3 bis 5 – Stressfrei reisen mit Kindern

Elternfrage: „Lange Autofahrten in den Urlaub oder zu Familienfeiern enden bei uns stimmungsmäßig immer in einer absoluten Katastrophe. Ich frage mich oft, ob sich der Stress überhaupt lohnt oder ob wir lieber daheimbleiben sollten. Habt ihr Empfehlungen für das Reisen mit Kleinkindern?“

Kids mitentscheiden lassen

Jedes Kind ist anders, und deshalb gibt es sicherlich keine Patentlösung zum Reisen mit Kindern. Aber gern teile ich mit euch, was bei uns gut funktioniert.

Verständnis und Geduld: Der beste Tipp, den mein Mann und ich auf unseren Reisen als Familie umsetzen konnten, ist, auf unsere Haltung gegenüber den Kindern zu achten und unsere Gefühle daran anzupassen. Wir wertschätzen sie, wenn sie geduldig sind und zeigen Verständnis, wenn ihnen der Weg zu lange dauert.

Realistische Erwartungen: Wir haben gelernt, uns von der Wunschvorstellung zu verabschieden, dass alles harmonisch läuft und jeder gleichzeitig eine gute Zeit hat. Eine lange Reise ist anstrengend, und das dürfen unsere Kinder auch äußern. Das Kind muss nicht einfach „da durch“, sondern wir versuchen es hindurchzutragen. Manchmal klappt das super und manchmal nicht so gut. Wir entschuldigen uns, wenn wir den Stress an unseren Kindern ausgelassen haben.

Mitspracherecht: Wir fragen die Kinder, was ihnen helfen würde. „Braucht ihr eine Pause?“ Vielleicht gibt es einen tollen Spielplatz, für den sich ein kleiner Umweg lohnt. Oder ihr könntet anhalten und ein spontanes Bewegungsspiel machen. Sowas wie: „Alle hüpfen jetzt, alle stampfen und alle machen, was das Kind sagt.“ So fühlen sich auch die Jüngsten ernst genommen. Pausen an kindergerechten Orten sind generell für uns eine gute Idee. Die Kinder haben Spaß, Bewegung und frische Luft.

Gella Scheven ist Erzieherin und Mama von drei Kindern.

Nachts fahren oder es sein lassen

Mein Mann und ich lieben weite Distanzen. Unser Erstgeborener ist mit uns einmal quer durch Europa im Van gefahren. Das war streckenweise auch nicht immer easy going, aber so richtig anstrengend empfinde ich lange Reisen erst, seitdem noch ein Kind inklusive Bedürfnisse Teil der Crew geworden ist. Trotzdem fahren wir jährlich mehrmals nach Schweden in unser Ferienhaus – über 14 Stunden eine Strecke. Das funktioniert. Zumindest dann, wenn wir die Nacht durchfahren und die Kinder schlafen. Und es lohnt sich. Weil wir uns vor Ort erfahrungsgemäß nach wenigen Minuten von den Strapazen erholt haben. Andere Reisen wiederum machen wir nicht mehr, weil Nervenaufwand und Genuss am Zielort nicht im Verhältnis stehen. Ich wäge deshalb vor jeder langen Fahrt gut ab und finde die Frage „Lohnt sich die weite Strecke für uns als Familie?“ völlig berechtigt. Wer dafür kein Verständnis hat, der stand noch nie in einem fiesen Baustellenstau auf der A8 am letzten Ferientag mit brüllenden Kindern auf der Rückbank.

Annabel Breitkreuz ist crossmediale Redakteurin. Über ihre Reiserouten durch Europa schreibt sie unter anderem in ihrem Buch „Wild.Frei.Authentisch – Aufbruch ins Abenteuer Familie“ (Brunnen Verlag).

Kurzstrecke mit Musik, Langstrecke mit dem Zug

Für meine Großstadt-Jungs (7+4) ist Autofahren nicht alltäglich. Nachdem wir knapp zwei Jahre kein eigenes Auto hatten, haben wir jetzt wieder einen alten „Pablo“ (Citroën Picasso) – quasi unser fünftes Familienmitglied. Am Wochenende fahren wir öfter zu unserem Campingplatz, der knapp zwei Stunden entfernt im Wald liegt. Die beiden Jungs schauen aus dem Fenster, manchmal spielen wir Tiere-Entdecken oder zählen Autos, die eine bestimmte Farbe oder Marke haben, schlafen, knabbern oder hören Hörspiele. Wir haben auch günstige LCD-Schreibtafeln (ähnlich wie eine Zaubertafel), auf denen sie im Auto malen können. Egal, wie lang die Fahrt ist, circa 20 Minuten vor Ankunft fangen sie meist an zu quengeln, besonders als sie noch jünger waren. Da hilft es nur noch, ihre Lieblings-CD von Rage against the Machine voll aufzudrehen und wild zu zappeln. Für längere Strecken nehmen wir am liebsten den Zug, da vergeht die Fahrt bei ein paar Partien UNO oder beim Vorlesen wie im Flug.

Anna Koppri ist Sozialpädagogin und Systemische Familientherapeutin. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Wie wir Erwartungen loslassen können

Sonntagsbesuche, Enkel und Pralinen: Oft haben wir bewusste oder unbewusste Erwartungen an unsere erwachsenen Kinder. Die gilt es zu hinterfragen.

Eine Schoki für ihn, ein paar Nüsse für sie und eine Dankeschön-Karte. Unsere Tochter kommt in ihr Wohnzimmer und überreicht uns, die wir bei ihr zu Besuch sind, zum Dank für eine Unterstützung diese Kleinigkeiten. Ich bin gerührt und erfreut, denn ich hatte (fast!) nichts erwartet. Ach, wie ist das schön, dass sie honoriert: Die Eltern haben sich Zeit genommen!

Upps, gestolpert!

Ich muss schmunzeln, denn ich habe so meine Geschichte mit den Erwartungen. Früher habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, aber jede Menge Erwartungen gepflegt. Vor Jahren habe ich ein großes Opfer gebracht, nämlich als damals Schmerzkranke zugestimmt, dass noch eine Person mit in den Urlaub kommen könne. Ich wusste früher nie, wann ich aufgrund meiner Schmerz-Problematik ausfallen würde, und wollte meinen Besten nicht mit Mehrarbeit im Urlaub belasten. Deshalb habe ich es mir dreimal überlegt, ob ich das wage. Es wäre aber ein gutes Gegenüber für unseren Sohn. Der liebe Mensch wurde also eingeladen, sagte zu und genoss mit uns die Ostseewoche. Und dann kam der Tag des Abschieds. Ich war davon ausgegangen, dass ich eine Packung Pralinen in die Hand gedrückt oder ein paar Worte ins Ohr geflüstert bekomme. Aber nichts dergleichen geschah. Einfach „Tschüss“. Die Autotür fiel ins Schloss.

Was war ich enttäuscht! Meine schöne Urlaubsfreude bekam einen gewaltigen Knick. Ich schwelgte in Enttäuschung, Frust, Traurigkeit. Mein Bester ist stoisch tiefenentspannt, was die Erwartungen an andere Menschen angeht. Früher hat das in mir eine Mischung aus grenzenloser Bewunderung, etwas Wut und Neid erzeigt. Jedenfalls lehrte er mich, ins Loslassen zu finden. Recht hatte er, denn was würde ein erbetenes Dankeschön bedeuten? Gar nichts. Außerdem musste ich ehrlich eingestehen, dass ich als Teenie auch nicht weiter war als der liebe Mensch. Seit dieser Ostseestory bin ich aufmerksamer in Sachen Erwartungen.

Keine Enkel in Sicht

„Manchmal würde ich mir wünschen, sie kommen sonntags einfach mal zum Kaffeetrinken vorbei. Die haben komplett keine Zeit für sowas, sind voll in ihrer Kirche eingespannt“, drückt eine dreifache Mutter erwachsener Kinder ihre enttäuschte Sonntagserwartung aus. Manchmal geht’s um noch mehr als einen einsamen Sonntagnachmittag. Es geht um die richtig großen Knackpunkte enttäuschter Erwartungen.
Ein gemütlicher Abend bei mir zu Hause: Im vertrauten Kreis tauschen wir uns aus. Irgendwann kommt von einer Freundin der Satz: „Sie haben uns mitgeteilt, dass sie keine Kinder bekommen möchten.“ Große Betroffenheit. Keine in der Runde sagt: „Wie schön! Dann hast du ja viel Zeit für dich und brauchst keinen Enkel betreuen.“ Im Gegenteil, wir hätten ihr so sehr Enkel gegönnt. Es ist schön, dass wir so kinderlieb und menschenfreundlich reagieren. Aber lebt in uns allen, die wir erwachsene Kinder haben, vielleicht doch manchmal eine geheime Erwartung an die Bilderbuch-Familie? Zwei Enkel, Haus und Garten mit Apfelbaum? Allzeit entspannt und besuchsbereit?

Die Realität ist oft anders: Die Tochter kann keine Kinder bekommen. Dem Sohn stirbt die Verlobte. Die Tochter ist lesbisch und möchte als Single leben. Der Sohn ist chronisch krank und traut sich keine Kinder zu. Sie haben als Paar um ein Pflegekind gekämpft und es nach kurzer Zeit wieder abgeben müssen. Sie musste sich scheiden lassen, weil es nicht mehr gemeinsam ging. Er möchte in die Mission, und selbst wenn Kinder kämen, würden die Großeltern sie wenig zu Gesicht bekommen. Das alles ist für viele von uns die oft schmerzhafte Realität, wie für andere eine satte Enkelschar, die im Obstgarten schaukelt. Vielleicht ist es an der Zeit, uns von einigen Erwartungen zu lösen? Ich möchte einige Scheren anbieten, mit denen wir unsere Erwartungsballons abschneiden und steigen lassen können.

