr über uns erzählt? Ich werfe ihn raus. Ich will ihn nicht verlieren.

Mit Katis Entdeckung konfrontiert, kommt Till stammelnd mit der Wahrheit heraus. Er hat Angst und ist gleichzeitig von einer tonnenschweren Last befreit. Till hatte sich mit Lena so lebendig gefühlt, so begehrt. Aber Kati anzulügen, war schwer. Er liebt sie doch. Er war ständig in Angst, aufzufliegen. Aber auch unfähig, aufzuhören.

Wo und wie beginnt Treuebruch?

Treuebruch ist ein Durchbrechen der getroffenen Vereinbarung über die Exklusivität einer Partnerschaft. Ein Aufbauen von Intimität mit einer dritten Person. Wie genau diese aussieht, wo die Grenze liegt, ist sehr unterschiedlich. Treuebruch hat viele Gesichter: einmalig oder länger andauernd, mit einer Person aus dem Umfeld oder jemand Unbekanntem, mit oder ohne Gefühle, „nur“ emotional oder auch körperlich … Es finden Heimlichkeiten, Hintergehen und damit ein Vertrauensbruch statt, der die betrogene Person in unterschiedlichem Maße erschüttert.

Oft entsteht Untreue schleichend und mit einer Person aus dem Lebensumfeld (Freundeskreis, Job, Hobby, Gemeinde), der man mehr und mehr Aufmerksamkeit schenkt, die auch erwidert wird. Unmerklich wird so der Punkt der Freundschaftlichkeit überschritten. Der Partner oder die Partnerin dürfte jetzt nicht mehr danebenstehen, wenn Nachrichten ausgetauscht werden. Ist dieser Punkt erreicht, wird es schwierig, aus der Situation wieder herauszukommen.

Was ist jetzt wichtig?

Auch wenn die Hürde riesengroß ist: Es ist besser, wenn die untreue Person den Treuebruch selbst beichtet, als dass es durch andere oder durch die betrogene Person herausgefunden wird. Nach dem Aufdecken der Untreue können auf beiden Seiten schwer aushaltbare Gefühle wie Enttäuschung, Verrat, Hilflosigkeit, Schmerz, Angst, Zerrissenheit, Wut und Scham aufkommen. Eine Trennung scheint eine naheliegende, schnelle Lösung zu sein. Es ist jedoch wichtig, keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen.

Ein Treuebruch muss nicht das Ende einer Beziehung sein. Wenn beide grundsätzlich die Beziehung weiterführen möchten (von diesem Fall gehe ich im Weiteren aus), ist es möglich, einen Treuebruch zu verarbeiten. In meiner Praxis durfte ich schon viele Paare begleiten, die sich diesem schmerzhaften Prozess gestellt haben und anschließend als Paar gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen sind. Ob ein Treuebruch verarbeitet werden kann, hängt davon ab, wie empathisch der Verursacher mit der Verletztheit des Gegenübers umgeht, sodass das verlorene Vertrauen wieder wachsen kann. Im zweiten Schritt muss geschaut werden, ob und welche Faktoren es in der Beziehungsdynamik gibt, die den Boden für den Treuebruch bereitet haben könnten.

Wichtige Schritte für die Verarbeitung

Kontaktabbruch und Transparenz: Die untreue Person um die grenzüberschreitenden Interaktionen beziehungsweise muss den anderen Kontakt beenden. Und zwar in Form von klarer und fairer Kommunikation, zum Beispiel: „Meine Frau/mein Mann weiß jetzt über uns Bescheid. Ich entscheide mich, an meiner Beziehung zu arbeiten. Das zwischen uns ist aus.“ Etwaige Kontaktversuche der dritten Person sollten sofort mitgeteilt werden.

Faktencheck und Gefühlslage: Es braucht jetzt Zeit, über die Gefühle und das Geschehene zu sprechen. Immer wieder und solange es nötig ist. Die betrogene Person hat jetzt Gedankenspiele darüber, wie genau der Treuebruch ausgesehen haben mag. Auch wenn es schmerzhaft ist, ist es wichtig, die Fakten zu kennen, damit die Gedanken darüber irgendwann zur Ruhe kommen können. Manchmal sind die Befürchtungen schlimmer als das, was tatsächlich geschehen ist. Bitte nicht, um die eigene Haut zu retten oder den anderen zu schonen, die „Salamitaktik“ anwenden und Informationen erst nach und nach preisgeben. Das erschüttert immer wieder das Vertrauen und sorgt für Rückschläge im Prozess.

Zum eigenen Schutz sollte nicht zu detailliert nachgefragt werden. Welche genauen Wortlaute oder Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden, ist nicht unbedingt relevant, um ein Bild vom Geschehenen zu bekommen. Die Devise lautet: so viel Information wie nötig und so wenig wie möglich. Sollten auch nach dem Aufdecken noch Emotionen für die dritte Person vorhanden sein, durchläuft die ehemals untreue Person parallel einen Prozess des Loslassens und der Trennung.

Oft ist mit dem Aufdecken jedoch die Affäre auch emotional vorbei. Die Gedanken und Gefühle sind bald wieder sortiert und fokussiert auf die ursprüngliche Beziehung. Für die betrogene Person fängt aber alles erst an. Die Verarbeitung dauert ihre Zeit und ist anstrengend. Je geduldiger und gründlicher sich beide Partner dem Prozess der Verarbeitung stellen, desto besser sind die Chancen, die Krise zu bewältigen. Es braucht jetzt von beiden Personen vor allem Geduld.

Sätze wie „Darüber haben wir doch jetzt schon x-mal gesprochen, du musst jetzt auch mal darüber wegkommen“ oder „Wir haben doch nur geschrieben, es ist doch nichts passiert“ bringen den Verarbeitungsprozess nicht voran. Im Gegenteil: Die verletzte Person fühlt sich nicht gesehen und im Schmerz alleingelassen. Nun ist es wichtig, Empathie zu zeigen, die emotionale Achterbahn des oder der anderen liebevoll auszuhalten und die Konsequenz des eigenen Handelns verantwortungsvoll zu tragen. Wenig hilfreich für den Prozess ist es, wenn die betrogene Person verdrängt und schnell und oberflächlich vergibt. Es ist wichtig, die Gefühle zuzulassen, auch wenn das unangenehm ist.

