Nach der Scheidung: „Ich musste zu mir zurückfinden“

Nach ihrer Scheidung fühlte Christine Poppe sich völlig zerbrochen. Trotz Druck und zerstörten Selbstbildern kämpfte sie sich ins Leben zurück.

Ein zerbrochenes Selbstbild

Scheidung bedeutet Zerbruch – von Liebe, Freundschaften, Zukunftsträumen, Idealen. Wie hast du das erlebt?
Ja, mir ging es sehr ähnlich. Vor allem war mein Selbstbild damals auch zerbrochen. Ich hatte bis zu der Scheidung geglaubt, dass ich alles schaffen kann, dass es nichts gibt, was mir zu schwer ist und dass mit Gottes Hilfe und Gebet alles möglich ist. In diesem Glauben bin ich auch in diese Ehe gegangen. Jahrelang habe ich mir größte Mühe gegeben, alles versucht, bin über meine Grenzen gegangen. Aber es hat nie gereicht, und wir sind gescheitert.

Wie hat dein Umfeld auf die Scheidung reagiert?
Leider habe ich viele Freunde und Bekannte, vor allem aus der Gemeinde, verloren und bin auf Unverständnis gestoßen, weil ich diejenige war, die die Beziehung beendet hat. Zwar habe ich auch viel Unterstützung und Mitgefühl erfahren, auch von Menschen, von denen ich es nicht erwartet hätte. Allerdings konnte ich mich damals nicht gut innerlich von anderen abrenzen, da tat jede Bemerkung weh. Und es gab auch Leute, von denen ich mich verraten gefühlt habe. Von einigen Personengruppen musste ich mich ganz abschotten, um mich zu schützen.

Identifizierst du dich als „geschiedene Frau“?
Nein, das spielt keine entscheidende Rolle. Es ist Teil meiner Geschichte. Jede Geschichte hat Brüche und Fehler. Ich war 21, als ich geheiratet habe. In einem Umfeld ohne diese Prägung mit sehr enger Sexualmoral hätte ich nicht so früh geheiratet. Daher ist es eher wie eine schlechte Ex-Freund-Geschichte. Ich habe viel daraus gelernt und mich weiterentwickelt. Aber es bestimmt nicht meine Identität. Ich bin jetzt jemand anderes. Ich bin in erster Linie einfach ich. Und dann die Frau meines zweiten Ehemanns, ich bin die Mutter meiner Tochter, ich bin Traumasensible Coachin – diese Dinge machen mich aus. Heute fühlt es sich so an, dass nicht mein wahres Selbst damals geheiratet hat, sondern etwas in mir, das sehr zerbrochen war und inzwischen heilen konnte.

Meilensteine auf dem Weg der Heilung

Du hast – das beschreibst du auch in deinem Buch – bis zur Selbstaufgabe für deine Ehe gekämpft. Wie ist es dir gelungen, dein Selbst wieder zurückzugewinnen?
Das ist ein langer Prozess, der noch bis heute andauert. Das Wichtigste war die Therapie, die ich bei einem christlichen Therapeuten gemacht habe, der auf Trauma spezialisiert war. Mit dem habe ich direkt nach der Trennung circa zwei Jahre gearbeitet. In der Zeit habe ich meine Trennung aufgearbeitet. Jahre später, nachdem ich meine Tochter geboren habe, ist bei mir noch mal einiges aufgebrochen, was in meiner Kindheit passiert ist und wozu ich vorher keinen Zugang hatte. Mir wurde klar, dass diese Erfahrungen erst der Grund waren, warum ich mich auf jemanden eingelassen hatte, der selbst nicht wusste, ob er mich liebte oder nicht. Ich konnte Zugang zu meinem unversehrten Kern finden, zu dem in mir, was trotz allem, was mir passiert ist, in Ordnung geblieben ist. Ich durfte verschiedene innere Anteile in mir kennenlernen, auch Anteile, die miteinander in Konflikt sind, sie in Einklang bringen, und konnte ein, wie man sagt, kohärentes Selbst finden. Ich habe gelernt, was eine sichere Beziehung ist: eine Beziehung, in der ich nicht abgewertet werde, in der meine Gefühle relevant sind, in der meine Grenzen akzeptiert werden. Durch meinen jetzigen Mann und meine beste Freundin durfte ich lernen, was Bindungssicherheit bedeutet. Ich habe gelernt, dass es okay ist, zu zeigen, wer ich wirklich bin und was ich möchte. Ich konnte eine Beziehung zu mir selbst gewinnen und das war entscheidend.

Gab es denn spezielle innere und äußere Schritte oder Meilensteine auf diesem Weg?
Ein wichtiger Schritt war, als ich das erste Mal bei meinem Therapeuten Michael saß und ihm gesagt habe, dass ich glaube, dass ich komplett kaputt bin, dass alles furchtbar ist, ich überhaupt keine Hoffnung habe, dass ich Hilfe brauche und nicht weiß, wie ich weiterkomme. Er konnte mir glaubhaft vermitteln, dass ich nicht kaputt bin, sondern nur das Bild, das ich von mir habe. Das hat mich aufatmen lassen und mir Hoffnung gegeben, dass ich mich davon wieder erholen kann. In der Therapie hatte ich dann eine krasse Begegnung mit Jesus. Er hat mir den Rucksack mit meiner Schuld abgenommen. Da habe ich gemerkt, dass ich tief im Inneren überzeugt war, dass ich schuld war, weil ich einfach generell schlecht bin. So hatte ich das immer gelernt. In der Jesusbegegnung habe ich erlebt, dass er zu mir sagt, dass ich nicht selbst schuld bin und dass er mir da, wo ich Mist gebaut habe, die Schuld abnimmt. Gott macht mir keinen Vorwurf – nur ich mir selbst. Korrigierende Erfahrungen in Beziehungen waren für mich relevante Meilensteine. Die Beziehung zu meiner besten Freundin und die zu meinem zweiten Mann. In diesen zwei Beziehungen habe ich zum ersten Mal im Leben wirkliche emotionale Sicherheit gespürt. Das war eine sehr positive Erfahrung für mich.

Was war für dich nötig, um wieder neu ins Leben und in eine neue Beziehung zu starten?
Eigentlich bin ich in die Beziehung zu meinem zweiten Mann gestolpert, ohne dafür bereit gewesen zu sein. Ich hatte ausgeprägte Bindungsängste. Mein Mann war sehr sensibel und hat mir durch sein Verhalten immer wieder signalisiert, dass er da ist und sich kümmert. Anfangs war es auch keine feste Beziehung. Er hat sich aber immer verhalten wie ein fester Freund. Er hat mir handwerklich geholfen und als ich immer wieder ins Krankenhaus kam, hat er seine beruflichen Termine abgesagt und ist zu mir gekommen. Ich hatte ihm das gar nicht erzählt, aber er hat es mitbekommen, fand heraus, wo ich war und hat mich damit nicht alleine gelassen. Immer wieder hat er sich gekümmert und mich priorisiert. So ein Verhalten kannte ich nicht und mir wurde klar, dass mir das immer gefehlt hat. Gerade weil er so war, hatte ich Angst und wollte deswegen die Beziehung immer wieder beenden. Ich dachte, er ist jetzt so nett, weil er verliebt ist, ich gewöhne mich daran und komme dann nicht mehr klar, wenn er so wird, wie ich es bisher von Menschen kannte. Daher brauchte ich Mut, mich auf die Beziehung einzulassen, der Angst entgegenzutreten und das Gute zu erwarten.

Erkenntnisse aus der Scheidung

Was war für dich die größte Hürde, wieder du selbst zu sein?
Ich glaube, die Loyalität, die ich gespürt habe, gegenüber meiner Familie und auch der Glaubensgemeinschaft. Die Entwicklung, die ich in meinem Glauben erlebt habe, widersprach dem, was mein engstes Umfeld glaubte und das fühlte sich an wie Verrat. Dazu kam die Angst, dass ich, wenn ich so bin, wie ich bin, meine wichtigsten Bezugspersonen verliere. Aber durch die Verbindung zu mir selbst, meiner besten Freundin und meinem Mann war ich schließlich in der Lage, das Risiko, ich selbst zu sein, einzugehen.

Empfindest du Groll gegenüber deinem Ex-Mann?
In den ersten zwei Jahren nach der Trennung war das schon so. Ich war sehr verletzt und hatte das Gefühl, er tut absichtlich Dinge, um mich zu verletzen. Dann habe ich versucht, zu vergeben und loszulassen. Ich wollte alles hinter mir lassen und mich auf mein neues Leben fokussieren. Einmal sagte meine Mutter zu mir, wie sauer sie darüber sei, dass er mein Leben zerstört habe. Einerseits hat mich ihre Solidarität getröstet. Aber ich habe dann zu ihr gesagt, dass er es nicht zerstört hat. Mir geht es gut, er hat keine Macht mehr über mein Leben. Ich kann mich um meine Angelegenheiten kümmern. Ich habe mich von ihm getrennt. Ich übernehme Verantwortung für mein Leben und gestalte meine Zukunft.