Berechtigt oder unberechtigt?

Gibt es unberechtigte Erwartungen? Diese Frage lohnt sich durchzuspielen. Denn sie führt uns zu unseren geheimen Schmerzpunkten. Bezogen auf unsere Beziehungen können wir das einmal durchdenken: Welche meiner Erwartungen sind berechtigt und welche nicht?

Wenn ich bei meinen erwachsenen Kindern bin, darf ich sicherlich erwarten, dass ich irgendwann etwas zu essen auf den Tisch gestellt bekomme. Ein dauerhaftes Recht auf einsamkeitsreduzierende Besuche oder ständige ausführliche Teilhabe am erwachsenen Leben unserer Kinder haben wir aber nicht. Ebenso haben wir natürlich kein Recht auf Enkelkinder oder ein Gästezimmer im Zuhause unserer Töchter und Söhne.
Es geht darum, unberechtigte Erwartungen loszulassen! Wir müssen sie finden, entlarven und anschließend loslassen. Wenn ich meine Erwartungen gefunden habe, schmunzele ich oft erstmal ein Ründchen: Da hat es mich doch wieder erwischt. Nun heißt es: den Schmerz fühlen. Denn der darf sein. Wie man sich vom Schmerz lösen kann? Durch Bewusstwerden, manchmal auch durch Teilen mit vertrauten Menschen. Mir hilft zum Loslassen außerdem, die Dinge mit Gott im Gebet zu bewegen. Und manchmal sage ich innerlich den Satz: „Ich gebe dich frei für dein Leben!“ Damit verabschiede ich das erwartete Geschenk, ein Dankeschön oder die Teilnahme an einem Fest.

Druck rausnehmen

Ich bin sensibler für meine Erwartungen geworden, denn ich kenne auch die andere Seite der Medaille: Andere Menschen haben ihre Erwartungen an mich. Wie das stressen kann! Du investierst dich und weißt schon vorher: Es genügt nicht! Du spürst Verbitterung, fühlst Vorwürfe, bekommst Schuldgefühle. Druck belastet. Druck entmutigt. Wie eine unsichtbare Wand steht er zwischen mir und den anderen.
Manchmal habe ich mich mit Hilfe eines Rituals von diesem Druck befreit: All den Ärger und die negativen Gefühle aufgeschrieben, den Zettel anschließend in Gottes Hände gelegt und im Kamin vernichtet. Weil ich das selbst so belastend erlebt habe, möchte ich großherziger meinen erwachsenen Kindern gegenüber sein. Denn worauf habe ich, haben wir, ein Recht? Meiner Meinung nach weder auf ein Geschenk noch auf einen Sonntagsausflug, ein Enkelkind oder auf Pflege im Alter. Generell habe ich auf fast nichts ein Recht. Alles, was von ihrer Seite zu mir zurückkommt, sind Geschenke. Da gibt es keine offenen Rechnungen, die beglichen werden müssen. So zumindest die gute Theorie …

Noch eine Extrarunde zum Druck: Ich glaube, dass man als Kind auch Druck spüren kann, wenn Eltern nicht klar sind in ihrer Position. Vielleicht spüren Kinder manchmal eine Last, weil Eltern nicht richtig wissen, wie sie zur Sache mit dem Sonntagsausflug, der Scheidung oder der Homosexualität stehen. Im besten Fall sollten die Kinder fühlen und wissen, dass alle Lebensentscheidungen von uns Eltern nicht nur verbissen, resigniert, unentschieden oder leicht angesäuert durchgewunken werden, sondern bejaht sind. Auch wenn sie unseren Überzeugungen nicht entsprechen. Das ist Respekt. Das ist Loslassen. Das ist Liebe. In dem Moment, wo wir andere aus unseren Erwartungen entlassen, entsteht eine unglaubliche Freiheit.

Jesus und die Erwartungen

Wir haben Erwartungen an andere und andere an uns. Das ist normal und kein Grund, sich schlecht zu fühlen. Wir werden einander immer etwas schuldig bleiben. Wie schön ist das, wenn wir diesen Satz tief auf dem Herzensboden verankert haben! Denn er wird uns von unseren Idealvorstellungen befreien: Weder Partner, Kinder, Eltern, Freundinnen oder Vorbilder werden all unsere Erwartungen erfüllen können. Also „einfach“ die Erwartung spüren, die Enttäuschung bemerken, schmunzeln und zuletzt loslassen?

Vielleicht kann man von Jesus lernen: Er sollte sich in seine Familie einordnen, Sünder verurteilen, Sünder begnadigen, rechtzeitig da sein, sich für Prominente interessieren, er soll weggehen und nicht mehr hier das Reich Gottes wirken oder da bleiben und weiterhin Gottes Reich ausbreiten, er soll … Wenn wir die Evangelien daraufhin durchschauen, kann man sich fragen: Jesus, wie hast du das bewältigt? Die 1.000 Erwartungen, die andere teils lautstark geäußert haben?

Jesus hatte einen inneren Kompass. Häufig hat er sich ausgerichtet. Deshalb suchte er die Einsamkeit, damit der Fokus wieder klar war. Und was ist dabei herausgekommen? Dass er immer wieder für die Menschen da war, auch schon mal die zweite Meile mitgegangen ist und sich an anderer Stelle den Erwartungen entzogen hat. Nein, er vollbringt keine Wunder, nur um sich zu beweisen. Nein, er passt sich nicht an die Erwartung seiner Herkunftsfamilie an. Nein … Die Erwartungen Gottes, seines Vaters, haben für ihn weitaus größere Bedeutung als die Erwartungen der Menschen.

Loslassen

Können wir das abkupfern? Davon lernen, es verinnerlichen? Erst gestern wollte eine liebe Frau zeitnah ein Treffen mit mir vereinbaren. Sie erwartete, dass ich in der nächsten Woche Zeit hätte. Ich spürte beide Regungen: Gern möchte ich helfen, und gern möchte ich meine Grenzen achten. Nach einer halbwegs guten Nacht habe ich ihr erst einen Termin in vier Wochen zugesagt, damit ich mich nicht übernehme. Manchmal ist also Abstandstraining eine Lösung, um uns von Erwartungen zu befreien.

Das Schlüsselwort im Umgang mit den Erwartungen ist: loslassen. Fliegen lassen. Ziehen lassen. Dann entsteht Freiheit. Es ist der offene, erwartungsärmere, gute Umgang miteinander. Vielleicht passiert dann etwas völlig Unerwartetes. Nämlich, dass ein Kind doch sonntagnachmittags vor der Tür steht, du die Schoki in die Hand gedrückt bekommst oder ein Gespräch mit deinen großen Kids hast, das Gold wert ist.

Kerstin Wendel ist Autorin, Speakerin und Seminarleiterin aus Wetter/Ruhr. Gemeinsam mit ihrem Mann Ulrich hat sie das Buch geschrieben: Vom Glück des Loslassens – wie Herz und Leben leicht werden (SCM R.Brockhaus).

Nach der Scheidung: „Ich musste zu mir zurückfinden“

Nach ihrer Scheidung fühlte Christine Poppe sich völlig zerbrochen. Trotz Druck und zerstörten Selbstbildern kämpfte sie sich ins Leben zurück.

Ein zerbrochenes Selbstbild

Scheidung bedeutet Zerbruch – von Liebe, Freundschaften, Zukunftsträumen, Idealen. Wie hast du das erlebt?
Ja, mir ging es sehr ähnlich. Vor allem war mein Selbstbild damals auch zerbrochen. Ich hatte bis zu der Scheidung geglaubt, dass ich alles schaffen kann, dass es nichts gibt, was mir zu schwer ist und dass mit Gottes Hilfe und Gebet alles möglich ist. In diesem Glauben bin ich auch in diese Ehe gegangen. Jahrelang habe ich mir größte Mühe gegeben, alles versucht, bin über meine Grenzen gegangen. Aber es hat nie gereicht, und wir sind gescheitert.

Wie hat dein Umfeld auf die Scheidung reagiert?
Leider habe ich viele Freunde und Bekannte, vor allem aus der Gemeinde, verloren und bin auf Unverständnis gestoßen, weil ich diejenige war, die die Beziehung beendet hat. Zwar habe ich auch viel Unterstützung und Mitgefühl erfahren, auch von Menschen, von denen ich es nicht erwartet hätte. Allerdings konnte ich mich damals nicht gut innerlich von anderen abrenzen, da tat jede Bemerkung weh. Und es gab auch Leute, von denen ich mich verraten gefühlt habe. Von einigen Personengruppen musste ich mich ganz abschotten, um mich zu schützen.

Identifizierst du dich als „geschiedene Frau“?
Nein, das spielt keine entscheidende Rolle. Es ist Teil meiner Geschichte. Jede Geschichte hat Brüche und Fehler. Ich war 21, als ich geheiratet habe. In einem Umfeld ohne diese Prägung mit sehr enger Sexualmoral hätte ich nicht so früh geheiratet. Daher ist es eher wie eine schlechte Ex-Freund-Geschichte. Ich habe viel daraus gelernt und mich weiterentwickelt. Aber es bestimmt nicht meine Identität. Ich bin jetzt jemand anderes. Ich bin in erster Linie einfach ich. Und dann die Frau meines zweiten Ehemanns, ich bin die Mutter meiner Tochter, ich bin Traumasensible Coachin – diese Dinge machen mich aus. Heute fühlt es sich so an, dass nicht mein wahres Selbst damals geheiratet hat, sondern etwas in mir, das sehr zerbrochen war und inzwischen heilen konnte.