Nur durch gemeinsames Tragen dieser schmerzhaften Folgen kann die Beziehung heilen und wachsen. Es führt kein gesunder Weg daran vorbei! Es kann in dieser Phase zu langen, kräftezehrenden Gesprächen kommen. Hilfreich ist es hier, vor dem Gespräch einen Zeitrahmen zu vereinbaren, um zu einem Ende zu finden, auch wenn noch nicht alles besprochen ist.

Freiwillige Rechenschaft: Für die meisten betrogenen Partner ist es in der ersten Zeit schwierig, mit bestimmten Trigger-Situationen umzugehen, ohne ständig zu kontrollieren, zum Beispiel wenn die ehemals untreue Person allein ausgeht. In der ersten Zeit kann es helfen, freiwillig Rechenschaft abzulegen: Wenn Till ins Büro fährt, hat Kati jedes Mal Angst, dass er dort Lena treffen und sich wieder Heimlichkeiten zwischen den beiden einstellen könnten. Till versteht das. Die beiden haben verabredet, dass er von sich aus erzählt, wenn er Lena gesehen hat. Wenn Kati unsicher ist, fragt sie zusätzlich nach. Langsam kann so Vertrauen und Sicherheit zurückkehren.

Es ist eine besondere Herausforderung, wenn sich die dritte Person weiterhin im Umfeld des Paares befindet. Den Job oder den Freundeskreis zu verlassen, sind große Schritte, die man nicht unbedingt gehen kann oder möchte. Diese Situationen können sehr knifflig sein und werden am besten professionell begleitet. Als Richtschnur kann dienen, dass die betrogene Person das Tempo vorgibt, wie und ob wieder ein Treffen oder gar eine Annäherung an die dritte Person stattfindet. Es muss weder alles schnell wieder normal sein, noch muss es bedeuten, dass nie wieder miteinander gesprochen wird. Zunächst ist es am wichtigsten, dass das Paar wieder zueinander findet. Alles, was das weitere Umfeld betrifft, kann dann zu seiner Zeit folgen, sofern das gewünscht ist.

Wie konnte das passieren?

In Studien zum Thema Untreue geben 40 Prozent der Befragten an, in ihrem Leben schon einmal untreu gewesen zu sein, wobei es Männer und Frauen etwa gleichermaßen betrifft. Wie kommt es dazu? Die Gründe sind sehr individuell und können an dieser Stelle nur angerissen werden. Oft beobachte ich in meiner Arbeit mit betroffenen Paaren aber das gleiche Grundprinzip:

Die Lebensumstände eines Menschen verändern sich stetig. Sie wandeln sich in Bezug auf den Job, Wohnort, Kinder, Hobbys, Ehrenamt oder Freundschaften. Aber auch Krankheiten oder der Verlust eines geliebten Menschen führen zu Veränderungen. Man passt sich den Gegebenheiten an und setzt Prioritäten. Manches muss weichen, weil die Kraft oder die Zeit dazu fehlt. Vor allem in der Kleinkind-Phase bleibt häufig wenig Raum für anderes.

Oft fällt diesem Lauf des Lebens die Pflege der Paarbeziehung, also die ungeteilte Zeit mit dem Partner/der Partnerin, als Erstes zum Opfer. Man funktioniert zusammen als Team, aber den Bedürfnissen des Gegenübers wird weniger Beachtung geschenkt. In seinem Buch „Die 5 Sprachen der Liebe“ beschreibt Gary Chapman, was Menschen brauchen, um sich geliebt zu fühlen und wie man es schaffen kann, trotz Unterschiedlichkeit beim Gegenüber keinen Mangel aufkommen zu lassen. Das Bedürfnis nach ungeteilter Zeit mit dem Partner spielt eine große Rolle. Tritt über einen längeren Zeitraum ein Mangel auf, der von einer dritten Person gestillt wird, besteht die Gefahr, dass sich eine Außenbeziehung anbahnt.

Die eigene Prägung, alte Glaubenssätze, das Selbstbewusstsein und auch bereits vorangegangene ungeklärte Verletzungen in der Beziehung tragen außerdem dazu bei. Das bedeutet, dass für die Umstände, die den Treuebruch begünstigt haben, in der Regel beide Verantwortung tragen. Für den Treuebruch an sich trägt aber ausschließlich die untreue Person die Verantwortung. Die Gründe sind also sehr individuell und oft komplex. Es lohnt sich, hier mit professioneller Unterstützung hinzuschauen, um die Basis der Beziehung nachhaltig zu festigen. Das gilt besonders, wenn Untreue wiederholt ein Thema ist. Meist spielen die psychologischen und lebensgeschichtlichen Hintergründe eine relevante Rolle. Aber auch als Opfer wiederholter Untreue ist es wichtig, sich Hilfe zu holen und abzuwägen, ob eine Trennung die bessere Alternative wäre, als sich immer wieder so tief verletzen zu lassen.

Wann ist die Krise bewältigt?

Um mit einem erlittenen Treuebruch abzuschließen, ist es wichtig, sich irgendwann zu entscheiden, die zugefügte Verletzung loszulassen und zu vergeben. Nicht, weil man das tun müsste oder das Gegenüber das erwartet, sondern um des eigenen Herzens willen. Ich glaube, dass Gott uns die Möglichkeit zu vergeben hauptsächlich um unseretwillen geschenkt hat, damit unser Herz nicht bitter wird. Unvergebenes liegt als Last auf der eigenen Seele. Vergebung ermöglicht es einem selbst, wieder frei zu werden. Vergeben bedeutet nicht vergessen. Es ist aber der Schritt, den beide brauchen, damit das Geschehene irgendwann nicht mehr zwischen ihnen steht.

