„Narzisstisch gestörte Menschen machen andere Menschen krank“

Elena Digiovinazzo ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und in einer psychosomatischen Klinik für Menschen mit Persönlichkeitsstörung therapeutisch tätig. Sie erklärt, was eine Narzisstin oder einen Narzissten ausmacht.

Frau Digiovinazzo, was ist ein Narzisst?

Es ist ein Mensch, der tief in sich ein unterentwickeltes Selbstwertgefühl hat. Er muss andere Menschen dominieren, kontrollieren und abwerten, um sich besser zu fühlen. Man geht davon aus, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung eine Selbstwert-Regulations-Störung ist. Das DSM-5, das amerikanische Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen, definiert es so, dass mindestens fünf von neun Punkten zutreffen müssen: Die Person ist sehr arrogant. Sie hat wenig Empathie. Sie ist neidisch oder glaubt, andere seien neidisch auf sie. Sie hält sich für sehr wichtig. Sie ist eingenommen von Fantasien grenzenloser Macht, Schönheit, idealer Liebe und Erfolg. Sie glaubt, einzigartig und besonders zu sein. Sie verlangt übermäßige Bewunderung. Sie hat Ansprüche auf eine Sonderbehandlung. Sie nutzt andere zum Erreichen der eigenen Ziele aus.

Das ist die Definition für einen krankhaften Narzissmus. Gibt es auch einen gesunden Narzissmus?

Ja. Ein gesunder Narzissmus ist wichtig dafür, dass wir ein gutes Gefühl für unsere Grenzen und unseren Wert haben, dass wir uns behaupten können und zielstrebig sind. Auch das Streben nach Erfolg ist normal, solange ich in der Lage bin, Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen zu nehmen. Problematisch ist es, wenn ein Mensch kein Selbstwertgefühl hat und die Sichtweise anderer Menschen nicht nachvollziehen und ihre Grenzen nicht respektieren kann. Ein krankhafter Narzisst giert nach Aufmerksamkeit und Bewunderung. Er nutzt andere Menschen aus, um gut dazustehen. Auf Kritik reagiert er übermäßig empfindlich, wohingegen ein Mensch mit einem gesunden Narzissmus nicht gleich aus der Bahn geworfen wird, wenn er Kritik bekommt.

Wie viele Menschen sind denn von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung betroffen?

Es sind ungefähr ein Prozent, bei Frauen etwa 0,7 Prozent, bei Männern etwa 1,2 Prozent. Wobei es hier sicher eine Dunkelziffer gibt. Denn Narzissten suchen sich in der Regel keine Therapie.

In unserem Family-Artikel einer betroffenen Frau kommt der Begriff des verdeckten Narzissmus vor. Was versteht man darunter?

Die Definition aus dem DSM-5 bezieht sich auf den sogenannten grandiosen oder offenen Narzissmus. Der verdeckte Narzisst agiert subtiler und ist schwerer zu erkennen. Er zeigt sich nach außen selbstlos und ist oft in Hilfsorganisationen oder der Kirche tätig. Aber eigentlich nur deshalb, weil er das Ansehen braucht und nicht, weil er anderen helfen möchte. Einen grandiosen Narzissten kann man leichter erkennen, weil er das offen zur Schau trägt. Der verdeckte Typ stellt sich als wohlwollender, altruistischer Mensch dar, hat aber genauso wenig Mitgefühl anderen Menschen gegenüber. Er macht das alles nur für sich.

Welche Auswirkungen kann es für Kinder haben, wenn ein Elternteil Narzisst ist?

Ein narzisstischer Vater oder eine narzisstische Mutter sind nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, Liebe zu zeigen oder eine sichere Bindung herzustellen. Eine Folge kann sein, dass das Kind selbst auch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung oder starke narzisstische Züge entwickelt. Bei betroffenen Kindern kann man beobachten, dass sie nur schwer anderen Menschen Grenzen setzen, Nein sagen oder für sich selbst sorgen können. Sie haben oft starke Insuffizienzgefühle, also Gefühle von Wertlosigkeit. Weitere mögliche Auswirkungen sind Angststörungen, Süchte, Essstörungen, Depressionen und psychosomatische Beschwerden. Betroffene sind häufig anfällig für Sekten oder andere toxische Beziehungen, wo sie wieder manipuliert werden.