Meilensteine auf dem Weg der Heilung

Du hast – das beschreibst du auch in deinem Buch – bis zur Selbstaufgabe für deine Ehe gekämpft. Wie ist es dir gelungen, dein Selbst wieder zurückzugewinnen?
Das ist ein langer Prozess, der noch bis heute andauert. Das Wichtigste war die Therapie, die ich bei einem christlichen Therapeuten gemacht habe, der auf Trauma spezialisiert war. Mit dem habe ich direkt nach der Trennung circa zwei Jahre gearbeitet. In der Zeit habe ich meine Trennung aufgearbeitet. Jahre später, nachdem ich meine Tochter geboren habe, ist bei mir noch mal einiges aufgebrochen, was in meiner Kindheit passiert ist und wozu ich vorher keinen Zugang hatte. Mir wurde klar, dass diese Erfahrungen erst der Grund waren, warum ich mich auf jemanden eingelassen hatte, der selbst nicht wusste, ob er mich liebte oder nicht. Ich konnte Zugang zu meinem unversehrten Kern finden, zu dem in mir, was trotz allem, was mir passiert ist, in Ordnung geblieben ist. Ich durfte verschiedene innere Anteile in mir kennenlernen, auch Anteile, die miteinander in Konflikt sind, sie in Einklang bringen, und konnte ein, wie man sagt, kohärentes Selbst finden. Ich habe gelernt, was eine sichere Beziehung ist: eine Beziehung, in der ich nicht abgewertet werde, in der meine Gefühle relevant sind, in der meine Grenzen akzeptiert werden. Durch meinen jetzigen Mann und meine beste Freundin durfte ich lernen, was Bindungssicherheit bedeutet. Ich habe gelernt, dass es okay ist, zu zeigen, wer ich wirklich bin und was ich möchte. Ich konnte eine Beziehung zu mir selbst gewinnen und das war entscheidend.

Gab es denn spezielle innere und äußere Schritte oder Meilensteine auf diesem Weg?
Ein wichtiger Schritt war, als ich das erste Mal bei meinem Therapeuten Michael saß und ihm gesagt habe, dass ich glaube, dass ich komplett kaputt bin, dass alles furchtbar ist, ich überhaupt keine Hoffnung habe, dass ich Hilfe brauche und nicht weiß, wie ich weiterkomme. Er konnte mir glaubhaft vermitteln, dass ich nicht kaputt bin, sondern nur das Bild, das ich von mir habe. Das hat mich aufatmen lassen und mir Hoffnung gegeben, dass ich mich davon wieder erholen kann. In der Therapie hatte ich dann eine krasse Begegnung mit Jesus. Er hat mir den Rucksack mit meiner Schuld abgenommen. Da habe ich gemerkt, dass ich tief im Inneren überzeugt war, dass ich schuld war, weil ich einfach generell schlecht bin. So hatte ich das immer gelernt. In der Jesusbegegnung habe ich erlebt, dass er zu mir sagt, dass ich nicht selbst schuld bin und dass er mir da, wo ich Mist gebaut habe, die Schuld abnimmt. Gott macht mir keinen Vorwurf – nur ich mir selbst. Korrigierende Erfahrungen in Beziehungen waren für mich relevante Meilensteine. Die Beziehung zu meiner besten Freundin und die zu meinem zweiten Mann. In diesen zwei Beziehungen habe ich zum ersten Mal im Leben wirkliche emotionale Sicherheit gespürt. Das war eine sehr positive Erfahrung für mich.

Was war für dich nötig, um wieder neu ins Leben und in eine neue Beziehung zu starten?
Eigentlich bin ich in die Beziehung zu meinem zweiten Mann gestolpert, ohne dafür bereit gewesen zu sein. Ich hatte ausgeprägte Bindungsängste. Mein Mann war sehr sensibel und hat mir durch sein Verhalten immer wieder signalisiert, dass er da ist und sich kümmert. Anfangs war es auch keine feste Beziehung. Er hat sich aber immer verhalten wie ein fester Freund. Er hat mir handwerklich geholfen und als ich immer wieder ins Krankenhaus kam, hat er seine beruflichen Termine abgesagt und ist zu mir gekommen. Ich hatte ihm das gar nicht erzählt, aber er hat es mitbekommen, fand heraus, wo ich war und hat mich damit nicht alleine gelassen. Immer wieder hat er sich gekümmert und mich priorisiert. So ein Verhalten kannte ich nicht und mir wurde klar, dass mir das immer gefehlt hat. Gerade weil er so war, hatte ich Angst und wollte deswegen die Beziehung immer wieder beenden. Ich dachte, er ist jetzt so nett, weil er verliebt ist, ich gewöhne mich daran und komme dann nicht mehr klar, wenn er so wird, wie ich es bisher von Menschen kannte. Daher brauchte ich Mut, mich auf die Beziehung einzulassen, der Angst entgegenzutreten und das Gute zu erwarten.

Erkenntnisse aus der Scheidung

Was war für dich die größte Hürde, wieder du selbst zu sein?
Ich glaube, die Loyalität, die ich gespürt habe, gegenüber meiner Familie und auch der Glaubensgemeinschaft. Die Entwicklung, die ich in meinem Glauben erlebt habe, widersprach dem, was mein engstes Umfeld glaubte und das fühlte sich an wie Verrat. Dazu kam die Angst, dass ich, wenn ich so bin, wie ich bin, meine wichtigsten Bezugspersonen verliere. Aber durch die Verbindung zu mir selbst, meiner besten Freundin und meinem Mann war ich schließlich in der Lage, das Risiko, ich selbst zu sein, einzugehen.

Empfindest du Groll gegenüber deinem Ex-Mann?
In den ersten zwei Jahren nach der Trennung war das schon so. Ich war sehr verletzt und hatte das Gefühl, er tut absichtlich Dinge, um mich zu verletzen. Dann habe ich versucht, zu vergeben und loszulassen. Ich wollte alles hinter mir lassen und mich auf mein neues Leben fokussieren. Einmal sagte meine Mutter zu mir, wie sauer sie darüber sei, dass er mein Leben zerstört habe. Einerseits hat mich ihre Solidarität getröstet. Aber ich habe dann zu ihr gesagt, dass er es nicht zerstört hat. Mir geht es gut, er hat keine Macht mehr über mein Leben. Ich kann mich um meine Angelegenheiten kümmern. Ich habe mich von ihm getrennt. Ich übernehme Verantwortung für mein Leben und gestalte meine Zukunft.

Was hat dir geholfen, deine Zukunft aktiv zu gestalten?
Es gab einen entscheidenden Moment. Es war ein Tiefpunkt, an dem ich dachte, es würde alles nur immer schlimmer werden. Danach habe ich mich zusammengerissen, habe mir überlegt, wie ich denn leben will. Ich habe für alle Lebensbereiche aufgeschrieben, was ich mir vorstelle. Wer sollen meine Freunde sein? Wie sollen sich Freundschaften anfühlen? Welchen Job möchte ich machen? Welche Träume habe ich? Und so weiter. Dann habe ich bewusst meine Energie auf die Zukunft fokussiert. Kurz entschlossen habe ich Wirtschaftspsychologie studiert, eine Ausbildung zur Traumasensiblen Coachin gemacht, den Job gewechselt, mir unterschiedliche berufliche Standbeine aufgebaut. Dann bin ich schwanger geworden. Insgesamt habe ich mir ein Leben gebaut, das mir entspricht. Diese Freiheit und Ausrichtung hat mir unfassbar viel Motivation und Energie gegeben.

Wenn du ein Resümee ziehen solltest, was wäre deine wichtigste Erkenntnis aus oder nach deiner Scheidung?
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass wir einen unversehrten Kern haben, der unfassbar stark ist, der sehr viel überstehen kann. Unsere Fehler definieren nicht, wer wir sind. Und dass das Einzige, was Gott mir schenken will, Liebe ist. Das hat mein Leben verändert.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Family-Redakteur Marcus Beier.

Was uns wichtig ist

Erwachsene Kinder haben einen anderen Blick auf die Welt als ihre Eltern. Trotzdem können wichtige Werte noch weitergegeben werden.

Wir sind mit unserem erwachsenen Sohn und seinen zwei Kumpels zusammen in Italien im Urlaub. Eine schöne Zeit für uns: Wir sehen, wie diese drei jungen Erwachsenen ihren Tag planen, wie sie miteinander umgehen und wie sie diskutieren und die Welt sehen. Dabei stellen wir fest, dass sich unser Blick auf die Welt von ihrem unterscheidet. So diskutieren wir unter anderem darüber, wieso sich die Freunde unseres Sohnes nicht ehrenamtlich engagieren. Oder wieso sie den Klimawandel für sich als gegeben annehmen und nicht mehr kämpfen.

In einem kurzen Moment in der Küche nimmt mein Sohn mich in den Arm und sagt: „Na, Mama, du merkst, ihr habt einiges richtig gemacht. Wir haben als Kinder immer gelernt, wie wichtig es ist, sich in andere zu investieren. Und mir fällt das gar nicht schwer!“ Können wir am Leben unserer Kinder sehen, welche Werte Bestand haben? Können wir sogar nach der prägenden Familienphase noch Werte weitergeben?