Was hat dir geholfen, deine Zukunft aktiv zu gestalten?
Es gab einen entscheidenden Moment. Es war ein Tiefpunkt, an dem ich dachte, es würde alles nur immer schlimmer werden. Danach habe ich mich zusammengerissen, habe mir überlegt, wie ich denn leben will. Ich habe für alle Lebensbereiche aufgeschrieben, was ich mir vorstelle. Wer sollen meine Freunde sein? Wie sollen sich Freundschaften anfühlen? Welchen Job möchte ich machen? Welche Träume habe ich? Und so weiter. Dann habe ich bewusst meine Energie auf die Zukunft fokussiert. Kurz entschlossen habe ich Wirtschaftspsychologie studiert, eine Ausbildung zur Traumasensiblen Coachin gemacht, den Job gewechselt, mir unterschiedliche berufliche Standbeine aufgebaut. Dann bin ich schwanger geworden. Insgesamt habe ich mir ein Leben gebaut, das mir entspricht. Diese Freiheit und Ausrichtung hat mir unfassbar viel Motivation und Energie gegeben.

Wenn du ein Resümee ziehen solltest, was wäre deine wichtigste Erkenntnis aus oder nach deiner Scheidung?
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass wir einen unversehrten Kern haben, der unfassbar stark ist, der sehr viel überstehen kann. Unsere Fehler definieren nicht, wer wir sind. Und dass das Einzige, was Gott mir schenken will, Liebe ist. Das hat mein Leben verändert.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Family-Redakteur Marcus Beier.

So gelingt gesunde Ernährung als Familie

Gesunde und nachhaltige Ernährung? Das klingt für viele Familien nach einer Herausforderung. Ernährungsexpertin Elke Decher ist überzeugt: Mit ein bisschen Kreativität ist das gar nicht so schwierig.

Regionale Vielfalt entdecken

Was würden Sie im Supermarkt eher kaufen: Bio-Äpfel, die in Plastik verpackt sind, oder „normale“, lose Äpfel?
Ich würde regionale Produkte aus meiner Umgebung kaufen. Sie haben kurze Transportwege, ich kann erkennen, woher sie kommen, vielleicht kenne ich den Hof sogar. Das ist bei Bio-Produkten nicht unbedingt der Fall. Es gibt viele regionale Produkte, die nicht so stark gespritzt werden. Die kann man gründlich waschen und dann auch mit Schale mit gutem Gewissen essen.

Wie kann man auf die große Auswahl im Supermarkt verzichten und sich mehr auf regionales Obst und Gemüse einlassen?
Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass man auch mal eine exotische Frucht probiert. Dinge, die einen langen Transportweg haben, sind manchmal unumgänglich. Aber an dem Beispiel Erdbeeren wird es ziemlich klar: Natürlich gibt es Erdbeeren im Winter, aber diese sind entsprechend behandelt, nicht sehr aromatisch und haben neben langen Transportwegen auch einen deutlich geringeren Vitamin-C-Gehalt. Das kann man Kindern auch vermitteln und wirklich mal gucken: Was hat denn gerade Saison? Kinder bekommen viel Ernährungserziehung von ihren Vorbildern mit. Viele Organisationen stellen Saisonkalender zur Verfügung, die man in der Küche aufhängen kann. In vielen Medien gibt es auch saisonale Rezepte. So kann man sein eigenes Repertoire nochmal überdenken und Neues ausprobieren. Wenn das von klein auf eingeübt wird, ist auch bei den Kindern die Bereitschaft dazu größer.

Gesund durch den Alltag

Bedeutet gesund und nachhaltig immer dasselbe?
Eine ernährungsphysiologisch ausgebildete Person hat immer ein gewisses Problem mit dem Wort „gesund“. (lacht) Grundsätzlich ist der heimische Apfel ein gesundes Nahrungsmittel. Wenn Sie aber nur noch Äpfel essen, entstehen natürlich Nährstoffdefizite. Auch Fisch ist sehr gesund, je nach Zucht aber nicht nachhaltig. Es kommt also insgesamt auf eine vollwertige Ernährung an.

Wie kann man so eine bedarfsgerechte, vollwertige Ernährung im Alltag effizient umsetzen?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gibt Nährstoffhinweise für eine bedarfsgerechte Ernährung aller Altersgruppen heraus. Die hat das Bundeszentrum für Ernährung in der sogenannten Ernährungspyramide zusammengefasst. Wenn jeden Tag alle Bausteine aus der Pyramide abgedeckt sind, ist eine gesunde, bedarfsgerechte Ernährung erfüllt. Mittlerweile ist auch der Nachhaltigkeitsaspekt in die Pyramide integriert.
Wasser ist die Basis der Pyramide. Als nächstes kommen verstärkt pflanzliche Lebensmittel. Mit frischen Sachen kann man relativ viel machen, das gar nicht so viel Arbeit erfordert. Dass viele eine gesunde Ernährung als zu aufwendig empfinden, ist häufig eine Schutzbehauptung. Auch, wenn jemand wenig Budget hat, muss man kreativ werden und schauen: Was hat Saison?

Das Problem fängt immer da an, wo Menschen insgesamt nicht gern kochen und alles schnell gehen muss. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber das Kochen in den Familien oder Kitas kann man auch als gemeinsame Zeit ansehen. Einen Pizzateig selbst zu machen und mit frischen Sachen zu belegen, ist eigentlich kein großer Aufwand und im Vergleich zur Fastfood-Pizza werden dabei auch ein paar Kalorien eingespart. Gemüse, das nicht mehr so schön aussieht, kann man zu Cremesuppen verarbeiten – das essen die meisten Kinder super gern. Auch aus Kartoffeln kann man vieles machen. Ich denke, dass man sich vor dem frischen Kochen nicht scheuen darf und die Zeit mit den Kindern zusammen verbringen sollte – Kochen ist ein sehr verbindender Akt.

In vielen Familien gehört ein – häufig ungesunder – Snack zur täglichen Routine. Wie kann man sicherstellen, dass Süßigkeiten nicht zur Selbstverständlichkeit werden?
Eine Portion Pommes oder Süßigkeiten am Tag sind durchaus erlaubt. Aber wenn es ganz viele werden, ist das natürlich nicht sinnvoll. Süße Nachtische haben leider oft den Effekt, dass sie das eigentliche Hauptgericht verdrängen. Deshalb würde ich sie voneinander loskoppeln und statt Nachtisch einen Snack im Nachmittagsbereich anbieten. Das Mittagessen soll dazu dienen, dass man sich an Gemüse, an Beilagen, vielleicht auch einer kleinen Portion Fleisch satt isst.

Viele süße Snacks wie Pudding oder Müsliriegel kann man auch gut selbst machen. Das ist am Anfang sicher gewöhnungsbedürftig, aber mit der Zeit kann man die Menge an Zucker langsam reduzieren. Dann bekommt man einen anderen Süßgeschmack – und sensibilisiert sich wieder in Richtung „weniger süß“. Routinen aufzubrechen und die Zuckermenge beim Selbst-Zubereiten zu reduzieren, ist sinnvoll. Und auch da muss man ein bisschen kreativ sein. Ich glaube, die meisten bekommen das ganz gut hin.

Veganer müssen sich gut informieren

Viele Menschen ernähren sich und teilweise auch ihre Kinder vegetarisch oder vegan, um die Umwelt zu schützen. Ist das gesund?
Insgesamt hat man lange gesagt, dass heranwachsende Kinder auf keinen Fall vegan ernährt werden sollten. Bei einer vegetarischen, also pflanzenbasierten Vollwerternährung ist es deutlich einfacher, wichtige Nährstoffe wie Jod und Eisen auf natürlichem Wege aufzunehmen.

Für eine ausgewogene vegane Ernährung muss man schon sehr gut informiert sein und schauen: Was könnte mir an Vitaminen oder Mineralstoffen fehlen? Häufig muss man substituieren und zusätzliche Nährstoffe zuführen, damit keine Mangelerscheinungen auftreten. Gerade bei Heranwachsenden ist das noch problematischer, weil sich das Gehirn noch entwickelt und der Körper noch im Aufbau ist.

Trotzdem reicht die ernährungsphysiologische Perspektive da allein nicht aus, denn das hat ja auch ethische Gründe und hängt mit einer inneren Haltung zusammen. Diese zwei Paar Schuhe muss man nebeneinander stehen lassen. Grundsätzlich finde ich es positiv, dass viele sich dadurch mit ihrer Ernährung auseinandersetzen. Eine vegetarische Ernährung kann man als Familie gut machen. Aber eine vegane Ernährung würde ich für Kinder nicht empfehlen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Malin Georg. Sie ist Volontärin bei Family und FamilyNEXT.

Das steckt hinter den Gefühlen

Starke Gefühle werden häufig von unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen ausgelöst. Wie gehen wir damit um?