Wenn jemand den Verdacht hat, dass ein Elternteil eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat – muss man den Kontakt abbrechen?

Das kommt auf den Schweregrad der Persönlichkeitsstörung an und wie resilient die betroffene Person nach dem emotionalen Missbrauch noch ist. Es gibt Fälle, in denen Betroffene in der Lage sind, mit beschränktem Kontakt ein glückliches Leben zu führen. Dann wiederum gibt es Konstellationen, in denen ein Kontaktabbruch unumgänglich ist. In beiden Fällen kann psychotherapeutische Unterstützung sehr hilfreich sein.

Aber wenn die Eltern schon alt sind und Unterstützung brauchen, stelle ich mir das schwierig vor, den Kontakt abzubrechen.

Es kann passieren, dass Betroffene sich schuldig fühlen. Aber noch schlimmer, als die Eltern im Stich zu lassen, ist, sich selbst und seine eigene Familie im Stich zu lassen. Es muss noch genügend Energie da sein, sich um sich selbst, seine Kinder und seinen Partner zu kümmern. Narzisstisch gestörte Menschen machen andere Menschen krank, körperlich und psychisch. Das sollte man nicht unterschätzen. Wenn die Eltern pflegebedürftig sind, kann es helfen, möglichst viel Unterstützung für die Eltern an andere zu delegieren: Pflegedienst, Nachbarn, Menschen aus dem Freundeskreis oder der Gemeinde der Eltern, wenn vorhanden.

Die Fragen stellte Bettina Wendland.

BUCHTIPPS:

  • Elena Digiovinazzo: Narzissmus in der Familie. Untersuchung eines Verbrechens
  • Elena Digiovinazzo: Verlorenes Ich. Ein Essay zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Beide Bücher und weitere Infos sind hier erhältlich.

  • Jörg Berger: Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Konflikte befrieden und versöhnt leben (Francke)
  • Annika Felber: Wenn die Familie nicht guttut. Toxische Beziehungen erkennen und lösen (Junfermann)
  • Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle (ecoWing)

Facebook-Gruppe: „Christen helfen Christen im Umgang mit Narzissten“, moderiert von Elena Digiovinazzo (Link)

Narzisstische Mutter: „Ich wurde ständig manipuliert“

Fast ihr ganzes Leben wird von Ängsten bestimmt. Als unsere Autorin sich ihnen stellen will, kommt sie der möglichen Ursache auf die Spur: dem Narzissmus ihrer Mutter.

Ich kenne dich nur zusammen mit deinen Ängsten“ – diese Aussage meines Mannes bringt mich ins Nachdenken. Immerhin kennen wir uns seit über 20 Jahren. Meine Gedanken gehen zurück in meine Jugendzeit. In den oberen Schulklassen war ich öfter wegen Übelkeit zu Hause. War das der Beginn meiner Ängste? Die schulische Phase meiner Berufsausbildung konnte ich genießen. Doch als die praktische Arbeit begann, zu der Besprechungen mit Kolleginnen dazugehörten, merkte ich: Das Zusammensein mit anderen Menschen bereitet mir Schwierigkeiten. In dieser Zeit lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Er hat recht: Er kennt mich nur mit meinen Ängsten. Diese wurden nicht weniger, das Leben wurde immer anstrengender. Entweder zwang ich mich, irgendwo hinzugehen und quälte mich, oder ich blieb zu Hause. Die Vermeidung begann.

Die Ängste anschauen

Wir heirateten, bekamen Kinder und ich war mit deren Betreuung beschäftigt. Als sie aus dem Gröbsten raus waren, kam mir die Idee, mich für ein Ehrenamt fortbilden zu lassen. Lange wog ich ab, ob ich dies mit meinen Ängsten schaffen könnte. Die Aufgabe reizte mich so sehr, dass ich mich für die Fortbildung anmeldete. Die ersten beiden Abende waren nicht einfach, aber dennoch gut. Am dritten Abend bekam ich eine Panikattacke. Völlig erschöpft kam ich nach Hause. Mir war klar: Das kann so nicht weitergehen. Ich schaffe diese Fortbildung nicht. Außerdem mag ich nicht mehr auf die schönen Dinge im Leben verzichten.