In den Teenager-Jahren und der ersten Zeit als junge Erwachsene werden viele Werte aus dem Familienleben von den Heranwachsenden überprüft. Dabei gehen sie in Distanz zu ihren Eltern und betrachten deren Leben kritisch. Das beginnt mit den Mahlzeiten und dem Freizeitverhalten, richtet sich darauf, wie man sich kleidet oder einrichtet und reicht bis hin zu großen ethischen Themen und Debatten. Nicht selten haben mein Mann und ich diese Diskussionen als Erschütterungen wahrgenommen: „Eben fandet ihr doch alles noch gut und jetzt …?“ Mir hat es geholfen, mich den Auseinandersetzungen mit unseren Kindern zu stellen, um in ihrer Nähe zu bleiben – auch wenn es wehtat. Umso mehr begeistert es mich, wenn ich an ihrem Handeln plötzlich entdecke: Da schimmert ein Wert durch, der meinem Mann und mir auch wichtig ist.

Kleine T-Rex-Ärmchen

Werte sind eine Art innerer Kompass. Werte legen den Grundstein dafür, wie wir leben und arbeiten. Sie sind Grundprinzipien für das Miteinander und legen Eigenschaften und Ideale fest. Bei all der Schnelllebigkeit heutzutage geben Werte eine Grundausrichtung vor, eine Art roten Faden, der Kräfte bündelt und dabei hilft, die eigenen Grundsätze nicht aus den Augen zu verlieren. Meine Werte bieten mir die Möglichkeit, wie bei einem Sandkasten meine Handlungen, Ideen oder Möglichkeiten durch ein Sieb zu geben und die wichtigsten Dinge herauszufiltern. Dazu gehören für mich die klassischen christlichen Werte. Als Jesus nach dem wichtigsten Gebot gefragt wird (Markus 12,28 ff), stellt er ein Beziehungsgeflecht vor, das von Wertschätzung, Respekt und Achtung lebt: „Liebe Gott, und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Immer wieder hat uns diese Schablone motiviert, von uns weg zu sehen. Das ist ein Blick, den wir besonders mit den erwachsenen Kindern brauchen. Ich freue mich, wenn ich sehe, wie liebevoll sie ihre Geburtstagsessen dekorieren, wie sie Waffelbacktage veranstalten, wie sie für jemanden da sind oder die Schulden des anderen bezahlen. Das sind Werte, die sie durch das Leben mit uns mitbekommen haben.

Werte sind in unserer Familie immer wieder Thema. Wir freuen uns darüber, wie die anderen sich entwickeln. Wir sehen uns gern und stellen uns dabei immer wieder einer gemeinsamen Reflexion. Das haben wir schon gemacht, als die Kinder im Kindergartenalter waren. Bis heute wird erst zwinkernd gefrotzelt: „Na, Mama, hast du wieder eine pädagogische Übung für uns?“ Trotzdem erleben wir diesen Wert des qualitativen Austausches. Und ich sehe daran, wie sie ihre Freundschaften gestalten, dass sie sich bemühen, auf die Bedürfnisse des anderen zu achten und in eine Reflexion mit dem anderen kommen. Es ist schön und spannend zu sehen, wie unsere Werte in ihrem Leben präsent bleiben, sich aber auch verändern. Wenn wir zum Beispiel über das Schlafverhalten von Babys oder vegane Ernährung diskutieren oder über eigenständiges Handeln mit Aktien, ohne einen soliden Bankberater hinzuzuziehen, verwandle ich mich in einen kleinen Dinosaurier. Ich rudere empört mit den kleinen T-Rex-Ärmchen und fühle mich manchmal ungerecht behandelt.

Ins Gespräch kommen

Als wir mit den Freunden unseres Sohnes im Italienurlaub darüber reden, blickt mich einer von ihnen ernst an und sagt: „Meine Eltern haben mit uns nie über so etwas geredet. Das sind Gedanken, die ich mir heute zum ersten Mal mache.“ Manchmal brauchen wir in unserem Familienalltag Hilfe darin, Worte zu finden. Es geht darum, nicht nur einfach zu leben und tatkräftig zu sein, sondern auch darüber zu sprechen. Warum höre ich der Nachbarin am Gartenzaun zu? Warum bemühe ich mich, den Müll zu trennen? Warum finde ich es wichtig, zu spenden? Warum verteidige ich meine Kinder oder spreche liebevoll über meinen Ehemann? Es ist nie zu spät, diese Diskussion aufleben zu lassen. Dabei kann es herausfordernd sein, wenn es unterschiedliche Sichtweisen gibt und das Gespräch scheinbar zum Erliegen kommt. Mir hilft es, Fragen zu stellen: Warum möchtet ihr kein Auto haben? Weshalb hast du dich gegen die Mitarbeit in der Kirchengemeinde entschieden? Gibt es eine gesellschaftliche Entwicklung, die dir gerade Sorgen macht? Bist du jemandem in den letzten Wochen eine Hilfe gewesen? So bleiben Werte in Kopf und Herz.

Vor ein paar Tagen saß ich in einem Gottesdienst neben einem alten Mann. Er stützte sich auf seinen Rollator, hörte zu, sang aber nicht mit. Nach dem Gottesdienst habe ich mich ihm zugewandt, weil ich nicht unfreundlich sein wollte. Ich hörte an seinem Akzent, dass er nicht in dieser Region geboren ist und erfuhr, dass er seit 55 Jahren zu dieser Gemeinde gehört. Nach ein bisschen Erzählen wusste ich, dass er 44 Enkel und zehn Urenkel hat. Dass er und seine Frau jeden Tag mit einem dieser Enkel telefonieren und für zwei dieser Enkel und Urenkel beten. Dass sie von allen wissen, was sie gerade tun und brauchen, und dass sie versuchen, an ihrem Leben Interesse zu zeigen. Beim Zuhören flossen mir die Tränen. Was für ein großartiges Geschenk! Was für ein Reichtum! Ich hoffe, dass die Enkel dieser Familie diesen Wert schätzen können und ihn weitergeben: Interesse am anderen zu haben.

In Italien haben wir unter anderem darüber gesprochen, dass mein Mann und ich uns wünschen, dass die junge Generation idealistischer wird. Vielleicht beginnt es damit, dass wir unsere Ideale prüfen und weiter vorleben, sichtbar werden lassen und so diese Werte stetig ins Gespräch bringen.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und Pädagogin, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt in Göttingen.

Auf eigenen Füßen – Prüfungsangst überwinden

Elternfrage: „Unser Sohn (21) hat große Prüfungsangst und quält sich durch sein Studium. Wie können wir Eltern ihm helfen, mit der Angst umzugehen?“

Eine Prüfung kann sich bedrohlich anfühlen, schließlich beeinflusst das (Nicht-) Bestehen maßgeblich die Zukunft. Gedanken wie „Ich werde durchfallen! Das schaffe ich nie!“ erzeugen Prüfungsangst. Angst ist zunächst einmal ein normales Gefühl und sichert unser Überleben. Es ist menschlich, sich zu sorgen und zu zweifeln. Sprechen Sie das gern Ihrem Sohn zu: „Du darfst Angst haben! Ja klar, sonst wäre dir dein Studium und deine Zukunft vollkommen egal. Schön, dass du dich so bemühst und dein Bestes geben willst!“

Wie wichtig ist die Prüfung?

Angst entsteht aufgrund von zwei Bewertungen: Die Bewertung der Situation (Wie gefährlich ist diese?) und die Bewertung der eigenen Person (Was habe ich an Fähigkeiten, um die Situation zu bewältigen?). Auf beiden Ebenen lässt sich Druck herausnehmen. Fragen, die Sie dafür Ihrem Sohn stellen könnten: Wie wichtig ist diese Prüfung in zehn Jahren? Erinnerst du dich noch an jedes Prüfungsergebnis in deiner Schullaufbahn? Wenn du 80 Jahre alt bist und auf dein Leben zurückblickst, wirst du nicht über deine Prüfungen sprechen, oder? Die Noten und bestandenen Prüfungen stehen nicht auf dem Grabstein, sie verlieren mit der Zeit Ihre Bedeutung. Das Leben besteht aus mehr als nur aus dem Studium. Es ist ein wichtiger Teil, jedoch gibt es zahlreiche andere Lebensbereiche. Erinnern Sie Ihren Sohn daran, dass er mehr als nur „Student“ ist. Er ist auch guter Freund, vielleicht ein toller Sportler, hat möglicherweise eine funktionierende Partnerschaft, spannende Hobbys und so viel mehr. „Wenn dein Studium nicht klappt, werden wir andere tolle Wege für dich finden.“ – Solche Sätze unterstützen dabei, den Druck loszuwerden.

Verzerrtes Selbstbild

Die Bewertung der eigenen Person ist bei Menschen mit Prüfungsangst oft verfälscht. Das Selbstbild ist durch häufige Eigenkritik, viele Zweifel und schreckliche Versagensszenarien im Kopf sehr realitätsfern. Hier hilft es, an die Erfolge zu erinnern und die Stärken wieder ins Bewusstsein zu holen. Denn bis jetzt hat er auf seinem Lebensweg viele Prüfungen geschafft – sonst wäre er nun nicht im Studium angelangt. Schlussendlich kann man bei Prüfungen nie alles unter Kontrolle haben. Allein die Bewertung hängt von vielen unsicheren Variablen ab. Es hilft, wenn man sich auf das konzentriert, worauf man Einfluss hat. Ihr Sohn kann sich zum Beispiel darauf konzentrieren, alles zu geben, was möglich ist. Er kann die Lernzeiten einhalten und die eigenen Lernziele erreichen. Und er kann sich bemühen, ausgeschlafen, satt und entspannt zu sein.

Übrigens: Nervosität entsteht, wenn wir nicht routiniert sind, weil wir die Situation und uns selbst nicht gut genug einschätzen können. Ein letzter Tipp wäre deshalb auch, sich der Prüfungssituation bewusst auszusetzen und zu Hause zu üben, um sich mehr daran zu gewöhnen.