Jedes Paar sollte an den Stellschrauben für eine gesunde und reife Beziehung arbeiten: Kommunikation auf Augenhöhe, Arbeit an den eigenen Themen sowie ein aufmerksames, wertschätzendes und liebevolles Miteinander. Wer gerade in einer Krise dieser Art steckt, dem möchte ich Mut machen: Es wird sich nicht für immer so anfühlen. Wer die wichtigen oben genannten Punkte beachtet, hat eine gute Chance, das Geschehene zu verarbeiten und reifer daraus hervorzugehen. Es braucht Zeit und Vertrauen in den Prozess. Aber es lohnt sich!

Ein Jahr später schauen Kati und Till auf eine schmerzhafte Zeit zurück. Inzwischen ist Ruhe eingekehrt. Die aufreibenden Gespräche sind vorbei. Ab und zu kommen Erinnerungen hoch, aber sie schmerzen nur noch kurz. Die beiden sind wieder aufmerksamer füreinander geworden und haben gelernt, über ihre Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Tills Kontakt zu Lena beschränkt sich auf ein „Hallo“ im Büro. Katis Groll ihr gegenüber hat sich abgeschwächt. Aber ob und wie Kati ihr wieder begegnen möchte, darüber ist sie sich noch nicht sicher.

Christina Glasow ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und lebt mit ihrer Familie in Pulheim. christinaglasow.de

Familienfreundliche Gemeinden?

Es hängt sehr stark von den einzelnen (Kirchen-)Gemeinden ab, wie sehr sich Familien willkommen und zu Hause fühlen. Lisa-Maria Mehrkens hat bei Familien nachgefragt, wie sie ihr Gemeindeleben gestalten und was sie sich von Gemeinden wünschen.

Wie familienfreundlich Gemeinden wahrgenommen werden, ist sehr unterschiedlich. In den meisten Gemeinden gibt es über die Woche verteilt Angebote für verschiedene Altersgruppen, zum Beispiel Mama-Kind-Kreise, Krabbelgruppen, Jungschar, Teenkreis oder Junge Gemeinde. Auch parallel zum sonntäglichen Gottesdienst finden Angebote für Kinder und Teens statt. Manche Gemeinden haben für Eltern mit Kleinkindern spezielle und gut ausgestattete Spielräume, in die der Gottesdienst per Ton oder Bild übertragen werden kann. Doch nicht jede Kirche oder Gemeinde hat die baulichen Möglichkeiten, einen extra Raum für Familien einzurichten. „Ungemütlich, zu klein, zu laut“ nannten einige Eltern die bei ihnen vorhandenen Räume. Einige wünschten sich zusätzliche Still- oder Wickelmöglichkeiten sowie Rückzugsmöglichkeiten, wenn es den Kindern zu viel wird.

„Wir kommen immer auf den letzten Drücker zum Mutti-Kind-Kreis. Oft ist es leider nur ein weiterer Termin im stressigen Alltag“, beschreibt eine Mutter das Problem vieler Familien. Der Alltag ist so vollgepackt, dass – selbst familienfreundliche – Gemeindeveranstaltungen manchmal nur zusätzlicher Stress sind. Dabei können enge Beziehungen, die über die kirchlichen Veranstaltungen hinaus Bestand haben, günstig für das eigene Glaubensleben und Wohlbefinden sein. Deshalb plädieren viele Eltern dafür, bei Gemeindeveranstaltungen mehr Zeit für Austausch und die Pflege von Beziehungen einzuräumen. Zum Beispiel bei Familientreffen mit viel gemeinsamer Zeit und einem kurzen geistlichen Impuls. Ein gemeinsames Mittagessen nach dem Gottesdienst würde den Druck verringern, sich zu Hause um das Essen kümmern zu müssen und für Gemeinschaft und Austausch sorgen. Gleichzeitig hätten die Kinder gleichaltrige Freunde zum Spielen, was auch die Eltern entlastet. „Je mehr die Menschen aus der Gemeinde auch Teil des alltäglichen Lebens sind, umso einfacher ist es auch, Glaube in den Alltag zu bringen. Besonders wenn auch die Freunde der Kinder Teil der Gemeinde sind“, betont ein Vater.

Gottesdienst als Familie erleben

Der Besuch des wöchentlichen Gottesdienstes ist vor allem für die Eltern herausfordernd, deren Kinder noch nicht alt genug für den Kindergottesdienst sind. Dann kann bei Paaren nur ein Elternteil bewusst dem Gottesdienst folgen, während der andere den Nachwuchs betreut. Für Alleinerziehende ist es noch schwieriger. Einige Eltern bemängeln die ungünstigen Zeiten oder die zu lange Dauer der Gottesdienste. „Familienfreundliche Gottesdienste sollten zu familienfreundlichen Zeiten stattfinden sowie abwechslungsreich, kurz und prägnant gestaltet werden“, schlägt eine Mutter vor. Dennoch gehen einige Familien auch mit Babys und (Klein-) Kindern fast jeden Sonntag in den Gottesdienst. „Für mich schafft der Gottesdienst Zeit und Raum für Begegnungen mit Gott, die mir im Alltag fehlen. Zudem ist mir die Zeit auch wichtig für die Begegnung mit anderen und weil meine Kinder im Kindergottesdienst etwas vom Glauben hören“, erklärt ein Vater seine Beweggründe. Eine Mutter betont, dass es wichtig sei, gemeinsam als Familie Erfahrungen mit Gott zu machen. Die altersspezifischen Angebote unter der Woche nehme meist nur ein Teil der Familienmitglieder wahr. „Im Gottesdienst können wir zumindest zeitweise alle zusammen sein. Das stärkt uns als Familie gemeinsam in unserem Glauben.“

Zum Fußball oder in die Gemeinde?