Ich suchte mir eine Psychotherapeutin und begann, meine Ängste anzuschauen. Seit vielen Monaten bin ich dort in Behandlung, es ist ein wellenartiges Auf und Ab. Durch meine kleinen Fortschritte will ich mich ermutigen lassen, dranzubleiben, auch wenn es viel Kraft kostet. Im Zuge der Psychotherapie kam die Frage auf, woher diese Ängste kommen könnten. „Keine Ahnung“, war lange meine Antwort. Dadurch, dass ich eine Verhaltenstherapie mache, stehen die Vergangenheit und die Kindheit nicht im Vordergrund. Ängste haben jedoch oft ihren Ursprung im Elternhaus oder in der Schulzeit, was den sporadischen Blick zurück nahelegt.

Blick in die Kindheit

Nach über einem Jahr in der Therapie begegnete mir zum ersten Mal der Begriff „Narzissmus“. Es stand die Frage im Raum, ob meine Mutter eine verdeckte narzisstische Persönlichkeitsstörung haben könnte. Ich verfolgte dies zuerst nicht. Monate später kam der Begriff „Narzissmus“ wieder auf, und ich begann zu recherchieren. So gelangte ich an ein Video von Pet Anthony, in dem es um Töchter narzisstischer Mütter geht. In meiner Psychotherapie hatte ich Glaubenssätze herausgearbeitet, die zu meinem Unwohlsein in Gegenwart anderer Menschen führten. Nun begegneten mir genau diese Glaubenssätze wieder. Der Zusammenhang zwischen meinen Glaubenssätzen und den Spuren, die eine narzisstische Mutter bei ihrer Tochter hinterlassen kann, machte mich sprachlos. Einer der Glaubenssätze lautet: „Ich darf nicht laut sein. Ich muss mich der Gesellschaft anpassen.“ Ein anderer: „Ich muss immer (der Mutter) dienen.“

Ich wagte einen Blick in meine Kindheit und versuchte, die Gefühle von damals zuzulassen: Meine Mutter war sehr launisch und hatte extreme Stimmungsschwankungen. Wurde ich beachtet, wenn ich nach Hause kam, folgte Erleichterung. Wurde ich ignoriert, war klar, dass etwas vorgefallen sein musste. Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich lebte in ständiger Anspannung und entwickelte einen vorauseilenden Gehorsam, der mich bis heute begleitet. Ich war damit beschäftigt, die Erwartungen und Bedürfnisse meiner Mutter herauszufinden und zu erfüllen. Bloß keinen Fehler machen – sonst war tagelanges Schweigen die Folge. Mein Vater erwartete, dass ihr Verhalten akzeptiert wird. Er rechtfertigte ihre Stimmungsschwankungen: „Sie hat heute einen schlechten Tag, bitte nimm Rücksicht auf sie!“ Wie viele der „schlechten Tage“ ich in meiner Kindheit miterleben musste, kann ich nicht ermessen. Ich wurde ständig manipuliert, musste machen, was sie wollte, und konnte nicht ich selbst sein. Das war emotionaler Missbrauch.

Wenig Liebe und Empathie

Das alles führte dazu, dass ich keine eigene Meinung hatte und auch nicht haben durfte. War ich anderer Ansicht als meine Mutter und äußerte diese, musste ich mit Schweigen rechnen. Vermutlich nahm sie andere Meinungen als Kritik wahr und konnte damit nicht umgehen. Ich lernte nicht, wie man miteinander kommuniziert, Konflikte aushandelt und löst. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, mit wie wenig Liebe und Empathie ich großgeworden bin. Ein Lob oder eine Umarmung gab es selten. So konnte ich kein Selbstbewusstsein entwickeln. Angststörungen, Stimmungsschwankungen, Depressionen und Süchte sind oft die Folgeerscheinungen bei Kindern mit einem narzisstischen Elternteil. Ich bin nicht auf der Suche nach einem Schuldigen für meine Angststörung. Ich möchte meine Mutter nicht schlechtreden – schließlich habe ich auch gute Dinge von ihr mit auf den Weg bekommen. Doch es hilft mir, eine Idee zu haben, woher meine Schwierigkeiten kommen könnten. So kann ich vieles einordnen, auch wenn es mein „Problem“ an sich nicht löst.