Die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken, fällt vielen Menschen schwer. Wenn Kleinkinder Bedürfnisse haben, äußert sich das in einem Ausdruck von Gefühlen. Es wird lautstark gerufen, geschrien oder geweint. Sobald wir Menschen sprechen lernen, fangen wir an, unsere Bedürfnisse verbal auszudrücken. Dennoch bleibt da auch immer eine gewisse Unfähigkeit, sie transparent in Worte zu fassen.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Es gibt grundlegende Bedürfnisse, deren Erfüllung wir zum Überleben brauchen. Die sogenannte Bedürfnispyramide nach Maslow geht davon aus, dass bestimmte Grundbedürfnisse erfüllt werden müssen, bevor andere Arten von Bedürfnissen angestrebt werden können. Die Bedürfnispyramide besteht aus fünf Ebenen. Zur untersten und überlebenswichtigsten Ebene gehören die körperlichen Bedürfnisse. Sie beziehen sich auf grundlegende Dinge wie Schlaf und Nahrung. Auf der zweiten Ebene steht Sicherheit. Hier geht es um einen Zustand der Stabilität in Bezug auf unsere Umgebung, aber auch um finanzielle und seelische Sicherheit. Auf der dritten Ebene stehen soziale Bedürfnisse. Dazu gehören Freundschaften und ein gutes Beziehungsnetzwerk. Die vierte Ebene ist Anerkennung. Hier geht es darum, Respekt und Wertschätzung von anderen Menschen zu bekommen. Auf der fünften Ebene geht es schließlich um Selbstverwirklichung. Auf dieser Ebene möchten Menschen ihre Potenziale ausschöpfen, Ziele erreichen und Neues erschaffen.

Die ersten vier Ebenen werden als Defizitbedürfnisse bezeichnet und die höchste Stufe als Wachstumsmotiv. Werden Defizitbedürfnisse nicht befriedigt, kann der Mensch physischen oder psychischen Schaden erleiden. Hingegen wird das Wachstumsmotiv, also Selbstverwirklichung, nie vollkommen erfüllt werden. Wir brauchen Selbstverwirklichung also nicht zum Überleben, aber wir brauchen sie für unsere Zufriedenheit.

In meinem Nachdenken über Bedürfnisse möchte ich nicht vergessen, dass sich Selbstverwirklichung nur wenige Menschen auf der Erde leisten können. Viele Menschen werden durch Krieg, Flucht, Armut und aus weiteren Gründen niemals die Chance haben, sich um dieses Bedürfnis zu kümmern. Trotz aller Probleme in unserer Gesellschaft möchte ich niemals vergessen, dass es ein Privileg ist, sich um Selbstverwirklichung kümmern zu dürfen.

Gefühle nicht kleinhalten

Ich bin aufgewachsen mit Eltern und Großeltern, die mit dem Wahrnehmen von Bedürfnissen wenig anfangen konnten. Der Umgang mit Schwächen, Bedürfnissen und Gefühlen ist kulturell geprägt und abhängig von dem pädagogischen Mainstream der Zeit. Weder meine Großeltern noch meine Eltern durften als Kinder lernen, über ihre eigenen Bedürfnisse, Gefühle oder Schwächen zu sprechen. Seitdem hat sich viel verändert. Unsere Kinder erleben eine bedürfnisorientierte und gleichwürdige Erziehung. Uns ist es wichtig, was sie fühlen und was hinter ihren Gefühlen steckt. Bestenfalls bieten wir ihnen Wörter für ihre Gefühle an. Das bedeutet nicht, dass wir ihre Bedürfnisse immer erfüllen müssen. Aber wir möchten sie wahrnehmen, anhören und mit ihnen im Gespräch darüber bleiben.

Marshall B. Rosenberg hat mit dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation den Satz geprägt, dass hinter jedem Gefühl ein Bedürfnis steckt. „Ach so ist das“, dachte ich, als ich diesen Ansatz vor zehn Jahren kennenlernte. Dann steckt hinter meiner Wut also ein Bedürfnis. Aber welches? Zu Hause wurde mir keine Sprache dafür mitgegeben. Gefühle wurden kleingehalten und nicht akzeptiert. Wie soll ich denn jetzt an mein Bedürfnis herankommen?

Bedürfnisse herausfinden und anerkennen

Der erste wichtige Schritt dafür ist, das Bedürfnis hinter dem Gefühl herauszufinden. Der zweite ist, mich mit diesem Bedürfnis mitzuteilen. Unsere Gefühle zeigen uns, in welchem Maße unsere Bedürfnisse erfüllt werden oder auch nicht. Gefühle sind wichtige Boten. Wenn wir unser Bedürfnis hinter dem Gefühl erkennen und dieses mitteilen, dann gibt man dem Gegenüber die Möglichkeit, das Gefühl zu verstehen.

Als ich vor zehn Jahren auf eine Liste von Bedürfnissen blickte, wurde mir klar: „Ja, ich habe da einige Bedürfnisse, die nicht gestillt sind und die anfangen zu schmerzen. Aber ich kann ja sowieso nichts daran ändern.“ Außerdem hatte ich gelernt, dass ich nicht bedürftig zu sein habe und dass meine Bedürfnisse nicht wichtig sind. Inzwischen weiß ich: Das ist Blödsinn. Natürlich darf ich bedürftig sein und Bedürfnisse aussprechen. Nur so schaffe ich Nahbarkeit. Erst wenn mein Gegenüber weiß, was ich brauche und was mir wichtig ist, kann ein gesundes Gleichgewicht in einer Beziehung entstehen. Bedürfnisse können auch ausgehandelt werden: Können wir gerade umziehen? Kann ich meinen Job wechseln? Können wir etwas an unserer Partnerschaft verändern? Können wir weniger arbeiten? Kann ich in der Woche Zeit nur für mich allein haben? Bedürfnisse zu teilen, kostet Mut, denn ich zeige mein Inneres und mache mich verletzlich. Es besteht die Gefahr, dass mein Gegenüber die Bedürfnisse nicht versteht. Jeder von uns hat unterschiedliche Bedürfnisse. Das kann uns in Konflikte bringen. Aber es hat auch die Kraft, uns zu verbinden. Das Risiko, das damit einhergeht, wenn wir uns ehrlich mitteilen, lohnt sich. Denn am Ende steht die Chance einer tieferen Verbundenheit.

Sich von Wünschen nicht beherrschen lassen

„Ein Bedürfnis ist Hunger, ein Wunsch ist Pizza“, meinte neulich ein Freund zu mir. Wünsche resultieren aus Bedürfnissen. Dabei haben wir oft eine klare Vorstellung davon, wie unsere Bedürfnisse gestillt werden sollen. Ich war Gott schon ab und an dankbar, dass er mir meine Wünsche nicht erfüllt hat. Gleichermaßen habe ich schon oft gelitten, weil ich einen Wunsch hatte, wie jenes Bedürfnis gestillt werden sollte, und es ist ebenfalls nicht passiert. Das sind manchmal qualvolle Zeiten, in denen ein Wunsch nicht in Erfüllung geht und ein Bedürfnis nicht gestillt wird. Es ist ein Ringen. Und doch darf ich erleben, dass Bedürfnisse oft anders erfüllt werden als gedacht. Manchmal habe ich versucht, meine Bedürfnisse mit meiner Vernunft abzuschneiden. Erfolglos. Sie machen sich an anderer Stelle wieder bemerkbar. Bedürfnisse sind wichtig und können nicht einfach abgeschnitten werden. In ihnen liegt auch ein Teil meiner Persönlichkeit. Meine Bedürfnisse geben mir Antrieb für Veränderung. Ist etwas im Hier und Jetzt nicht gut, dann melden sich meine Bedürfnisse durch ein ungutes Gefühl. Bedürfnisse schaffen neue Ideen, Räume und Begegnungsflächen.

Sehnsüchte und Wünsche, wie ein Bedürfnis erfüllt werden soll, haben auch die Schlagkraft, mich zu beherrschen. Wenn mein ganzer Fokus auf der Erfüllung meines Wunsches liegt, dann wird er zerstörerisch und sorgt dafür, dass ich das Schöne, das neben dem unerfüllten Wunsch steht, nicht mehr wahrnehme. Dankbarkeit für das, was da ist, hilft gegen den Frust der unerfüllten Wünsche. Auch helfen weitere Perspektiven, wie Bedürfnisse gestillt werden könnten. Es gibt viele Wege dafür und wenn sie mir selbst nicht in den Sinn kommen, haben Freunde und Gott oft weitere kreative Ideen. Folgende Haltung hilft mir: Ich halte meine Handflächen nach unten und lasse los: Alles, was mich beschwert, gebe ich an Gott ab. Ich halte inne. Dann drehe ich meine Handflächen nach oben: Ich empfange. Ich bete mein persönliches Gebet. Mein Taufvers lautet: „Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Darauf will ich vertrauen.

Tamara von Abendroth arbeitet in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Berlin.

Wenn das innere Kind dazwischenfunkt

Ausraster, Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle: Das innere Kind bringt die Harmonie zwischen vielen Ehepartnern durcheinander. Psychotherapeutin Melanie Schüer erklärt die Zusammenhänge.

„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich mich so aufgeregt habe. Irgendwas hat mich daran total getroffen … aber es ist nicht deine Schuld“, murmelt Lea. Wieder mal ist sie ziemlich wütend geworden in einer Situation, die so ähnlich immer wieder für Konflikte sorgt.
„Wenn ich darüber ­nachdenke, fühle ich mich bei meinen Ausrastern, als wäre ich vergessen worden.“ Und tatsächlich: Gerade hat ihr Mann den Käse vergessen, den sie gern morgen zum Frühstück genossen hätte. Ihr Sohn hat gestern nicht daran gedacht, ihren Brief zur Post zu bringen, und ihre beste Freundin hatte sich nicht, wie angekündigt, gemeldet. In all diesen Situationen hatte Lea übertrieben wütend reagiert – eigentlich unreif, kindlich. Tatsächlich wecken diese Situationen Dinge in Leas Biografie, die das innere Kind betreffen.