Neben jüngeren Kindern sind auch Teenager ein wichtiger Teil von Gemeinden, der gelegentlich zu wenig beachtet wird. Manchmal konkurrieren ihre Hobbys, wie ein Fußballspiel oder eine Theateraufführung, zeitlich mit Gemeindeangeboten. Für viele Teenager ist entscheidend, zu welchem Angebot ihre Freunde gehen. Spezielle Jugendgottesdienste, gemeinsame Ausflüge, Mahlzeiten oder (Online-)Treffen unter der Woche stärken die Gemeinschaft und Freundschaften der Teens innerhalb der Gemeinde. Einige Eltern finden, ihre Teens könnten mehr in die Gemeindestrukturen eingebunden werden und Aufgaben übernehmen, damit sie Verantwortung lernen und sich gebraucht fühlen. „Man kann Jugendlichen schon mehr Verantwortung und Aufgaben übertragen, als man manchmal denkt“, meint eine Mutter. Auf diese Art können sich die jüngeren Gemeindemitglieder auch in verschiedenen Bereichen ausprobieren und ihre Begabungen entdecken und stärken. Gottesdienste und andere Angebote sollten so gestaltet werden, dass sie die Lebenswelt der Jugendlichen ansprechen. So fühlen sich Teenager auch nach der Konfirmation oder dem Ende des Bibelunterrichts noch als Teil der Gemeinde.

Anschluss nicht verlieren

„Seit wir Kinder haben, gehen wir nicht mehr jeden Sonntag in den Gottesdienst. Es ist einfach zu anstrengend, die Kinder ruhig zu halten, mit ihnen zu spielen und gleichzeitig noch dem Lobpreis oder der Predigt zu folgen. Ein Kinderprogramm gibt es erst ab drei Jahren. Da bleiben wir lieber zu Hause.“ Das berichtet eine Mutter von Zwillingen im Alter von einem Jahr. Und sie ist mit dieser Erfahrung nicht allein. Seit die Corona-Pandemie verschiedene Online-Angebote wachsen ließ, nutzen besonders Familien mit Babys und Kleinkindern, die noch zu jung für die Kindergottesdienste sind, die Möglichkeit, vom gemütlichen Sofa aus an Online-Treffen teilzunehmen oder den Gottesdienst im Livestream zu verfolgen. Eine Mutter berichtet, dass auch ihr spezieller Hauskreis für Mütter mit Babys meist online stattfindet: „So kann man sich stummschalten, wenn das Baby schreit. Und jede Mama kann füttern und wickeln, wie es gerade passt“, berichtet sie. Auch bei Hausgottesdiensten innerhalb der Familie oder zusammen mit Gästen kann durch mehr Flexibilität besser auf die einzelnen Bedürfnisse eingegangen werden.

Dennoch berichten manche Eltern, sich durch den fehlenden persönlichen Kontakt nicht mehr richtig als Teil der Gemeinde zu fühlen. Deshalb stellt sich neben der Frage, wie familienfreundlich Gemeinden sind, auch die Frage, wie gemeindefreundlich eine Familie ist. Die Möglichkeiten der Eltern, sich in die Gemeinde einzubringen, sind vielfältig: einen Hauskreis oder die Jugendgruppe leiten, den Gottesdienst moderieren, sich im Lobpreis, dem Leitungskreis oder der Technik engagieren. Die Verantwortung zwischen dem Dienst in der Gemeinde und der Betreuung der Kinder kann dabei abwechselnd aufgeteilt werden. Oder man nimmt die Kinder mit und integriert sie, soweit es geht. „Wenn ich den Beamer-Dienst im Gottesdienst habe, sitzt mein Sohn meist mit auf meinem Schoß. Manchmal lasse ich ihn eine Folie weiterklicken und er freut sich, dass er mir helfen kann“, berichtet ein Vater.

In Gemeinden Talente für Gott einsetzen

Eine andere Familie erzählt, dass sie sich gemeinsam als „Familienband“ in der Lobpreisarbeit beteiligen. „Das ist für uns perfekt. Wir haben als Familie ein gemeinsames Hobby, können gleichzeitig Zeit in der Gemeinde verbringen und unsere Talente für Gott einsetzen“, erklärt die Mutter. Gemeinsame Mahlzeiten nach Gottesdiensten, Aktivitäten mit anderen Familien oder feste wöchentliche Treffen tragen die gemeindeinternen Beziehungen in den Alltag und können auch von den Familien selbst initiiert werden. Zudem können sich Eltern für regelmäßige Familiengottesdienste stark machen und aktiv dort mitwirken. Wenn die Eltern-Kind-Räume nicht zufriedenstellend sind, können sich Familien zusammenschließen und selbst für eine Verbesserung einsetzen.

Sowohl die Gemeinden als auch die Familien selbst sind durch gegenseitiges Verständnis, Austausch und Kompromisse in der Verantwortung, eine gemeinsame Basis zu finden. Nur so kann eine Gemeinde für alle gelebt werden. Eine Mutter betont, Gemeinden sollten Familien als „stark prägende Konstante für das Glaubensleben“ wertschätzen und unterstützen. Ihre Idee: eine „Patenschaft“ von älteren Eltern für jüngere Familien.

Lisa-Maria Mehrkens ist Journalistin, Autorin und Psychologin. Mit ihrer Familie wohnt sie in Chemnitz. Mehr auf Instagram unter: mehrkens.journalismus und himmelslichtfuerdich

3 bis 5 – Auf’s Fahrrad umsteigen?

Elternfrage: „Meine Frau und ich sind uneins darüber, wann unser Sohn (3) Rad fahren lernen soll. Ich meine, wir sollten jetzt beginnen, meine Frau findet es zu früh. Wann ist der beste Zeitpunkt für das Fahrrad? Und was sollte man sonst noch beachten?“

Wenn wir mit dem Fahrrad unterwegs sind, ist uns nicht bewusst, wie komplex die Bewegungsabläufe und wie vielfältig die Informationsverarbeitungen sind. Radfahren ist ein Zusammenspiel aus Motorik, Planung, Orientierung, Geschwindigkeit, Gleichgewicht, Sequenzierung von Handlungen und Regelwerk.

Obwohl man schon für Kleinkinder Fahrräder kaufen kann, bedeutet dies nicht, dass es das ideale Lernalter ist. Erst wenn Kinder von sich aus Interesse am Rad zeigen, sollten sie es ausprobieren. Dabei sind manche ein Kindergartenkind und andere gehen schon in die Schule.