In Gedanken gehe ich meine nähere Verwandtschaft durch. Gehäuft finde ich Ängste, Depressionen und Süchte. Ist das ein Zufall? Ich denke nicht. So wie es aussieht, ziehen sich der Narzissmus und seine Folgen schon über viele Generationen. Ich fasse den Entschluss, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Auf keinen Fall möchte ich ihn an meine Kinder weitergeben. Also werde ich tun, was ich kann, und mich mit meiner Vergangenheit und meinen Ängsten auseinandersetzen.

Freiheit durch Distanz

In einem Newsletter von team-f bringt es die Ärztin und Therapeutin Maria Steuer auf den Punkt: „Wer Klarheit darüber hat, wie er zu dem Menschen heute geworden ist, hat die Chance, sich zu ändern und eine neue Selbstliebe zu entdecken. Und er muss auch nicht sein Kindheitspaket unbewusst und unreflektiert an die eigenen Kinder weitergeben.“ Es braucht oft jahrelang, bis man erkennt, was einem widerfahren ist. Es braucht Zeit, bis man akzeptiert, dass die eigene Mutter so ist und man sie nicht ändern kann. Erst dann beginnt Heilung, indem man sich die Fragen stellt, „Wer bin ich?“ und „Was brauche ich?“.

Damit mir dies möglich ist, habe ich mich von meinen Eltern distanziert. Ich spürte sofort, wie viel Freiheit ich dadurch bekam. Mein Weg ist noch nicht zu Ende, und es gibt auch (noch) kein Happy End. Doch ich bin auf einem guten Weg.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

 

Empathisch

Was ist Empathie? Nicht das, was viele denken.

Wenn ich mit Menschen über ihre Partnerschaft spreche, sagen mir viele, dass sie sich wünschten, ihr Partner oder ihre Partnerin hätte mehr Empathie. Vor allem von Frauen höre ich, dass es ihren Männern schwerfällt, das Mitgefühl aufzubringen, das sie eigentlich bräuchten. Stattdessen bekommen sie viele gut gemeinte Hinweise, wie man die Situation lösen könnte. Auch Aufmunterungen im Sinne von „Du schaffst das schon!“ stehen hoch im Kurs.

Anknüpfungspunkte

Wenn uns der andere erzählt, was ihn bedrückt, ist es manchmal schwer, einfühlsam darauf zu reagieren. Wenn wir ehrlich sind, finden wir das Gehörte oft schwer nachvollziehbar, manchmal sogar haarsträubend. Meistens findet der Zuhörer keinen Anknüpfungspunkt an die Erfahrungen seines Gegenübers, weil er selbst die gleichen Ereignisse ganz anders wahrgenommen und interpretiert hätte. Wie kann man mitfühlen, wenn man selbst nie etwas Ähnliches erlebt hat? Und wahrscheinlich auch nie etwas Ähnliches erleben wird, weil man anders gestrickt ist und anders mit dem Leben umgeht?

Diesen Überlegungen liegt ein großes Missverständnis über Empathie zugrunde. Als Gesellschaft haben wir hier eine kollektive Bildungslücke. Empathisch zu sein, bedeutet nämlich nicht, dass ich das Erleben meines Partners/meiner Partnerin nachvollziehen kann. Vielmehr bedeutet es, dass ich ihm/ihr aufmerksam zuhöre und ihm/ihr glaube, wenn er/sie mir davon erzählt, was ein bestimmtes Erlebnis bei ihm/ihr ausgelöst hat. Auch wenn das nicht mit meinem Erleben zusammenpasst. Die Empathieforscherin Brené Brown bringt es auf den Punkt: „Empathie bedeutet nicht, sich mit einer Erfahrung zu verbinden, sondern mit den Gefühlen, die durch eine Erfahrung ausgelöst wurden.“

Ungerecht behandelt

Als empathische Zuhörerinnen und Zuhörer versuchen wir also, in uns selbst etwas zu finden, das das Gefühl kennt, das unser Gegenüber beschreibt, und daran anzudocken. Ein Beispiel: Nadine erzählt Tobias, wie schwierig es für sie ist, dass ihr Kollege alle Lorbeeren für ein Projekt erhält, zu dessen Erfolg hauptsächlich sie beigetragen hat. Gerade heute hat ihr Vorgesetzter wieder vor dem ganzen Team die hervorragende Arbeit des Kollegen gelobt und ihren Beitrag mit keinem Wort erwähnt.