Innerer Erwachsener – inneres Kind

Manchmal nehmen wir Menschen in uns verschiedene Stimmen wahr. Das ist die normale Tatsache, dass jeder Mensch verschiedene innere Anteile besitzt. Diese hängen auch mit unseren unterschiedlichen Rollen zusammen, die wir im Alltag einnehmen – zum Beispiel der Rolle als Freundin, als Partner, als Mutter, Vater, Angestellter oder als Schülerin.

Zwei sehr gegensätzliche innere Anteile sind das sogenannte ‚Erwachsenen-Ich‘ und das ‚innere Kind‘. Wenn wir sicher in der Rolle als Erwachsene agieren und uns dem, was uns begegnet, gewachsen fühlen, dann ist das Erwachsenen-Ich in uns besonders präsent. Wir fühlen uns dann souverän, selbstsicher und kompetent. Diese Gefühle sind stärker als Ängste, Sorgen oder Selbstzweifel. Es ist buchstäblich der erwachsene, reife Teil in uns – man könnte auch sagen, „die Stimme der Vernunft“. Das mag positiv klingen, beinhaltet aber auch negatives Potenzial wie Perfektionismus und Verlust von Lebensfreude. Wer immer nur auf den inneren Erwachsenen hört, schwächt oft wichtige Aspekte des Lebens wie Fantasie, Unbeschwertheit, Freude oder Spontaneität.

In diesen Zuständen kommt ein anderer Anteil besonders stark zum Vorschein: unser inneres Kind. Es kann uns befähigen, das Leben zwischendurch leicht zu nehmen und zu genießen. Wir können herumalbern und völlig im Moment sein. Gleichzeitig sind mit dem inneren Kind auch bestimmte negative Erfahrungen verbunden. Wenn das innere Kind in uns stark wird, dann kann es passieren, dass wir uns unzulänglich, gedemütigt, abgelehnt, hilflos oder belächelt fühlen. Diese Gefühle hängen mit Erfahrungen aus unserer Kindheit zusammen, die natürlich individuell unterschiedlich sind. Sie werden in Momenten wach, in denen wir an Situationen aus unserer Kindheit erinnert werden – oft sprechen wir dann von „Triggern“. Es fühlt sich an, als wären wir in die Situation von früher zurückversetzt. So wie Lea, die in Trigger-Situationen ein Muster erkennt, dass sie sich fühlt wie die kleine Lea in bestimmten Momenten.

Grundüberzeugungen auf der Spur

Prägende und wiederkehrende Erfahrungen in der Kindheit führen zur Entwicklung fester Grundüberzeugungen. Das sind Glaubenssätze, die unbewusst unsere Sicht auf uns selbst, andere Menschen und Situationen formen, zum Beispiel:

  • Wenn ich nicht alles perfekt mache, werde ich nicht akzeptiert.
  • Wenn ich anders als andere bin, werde ich zurückgewiesen.
  • Egal, was ich tue, es ist nie genug.
  • Meine Meinung und Wünsche zählen nicht.
  • Ich muss alles kontrollieren, weil ich sonst nicht sicher bin.
  • Die anderen können alles besser.

Selbstverständlich gibt es auch positive Überzeugungen, zum Beispiel „Ich kann etwas leisten!“ oder „Meine Meinung zählt etwas!“. Aber in Krisen und Problemen, insbesondere in der Paarbeziehung, bekommen die negativen Grundüberzeugungen stärkeres Gewicht. Das liegt daran, dass wir uns in einer Paarbeziehung besonders öffnen und dadurch verletzlich machen und an unser Gegenüber Bedürfnisse und Erwartungen herantragen, die denen eines Kindes gegenüber den Eltern ähneln.

Lea könnte die negative Grundüberzeugung so formulieren: „Ich werde oft vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“ Lea wuchs bei ihrem alleinerziehenden Vater auf, der völlig überfordert war. Oft vergaß er, Lea etwas zu essen vorzubereiten oder sie vom Kindergarten abzuholen. Sie erinnert sich genau, dass sie oft als letztes Kind wartete, während ihr Erzieher versuchte, den Vater zu erreichen. Wenn Lea ihren Vater dann weinend begrüßte, nahm er sie nicht ernst: „Mach doch nicht so ein Theater. Ich komme doch immer!“ Irgendwann mischte sich Leas Traurigkeit mit Wut. Diese Wut über das Verhalten ihres Vaters konnte das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht ein wenig abschwächen. Und genau diese Gefühle kommen auch jetzt wieder hoch, wenn sie sich vergessen und nicht wertgeschätzt fühlt.

Das innere Kind und die Paarbeziehung

Solche negativen Grundüberzeugungen aus der Kindheit mit den dazugehörigen Gefühlen wie Scham, Angst, Traurigkeit, Wut, gepaart mit Verhaltensweisen wie Konfliktvermeidung, übertriebener Anpassung oder mangelnder Offenheit haben einen enormen Einfluss auf die Paarbeziehung.

Im Paar-Alltag entstehen immer wieder Situationen, die uns unbewusst an Erlebnisse aus der Kindheit erinnern. Die Ähnlichkeit der Situation (zum Beispiel eine frustrierte Reaktion meines Partners, weil ich etwas nicht schaffe) kann die vertrauten Denkmuster, Gefühle und entsprechende Verhaltensweisen auslösen, zum Beispiel, wenn Lea ihren Mann anschreit, weil sie sich in diesem Moment wieder wie die kleine, vergessene Lea fühlt, sie von Traurigkeit überwältigt ist und mit Wut reagiert.

Diese Dynamik kann Konflikte immer wieder befeuern, weil beide Partner nicht verstehen, was eigentlich gerade passiert. Scheinbar kindische, unreife Verhaltensweisen treten immer wieder auf, denn handlungsleitend ist in diesen Fällen tatsächlich das innere Kind!

Das innere Kind auf frischer Tat ertappen

Um diese Zusammenhänge zu erkennen, ist es wichtig zu verstehen, welche Situationen zu Konflikten führen. Welche Muster sind erkennbar? Was haben die letzten Konfliktanlässe, an die Sie sich erinnern, gemeinsam? Was sind Themen, die ähnlich sind – zum Beispiel Äußerung von Kritik, Umgang mit Verschiedenheit, Einstellungen zu bestimmten Fragen wie Haushaltsführung, Finanzen, Alltagsgestaltung. Meist kommen schnell Muster zum Vorschein und zeigen an, was Ihr inneres Kind oder das Ihres Gegenübers triggert.

Dann gilt es, ein wenig in der Zeit zurückzureisen: Inwiefern kennen Sie dieses Thema beziehungsweise ähnliche Situationen aus Ihrer Kindheit? Was haben Sie damals empfunden? Was war damals belastend und stressig? Was hat Sie verletzt, beschämt, wütend gemacht oder geängstigt?

Das innere Kind beruhigen

Wichtig ist, in so einem Reflexionsprozess das innere Kind nicht einfach beiseitezuschieben. Das wäre auf Dauer nicht hilfreich. Denn das innere Kind meldet sich an ähnlichen Stellen wieder, weil dieses Thema in der Kindheit nicht ausreichend verarbeitet werden konnte. Es gilt daher, die Verletzung des inneren Kindes ernst zu nehmen und wie ein liebevoller Erwachsener mit Verständnis zu reagieren.

Es klingt vielleicht komisch, aber hier hilft ein wenig Kopfkino. Stellen Sie sich sich selbst als Kind in einer belastenden Situation vor, an die Sie sich noch erinnern können. Und dann gehen Sie in Ihrer Fantasie als heutiges, erwachsenes Ich auf Ihr jüngeres Ich zu und blicken es freundlich an. Sagen Sie ihm das, was Sie damals schon hätten hören müssen. Sprechen Sie ihm Mut und Trost zu und erklären Sie, dass die Situa­tion heute anders ist als damals. Wenn Sie offen dafür sind, stellen Sie sich auch gerne vor, wie Sie sich dem inneren Kind zuwenden, es trösten und stärken.

Grundüberzeugungen verändern

Der nächste Schritt ist die Frage, welche Grundüberzeugung hinter dem Konflikt stehen könnte – im Beispiel von Lea: „Ich werde vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“ Welche Erfahrungen haben zu dieser Überzeugung geführt – und welche anderen, positiven Erfahrungen und Erkenntnisse stehen dagegen? Sammeln Sie Argumente, was gegen die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Und wenn sie der Realität nicht standhält, dann formulieren Sie – am besten schriftlich – eine positive, realistische Grundüberzeugung – wie beispielsweise „Ich bin Gott so wichtig, dass er sogar die Zahl der Haare auf meinem Kopf kennt. Ich bin mir selbst wichtig. Und es gibt Menschen, denen ich wichtig bin, wie …“

Vergegenwärtigen Sie sich die positiven Sätze immer wieder, um neue Denkpfade zu prägen, die Ihre Wahrnehmung prägen und zur Realität werden. Womöglich fühlt sich das anfangs künstlich an – das ist normal, denn Ihr Gehirn hat ja jahrelang das Gegenteil gedacht! Geben Sie dem Training also etwas Zeit.