Balance und Geschwindigkeit

Lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn jüngere Kinder durch die Straßen sausen und Ihres noch auf einem Laufrad herumkurvt. Lernen braucht Zeit und die Voraussetzungen fürs Radfahren lassen sich gut mit Roller und Laufrad trainieren: Das Kind entwickelt ein Gespür für Balance und Geschwindigkeit. Es wird merken, wie schnell es sein muss, um die Beinchen zu heben. Und es wird wissen, wie ruckartig es den Lenker drehen kann, ohne auf die Nase zu fallen.

Viele Eindrücke müssen eingeordnet werden: Geräusche, Bewegungen von Personen und Autos oder Hindernisse auf dem Weg. Das Kind lernt Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und nach und nach automatisieren sich Bewegungsabläufe. Wenn es dann ein Fahrrad ausprobieren möchte, kann auch ein Rad von Geschwistern oder Nachbarskindern hilfreich sein. Eine Anschaffung lohnt sich erst, wenn sich Fahrerfolg einstellt. So sparen Sie sich zum Beispiel ein kleines 12-Zoll-Rad und können gleich ein größeres Rad anschaffen.

Ohne Stützräder fahren!

Vermeiden Sie Stützräder am Fahrrad! Sie sind eher hinderlich als hilfreich, denn mit ihnen lässt sich nicht der entscheidende Gleichgewichtssinn trainieren. Am Anfang fehlt den Kindern häufig die Kraft, um anzufahren. Geben Sie dem Rad einen Schubs, aber schieben Sie es nicht ständig. Das lenkt Ihr Kind ab und es guckt mehr nach hinten als nach vorn. Sie sollten außerdem darauf achten, nicht ständig zu reden, denn Ihr Kind ist mit so vielen Dingen auf einmal beschäftigt, dass es kaum auf Ihre Worte achten wird. Fahrradfahren ist körperbetont, es lässt sich nicht durch verbale Erklärungen erlernen. Wenn Sie Ihr Kind anfeuern wollen, dann rennen Sie vor und lotsen es ins Ziel, so fokussiert es sich nach vorn. Mancher Sturz lässt sich nicht vermeiden – sorgen Sie mit Helm, Knieschützern und robuster Kleidung vor.

Radeln Sie selbst gern? Ihre Begeisterung wird andere anstecken. Machen Sie aus dem Radausflug ein schönes Familienerlebnis. Suchen Sie sich ruhige Wege und leicht erreichbare Ziele: einen Lieblingsplatz im Park, die Eisdiele, den Bäcker oder das Tiergehege. Nichts ist frustrierender, als wenn aus dem Genussradeln ein Pedalenkampf wird. Die Freude wächst mit der Routine und dann „kommt Radfahren dem Flug der Vögel am nächsten“ (Louis J. Halle).

Susanne Ospelkaus ist Ergotherapeutin und Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie in Zorneding bei München und bloggt unter: susanne-ospelkaus.com

6 bis 10 – Probleme mit Zahlen

Elternfrage: „Unser Sohn (6) tut sich schon in der 1. Klasse mit dem Rechnen sehr schwer. Wir haben gehört, dass es so etwas wie Rechenschwäche gibt. Wie kann man das feststellen? Und was kann man dagegen tun?“

Es gibt Kinder, die bereits im Vorschulalter auffallen, weil sie Probleme mit Zahlen und Mengen haben. In den meisten Fällen werden die Schwierigkeiten beim Rechnen aber erst in der Grundschule deutlich sichtbar. Die betroffenen Kinder rechnen zählend und können Rechenaufgaben nicht erfassen. Wenn es dann über den Zehnerzahlenraum hinausgeht und die Finger nicht mehr ausreichen, um zählend zu rechnen, können sie die Aufgaben meist nicht lösen. Sie haben auch keine Vorstellung davon, ob Acht größer als Fünf ist, denn sie beherrschen den Zahlenstrahl noch nicht.

Diagnose Dyskalkulie

Wenn man bei einem Kind diese massiven Schwierigkeiten mit Zahlen und Mengen beobachtet, sollte man mit dem Kinder- und Jugendarzt darüber sprechen, ob eventuell eine Sehschwäche oder eine Aufmerksamkeitsstörung ursächlich sein können. Ist das auszuschließen, wird der Kinder- und Jugendarzt empfehlen, eine Diagnostik zur Feststellung einer Dyskalkulie (Rechenstörung) bei einem Kinder- und Jugendpsychiater oder einer Psychologischen Psychotherapeutin durchführen zu lassen.

Die Eltern sollten die Lehrkraft für Mathematik über die Diagnose Dyskalkulie informieren und besprechen, wie eine individuelle Förderung des Kindes in der Schule erfolgen kann. Lehrkräfte sollten für eine individuelle Dyskalkulie-Förderung weitergebildet sein, denn es hilft Kindern mit einer Dyskalkulie wenig, wenn sie bei der Förderung nur den Schulstoff wiederholen. Ihnen fehlt ja noch das grundlegende Verständnis für Zahlen und Mengen. Erst wenn die Kinder über eine individuelle Förderung verstanden haben, was sich hinter einer Menge und einer Zahl verbirgt, und sie den Zahlenstrahl beherrschen, ist es möglich, in erste Rechenoperationen einzusteigen. Dazu gibt es gut evaluierte Förderansätze, die zum Einsatz kommen sollten, wie sie in der S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung aufgeführt sind.

Keine Matheangst

Wir empfehlen Eltern, möglichst frühzeitig die medizinische Diagnose stellen zu lassen und beim Vorliegen einer Dyskalkulie schnellstmöglich eine Förderung einzuleiten. So bleibt dem Kind unnötiges seelisches Leid erspart und es entwickelt keine „Matheangst“. Wenn das Kind in der Schule keine ausreichende Förderung erhält, sollten Eltern eine außerschulische Förderung einleiten. Auch hier ist eine gute Qualifizierung der Therapeuten entscheidend, um den Kindern nachhaltig zu helfen.

Annette Höinghaus ist Pressesprecherin des BVL – Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie.

 

INFOS UND BERATUNG

Deutschland: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie www.bvl-legasthenie.de

Beratung unter beratung@bvl-legasthenie.de oder 0228 – 38 75 50 54

Schweiz: www.verband-dyslexie.ch

Österreich: www.schulpsychologie.at

Auf die Väter kommt es an

Väter spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Kinder. Warum Väter nicht wie Mütter sein müssen und was wirklich wichtig ist, erklärt Hannsjörg Bachmann.