Sabrina Fleisch ist Psychosoziale Beraterin, Angst- und Stressbewältigungs-Trainerin sowie Bestseller-Autorin.

Midlife Queen

Die Hälfte des Lebens ist schon vorbei? Falsch: Die Hälfte des Lebens liegt noch vor dir! Eine Ermutigung, nach der Kinderphase durchzustarten. Du bist eine Midlife Queen!

Deine To-do-Liste ist immer zu lang und nie abgearbeitet? In deinem Körper zwickt und zwackt es? Dinge, die früher einfach von der Hand gingen, fallen dir plötzlich schwer? Deine Emotionen gleichen verdächtig denen einer Teenagerin – in ihren Schwankungen und ihrer Intensität? Deine Gedanken kreisen weniger um die Kids und mehr um dich und das, was du brauchst und dir wünschst? Und ganz ehrlich: Manchmal fühlst du dich wie ein anderer Mensch? Schwester, ich sage dir: Eine neue Ära bricht an! Ich nenne sie Halbzeit. Und ich feiere diese Zeit so sehr. Darf ich dich anstecken?

Was heißt Halbzeit? Eine Zeit mit einschneidenden Veränderungen in der Mitte des Lebens. Und eine Phase, über die sehr wenig gesprochen wird. Wenn man heiratet, ist es klar, dass man etwas Neues beginnt. Bevor man Kinder bekommt, wird man gewarnt, instruiert, er- (oder ent-)mutigt. „Jetzt kommt eine schwere, aber schöne Phase“, sagten uns viele Menschen vor der Geburt unserer ersten Tochter. Midlife hingegen beginnt schleichend. Wir sind weniger vorbereitet.

Jongleurin mit zu vielen Bällen

Mich hat es in vielem kalt erwischt. Es begann mit körperlichen Veränderungen um den 40. Geburtstag herum. Dazu kam die Verdichtung des Lebens mit mehr Verantwortung in einer größeren Anzahl an Bereichen. Ergänzt durch eine neue Lust auf Vorwärtskommen im Beruf. Ich begann mich zu fragen: Wann, wenn nicht jetzt? Dazu kam eine Dekonstruktion in meinem Glauben, ein Leben mit Rückenschmerzen … Es fühlte sich ein bisschen so an, als wäre ich eine Jongleurin mit deutlich zu vielen Bällen. Immer in der Gefahr, einen fallen zu lassen oder zwei. Ich bin ehrlich mit dir: Oft hat es sich angefühlt, als würden mir gleich alle Bälle entgleiten. Mein Leben wurde mir fast zu viel.

Ich begann, andere Frauen in meinem Alter zu befragen. Außerdem arbeitete ich mich tiefer in die Thematik ein. Mir hilft es, Dinge zu wissen, und so las ich verschiedene Bücher und abonnierte mehrere Midlife-Podcasts. In mir wuchs der Wunsch, Hilfestellung für diese Jongleurinnen anzubieten. Ich war mir nicht sicher, ob diese Frauen Zeit für einen weiteren „Ball“ hatten. Aber trotzdem entwarf ich mutig ein 9-Monate-Programm für Frauen ab 40, das in kürzester Zeit ausgebucht war. Diese mutigen Halbzeitlerinnen waren tatsächlich bereit, in ihren Aufbruch Zeit und Geld zu investieren. 33 Frauen machten sich auf eine Veränderungsreise in diversen Lebensbereichen und Lebensfragen. Im Jahr danach führten wir den Kurs gleich noch mal durch und sind gerade mit faszinierenden weiteren 27 Frauen unterwegs. Darf ich dir ein Geheimnis verraten? Wenige Dinge in meinem Leben haben mir so viel ungetrübte Freude bereitet wie das gemeinsame Unterwegs-Sein mit diesen Frauen. Ich durfte so unglaublich viel über Midlife-Frauen lernen.

Lustig, frech und wortgewandt

Die Gesellschaft hat noch keine wirklich passenden Bezeichnungen für diese Frauen gefunden. Dr. Sheila de Liz hat ihr Buch über die Wechseljahre „Women on Fire“ genannt (Hallo Hitzewallungen!). „50 and Fabulous“ heißt ein anderes Buch. In der Presse wird von Wechseljahre-Frauen gesprochen oder Midliferinnen. Ich brauche einen neuen Begriff für meine Halbzeit-Ladies, denn „Frauen ab 40“ rollt so gar nicht flüssig von der Zunge. Bis ich etwas Besseres gefunden habe, nenne ich sie Midlife Queens.

Midlife Queens sind schön und gebildet und lustig und frech und wortgewandt und sie benennen Bullshit. Midlife Queens lassen sich eben nicht ein X für ein U vormachen. Midlife Queens stellen gute Fragen und geben sich nicht mit schnellen Antworten zufrieden. Midlife Queens fühlen sich jung und machen gern noch wilde Sachen. Sie denken weniger über ihre Außenwirkung nach und machen einfach. Midlife Queens haben schon viel Verantwortung getragen, können unglaublich gut Entscheidungen treffen, kennen meist ihre negativen Glaubenssätze und haben sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt. Midlife Queens glauben nicht mehr, sie müssten alle Erwartungen erfüllen, allen Rollenbildern entsprechen. Sie können Grenzen setzen und Nein sagen. Midlife Queens beginnen, Lachfalten zu haben und das macht sie unglaublich attraktiv. Midlife Queens kennen Gott, wissen so viel über ihn, trauen sich aber trotzdem zu sagen, dass er sie oft verwirrt. Midlife Queens lernen Gott noch mehr kennen, neue Seiten an ihm, neue Formen in ihrem geistlichen Leben und das ist wohltuend für die Kirche.

Midlife Queens haben einen Wert in der Arbeitswelt, weil sie Energie haben, Dinge umsetzen können und man nicht mehr befürchten muss, dass sie schwanger ausfallen. Midlife Queens haben weniger Geduld und Frustrationstoleranz und das ist gut so. Midlife Queens kennen ihren Körper und seine Bedürfnisse und manchmal gehen sie darauf ein. Midlife Queens kämpfen sich frei. Midlife Queens haben etwas zu sagen und wollen nicht unsichtbar werden und schon an die nächste Generation übergeben. Midlife Queens fangen an, Dinge zu machen, die sie immer machen wollten. Sie denken über ihre Kindheits- und Jugendträume nach und prüfen die Realität an ihnen. Midlife Queens sprechen Unrecht an und machen nicht mehr alles mit. Midlife Queens brechen toxische Beziehungen ab. Midlife Queens lachen laut und tanzen lange und manchmal baden sie nackt im Meer, weil sich das so frei anfühlt. Midlife Queens sind wütend und voller Erfahrungen und bunt und laut und leise und humorvoll und tief und herzlich und verschenkend und authentisch. Viele dieser Queens wollen einen Fußabdruck auf dieser Welt hinterlassen. Ich liebe eine gute Midlife Queen mit Weltverbesserungspotenzial.

Einfach anfangen

Ich könnte noch stundenlang weiter aufzählen, welche faszinierenden Eigenschaften ich an Midlife Queens beobachte. Stattdessen möchte ich lieber noch zwei Beispiele erzählen:

Simone, eine unserer Teilnehmerinnen, hat lange Jahre mit Ohnmacht gekämpft, wenn sie dem Leid der Welt gegenüberstand. Während einer Flüchtlingswelle wurde ihr wichtig, die Individualität von Menschen zu stärken: Babys und Kinder und Jugendliche sollten eine individuelle, mit Liebe handgenähte Decke bekommen. Und so begann sie, Decken für Geflüchtete zu nähen und teilte ihr Anliegen über eine Facebook-Gruppe mit Interessierten. Immer mehr Menschen machten mit und beschlossen, sich und ihre Begabungen in das Projekt zu investieren. Gemeinsam haben sie in neun Jahren 35.000 handgemachte Decken an Geflüchtete verteilt. Eine Midlife Queen, die einfach anfing, ihre Begabungen einzusetzen, um einzelnen Menschen ein Gesicht und einen Wert zu geben.

Regula, eine weitere faszinierende Teilnehmerin mit einem – wie sie es nennt – „holprigen Start ins Berufsleben und nicht normativen Lebenslauf“, arbeitet seit vielen Jahren als Pastorin. Sie bekam im Midlife das Angebot, Radiopredigerin im schweizerischen Radio zu werden. Das – im Gegensatz zu allen anderen Sprecherinnen und Sprechern – ohne Theologiestudium. Mit dem Selbstbewusstsein einer Midlife Queen stellte sie sich dieser Situation und wir feierten ihre ersten Aufnahmen mit der gesamten Gruppe. Kürzlich meldete sich ein Mann im Anschluss an eine Sendung: Er sei kein Kirchgänger, aber er habe sich sehr angesprochen gefühlt. Diese Frau hat der Welt mit ihren Begabungen in ihren nächsten Jahrzehnten bestimmt noch viel zu geben, auf das wir uns freuen können.

Midlife-Wut

Das ist echte Midlife Power aus unseren Gruppen. Weitere Beispiele fallen mir ein: Schon gewusst, dass es Midlife-Wut-Bücher gibt, wie ihre Autorinnen sie nennen? Veronika Schmidts Bücher über Sex oder Veronika Smoors „Problemzone Frau“! Vogue-Redakteurin Vera Wang wurde mit 40 Brautkleid-Designerin, weil es ihrer Meinung nach keine stilvollen Brautkleider für Frauen in ihrem Alter gab. Rosa Parks stand im Bus nicht auf und löste damit einen Aufstand gegen die Rassentrennung in den USA aus. Ihr Alter? 41. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sie in echter Midlife-Wut im Bauch dachte: Ich habe genug von dem Sch… – und damit hat sie die Welt verändert!