Nicht alles geht in Eigenregie

Vieles können wir selbst durch Reflexion erreichen. Manche Prozesse brauchen aber Begleitung und Hilfe. Einige Grundüberzeugungen sitzen so tief, haben eine so destruktive Wirkung, manche Erfahrungen unseres inneren Kindes waren so massiv, dass eine Aufarbeitung allein nicht gelingt. Ein freundliches, professio­nelles Gegenüber macht einen großen Unterschied und kann einen sehr heilsamen Prozess in Gang bringen.

Melanie Schüer ist Mutter von zwei Kindern und berufstätig als Kinder- und Jugendlichenpsycho­therapeutin und Autorin im Osnabrücker Land. In Freundschaften und ihrer Paarbeziehung stößt auch sie immer wieder auf ihr inneres Kind.

Einsamkeit im ersten Babyjahr – was tun?

Den ganzen Tag mit dem Baby zusammen und dennoch einsam? Das klingt paradox – doch Einsamkeit ist für manche Eltern im ersten Babyjahr Realität.

Das Einsamkeitsbarometer des Deutschen Familienministeriums von 2024 listet die Erziehung und Betreuung minderjähriger Kinder als „erhöhte Einsamkeitsbelastung“ auf. Als Eltern habe man weniger Zeit, soziale Kontakte zu pflegen. Vor allem im Coronajahr 2020 fühlte sich rund ein Drittel aller Eltern einsam, 2021 waren es noch über 12 Prozent, bei Alleinerziehenden litten sogar 16 Prozent an Einsamkeit. Im Internet findet man viele Berichte von Müttern, die sich mit Baby zu Hause einsam fühlen. Vor allem dann, wenn der Partner viel arbeitet oder Freunde und Familie weiter weg wohnen.

Auch ich habe mich in der Elternzeit sehr oft nicht nur allein, sondern einsam gefühlt. Mir fehlte der Austausch mit Erwachsenen. Zu Hause allein mit Baby war mir oft langweilig. In Spiel- und Krabbelgruppen fühlte ich mich aufgrund der oft so unterschiedlichen Erziehungsstile selten wirklich wohl. Sozialkontakte aus der Zeit vor den Kindern brachen teilweise weg, weil die Lebensentwürfe, Themen und Zeitpläne zu verschieden waren. Da ich nebenbei freiberuflich weiterarbeitete, ging mein Themenfeld in Gesprächen über Babythemen hinaus, womit viele meiner Mama-Bekanntschaften nichts anfangen konnten. Ich wollte Zeit mit meinem Kind verbringen und brauchte gleichzeitig auch Zeit für mich allein und meine Arbeit. Diese Zerrissenheit führte zu ständigen Schuldgefühlen, weil ich weder ganz in der einen noch in der anderen Welt war. Ich war verunsichert und fragte mich, was mit mir nicht stimmte, dass ich die Elternzeit nicht so genießen konnte, wie scheinbar alle anderen Mütter um mich herum. Später stellte ich fest, dass es vielen Müttern ähnlich ging – nur sprach kaum jemand offen darüber.

Nicht allein, aber einsam

Das Gefühl von Einsamkeit im ersten Babyjahr scheint ein Tabuthema zu sein. Keine Mutter – oder kein Vater – gibt gern zu, dass die Gesellschaft des Babys nicht immer reicht. Und dennoch kennen die meisten dieses Gefühl wahrscheinlich. So wie Sara. Als die rund einjährige Elternzeit mit ihrem Sohn begann, ging ihre zweieinhalbjährige Tochter in den Kindergarten. Sara und ihr Mann waren gerade in ein Haus auf einen ehemaligen Bauernhof zur Familie gezogen. Vor der Elternzeit hatte Sara viele soziale Kontakte und ging gern zur Arbeit. Doch ihr Sohn schlief sehr schlecht, wachte nachts stündlich auf, weinte tagsüber viel. Der monatelange Schlafmangel erschöpfte Sara. „Ich war so müde, ich konnte weder Freunde treffen noch Babykurse besuchen. Nicht mal einkaufen war möglich“, sagt sie über ihren Zustand damals.

Trotz der Unterstützung von Mann und Mama fühlte sich Sara überfordert und einsam. „Es war schwierig, die Verantwortung und Belastungen die meiste Zeit des Tages nicht teilen oder sich darüber austauschen zu können“, erzählt sie. Während andere Eltern vom schönen ersten Babyjahr schwärmten, konnte Sara dieses Empfinden nicht teilen. Manche Freundinnen und Freunde reagierten mit Unverständnis, andere zeigten keinerlei Reaktion, wenn sie von ihren Problemen erzählte. Einige brachen den Kontakt sogar ab. Nur ein paar wenige zeigten sich empathisch, verständnisvoll und interessiert.

Vor allem kinderlose Menschen können das Gefühl von Einsamkeit in den ersten Babymonaten nur schwer nachvollziehen – wie kann das denn sein, wo man doch den ganzen Tag mit einem kleinen Menschen zusammen ist?! Doch Einsamkeit ist nicht mit Alleinsein zu verwechseln. Einsamkeit ist subjektiv. Das Einsamkeitsbarometer beschreibt Einsamkeit als „wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Erwartungen an soziale Beziehungen und den tatsächlich vorhandenen Beziehungen“, sowohl bezogen auf die Anzahl als auch Qualität der Sozialkontakte. Es gibt Menschen, die von außen betrachtet in ein großes soziales Netzwerk eingebunden sind und sich dennoch einsam fühlen. Und es gibt Menschen, die oft allein sind, ohne darunter zu leiden. Auch Sara kennt das Gefühl, einsam, aber nie allein zu sein: „Ich habe mich nach Gesellschaft gesehnt und gleichzeitig nach Zeit, mal wirklich allein für mich zu sein. Ich war zerrissen zwischen mehreren Herzenswünschen“, erinnert sie sich.

Sehnsucht nach Austausch

Natürlich empfindet es nicht jedes Elternteil so. Manche schaffen es, ihre früheren Sozialkontakte aufrechtzuerhalten oder in Spielgruppen neue zu finden. Bei manchen leben Eltern und Geschwister im gleichen Ort. So wie bei Tabea und Linda. Tabea ist seit rund zehn Monaten in Elternzeit mit ihrem ersten Kind. „Ich bin sehr gern zu Hause, es macht mir viel Freude und ich habe viel Spaß mit meiner Tochter“, sagt sie. Vor allem die ersten vier Monate nach der Geburt war sie froh, die Zeit mit ihrer „pflegeleichten Tochter“ ohne Verpflichtungen oder Termine genießen zu können. Wenn sie sich nach Austausch sehnt, besucht sie ihre Geschwister oder Eltern, die nur wenige Gehminuten entfernt wohnen. Eine Freundin mit einem gleichaltrigen Kind wohnt im Nachbarort.

Tabeas Schwägerin war ihre Hebamme und ist jetzt selbst schwanger. Die vielen Kontakte sind „ein großer Segen“ für Tabea. Auch in ihrer Gemeinde ist sie tief verwurzelt, ihr Mann und sie arbeiten bei den Konfirmanden mit. Demnächst wollen sie dort in einen Spielkreis gehen. Aber eine Sache fehlt Tabea: eine Austauschgruppe für Mütter. „Vor allem zu Beginn hätte ich mir eine Online-Austauschgruppe gewünscht“, sagt sie. So hätte jede Mama entspannt mit Baby zu Hause bleiben und sich gleichzeitig über eigene Herausforderungen austauschen können. Leider gab es eine solche Gruppe nicht. „Beim nächsten Kind werde ich es selbst in die Hand nehmen und eine Gruppe gründen“, plant Tabea.

Als Lindas erster Sohn geboren wurde, war ihr Mann als Austauschpartner noch oft zu Hause. Das gab ihr zudem die Zeit, Elterngruppen für neue Kontakte zu finden. Einige Mütter kannte sie bereits aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Später kamen Bekanntschaften aus dem Mutter-Kind-Kreis ihrer Gemeinde hinzu. „Ich war also Gott sei Dank von Anfang an recht gut sozial eingebunden“, erinnert sie sich. Deshalb fühlte sie sich nicht einsam, jedoch oft „alleingelassen mit meinen Fragen und Sorgen“. Die vielen unterschiedlichen Ansichten der anderen Mütter verunsicherten sie. Sie wünschte sich ehrlichen Austausch und gegenseitige Unterstützung. „Ich habe lange nach jemandem gesucht, bei dem ich mich mit meinen Unsicherheiten gut aufgehoben fühle und der mir hilfreich zur Seite steht, ohne mich zu belehren und zu sagen, was richtig und was falsch ist“, sagt Linda. Selbst sozial gut eingebundenen Eltern fehlt es also manchmal in der Elternzeit an ehrlichem Austausch auf Augenhöhe.