Seit ca. 50 Jahren wird gezielt über Väter geforscht. Diese Forschung zeigt auch, dass vieles von dem, was Väter ausmacht, in der Vergangenheit oft nur geringe Chancen hatte, sich zu entfalten und gelebt zu werden. In dem traditionellen Familienmodell wurde Vaterschaft meist auf das indirekte Engagement als Versorger der Familie reduziert. Andere Vater-Kompetenzen waren in diesem Modell wenig gefragt.

Dass Väter auch noch andere Qualitäten in sich tragen, haben erst die neuen Familienmodelle richtig sichtbar gemacht. Sie geben den „neuen“ Vätern viele Möglichkeiten, sich auch direkt in der Familie zu engagieren – in der Beziehung zu den Kindern und in der Partnerschaft. Persönliche Erfahrung und Forschung zeigen, wie wertvoll, wohltuend und inspirierend Väter und diese Form ihres fürsorglichen Engagements für die Familie sind. Indem Väter sich so einbringen, setzen sie viele innovative Prozesse in der Familie in Gang. Diese Entwicklung gelingt am besten, wenn sie von Beginn an in enger Abstimmung mit der Partnerin erfolgt – in gemeinsamer Elternschaft. Lohnend ist diese Entwicklung aber auch dann, wenn sie erst mit zeitlicher Verzögerung erfolgt. Viele Väter sind überrascht davon, wie fundamental sich ihre Sicht auf das Leben und die Gesellschaft verändert, wenn sie sich auf die Sicht ihres Kindes einlassen.

Die aktuellste Übersicht zu allen entwicklungspsychologischen Aspekten der Väterforschung findet sich in dem Buch von Lieselotte Ahnert, dessen Titel ich als Überschrift für diesen Artikel gewählt habe. Ich beschränke mich hier auf einige wenige Aspekte, die ich für besonders relevant halte.

Eine eigenständige Vater-Kind-Beziehung suchen und finden

Väter sind keine Mütter. Sie sind, wie sie sind – anders. Und das ist gut so. Von dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul stammt die Aussage: „Man kann nicht von Müttern lernen, wie man ein guter Vater wird.“ Jeder Vater wird für sich selbst herausfinden (müssen), was Vatersein für ihn bedeutet und wie er es authentisch leben kann. Das Vorbild des eigenen Vaters kann überzeugen, es kann vielleicht aber auch dazu herausfordern, einen anderen Weg zu suchen. Anregend ist es auf jeden Fall, sich mit anderen Vätern über die eigenen Erfahrungen auszutauschen.

Unterschiedlichkeit als Gewinn. Väter gestalten die Beziehung zu ihrem Kind auf ihre eigene Art und Weise – oft ganz anders als die Mütter. Auch wenn Mütter und Väter die gleichen Werte vertreten, wirkt sich diese Unterschiedlichkeit überall aus (beim Sport, beim Spiel, dem Umgang mit Schulproblemen, bei kleineren oder auch größeren Krisen im Leben der Kinder). Diese Unterschiedlichkeit von Mutter und Vater, Feinfühligkeit bei beiden vorausgesetzt, ist für die Kinder kein Problem, sondern ein großer Gewinn. Sie erleben so sehr konkret, wie verschieden Menschen sind, wie unterschiedlich sie mit allem umgehen und dass es nur sehr selten „richtig“ oder „falsch“ gibt. Über die Mütter finden die Kinder oft eher einen Zugang zur emotionalen Welt, über die Väter häufiger zur Welt der Gedanken und Vorstellungen, zur mentalen Welt.

Weichenstellung mit Langzeitwirkung. Die Entscheidung des Vaters, eine eigenständige Beziehung zu seinem Kind zu suchen, gehört zu den wichtigsten Weichenstellungen in der Familie. Optimalerweise erfolgt sie schon in den Wochen um die Geburt herum. Sie trägt dann wesentlich dazu bei, dass der Vater im emotionalen Zentrum der Familie bleibt und dass er sich zusammen mit seinen Kindern weiterentwickelt, Vater und Kind „wachsen“ gemeinsam. Die Familie entwickelt sich „um beide Elternteile herum“.

Zu unserer Realität gehört, dass viele Väter diese Weichenstellung verpassen – nur vorübergehend oder auch auf Dauer. Oft fehlt ihnen in ihrer Umgebung einfach ein Vater-Vorbild, das diese Form des Vaterseins authentisch vorlebt. Für einen Richtungswechsel ist es nie zu spät – Nachlernen ist auch im fortgeschrittenen Alter durchaus möglich.

Väter und ihre Eigenarten

Feinfühlige Väter? Väter bringen alle Voraussetzungen mit, um zu ihrem Kind eine eigenständige, lebendige Beziehung aufzubauen. Wir wissen heute, dass Väter genauso feinfühlig sein können wie Mütter – manchmal sogar noch feinfühliger. Auch zwischen Vätern und Kindern kann sich eine sichere emotionale Bindung entwickeln – als stabiles Fundament für das ganze Leben. Väter vermitteln ihre Liebe und Akzeptanz auf ihre eigene Art, unverwechselbar. Dann erleben sie – oft mit großem Erstaunen – dass sie von ihren Kindern bedingungslos geliebt werden. Es entsteht eine tiefe Vertrauensbeziehung. Viele Väter erleben diese emotionale Erfahrung als tiefes Glück.

Väterliche Feinfühligkeit ist in jedem Lebensalter gefragt, nicht nur im Säuglings- und Kleinkindalter, auch danach, im Schulalter, in der Adoleszenz, in der Beziehung zu den erwachsenen Kindern. Es geht um die Fähigkeit und den Willen des Vaters, sich in die Welt des Kindes hineinzuversetzen, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und so gut wie möglich zu verstehen. Und gleichwürdig mit dem Kind umzugehen.