Ich wünsche mir ein bisschen, dass du nach dem Lesen dieser Zeilen aufspringen und loslegen willst. Dann hätte ich mein Ziel erreicht. Denn ich finde: Die Lebensmitte ist aufregend und eine unglaubliche Chance. Wenn wir erst die Hälfte des Lebens hinter uns haben, dann haben wir noch eine ganz schön lange Phase vor uns. Und das ist eine Phase, in der wir wissen, wer wir sind, was wir wollen und was unser Beitrag ist. Und in der wir der Welt entgegenschreien: „Warte es bloß ab! Es gibt noch eine Million Dinge, die ich noch nicht getan habe. Und ein paar davon werde ich umsetzen.“

Simea Gut arbeitet bei Campus WE, einem Arbeitszweig von Campus für Christus, und als Podcasterin bei Frauthentisch. Sie lebt mit ihrem Mann Dave und zwei Töchtern in Lörrach.

Das steckt hinter den Gefühlen

Starke Gefühle werden häufig von unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen ausgelöst. Wie gehen wir damit um?

Die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken, fällt vielen Menschen schwer. Wenn Kleinkinder Bedürfnisse haben, äußert sich das in einem Ausdruck von Gefühlen. Es wird lautstark gerufen, geschrien oder geweint. Sobald wir Menschen sprechen lernen, fangen wir an, unsere Bedürfnisse verbal auszudrücken. Dennoch bleibt da auch immer eine gewisse Unfähigkeit, sie transparent in Worte zu fassen.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Es gibt grundlegende Bedürfnisse, deren Erfüllung wir zum Überleben brauchen. Die sogenannte Bedürfnispyramide nach Maslow geht davon aus, dass bestimmte Grundbedürfnisse erfüllt werden müssen, bevor andere Arten von Bedürfnissen angestrebt werden können. Die Bedürfnispyramide besteht aus fünf Ebenen. Zur untersten und überlebenswichtigsten Ebene gehören die körperlichen Bedürfnisse. Sie beziehen sich auf grundlegende Dinge wie Schlaf und Nahrung. Auf der zweiten Ebene steht Sicherheit. Hier geht es um einen Zustand der Stabilität in Bezug auf unsere Umgebung, aber auch um finanzielle und seelische Sicherheit. Auf der dritten Ebene stehen soziale Bedürfnisse. Dazu gehören Freundschaften und ein gutes Beziehungsnetzwerk. Die vierte Ebene ist Anerkennung. Hier geht es darum, Respekt und Wertschätzung von anderen Menschen zu bekommen. Auf der fünften Ebene geht es schließlich um Selbstverwirklichung. Auf dieser Ebene möchten Menschen ihre Potenziale ausschöpfen, Ziele erreichen und Neues erschaffen.

Die ersten vier Ebenen werden als Defizitbedürfnisse bezeichnet und die höchste Stufe als Wachstumsmotiv. Werden Defizitbedürfnisse nicht befriedigt, kann der Mensch physischen oder psychischen Schaden erleiden. Hingegen wird das Wachstumsmotiv, also Selbstverwirklichung, nie vollkommen erfüllt werden. Wir brauchen Selbstverwirklichung also nicht zum Überleben, aber wir brauchen sie für unsere Zufriedenheit.

In meinem Nachdenken über Bedürfnisse möchte ich nicht vergessen, dass sich Selbstverwirklichung nur wenige Menschen auf der Erde leisten können. Viele Menschen werden durch Krieg, Flucht, Armut und aus weiteren Gründen niemals die Chance haben, sich um dieses Bedürfnis zu kümmern. Trotz aller Probleme in unserer Gesellschaft möchte ich niemals vergessen, dass es ein Privileg ist, sich um Selbstverwirklichung kümmern zu dürfen.

Gefühle nicht kleinhalten

Ich bin aufgewachsen mit Eltern und Großeltern, die mit dem Wahrnehmen von Bedürfnissen wenig anfangen konnten. Der Umgang mit Schwächen, Bedürfnissen und Gefühlen ist kulturell geprägt und abhängig von dem pädagogischen Mainstream der Zeit. Weder meine Großeltern noch meine Eltern durften als Kinder lernen, über ihre eigenen Bedürfnisse, Gefühle oder Schwächen zu sprechen. Seitdem hat sich viel verändert. Unsere Kinder erleben eine bedürfnisorientierte und gleichwürdige Erziehung. Uns ist es wichtig, was sie fühlen und was hinter ihren Gefühlen steckt. Bestenfalls bieten wir ihnen Wörter für ihre Gefühle an. Das bedeutet nicht, dass wir ihre Bedürfnisse immer erfüllen müssen. Aber wir möchten sie wahrnehmen, anhören und mit ihnen im Gespräch darüber bleiben.

Marshall B. Rosenberg hat mit dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation den Satz geprägt, dass hinter jedem Gefühl ein Bedürfnis steckt. „Ach so ist das“, dachte ich, als ich diesen Ansatz vor zehn Jahren kennenlernte. Dann steckt hinter meiner Wut also ein Bedürfnis. Aber welches? Zu Hause wurde mir keine Sprache dafür mitgegeben. Gefühle wurden kleingehalten und nicht akzeptiert. Wie soll ich denn jetzt an mein Bedürfnis herankommen?

Bedürfnisse herausfinden und anerkennen

Der erste wichtige Schritt dafür ist, das Bedürfnis hinter dem Gefühl herauszufinden. Der zweite ist, mich mit diesem Bedürfnis mitzuteilen. Unsere Gefühle zeigen uns, in welchem Maße unsere Bedürfnisse erfüllt werden oder auch nicht. Gefühle sind wichtige Boten. Wenn wir unser Bedürfnis hinter dem Gefühl erkennen und dieses mitteilen, dann gibt man dem Gegenüber die Möglichkeit, das Gefühl zu verstehen.

Als ich vor zehn Jahren auf eine Liste von Bedürfnissen blickte, wurde mir klar: „Ja, ich habe da einige Bedürfnisse, die nicht gestillt sind und die anfangen zu schmerzen. Aber ich kann ja sowieso nichts daran ändern.“ Außerdem hatte ich gelernt, dass ich nicht bedürftig zu sein habe und dass meine Bedürfnisse nicht wichtig sind. Inzwischen weiß ich: Das ist Blödsinn. Natürlich darf ich bedürftig sein und Bedürfnisse aussprechen. Nur so schaffe ich Nahbarkeit. Erst wenn mein Gegenüber weiß, was ich brauche und was mir wichtig ist, kann ein gesundes Gleichgewicht in einer Beziehung entstehen. Bedürfnisse können auch ausgehandelt werden: Können wir gerade umziehen? Kann ich meinen Job wechseln? Können wir etwas an unserer Partnerschaft verändern? Können wir weniger arbeiten? Kann ich in der Woche Zeit nur für mich allein haben? Bedürfnisse zu teilen, kostet Mut, denn ich zeige mein Inneres und mache mich verletzlich. Es besteht die Gefahr, dass mein Gegenüber die Bedürfnisse nicht versteht. Jeder von uns hat unterschiedliche Bedürfnisse. Das kann uns in Konflikte bringen. Aber es hat auch die Kraft, uns zu verbinden. Das Risiko, das damit einhergeht, wenn wir uns ehrlich mitteilen, lohnt sich. Denn am Ende steht die Chance einer tieferen Verbundenheit.

Sich von Wünschen nicht beherrschen lassen

„Ein Bedürfnis ist Hunger, ein Wunsch ist Pizza“, meinte neulich ein Freund zu mir. Wünsche resultieren aus Bedürfnissen. Dabei haben wir oft eine klare Vorstellung davon, wie unsere Bedürfnisse gestillt werden sollen. Ich war Gott schon ab und an dankbar, dass er mir meine Wünsche nicht erfüllt hat. Gleichermaßen habe ich schon oft gelitten, weil ich einen Wunsch hatte, wie jenes Bedürfnis gestillt werden sollte, und es ist ebenfalls nicht passiert. Das sind manchmal qualvolle Zeiten, in denen ein Wunsch nicht in Erfüllung geht und ein Bedürfnis nicht gestillt wird. Es ist ein Ringen. Und doch darf ich erleben, dass Bedürfnisse oft anders erfüllt werden als gedacht. Manchmal habe ich versucht, meine Bedürfnisse mit meiner Vernunft abzuschneiden. Erfolglos. Sie machen sich an anderer Stelle wieder bemerkbar. Bedürfnisse sind wichtig und können nicht einfach abgeschnitten werden. In ihnen liegt auch ein Teil meiner Persönlichkeit. Meine Bedürfnisse geben mir Antrieb für Veränderung. Ist etwas im Hier und Jetzt nicht gut, dann melden sich meine Bedürfnisse durch ein ungutes Gefühl. Bedürfnisse schaffen neue Ideen, Räume und Begegnungsflächen.

Sehnsüchte und Wünsche, wie ein Bedürfnis erfüllt werden soll, haben auch die Schlagkraft, mich zu beherrschen. Wenn mein ganzer Fokus auf der Erfüllung meines Wunsches liegt, dann wird er zerstörerisch und sorgt dafür, dass ich das Schöne, das neben dem unerfüllten Wunsch steht, nicht mehr wahrnehme. Dankbarkeit für das, was da ist, hilft gegen den Frust der unerfüllten Wünsche. Auch helfen weitere Perspektiven, wie Bedürfnisse gestillt werden könnten. Es gibt viele Wege dafür und wenn sie mir selbst nicht in den Sinn kommen, haben Freunde und Gott oft weitere kreative Ideen. Folgende Haltung hilft mir: Ich halte meine Handflächen nach unten und lasse los: Alles, was mich beschwert, gebe ich an Gott ab. Ich halte inne. Dann drehe ich meine Handflächen nach oben: Ich empfange. Ich bete mein persönliches Gebet. Mein Taufvers lautet: „Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Darauf will ich vertrauen.