Wege aus der Einsamkeit

Was hilft nun also, aus der Einsamkeit herauszukommen? Nicht jeder kann auf die Unterstützung von Freunden oder Familie in der Nähe bauen. Wer vor der Geburt des Babys noch kein gutes soziales Netzwerk hatte, kann Krabbelgruppen, Spielplatztreffen und Co dazu nutzen, um neue Bekanntschaften zu finden. Aktivitäten gemeinsam mit dem Kind wirken der Einsamkeit entgegen, weil man vielleicht neue Bekannte mit gleichen Interessen findet. Nebenbei stärken sie die Bindung zum Kind. Das können Sportkurse sein sowie Kreativ- und Musikangebote, bei denen Babys und Kleinkinder willkommen sind. Du hast keine Gruppe, die dir gefällt, in deiner Nähe? Dann gründe wie Tabea selbst eine – vielleicht in deiner Gemeinde – und mach Werbung dafür, um Gleichgesinnte zu finden. Für alle, die sich dazu nicht überwinden können oder sich wie ich in solchen Gruppen nicht wirklich wohlfühlen, sind vielleicht Online-Foren zum Austauschen eine gute Idee.

Falls du neben dem Elternsein noch einen weiteren Lebenssinn suchst: Auch Ehrenämter sind mit Baby und Kleinkind möglich. Zum Beispiel Besuche bei Senioren in der Gemeinde oder einem Altenheim, die etwa der Besuchsdienst des Roten Kreuzes vermittelt. Die meisten Senioren freuen sich über kleine Kinder! An besonders schlechten Tagen habe ich es nicht geschafft, meine Einsamkeit zu überwinden und persönlich nach Kontakten zu suchen. Dann half es mir, meinen Partner einzubinden. Teilweise hat er dann bei befreundeten Familien angefragt und als ersten Schritt ein Treffen zwischen uns Frauen oder Mamas organisiert. Auch der Glaube kann eine große Stütze sein. Sara sagt, Gott habe in dieser schwierigen Zeit mit ihr „das Leben aufgearbeitet, wie es sonst nie möglich gewesen wäre“. Es half ihr zu wissen, „dass da jemand ist, der mich hält und sieht, auch in den dunkelsten Stunden und allein im dunklen Schlafzimmer“.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

11 bis 15 – Teens und Alkohol

Elternfrage: „Meine Tochter wird bald 16 Jahre alt. Ich merke, dass Alkohol immer interessanter für sie wird. Ich würde sie gern vor unüberlegten Erfahrungen schützen. Habt ihr Anregungen, wie man gut mit Alkohol bei Teenagern umgehen kann?“

Nicht gleich verteufeln

Ich habe meine beiden Jungs (15 und 18) gefragt, welche Gesprächsmomente zum Thema Alkohol am besten bei ihnen angekommen sind. Ihre Tipps:

1. Nicht gleich verteufeln: Alkohol ist eine Sache des Maßes und kommt sogar in positiver Weise in der Bibel vor. Wir Eltern glauben häufig, dass es mehr bewirkt, wenn wir etwas extrem darstellen. Aber das stimmt nicht. Es entsteht eher ein größeres Interesse für die Sache, wenn wir übertreiben.

2. Verständnis zeigen: Es hat seine Gründe, warum sich Teenager für Alkohol interessieren. Vielleicht geht es um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, das Ansehen oder es steckt Neugier dahinter. Diese Gründe sind nachvollziehbar, nicht per se schlecht und eine Aufforderung an uns Eltern, den Rücken unserer Kinder zu stärken.

3. Eigene Erfahrungen ehrlich teilen: Damit meine ich gute wie auch schlechte Erlebnisse. Es verbindet, wenn Kinder erfahren, dass die Entscheidungen ihrer Eltern auch nicht alle gut waren. Außerdem kann es für sie hilfreich sein zu hören, dass wir als Jugendliche vielleicht auch nicht alles mitgemacht haben, obwohl es uns etwas gekostet hat.

4. Fakten sachlich darstellen: Es stimmt, dass Alkohol gefährlich sein kann. Da sprechen Geschichten, Zahlen über Unfälle, Süchte und ihre Folgen für sich – diese muss man gar nicht besonders ausführlich ausschmücken, um die Nachteile klarzustellen.

5. Ratschläge als Frage formulieren: „Überleg dir vor dem Alkoholkonsum: Was würdest du hinterher bereuen oder wofür würdest du dich schämen? Das mach dann nicht!“ Diesen Rat hat mein 15-jähriger Sohn formuliert, und ich finde ihn sehr weise.

Judith Böttcher ist Ärztin und Mama von zwei Jungs. Sie backt gerne Rotweinmuffins und bloggt unter juiis.wordpress.com.

Einen Klopfer probieren?

Kürzlich war unsere 15-jährige Tochter auf einer Party und rief mich von dort an, um zu fragen, ob sie „so einen Klopfer“ trinken dürfe. Ich sagte, sie dürfe das gern probieren. Sie müsse aber wissen, dass man bei süßen alkoholischen Getränken oft nicht sofort merkt, dass man Alkohol zu sich nimmt und sie es bei dem einen Fläschchen belassen solle. Zehn Minuten später rief die Tochter wieder an und teilte mit, dass ihr das nicht geschmeckt habe und sie das nie mehr trinken wolle. Das führte zu großer Freude bei uns Eltern, denn dieser Anruf zeigte, dass unsere Tochter uns vertraut und in ihre Lebensfragen mit einbezieht.

Ob das immer so bleiben wird, kann ich nicht sagen. Aber in diesem Punkt hat unser offenes Reden über Alltagsfragen, Sorgen und Nöte, ohne pauschale Verbote sowie Gebote zu verhängen, funktioniert. Wir können ehrlich miteinander reden. Ich trinke keinen Alkohol, weil er mir nicht schmeckt und ich die Wirkung nicht mag. Mein Mann dagegen liebt guten Wein und Bier. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder einen guten Umgang mit Alkohol lernen und sie das Standing haben, ihre persönlichen Werte und Normen auch dann zu leben, wenn es ihr Umfeld vielleicht anders leben wird.

Kathrin Lederer ist Sozialpädagogin und lebt mit ihren sieben angenommenen Kindern und Ehemann Frank in Delmenhorst.

6 bis 10 – Verbunden bleiben

Elternfrage: „Mein Sohn ist neun Jahre alt, und ich vermisse das Alter, in dem er noch mehr meine Nähe gesucht hat. Wie schafft man es, eine tiefe Verbundenheit zu Kindern zu halten, die einen immer weniger brauchen?“

Bindung ist von Anfang an eins der größten Grundbedürfnisse von Kindern. Das Bedürfnis verschwindet nicht, wenn sie älter werden. Es ändert sich jedoch mit der Zeit die Art, wie Eltern die Verbindung zu ihren Kindern leben und vertiefen. Ich habe drei Ideen für den Alltag gesammelt, die dabei helfen können, eine tiefe Verbundenheit zu unseren Kindern zu fördern.

1. Den Moment nutzen

Kinder, die selbstständig werden, verändern ihren Alltag: Sie gestalten die Nachmittage eigenständiger als zuvor, sind länger in der Schule und oft nicht mehr zu den gewohnten, festen Zeiten zu Hause. Umso wichtiger ist es als Eltern, die wenigen Verbindungsmomente wahrzunehmen, die uns das Leben schenkt. Die Herausforderung dabei ist, dass es sich für uns Eltern häufig nicht nach einem günstigen Moment anfühlt, weil wir gerade das Geschirr spülen, eine E-Mail schreiben oder die Zähne putzen wollten. Wir dürfen lernen, die Momente zu erkennen und zu nutzen, in denen unsere Kinder offen für Verbindung sind. Auch wenn dabei etwas anderes erstmal liegen bleibt.

2. Interesse zeigen

Wenn unsere Kinder größer werden, ändern sich oft auch ihre Interessen. Es kommt vielleicht auch ein neues Hobby hinzu, das nicht zu unseren eigenen Vorlieben gehört. Für eine gute Verbundenheit ist es wichtig, dass wir genau dafür Interesse entwickeln. Wir können lernen, nicht nur nach der Schule zu fragen, sondern nach dem, was gerade wirklich wichtig für das Kind ist – auch, wenn wir das womöglich nicht verstehen. Frag nach, wie der YouTuber heißt, den dein Kind toll findet und erkundige dich, was es an ihm so mag. Lass dir seine liebsten Videos zeigen oder die Lieblingsmusik vorspielen. Setz dich daneben, wenn es zockt und lass dir erklären, wie das funktioniert.

3. Körpernähe anbieten

Nichts fördert die Bindung so sehr wie positiver Körperkontakt. Bei Berührungen wie einer Umarmung schüttet der Körper Oxytocin aus. Dieses Hormon wird auch als Bindungshormon bezeichnet. Es intensiviert die Verbundenheit, verstärkt das Vertrauen zueinander, baut Stress ab und löst Ängste. Sind unsere Kinder klein, entstehen Kuschelzeiten meist von allein. Das ändert sich jedoch oft, wenn sie älter werden. Trotzdem ist diese Art der Nähe wichtig. Wir dürfen auch unseren großen Kindern Körperkontakt anbieten, zum Beispiel durch eine Umarmung, eine Massage oder ein nahes Beieinandersitzen auf dem Sofa.

Zum Schluss noch ein kleiner Gedanke: Genauso wichtig, wie die Verbundenheit zu deinen Kindern ist die Verbundenheit zu dir selbst, deinem Partner und Gott. Vielleicht darfst du erleben, dass dafür jetzt, wenn dein Kind größer wird, wieder mehr Zeit und Raum entsteht. Ich wünsche dir, dass du das ganz bewusst für dich nehmen und genießen kannst.