Gleichwürdig meint, Tochter und Sohn so zu behandeln, wie man als Erwachsener auch selbst behandelt werden möchte. Diese innere Haltung verändert auch das Zuhören und Reden des Vaters. Das Kind spürt unmittelbar, ob der Vater mit echtem Interesse zuhört oder nur flüchtig, und wie er mit ihm redet – bewertend, kommentierend, kritisierend, bevormundend – oder ob er ein Gespräch ermöglicht, in dem sich Kind und Vater öffnen können. Wenn ein Kind immer wieder, an guten und schlechten Tagen, die Erfahrung macht, dass es vom Vater gesehen, gehört und verstanden wird, verinnerlicht es tief, dass es bei ihm sicher aufgehoben ist und dass es so, wie es ist, geliebt und wertgeschätzt ist.

Bemerkenswert ist, wie unmittelbar diese neue Qualität des Zuhörens und Redens die Familienatmosphäre und die Beziehung zwischen Kind und Vater in eine positive Richtung verändert. Ich zitiere ein 8-jähriges Mädchen, dessen Vater sich ohne Wissen des Kindes entschlossen hatte, eine neue Gesprächskultur in die Familie zu bringen und mit dem Kind so respektvoll zu reden wie mit Erwachsenen: „Vater, es gefällt mir, wenn du so anders mit mir redest.“

Gegenüber und Modell. Mit Mutter und Vater als verlässlichem, feinfühligem Gegenüber erlernen Kinder schon früh, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen, einzuordnen und zu benennen. Alle Gefühle, auch die für die Eltern „herausfordernden“ (wie Wut, Ärger, Angst …), sind erlaubt. Sie werden nicht negativ bewertet – Gefühle sind einfach da; sie sind, wie sie sind. Die Kinder lernen, in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben. Sie entwickeln Selbst(wert)gefühl und Empathie. Die Interaktion mit dem Kind berührt und aktiviert auch bei Vater und Mutter viele bislang wenig bekannte Emotionen und hinterlässt oft tiefe Spuren in ihrer Seele.

Väter mit Defiziten im „seelischen Fundament“ und/oder biografischen Brüchen. Nicht alle Väter haben eine „glückliche“ Kindheit erlebt und in ihren Familien konstruktive Beziehungsmuster kennengelernt. Oft waren die eigenen Eltern – trotz bester Absicht – nicht in der Lage, ihrem Kind ein stabiles seelisches Fundament mitzugeben. Dass ihnen etwas Wesentliches fehlt, entdecken diese Väter häufig erst im Erwachsenenalter, wenn Lebenskrisen darauf hinweisen, dass es gravierende Leerstellen in ihrem seelischen Fundament gibt.

Ein aktuelles Interview in der ZEIT (Nov. 23) mit Lance Armstrong und Jan Ullrich zeigt eindrucksvoll, dass selbst tiefgreifende existenzielle Krisen, wie beide sie über viele Jahre erlebt haben, nicht das letzte Wort haben müssen. „Nachlernen“ ist auch dann noch möglich. Besonders gute Lehrmeister sind – neben den psychotherapeutischen Fachleuten – oft die eigenen Kinder. Lance Armstrong sagte: „Ich selbst habe in meinen dunkelsten Momenten nur an meine Familie gedacht … vor allem an meine Kinder. Ich wollte, dass sie ihren Vater respektieren können. Ich wollte ihr Bild von mir nicht zerstören, das war meine größte Furcht – und mein Antrieb, mich nicht aufzugeben.“

Zum Nachlernen gehört, die Verantwortung für das eigene Leben mit allen Brüchen voll zu übernehmen – und dies auch gegenüber den Kindern zu artikulieren, verbunden mit der Aussage „Es tut mir leid“. Kinder sind dann meist sehr bereit für einen Neuanfang.

Die Partnerschaft bereichern

Oft liegt der Fokus beim Vatersein auf der Beziehung zum Kind. Genauso wichtig ist es, gleichzeitig auch die Dynamik der Paarbeziehung im Blick zu haben. Denn die Veränderung, die mit der Vaterschaft verbunden ist, betrifft immer das gesamte Familiensystem, auch die Partnerschaft. Es gilt die alte Weisheit: „Wenn es beiden Eltern als Paar gut geht, geht es gewöhnlich auch dem Kind gut.“ Forschungsergebnisse zeigen eindeutig, dass sich Väter besonders gerne in ihrer Vaterschaft engagieren, wenn sie auch mit ihrer Partnerschaft zufrieden sind.

Gleichberechtigte Partnerschaft. Für viele Väter ist es heute selbstverständlich, dass sie sich an den vielen Tätigkeiten beteiligen, die nötig sind, um den Alltag in der Familie gut zu bewältigen. Die im Haushalt und bei der Kinderbetreuung anfallenden Aufgaben werden möglichst „gerecht“ verteilt.

Weniger selbstverständlich ist es – oft betrifft das die Väter –, sich auch ebenso aktiv in die Prozesse einzubinden, die mit der inneren Struktur der Familie zu tun haben, also mit dem, was die Familie im Kern zusammenhält: der Qualität der Beziehungen – zu sich selbst, zu der Partnerin, zu den Kindern –, der Art der Kommunikation, dem Umgang mit Konflikten, der feinfühligen Begleitung der Kinder in den Höhen und Tiefen des Alltags. Diese Bereiche kann man nicht aufteilen; wünschenswert ist, dass beide Partner hierfür gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Emotionale Sprachfähigkeit. Von großer Relevanz ist, dass beide Partner sprachfähig sind bzw. werden – nicht nur auf der Ebene der Fakten, des Wissens, des Verstandes, des Alltäglichen, sondern vor allem auch auf der emotionalen Ebene – im Austausch über Gefühle wie Freude, Dankbarkeit, Sorgen, Zweifel oder Ängste. Eine Begegnung beider Partner von Herz zu Herz gibt es eben nur auf dieser emotionalen Ebene. Hier entsteht Verbundenheit, Nähe und Vertrautheit.

Viele Frauen wünschen sich, dass ihre Männer auf diesem Sektor zusätzliche Kompetenzen erwerben. Sie erleben „emotionale Spracharmut“ als schmerzhafte Leerstellen – in der Partnerschaft ebenso wie in der Vater-Kind-Beziehung und der Beziehung der Männer zu sich selbst. Viele Männer und Väter nehmen dieses Defizit gar nicht wahr.