Tobias liegt die Lösung auf der Zunge: „Dann musst du dich halt wehren.“ So hätte er es gemacht. Ist ja absurd, dass man sich so etwas bieten lässt. Doch stattdessen fragt er sich: „Gibt es etwas in mir, das mir helfen könnte, zu erkennen und mich mit dem zu verbinden, was Nadine fühlt?“ Und tatsächlich kennt auch Tobias Situationen, in denen er sich ungerecht behandelt fühlt oder das Gefühl hat, dass ihn niemand wahrnimmt. Und wenn er dort anknüpft, wird es ihm gelingen, einfühlsam auf Nadine zu reagieren.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter: familylife.ch/five

Als Paar einen Treuebruch überleben

Wenn ein Treuebruch passiert, fällt die betrogene Person oft aus allen Wolken. Ist eine Ehe nach einer Affäre noch zu retten? Von Christina Glasow

Kati (alle Namen geändert) hatte schon wochenlang so ein Gefühl … Jetzt hält sie Tills Handy in der Hand und starrt mit klopfendem Herzen auf seinen Chatverlauf mit Lena. Kati kennt sie schon lange. Sie arbeitet für die gleiche Firma wie Till. Was sie da liest, lässt sie erstarren: Herzchen, Küsschen, „Ich vermisse dich“, „Ich sehne mich nach dir“ …

In Katis Kopf und Herz bricht Chaos aus: Schmerz. Wut. Angst. Enttäuschung. Scham. Wie konnte er das nur tun? Bin ich nicht gut genug? Ist unsere Beziehung eine einzige Lüge? Wie lange geht das schon so? Was hat er ihr über uns erzählt? Ich werfe ihn raus. Ich will ihn nicht verlieren.

Mit Katis Entdeckung konfrontiert, kommt Till stammelnd mit der Wahrheit heraus. Er hat Angst und ist gleichzeitig von einer tonnenschweren Last befreit. Till hatte sich mit Lena so lebendig gefühlt, so begehrt. Aber Kati anzulügen, war schwer. Er liebt sie doch. Er war ständig in Angst, aufzufliegen. Aber auch unfähig, aufzuhören.

Wo und wie beginnt Treuebruch?

Treuebruch ist ein Durchbrechen der getroffenen Vereinbarung über die Exklusivität einer Partnerschaft. Ein Aufbauen von Intimität mit einer dritten Person. Wie genau diese aussieht, wo die Grenze liegt, ist sehr unterschiedlich. Treuebruch hat viele Gesichter: einmalig oder länger andauernd, mit einer Person aus dem Umfeld oder jemand Unbekanntem, mit oder ohne Gefühle, „nur“ emotional oder auch körperlich … Es finden Heimlichkeiten, Hintergehen und damit ein Vertrauensbruch statt, der die betrogene Person in unterschiedlichem Maße erschüttert.

Oft entsteht Untreue schleichend und mit einer Person aus dem Lebensumfeld (Freundeskreis, Job, Hobby, Gemeinde), der man mehr und mehr Aufmerksamkeit schenkt, die auch erwidert wird. Unmerklich wird so der Punkt der Freundschaftlichkeit überschritten. Der Partner oder die Partnerin dürfte jetzt nicht mehr danebenstehen, wenn Nachrichten ausgetauscht werden. Ist dieser Punkt erreicht, wird es schwierig, aus der Situation wieder herauszukommen.

Was ist jetzt wichtig?

Auch wenn die Hürde riesengroß ist: Es ist besser, wenn die untreue Person den Treuebruch selbst beichtet, als dass es durch andere oder durch die betrogene Person herausgefunden wird. Nach dem Aufdecken der Untreue können auf beiden Seiten schwer aushaltbare Gefühle wie Enttäuschung, Verrat, Hilflosigkeit, Schmerz, Angst, Zerrissenheit, Wut und Scham aufkommen. Eine Trennung scheint eine naheliegende, schnelle Lösung zu sein. Es ist jedoch wichtig, keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen.