Judith Oesterle ist Mama von drei Kindern, Pädagogin, Künstlerin und Coach.

3 bis 5 – Kinder in Trauer begleiten

Elternfrage: „Der Kindergartenfreund meines Sohnes (5) hat seinen Papa bei einem Unfall verloren. Das tut uns allen sehr weh, und wir fragen uns, ob und wie wir den Jungen in seiner Trauer unterstützen können.“

Die Nachricht vom Verlust eines Elternteils ist für ein Kind, insbesondere in einem so jungen Alter, eine tiefgreifende und schmerzhafte Erfahrung, die große Unsicherheit auslösen kann. Gern möchte ich Ihnen einige Wege aufzeigen, wie Sie den Kindergartenfreund Ihres Sohnes und auch Ihren eigenen Sohn in dieser schwierigen Zeit der Trauer begleiten können.

Über den Tod reden

Es ist wichtig, dem betroffenen Kind Mitgefühl und Verständnis entgegenzubringen. Bieten Sie dem Jungen Raum für seine Gefühle an – egal ob er weint, wütend ist oder einfach nur still sein möchte. Vermeiden Sie es, ihm zu sagen, dass er stark sein soll oder über seine Gefühle reden muss. Lassen Sie ihn einfach wissen, dass Sie da sind und ihm zuhören, wenn er bereit dazu ist, sich zu öffnen. Verstecken Sie auch Ihre eigene Betroffenheit nicht, sondern zeigen Sie dem Jungen, dass Sie traurig sind. Kinder spüren unsere Emotionen und fühlen sich verstanden, wenn wir sie teilen.

Kinder in diesem Alter haben oft noch kein vollständiges Verständnis vom Konzept des Todes. Überlegen Sie sich eine altersgerechte und ehrliche Erklärung – auch Ihrem eigenen Sohn gegenüber. Beschönigende Aussagen wie „Er ist eingeschlafen“, sind dabei weniger hilfreich, da sie möglicherweise Ängste auslösen. Stattdessen könnten Sie zum Beispiel zu Ihrem Sohn sagen: „Der Papa deines Freundes ist bei einem Unfall gestorben. Das bedeutet, dass er nicht mehr zurückkommen kann. Wir sind alle sehr traurig darüber.“ Vergessen Sie nicht, dass Trauer ein Prozess ist, der Zeit braucht. Seien Sie geduldig und verständnisvoll, auch wenn der Freund Ihres Sohnes oder Ihr eigener Sohn sich zurückzieht. Geben Sie allen Betroffenen die Zeit, die sie brauchen, um den Verlust zu verarbeiten.

Sicherheit schenken

In Krisenzeiten benötigen Kinder stabile und verlässliche Beziehungen. Sie helfen dem Kindergartenfreund Ihres Sohnes, indem Sie ihn willkommen heißen. Wenn er zu Ihnen zu Besuch kommt, können kleine Routinen dabei helfen, ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Hilfreich ist es auch, wenn Sie positive Erinnerungen an den verstorbenen Vater bewahren. Je nachdem wie nahe Ihnen das Kind steht, können Sie beispielsweise alte Geschichten erzählen, Fotos anschauen oder ein Erinnerungsstück gemeinsam basteln. Solche Aktivitäten spenden Trost und halten das Gefühl der Verbindung aufrecht. Eine weitere Idee, um den Jungen in seiner Trauer zu unterstützen, besteht darin, seiner Mutter Hilfe anzubieten. Fragen Sie nach, ob Sie etwas für sie tun können, zum Beispiel einkaufen gehen. Auf diesem Weg tragen Sie dazu bei, dass der Junge wertvolle Zeit mit seiner Mutter verbringen kann.

Insgesamt ist es wichtig, dass ein Kind spürt, dass es mit der Trauer nicht allein ist und dass es Menschen gibt, die sich um es kümmern und seine Gefühle ernst nehmen. Ich hoffe, diese Tipps helfen Ihnen dabei, dem Freund Ihres Sohnes in dieser schwierigen Zeit zur Seite zu stehen. Denken Sie daran: Ihre Präsenz, Ihr Einfühlungsvermögen und Ihre Geduld sind die beste Unterstützung, die Sie ihm und auch Ihrem Sohn geben können.

Natalie Papanikolaou ist systemische Familienberaterin und ehrenamtliche Sterbe- und Trauerbegleiterin.

0 bis 2 – Einschlafen mit Papa

Elternfrage: „Ich möchte meiner Tochter (11 Monate) das Einschlafstillen abgewöhnen, damit mein Mann sie abends ins Bett bringen kann. Ich kann mir nur gar nicht vorstellen, wie das funktionieren soll. Habt ihr Ideen oder Tipps?“

Es ist ein ganz natürliches Verhalten, wenn Kinder in den Schlaf gestillt werden. Stillen ist eine Art angeborenes Narkoseprogramm. Das Anlegen an die Brust bedeutet Geborgenheit, Liebe, Nahrung, Wärme und Körperkontakt. Natürlich ist es aber verständlich, dass sich Mamas mehr Pausen wünschen oder das Einschlafstillen zu viel wird.

Ich finde es wichtig zu betonen, dass nicht immer das Stillen der Grund dafür ist, dass die Mütter die Einschlafbegleitung übernehmen. Auch ein nicht (mehr) gestilltes Baby kann nach seiner Mama für die Schlafroutine verlangen und auch ein gestilltes Kind kann vom Papa ins Bett gebracht werden. Ich habe deshalb drei Tipps aufgelistet, die dabei helfen, dass der Vater die Einschlafbegleitung übernimmt – unabhängig davon, ob ein Abstillen geplant ist oder nicht.

1. Tagsüber ausprobieren

Am Tag ist alles viel leichter als in der Nacht. Startet mit der Umgewöhnung am besten erst mal mit dem Mittagsschlaf und lasst den Papa probieren, euer Kind zum Schlafen zu bringen. Wenn es tagsüber funktioniert, könnt ihr es auch abends versuchen.

2. Es muss nicht das Bett sein

Oft steckt das Bild in unseren Köpfen, dass Babys und Kleinkinder ein Bett zum Schlafen brauchen. Das stimmt nicht! Was sie wirklich brauchen, ist Geborgenheit. Die Art, wie ein Vater sein Kind in den Schlaf begleitet, kann völlig anders aussehen als bei der Mutter. Ist es bei den Mamas das Stillen und Kuscheln, so kann es bei Papas Tragen und Singen sein. Ihr seid dabei auch nicht an die Wohnung gebunden. Ihr könnt das Einschlafen auch im Kinderwagen oder im Auto ausprobieren. Wichtig ist, dass sich beide wohlfühlen, das Kind nicht allein gelassen und liebevoll begleitet wird. Beim Thema Einschlafen gibt es nicht den einen richtigen Weg und es ist eine tolle Aufgabe für die Väter, ihren eigenen Weg zu finden.

3. Üben, üben, üben!

Eine Mama braucht am Anfang Zeit, um sich mit dem Stillen einzuspielen. Genauso braucht auch der Papa mit dem Kind seine Zeit, um einen guten Einschlafweg zu finden. Je öfter ihr es ausprobiert, desto besser wird es funktionieren. Häufig hilft es, wenn die Mütter das Haus dabei verlassen. Unsere Kinder haben ein sehr gutes Gespür und merken, wenn wir uns irgendwo in den eigenen vier Wänden verstecken. Es ist deshalb einfacher, wenn sich die Mama in der Nähe aufhält und bei Bedarf wieder zu Mann und Kind zurückkehrt.

Ich hoffe sehr, dass euch diese Tipps weiterhelfen. Und ich wünsche deinem Mann viel Erfolg und eurem Kind eine gute Nacht.

Laura Lösch ist EISL Stillberaterin und Artgerecht Coach. Sie hält Workshops zu verschiedenen Kleinkindthemen wie Beikost, Baby-Schlaf und nächtliches Abstillen.

Fürsorge und Verlangen

Wir kümmern uns um die Sorgen und Bedürfnisse unserer Liebsten. In der Partnerschaft kann das jedoch das sexuelle Verlangen stören. Wie der Gegensatz aus Begehren und Unterstützung eine Bereicherung wird, verrät Tabea Müller.

Endlich schlafen die Kinder. Luise räumt auf, legt frische Kleidung raus und macht das Nachtlicht an. Dann geht sie in die Küche, um die Brotboxen für den nächsten Tag zu füllen. Tim schlurft aus dem Büro und schenkt sich und Luise einen Schluck Wein ein. Zu müde für eine geistreiche Konversation setzen sie sich, um zumindest den Tag in stiller, aber zufriedener Zweisamkeit zu beenden. Seit die Kinder ihre Ehe bereichern, hat sich vieles geändert. Das sexuelle Verlangen leidet darunter.

Mehr Zeit fließt in Alltagsorganisation und Versorgung. Zeiten der Muße und der Langeweile sind rar geworden. Das entbehrliche Schöne in ihrem Leben stellen sie hinten an, bis die vermeintlich dringlichen Dinge erledigt sind – so auch den Sex. Als letzter Punkt auf der To-do-Liste am Abend muss er mit dem ersehnten Schlaf konkurrieren und zieht dabei oft den Kürzeren. Die wenigen Male, die er gewinnt, ähnelt er mehr einem Sandwich im Drive-in als einem festlich gedeckten Mahl: uninspirierend, fantasielos, unkreativ.