Tamara von Abendroth arbeitet in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Berlin.

Wenn das innere Kind dazwischenfunkt

Ausraster, Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle: Das innere Kind bringt die Harmonie zwischen vielen Ehepartnern durcheinander. Psychotherapeutin Melanie Schüer erklärt die Zusammenhänge.

„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich mich so aufgeregt habe. Irgendwas hat mich daran total getroffen … aber es ist nicht deine Schuld“, murmelt Lea. Wieder mal ist sie ziemlich wütend geworden in einer Situation, die so ähnlich immer wieder für Konflikte sorgt.
„Wenn ich darüber ­nachdenke, fühle ich mich bei meinen Ausrastern, als wäre ich vergessen worden.“ Und tatsächlich: Gerade hat ihr Mann den Käse vergessen, den sie gern morgen zum Frühstück genossen hätte. Ihr Sohn hat gestern nicht daran gedacht, ihren Brief zur Post zu bringen, und ihre beste Freundin hatte sich nicht, wie angekündigt, gemeldet. In all diesen Situationen hatte Lea übertrieben wütend reagiert – eigentlich unreif, kindlich. Tatsächlich wecken diese Situationen Dinge in Leas Biografie, die das innere Kind betreffen.

Innerer Erwachsener – inneres Kind

Manchmal nehmen wir Menschen in uns verschiedene Stimmen wahr. Das ist die normale Tatsache, dass jeder Mensch verschiedene innere Anteile besitzt. Diese hängen auch mit unseren unterschiedlichen Rollen zusammen, die wir im Alltag einnehmen – zum Beispiel der Rolle als Freundin, als Partner, als Mutter, Vater, Angestellter oder als Schülerin.

Zwei sehr gegensätzliche innere Anteile sind das sogenannte ‚Erwachsenen-Ich‘ und das ‚innere Kind‘. Wenn wir sicher in der Rolle als Erwachsene agieren und uns dem, was uns begegnet, gewachsen fühlen, dann ist das Erwachsenen-Ich in uns besonders präsent. Wir fühlen uns dann souverän, selbstsicher und kompetent. Diese Gefühle sind stärker als Ängste, Sorgen oder Selbstzweifel. Es ist buchstäblich der erwachsene, reife Teil in uns – man könnte auch sagen, „die Stimme der Vernunft“. Das mag positiv klingen, beinhaltet aber auch negatives Potenzial wie Perfektionismus und Verlust von Lebensfreude. Wer immer nur auf den inneren Erwachsenen hört, schwächt oft wichtige Aspekte des Lebens wie Fantasie, Unbeschwertheit, Freude oder Spontaneität.

In diesen Zuständen kommt ein anderer Anteil besonders stark zum Vorschein: unser inneres Kind. Es kann uns befähigen, das Leben zwischendurch leicht zu nehmen und zu genießen. Wir können herumalbern und völlig im Moment sein. Gleichzeitig sind mit dem inneren Kind auch bestimmte negative Erfahrungen verbunden. Wenn das innere Kind in uns stark wird, dann kann es passieren, dass wir uns unzulänglich, gedemütigt, abgelehnt, hilflos oder belächelt fühlen. Diese Gefühle hängen mit Erfahrungen aus unserer Kindheit zusammen, die natürlich individuell unterschiedlich sind. Sie werden in Momenten wach, in denen wir an Situationen aus unserer Kindheit erinnert werden – oft sprechen wir dann von „Triggern“. Es fühlt sich an, als wären wir in die Situation von früher zurückversetzt. So wie Lea, die in Trigger-Situationen ein Muster erkennt, dass sie sich fühlt wie die kleine Lea in bestimmten Momenten.

Grundüberzeugungen auf der Spur

Prägende und wiederkehrende Erfahrungen in der Kindheit führen zur Entwicklung fester Grundüberzeugungen. Das sind Glaubenssätze, die unbewusst unsere Sicht auf uns selbst, andere Menschen und Situationen formen, zum Beispiel:

  • Wenn ich nicht alles perfekt mache, werde ich nicht akzeptiert.
  • Wenn ich anders als andere bin, werde ich zurückgewiesen.
  • Egal, was ich tue, es ist nie genug.
  • Meine Meinung und Wünsche zählen nicht.
  • Ich muss alles kontrollieren, weil ich sonst nicht sicher bin.
  • Die anderen können alles besser.

Selbstverständlich gibt es auch positive Überzeugungen, zum Beispiel „Ich kann etwas leisten!“ oder „Meine Meinung zählt etwas!“. Aber in Krisen und Problemen, insbesondere in der Paarbeziehung, bekommen die negativen Grundüberzeugungen stärkeres Gewicht. Das liegt daran, dass wir uns in einer Paarbeziehung besonders öffnen und dadurch verletzlich machen und an unser Gegenüber Bedürfnisse und Erwartungen herantragen, die denen eines Kindes gegenüber den Eltern ähneln.

Lea könnte die negative Grundüberzeugung so formulieren: „Ich werde oft vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“ Lea wuchs bei ihrem alleinerziehenden Vater auf, der völlig überfordert war. Oft vergaß er, Lea etwas zu essen vorzubereiten oder sie vom Kindergarten abzuholen. Sie erinnert sich genau, dass sie oft als letztes Kind wartete, während ihr Erzieher versuchte, den Vater zu erreichen. Wenn Lea ihren Vater dann weinend begrüßte, nahm er sie nicht ernst: „Mach doch nicht so ein Theater. Ich komme doch immer!“ Irgendwann mischte sich Leas Traurigkeit mit Wut. Diese Wut über das Verhalten ihres Vaters konnte das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht ein wenig abschwächen. Und genau diese Gefühle kommen auch jetzt wieder hoch, wenn sie sich vergessen und nicht wertgeschätzt fühlt.

Das innere Kind und die Paarbeziehung

Solche negativen Grundüberzeugungen aus der Kindheit mit den dazugehörigen Gefühlen wie Scham, Angst, Traurigkeit, Wut, gepaart mit Verhaltensweisen wie Konfliktvermeidung, übertriebener Anpassung oder mangelnder Offenheit haben einen enormen Einfluss auf die Paarbeziehung.

Im Paar-Alltag entstehen immer wieder Situationen, die uns unbewusst an Erlebnisse aus der Kindheit erinnern. Die Ähnlichkeit der Situation (zum Beispiel eine frustrierte Reaktion meines Partners, weil ich etwas nicht schaffe) kann die vertrauten Denkmuster, Gefühle und entsprechende Verhaltensweisen auslösen, zum Beispiel, wenn Lea ihren Mann anschreit, weil sie sich in diesem Moment wieder wie die kleine, vergessene Lea fühlt, sie von Traurigkeit überwältigt ist und mit Wut reagiert.

Diese Dynamik kann Konflikte immer wieder befeuern, weil beide Partner nicht verstehen, was eigentlich gerade passiert. Scheinbar kindische, unreife Verhaltensweisen treten immer wieder auf, denn handlungsleitend ist in diesen Fällen tatsächlich das innere Kind!

Das innere Kind auf frischer Tat ertappen

Um diese Zusammenhänge zu erkennen, ist es wichtig zu verstehen, welche Situationen zu Konflikten führen. Welche Muster sind erkennbar? Was haben die letzten Konfliktanlässe, an die Sie sich erinnern, gemeinsam? Was sind Themen, die ähnlich sind – zum Beispiel Äußerung von Kritik, Umgang mit Verschiedenheit, Einstellungen zu bestimmten Fragen wie Haushaltsführung, Finanzen, Alltagsgestaltung. Meist kommen schnell Muster zum Vorschein und zeigen an, was Ihr inneres Kind oder das Ihres Gegenübers triggert.

Dann gilt es, ein wenig in der Zeit zurückzureisen: Inwiefern kennen Sie dieses Thema beziehungsweise ähnliche Situationen aus Ihrer Kindheit? Was haben Sie damals empfunden? Was war damals belastend und stressig? Was hat Sie verletzt, beschämt, wütend gemacht oder geängstigt?

Das innere Kind beruhigen

Wichtig ist, in so einem Reflexionsprozess das innere Kind nicht einfach beiseitezuschieben. Das wäre auf Dauer nicht hilfreich. Denn das innere Kind meldet sich an ähnlichen Stellen wieder, weil dieses Thema in der Kindheit nicht ausreichend verarbeitet werden konnte. Es gilt daher, die Verletzung des inneren Kindes ernst zu nehmen und wie ein liebevoller Erwachsener mit Verständnis zu reagieren.

Es klingt vielleicht komisch, aber hier hilft ein wenig Kopfkino. Stellen Sie sich sich selbst als Kind in einer belastenden Situation vor, an die Sie sich noch erinnern können. Und dann gehen Sie in Ihrer Fantasie als heutiges, erwachsenes Ich auf Ihr jüngeres Ich zu und blicken es freundlich an. Sagen Sie ihm das, was Sie damals schon hätten hören müssen. Sprechen Sie ihm Mut und Trost zu und erklären Sie, dass die Situa­tion heute anders ist als damals. Wenn Sie offen dafür sind, stellen Sie sich auch gerne vor, wie Sie sich dem inneren Kind zuwenden, es trösten und stärken.