Ein Treuebruch muss nicht das Ende einer Beziehung sein. Wenn beide grundsätzlich die Beziehung weiterführen möchten (von diesem Fall gehe ich im Weiteren aus), ist es möglich, einen Treuebruch zu verarbeiten. In meiner Praxis durfte ich schon viele Paare begleiten, die sich diesem schmerzhaften Prozess gestellt haben und anschließend als Paar gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen sind. Ob ein Treuebruch verarbeitet werden kann, hängt davon ab, wie empathisch der Verursacher mit der Verletztheit des Gegenübers umgeht, sodass das verlorene Vertrauen wieder wachsen kann. Im zweiten Schritt muss geschaut werden, ob und welche Faktoren es in der Beziehungsdynamik gibt, die den Boden für den Treuebruch bereitet haben könnten.

Wichtige Schritte für die Verarbeitung

Kontaktabbruch und Transparenz: Die untreue Person um die grenzüberschreitenden Interaktionen beziehungsweise muss den anderen Kontakt beenden. Und zwar in Form von klarer und fairer Kommunikation, zum Beispiel: „Meine Frau/mein Mann weiß jetzt über uns Bescheid. Ich entscheide mich, an meiner Beziehung zu arbeiten. Das zwischen uns ist aus.“ Etwaige Kontaktversuche der dritten Person sollten sofort mitgeteilt werden.

Faktencheck und Gefühlslage: Es braucht jetzt Zeit, über die Gefühle und das Geschehene zu sprechen. Immer wieder und solange es nötig ist. Die betrogene Person hat jetzt Gedankenspiele darüber, wie genau der Treuebruch ausgesehen haben mag. Auch wenn es schmerzhaft ist, ist es wichtig, die Fakten zu kennen, damit die Gedanken darüber irgendwann zur Ruhe kommen können. Manchmal sind die Befürchtungen schlimmer als das, was tatsächlich geschehen ist. Bitte nicht, um die eigene Haut zu retten oder den anderen zu schonen, die „Salamitaktik“ anwenden und Informationen erst nach und nach preisgeben. Das erschüttert immer wieder das Vertrauen und sorgt für Rückschläge im Prozess.

Zum eigenen Schutz sollte nicht zu detailliert nachgefragt werden. Welche genauen Wortlaute oder Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden, ist nicht unbedingt relevant, um ein Bild vom Geschehenen zu bekommen. Die Devise lautet: so viel Information wie nötig und so wenig wie möglich. Sollten auch nach dem Aufdecken noch Emotionen für die dritte Person vorhanden sein, durchläuft die ehemals untreue Person parallel einen Prozess des Loslassens und der Trennung.

Oft ist mit dem Aufdecken jedoch die Affäre auch emotional vorbei. Die Gedanken und Gefühle sind bald wieder sortiert und fokussiert auf die ursprüngliche Beziehung. Für die betrogene Person fängt aber alles erst an. Die Verarbeitung dauert ihre Zeit und ist anstrengend. Je geduldiger und gründlicher sich beide Partner dem Prozess der Verarbeitung stellen, desto besser sind die Chancen, die Krise zu bewältigen. Es braucht jetzt von beiden Personen vor allem Geduld.

Sätze wie „Darüber haben wir doch jetzt schon x-mal gesprochen, du musst jetzt auch mal darüber wegkommen“ oder „Wir haben doch nur geschrieben, es ist doch nichts passiert“ bringen den Verarbeitungsprozess nicht voran. Im Gegenteil: Die verletzte Person fühlt sich nicht gesehen und im Schmerz alleingelassen. Nun ist es wichtig, Empathie zu zeigen, die emotionale Achterbahn des oder der anderen liebevoll auszuhalten und die Konsequenz des eigenen Handelns verantwortungsvoll zu tragen. Wenig hilfreich für den Prozess ist es, wenn die betrogene Person verdrängt und schnell und oberflächlich vergibt. Es ist wichtig, die Gefühle zuzulassen, auch wenn das unangenehm ist.