Auf andere ausgerichtet

Luise und Tim sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Je länger eine Beziehung dauert, desto mehr erlebt ein Paar miteinander. Neben all den schönen und aufregenden Dingen kommen auch Stressphasen, Zusammenbrüche und Krankheiten hinzu, in denen der Partner mehr Fürsorge braucht als in den ersten gemeinsamen Urlauben. Den Kaffee ans Bett zu bringen ist dann nicht mehr nur romantisch, sondern notwendig, da die Partnerin das Bett nicht verlassen kann.

Diese Phasen gemeinsam zu meistern, ist einer der vielen Vorteile einer lebendigen Beziehung. Durch die gegenseitige Fürsorge fühlen sich die Partner zugehörig, sicher und geliebt. Sie lässt beide spüren, dass sie jemandem so viel bedeuten, dass dieser nachts für sie aufsteht und seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt.Betreten Kinder die Bühne, wird es komplizierter: Plötzlich reicht es nicht mehr, sich nur umeinander und um sich selbst zu kümmern. Tag, Nacht und Hormone werden über den Haufen geworfen, um den Bedürfnissen der neuen hilflosen Wesen nachzukommen. Sogar das mütterliche Gehirnvolumen schrumpft während Schwangerschaft und Kleinkindphase, um sich laut wissenschaftlicher Vermutung auf die Erkennung der nonverbalen Zeichen des Kindes zu spezialisieren. In dieser Zeit mutieren Eltern zu wahren Fürsorgeprofis, immer auf das Wohl eines anderen bedacht.

Selbstfürsorge, und damit die Quelle für sexuelles Verlangen, bleibt häufig auf der Strecke. Denn während Fürsorge stets gedanklich und emotional auf einen anderen ausgerichtet ist, bleibt Verlangen bei sich selbst.

Lustkiller Fürsorge

So edel Fürsorge auch sein mag, wenn du deine Identität darin findest, verwandelt sie sich in selbstgefällige Bemutterung. Statt dem anderen gutzutun, schränkt sie dessen Individualität ein und wird kontrollierend. Sie betrachtet ihn oder sie nicht mehr als Gegenüber, sondern als Hilfsbedürftigen – und wirkt dadurch wie ein echter Lustkiller. Wenn du deinen Partner bemutterst, dann habt ihr sicherlich weniger Sex. Es fällt schwer, jemanden zu begehren, den du als hilfsbedürftig wahrnimmst.

Genauso schwer ist es aber auch, den attraktivsten und selbstständigsten Partner auf dem Planeten zu begehren, wenn du selbst erschöpft und ausgelaugt bist. Von der Mutterrolle in die erotische Ehefrau zu wechseln, sobald die Kinder schlafen, ist nicht einfach. Ebenso schwer kann es sein, als Vater den Stress beiseitezuschieben, um ganz im Hier und Jetzt der müden Frau zuzuhören und dabei sexuelles Begehren aufflammen zu lassen. Hier hilft immer wieder eine Standortbestimmung, wie du dich nicht nur gegenüber deiner Partnerin oder deinem Partner verhältst, sondern auch gegenüber dir selbst.

Um deinen Partner oder deine Partnerin wieder zu begehren, musst du zuerst dich selbst lieben und dafür sorgen, dass deine Bedürfnisse gestillt und dein Liebestank gefüllt ist. Eine Gedichtzeile von Bernhard von Clairvaux drückt das ganz passend aus: „Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott.“ So machst du das Geliebtwerden nicht mehr vom anderen abhängig. Du begehrst aus der Fülle heraus und nicht aus Mangel. Doch auch das Verlangen kann Schatten werfen. Wenn du dich so auf deine eigenen Wünsche fokussierst, dass du den Zustand des anderen nicht mehr richtig wahrnimmst, verwandelt sich dein Begehren in Begierde.

Darin steckt ein schönes Wortspiel: Ehre wird zur Gier. Gier ehrt den Partner nicht, selbstsüchtig und rücksichtslos trampelt sie über dessen moralische und emotionale Grenzen. Das kann dazu führen, dass deine Partnerin oder dein Partner Druck empfindet. Sex passiert dann mehr aus Pflichtgefühl als aus freien Stücken.

Erotik statt Aufopferung

Lassen wir Fürsorge und Verlangen also wieder miteinander tanzen, so führt die Fürsorge das Verlangen so, dass dieses die Grenzen seines Gegenübers wahrt und ihn begehrt. Gleichzeitig sorgen die Tanzfiguren des Verlangens dafür, dass die Fürsorge beeindruckt bleibt und ihr Gegenüber nicht diskreditiert, sondern bewundernd zu ihm aufschaut. Fürsorge und Verlangen sind Gegensätze, die einander brauchen, um eine Beziehung dynamisch zu halten. Sie spannen einen Raum auf, in dem Spannung und Abenteuer, aber auch Sicherheit und Heimat Platz finden.Monate vergehen, bis der Leidensdruck von Tim und Luise groß genug ist, um etwas dagegen zu unternehmen. So sehr Tim auch die Hingabe und Aufopferung von Luise bewundert, so stark vermisst er ihre verspielte, erotische Seite.

Auch Luise vermisst diese Seite an sich, hat aber keine Idee, wie sie sie auf die Schnelle hervorzaubern kann.Um ihre Sexualität wieder wie ein Kunstwerk zu behandeln, krempeln sie ihr Leben um. Sie schaufeln sich einen Vormittag in der Woche frei, an dem die Kinder versorgt sind. Ohne Müdigkeit und Zeitdruck verabreden sie sich regelmäßig zu einer erotischen Begegnung, bei der sie ihre Lust kultivieren können.

Diese Entscheidung kostet sie nicht wenig. Da Tim dafür seine Arbeitszeit auf 80 % reduziert, bleibt weniger Geld übrig, das an anderen Stellen gespart werden muss. Doch die frische Lebendigkeit ihrer Beziehung ist ihnen jeden Euro wert.Dieser Lösungsansatz ist ziemlich radikal und sicherlich nicht für jedes Paar geeignet. Die Frage dahinter kann aber jeder beantworten: Wie viel ist mir eine Veränderung unserer aktuellen Situation wert? Kostet mich die Lösung mehr, als einfach das Problem zu behalten? Dann ist vielleicht die Lösung das Problem und ihr habt gar keins mehr. Oder ihr versucht es erst einmal mit kleineren Veränderungen.

Vier Stellschrauben, um das sexuelle Verlangen nach dem Partner zu erhalten:

1. Kümmere dich zuerst um dich selbst
Wie bei der Sicherheitseinweisung im Flugzeug: Erst die eigene Maske, dann anderen helfen. Es lohnt sich ein regelmäßiger Self-Check: Auf einer Skala von 1 (zu wenig) bis 10 (tiptop): Wie viel Schlaf erlaube ich mir? Plane ich regelmäßig Zeit für Sport ein? Wie viel Wert lege ich auf gute Ernährung? Nehme ich meine Bedürfnisse gut genug wahr? Wie begehrenswert fühle ich mich? Wo du keine 10 Punkte vergeben kannst, lohnt sich eine Anpassung.Ein häufiges Selbstsabotage-Symptom ist die sogenannte Bedtime-Prokrastination, also das sinnfreie Hinauszögern der Schlafenszeit trotz Müdigkeit. Hier gibt es viel Energie zu holen. Also: Handy aus, Schlafi an!

2. Entrümpele deinen Alltag
Je weniger du besitzt, umso weniger Dinge wollen, dass du dich um sie kümmerst. Einmal komplett zu entrümpeln ist zwar viel Arbeit, danach bleibt aber definitiv mehr Zeit für Muße und Selbstfürsorge. Auch ein kritischer Blick in den Kalender lohnt sich: Sind all deine Termine sinnvoll, notwendig oder beflügelnd? Wende auch hier wieder die 10-Punkte-Skala an. Was nicht mindestens eine 9 bekommt, kann weg.

3. Plane bewusste Intimität ein
Es geht nicht nur um die Häufigkeit von Sex und ob beide Partner zum Orgasmus kommen. Vielmehr geht es um die Qualität der gemeinsamen Zeit, wohin die Erfahrung euch trägt und welche Träume und Fantasien sie anregt. Es kann sehr intim sein, sich gegenseitig zu berühren, ohne Sex haben zu dürfen. Auch spielerisch mal den Liebesdiener zu spielen und beim nächsten Mal den Bestimmer, kann aufschlussreich darüber sein, ob dir das Geben oder das Nehmen leichterfällt. Bist du mental gern ganz bei dir oder lieber beim anderen? Wie hast du dich in der jeweiligen Rolle gefühlt?

4. Tauscht regelmäßig die Rollen
Oft werden die Aufgaben nach Kompetenz und Präferenz aufgeteilt. Dadurch wirst du in manchen Dingen zum Experten, während du andere Dinge vielleicht sogar verlernst. Die Rollen immer wieder zu tauschen, hilft, dem Partner ebenfalls alles zuzutrauen und schützt vor der Bemutterungs- oder Bevaterungsfalle.

Tabea Müller ist Psychologin und lebt mit ihrer Familie bei Karlsruhe. www.tabeasarah.de