Grundüberzeugungen verändern

Der nächste Schritt ist die Frage, welche Grundüberzeugung hinter dem Konflikt stehen könnte – im Beispiel von Lea: „Ich werde vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“ Welche Erfahrungen haben zu dieser Überzeugung geführt – und welche anderen, positiven Erfahrungen und Erkenntnisse stehen dagegen? Sammeln Sie Argumente, was gegen die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Und wenn sie der Realität nicht standhält, dann formulieren Sie – am besten schriftlich – eine positive, realistische Grundüberzeugung – wie beispielsweise „Ich bin Gott so wichtig, dass er sogar die Zahl der Haare auf meinem Kopf kennt. Ich bin mir selbst wichtig. Und es gibt Menschen, denen ich wichtig bin, wie …“

Vergegenwärtigen Sie sich die positiven Sätze immer wieder, um neue Denkpfade zu prägen, die Ihre Wahrnehmung prägen und zur Realität werden. Womöglich fühlt sich das anfangs künstlich an – das ist normal, denn Ihr Gehirn hat ja jahrelang das Gegenteil gedacht! Geben Sie dem Training also etwas Zeit.

Nicht alles geht in Eigenregie

Vieles können wir selbst durch Reflexion erreichen. Manche Prozesse brauchen aber Begleitung und Hilfe. Einige Grundüberzeugungen sitzen so tief, haben eine so destruktive Wirkung, manche Erfahrungen unseres inneren Kindes waren so massiv, dass eine Aufarbeitung allein nicht gelingt. Ein freundliches, professio­nelles Gegenüber macht einen großen Unterschied und kann einen sehr heilsamen Prozess in Gang bringen.

Melanie Schüer ist Mutter von zwei Kindern und berufstätig als Kinder- und Jugendlichenpsycho­therapeutin und Autorin im Osnabrücker Land. In Freundschaften und ihrer Paarbeziehung stößt auch sie immer wieder auf ihr inneres Kind.

Unter einem Dach – Endlich ausziehen

Elternfrage: „Unsere Tochter (22) hat ihre Ausbildung abgeschlossen und startet demnächst in ihren ersten Job. Sie möchte gern weiter bei uns wohnen. Wir denken aber, dass es ihr guttun würde, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Wie können wir ihr das vermitteln, ohne dass der Eindruck entsteht, dass wir sie loswerden wollen?“

Schön, dass Sie sich vor dem Gespräch mit Ihrer Tochter Gedanken machen möchten. Das ist wichtig, weil tatsächlich schnell das Gefühl bei Ihrem Kind entstehen kann, vor die Tür gesetzt zu werden. Um das zu verhindern, ist es hilfreich, sich darüber klar zu werden, mit welcher Haltung Sie in das Gespräch gehen wollen. Wenn Sie eine ergebnisoffene Haltung einnehmen, vermitteln Sie, dass Sie an den Bedürfnissen, Wünschen, Plänen, vielleicht auch Ängsten oder schon vorhandenen Überlegungen Ihrer Tochter interessiert sind. Dadurch fühlt sie sich gehört und vermutlich auch verstanden. Und vermutlich ist sie danach auch offen dafür, sich Ihre Überlegung und Einstellung zum Ausziehen anzuhören.

Zu teure Wohnungen?

Normalerweise haben die meisten jungen Menschen den Drang, endlich von zu Hause ausziehen zu können. Sie wollen gern in die Selbstständigkeit. Welche Beweggründe könnten bei Ihrer Tochter hinter dem Wunsch stehen, noch weiter bei Ihnen wohnen zu bleiben? Vielleicht genießt sie das „Hotel Mama“ und es ist einfach bequem? Oder will Ihre Tochter erst sichergehen, dass sie auch die Probezeit im neuen Job schafft, bevor sie sich an das nächste große Projekt „Umzug“ macht? Möchte sie erst Geld ansparen, damit sie problemlos eine Wohnungseinrichtung und eine Kaution finanzieren kann? Oder hat Ihre Tochter vielleicht Angst vor dem Alleinsein und befürchtet, sich einsam zu fühlen? Womöglich plagt sie auch die Sorge, mit der neuen Verantwortlichkeit überfordert zu sein. Unter Umständen sind die Mieten in der Umgebung zudem so hoch, dass sie es sich nicht zutraut, eine eigene Wohnung finanziell zu stemmen?

Flügge werden

Wenn Sie wissen, welche Gründe für Ihre Tochter gegen das Ausziehen sprechen, dann wissen Sie auch, was sich verändern lässt, um sie für den Auszug zu befähigen. Sie könnten zum Beispiel gemeinsam darüber nachdenken, wie Sie die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit Ihrer Tochter fördern und zu Hause erlebbar machen. Haushaltsorganisation und Budgetplanung darf schon jetzt besprochen und eingeübt werden. Vielleicht gibt es auch von Ihrer Seite Bedürfnisse, die bisher unausgesprochen im Raum standen, warum Sie sich einen Auszug wünschen? Sehnen Sie sich vielleicht nach mehr Ungestörtheit, Unabhängigkeit und Zweisamkeit als Ehepaar? Dann überlegen Sie, wie Sie dies auch ohne Auszug der Tochter umsetzen können.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie durch diese Ideenanregungen mit Neugier in einen Austausch starten. Ein Austausch, in dem Sie Neues über Ihr Kind erfahren und in dem auch Sie mit Ihren Überlegungen Gehör finden. Solange Ihre Tochter noch bei Ihnen wohnt, wünsche ich Ihnen Freude daran, dass Ihr Verhältnis offensichtlich so gut ist, dass sie gern bei und mit Ihnen wohnt.

Michaela Schnabel wohnt in Witten. Ihre Kinder sind schon länger flügge und so eigenständig, dass es nicht immer leicht ist, gemeinsame Zeiten zu finden.

Auf eigenen Füßen – Großfamilie im Konflikt

Elternfrage: „Mich belastet im Umgang mit den Schwiegereltern unseres Sohnes (22) das Gefühl, immer zurückstecken zu müssen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, wo mein Sohn und seine Frau die Feiertage verbringen. Was kann mir dabei helfen?“

Diese Frage führt uns in eine Großfamilie, die noch nicht lange in dieser Konstellation besteht: Zwei junge Menschen haben geheiratet und damit treffen zwei Familienkulturen der Herkunftsfamilien aufeinander. Das betrifft aber nicht nur das Paar, sondern auch alle Angehörigen. Unsere Familienkultur prägt unseren Umgang mit Ritualen und Festen, aber auch mit den grundsätzlichen Themen wie Kommunikation und Erwartungen. Da gibt es ein Ehepaar, das gern an den Feiertagen ihren Sohn und seine Frau bei sich haben möchte. Und es gibt ein anderes Ehepaar, das gern zur gleichen Zeit ihre Tochter und deren Ehemann bei sich haben möchte. Um besser verstehen zu können, was in diesem Gesamtsystem „Großfamilie“ vor sich geht und wie sich dafür Lösungen finden lassen, kann man die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg nutzen.

Gewaltfreie Kommunikation

Schritt 1: Was ist passiert? Versuchen Sie, so objektiv wie möglich zu beschreiben, was vorgefallen ist. Als ob Sie einen Film drehen würden, der vor dem inneren Auge abläuft. Wer hat was getan oder nicht getan und in welcher Reihenfolge?

Schritt 2: Welche Gefühle hat das Geschehen bei Ihnen ausgelöst? Es lohnt sich, darüber etwas länger nachzudenken.

Schritt 3: Welche Bedürfnisse stehen hinter den Gefühlen, die Sie entdeckt haben? Man könnte sich selbst auch fragen: Was will ich „eigentlich“? Was treibt mich denn so um, dass ich mich benachteiligt, ärgerlich, verletzt, hilflos oder ähnliches fühle? Wenn Sie bemerken, dass es emotional erstaunlich heftig in Ihnen zugeht, könnte es sein, dass sehr wichtige Dinge wie eine Sehnsucht, eine Überzeugung, ein Grundwert oder Ideal (zum Beispiel von Familie) berührt wurden.

Schritt 4: Formulieren Sie eine Bitte an sich selbst oder an eine andere Person, in der freundlich in Worte gefasst wird, was Sie sich wünschen.

Diese Abfolge von Fragen kann dazu dienen, dass Sie sich besser verstehen und sortieren.

Verständnis füreinander

Eine weitere Übung ist es, diesen 4-Schritte-Ablauf für jede beteiligte Person des Systems einmal zu durchdenken. Natürlich ist da etwas Spekulation dabei, aber sicherlich werden einige Fragen auch leicht zu beantworten sein. Was hat Ihr Ehepartner erlebt? Was hat denn das junge Paar dabei erlebt? Was haben die Eltern der Schwiegertochter erlebt? Gibt es überraschende Erkenntnisse bei dieser Betrachtung?

Der nächste Schritt wäre nun, diese Kommunikation nicht nur im Denken, sondern in der Realität zu führen. Ein „Sag mal, wie geht es dir eigentlich damit, wie wir die Feiertage als Familie verbringen?“ könnte Ihnen vielleicht leichter gegenüber Ihrem Sohn über die Lippen kommen, weil Sie sich vorher über Ihre Gefühle und Bedürfnisse klar geworden sind. Vielleicht kommen auch überraschende Erkenntnisse zutage, wer was gesagt oder nicht gesagt hat; wer welche Gefühle mit sich herumträgt und wer was gern hätte oder erwartet. Dabei können große Unterschiede oder Übereinstimmungen entdeckt werden. Im Idealfall kann sich ein größeres Verständnis für die anderen Beteiligten einstellen. Und vielleicht gelingt es anschließend, eine neue gemeinsame Großfamilienkultur zu leben.

Ursula Hauer leitet den Seelsorge- und Beratungsdienst Feuerbach und lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.