Nur durch gemeinsames Tragen dieser schmerzhaften Folgen kann die Beziehung heilen und wachsen. Es führt kein gesunder Weg daran vorbei! Es kann in dieser Phase zu langen, kräftezehrenden Gesprächen kommen. Hilfreich ist es hier, vor dem Gespräch einen Zeitrahmen zu vereinbaren, um zu einem Ende zu finden, auch wenn noch nicht alles besprochen ist.

Freiwillige Rechenschaft: Für die meisten betrogenen Partner ist es in der ersten Zeit schwierig, mit bestimmten Trigger-Situationen umzugehen, ohne ständig zu kontrollieren, zum Beispiel wenn die ehemals untreue Person allein ausgeht. In der ersten Zeit kann es helfen, freiwillig Rechenschaft abzulegen: Wenn Till ins Büro fährt, hat Kati jedes Mal Angst, dass er dort Lena treffen und sich wieder Heimlichkeiten zwischen den beiden einstellen könnten. Till versteht das. Die beiden haben verabredet, dass er von sich aus erzählt, wenn er Lena gesehen hat. Wenn Kati unsicher ist, fragt sie zusätzlich nach. Langsam kann so Vertrauen und Sicherheit zurückkehren.

Es ist eine besondere Herausforderung, wenn sich die dritte Person weiterhin im Umfeld des Paares befindet. Den Job oder den Freundeskreis zu verlassen, sind große Schritte, die man nicht unbedingt gehen kann oder möchte. Diese Situationen können sehr knifflig sein und werden am besten professionell begleitet. Als Richtschnur kann dienen, dass die betrogene Person das Tempo vorgibt, wie und ob wieder ein Treffen oder gar eine Annäherung an die dritte Person stattfindet. Es muss weder alles schnell wieder normal sein, noch muss es bedeuten, dass nie wieder miteinander gesprochen wird. Zunächst ist es am wichtigsten, dass das Paar wieder zueinander findet. Alles, was das weitere Umfeld betrifft, kann dann zu seiner Zeit folgen, sofern das gewünscht ist.

Wie konnte das passieren?

In Studien zum Thema Untreue geben 40 Prozent der Befragten an, in ihrem Leben schon einmal untreu gewesen zu sein, wobei es Männer und Frauen etwa gleichermaßen betrifft. Wie kommt es dazu? Die Gründe sind sehr individuell und können an dieser Stelle nur angerissen werden. Oft beobachte ich in meiner Arbeit mit betroffenen Paaren aber das gleiche Grundprinzip:

Die Lebensumstände eines Menschen verändern sich stetig. Sie wandeln sich in Bezug auf den Job, Wohnort, Kinder, Hobbys, Ehrenamt oder Freundschaften. Aber auch Krankheiten oder der Verlust eines geliebten Menschen führen zu Veränderungen. Man passt sich den Gegebenheiten an und setzt Prioritäten. Manches muss weichen, weil die Kraft oder die Zeit dazu fehlt. Vor allem in der Kleinkind-Phase bleibt häufig wenig Raum für anderes.

Oft fällt diesem Lauf des Lebens die Pflege der Paarbeziehung, also die ungeteilte Zeit mit dem Partner/der Partnerin, als Erstes zum Opfer. Man funktioniert zusammen als Team, aber den Bedürfnissen des Gegenübers wird weniger Beachtung geschenkt. In seinem Buch „Die 5 Sprachen der Liebe“ beschreibt Gary Chapman, was Menschen brauchen, um sich geliebt zu fühlen und wie man es schaffen kann, trotz Unterschiedlichkeit beim Gegenüber keinen Mangel aufkommen zu lassen. Das Bedürfnis nach ungeteilter Zeit mit dem Partner spielt eine große Rolle. Tritt über einen längeren Zeitraum ein Mangel auf, der von einer dritten Person gestillt wird, besteht die Gefahr, dass sich eine Außenbeziehung anbahnt.