Ein exzellenter Führer in das Land der emotionalen Sprachfähigkeit ist das Buch „8 Gespräche, die jedes Paar führen sollte“ der US-amerikanischen Paartherapeuten und -forscher John und Julie Gottman. Mütter und Väter, die sich auf diesen Weg begeben, verändern nicht nur ihr eigenes Leben, sie beeinflussen und bereichern auch das Leben ihrer (kleinen und großen) Kinder, die Paardynamik und das ganze Familiensystem.

Einige persönliche Anmerkungen

Optimal ist es, wenn dieser Schritt zum „neuen“ Vatersein zu Beginn der Familienphase erfolgt. Meine eigene Biografie zeigt, dass es aber auch später noch möglich ist, sich auf einen neuen Weg zu begeben. Ich habe viele meiner wichtigen persönlichen Weichenstellungen in diesem Bereich erst in der zweiten Lebenshälfte vollzogen. Der Rückblick auf die in den Jahren zuvor verpassten Möglichkeiten war und ist oft schmerzhaft. Gleichzeitig gab es in dieser zweiten Lebensphase einen großen Zugewinn an lebendigen Beziehungen; ich hätte es mir vorher nie so vorstellen können – in den ganz nahen Beziehungen (zu mir selbst, meiner Frau, zu unseren erwachsenen Kindern plus Schwiegerkindern, zu unseren Enkelkindern), aber auch darüber hinaus. Die „Familienwerkstatt“ und auch das Vater-Tochter-„Familien leben“-Buch gäbe es ohne diese Erfahrungen nicht.

Prof. Dr. Hannsjörg Bachmann, geboren 1943, war 20 Jahre lang Leiter einer Kinderklinik in Bremen. Er machte Ausbildungen bei Jesper Juul und Karl-Heinz Brisch und ist Mitbegründer der „Familienwerkstatt im Landkreis Verden e. V.“.

Die wahren Gründe hinter dem Streit

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Inakzeptabel!

Über die befreiende Kraft, sich seinen Schwachpunkten zu stellen.

Warum sorgen immer wieder Menschen für Skandale, von denen man es am wenigsten erwartet hätte? Menschen, die hohe moralische Ansprüche an sich selbst und an ihr Umfeld stellen. Die in der Öffentlichkeit stehen und Vorbilder sind. Politikerinnen, Pastoren und Geschäftsleute gehen plötzlich fremd, veruntreuen Geld oder missbrauchen ihre Macht. Wenn dann jemand auffliegt, sind wir überrascht und empört. Dabei vergessen wir, dass auch ganz normale Menschen wie du und ich Gefahr laufen, verheerende Fehler zu machen.

Ein Beispiel: Herr Müller fühlt sich seit Jahren einsam. Aber er würde es nie zugeben, nicht sich selbst und schon gar nicht einem anderen Menschen gegenüber. Es macht ja keinen Sinn. Er, der glücklich verheiratet zu sein scheint. Er, der immer von Menschen umgeben ist, die ihn schätzen. Warum sollte er sich einsam fühlen?

Ausweichmanöver

Für Herrn Müller ist bald klar, dass es an seiner Frau liegen muss, dass er sich einsam fühlt. Bei ihr müsste es ihm doch gut gehen, aber das tut es nicht. Aber natürlich ahnt auch Herr Müller, dass es Unsinn ist, seiner Frau die alleinige Schuld zu geben. Deshalb löst jede Begegnung mit seiner Frau eine innere Zerrissenheit bei ihm aus.

Um nicht ständig mit diesen widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert zu werden, zieht er sich immer mehr von seiner Frau zurück. Er beginnt, wie verrückt Sport zu treiben. Einen Ironman hat er absolviert, geholfen hat es nichts. Jetzt ist er drauf und dran, sich auf andere Ersatzhandlungen einzulassen, die seiner Ehe noch mehr schaden werden, um dieses Gefühl der Einsamkeit für kurze Zeit zu betäuben.

Wir alle haben Persönlichkeitsanteile und Gedanken, die nicht besonders vorzeigbar sind. Natürlich versuchen wir, unsere schwierigen Seiten so gut wie möglich zu verbergen. Manchmal sogar vor uns selbst, weil wir uns schämen, uns einsam, minderwertig, zornig, lüstern oder eifersüchtig zu fühlen. Aber das Problem ist: Wenn wir unsere inakzeptablen Seiten verdrängen, verschwinden sie nicht. Nur weil sie nicht sein dürfen, sind sie nicht plötzlich weg. Im Gegenteil: Sie werden dann auf Umwegen und besonders in unserer Partnerschaft umso heftiger wieder auftauchen.

Selbstannahme und Veränderung

Um das zu verhindern, braucht es Ehrlichkeit und Mut. Die Ehrlichkeit, sich einzugestehen, dass man selbst auch problematische Persönlichkeitsanteile hat. Und den Mut, sich seine Abgründe anzusehen. C. G. Jung hat es einmal so formuliert: „Nur was ich annehme, kann ich verändern.“ Herr Müller kann seine Einsamkeit entweder weiter verdrängen und sich in Süchte oder in eine neue Partnerschaft flüchten. Oder er kann sich ihr stellen. Wenn es ihm gelingt, ehrlich mit seiner Frau ins Gespräch zu kommen, stehen die Chancen gut, dass seine Einsamkeit keine destruktiven Ventile mehr braucht oder sogar geheilt werden kann.

Für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und für ihre hohen moralischen Ansprüche bekannt sind, ist die Gefahr besonders groß, ihre inakzeptablen Seiten zu verdrängen. Auf der Bühne beklatscht zu werden und sich gleichzeitig einzugestehen, dass man bedürftig ist und hässliche Persönlichkeitsanteile hat, ist anspruchsvoll. Es scheint einfacher zu sein, diese inakzeptablen Seiten zu verdrängen. Doch genau das führt dazu, dass sich diese Anteile ein anderes Ventil suchen und so wesentlich zu den Skandalen beitragen.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Baret ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter: familylife.ch/five