Die eigene Prägung, alte Glaubenssätze, das Selbstbewusstsein und auch bereits vorangegangene ungeklärte Verletzungen in der Beziehung tragen außerdem dazu bei. Das bedeutet, dass für die Umstände, die den Treuebruch begünstigt haben, in der Regel beide Verantwortung tragen. Für den Treuebruch an sich trägt aber ausschließlich die untreue Person die Verantwortung. Die Gründe sind also sehr individuell und oft komplex. Es lohnt sich, hier mit professioneller Unterstützung hinzuschauen, um die Basis der Beziehung nachhaltig zu festigen. Das gilt besonders, wenn Untreue wiederholt ein Thema ist. Meist spielen die psychologischen und lebensgeschichtlichen Hintergründe eine relevante Rolle. Aber auch als Opfer wiederholter Untreue ist es wichtig, sich Hilfe zu holen und abzuwägen, ob eine Trennung die bessere Alternative wäre, als sich immer wieder so tief verletzen zu lassen.

Wann ist die Krise bewältigt?

Um mit einem erlittenen Treuebruch abzuschließen, ist es wichtig, sich irgendwann zu entscheiden, die zugefügte Verletzung loszulassen und zu vergeben. Nicht, weil man das tun müsste oder das Gegenüber das erwartet, sondern um des eigenen Herzens willen. Ich glaube, dass Gott uns die Möglichkeit zu vergeben hauptsächlich um unseretwillen geschenkt hat, damit unser Herz nicht bitter wird. Unvergebenes liegt als Last auf der eigenen Seele. Vergebung ermöglicht es einem selbst, wieder frei zu werden. Vergeben bedeutet nicht vergessen. Es ist aber der Schritt, den beide brauchen, damit das Geschehene irgendwann nicht mehr zwischen ihnen steht.

Jedes Paar sollte an den Stellschrauben für eine gesunde und reife Beziehung arbeiten: Kommunikation auf Augenhöhe, Arbeit an den eigenen Themen sowie ein aufmerksames, wertschätzendes und liebevolles Miteinander. Wer gerade in einer Krise dieser Art steckt, dem möchte ich Mut machen: Es wird sich nicht für immer so anfühlen. Wer die wichtigen oben genannten Punkte beachtet, hat eine gute Chance, das Geschehene zu verarbeiten und reifer daraus hervorzugehen. Es braucht Zeit und Vertrauen in den Prozess. Aber es lohnt sich!

Ein Jahr später schauen Kati und Till auf eine schmerzhafte Zeit zurück. Inzwischen ist Ruhe eingekehrt. Die aufreibenden Gespräche sind vorbei. Ab und zu kommen Erinnerungen hoch, aber sie schmerzen nur noch kurz. Die beiden sind wieder aufmerksamer füreinander geworden und haben gelernt, über ihre Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Tills Kontakt zu Lena beschränkt sich auf ein „Hallo“ im Büro. Katis Groll ihr gegenüber hat sich abgeschwächt. Aber ob und wie Kati ihr wieder begegnen möchte, darüber ist sie sich noch nicht sicher.

Christina Glasow ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und lebt mit ihrer Familie in Pulheim. christinaglasow.de

Familienfreundliche Gemeinden?

Es hängt sehr stark von den einzelnen (Kirchen-)Gemeinden ab, wie sehr sich Familien willkommen und zu Hause fühlen. Lisa-Maria Mehrkens hat bei Familien nachgefragt, wie sie ihr Gemeindeleben gestalten und was sie sich von Gemeinden wünschen.

Wie familienfreundlich Gemeinden wahrgenommen werden, ist sehr unterschiedlich. In den meisten Gemeinden gibt es über die Woche verteilt Angebote für verschiedene Altersgruppen, zum Beispiel Mama-Kind-Kreise, Krabbelgruppen, Jungschar, Teenkreis oder Junge Gemeinde. Auch parallel zum sonntäglichen Gottesdienst finden Angebote für Kinder und Teens statt. Manche Gemeinden haben für Eltern mit Kleinkindern spezielle und gut ausgestattete Spielräume, in die der Gottesdienst per Ton oder Bild übertragen werden kann. Doch nicht jede Kirche oder Gemeinde hat die baulichen Möglichkeiten, einen extra Raum für Familien einzurichten. „Ungemütlich, zu klein, zu laut“ nannten einige Eltern die bei ihnen vorhandenen Räume. Einige wünschten sich zusätzliche Still- oder Wickelmöglichkeiten sowie Rückzugsmöglichkeiten, wenn es den Kindern zu viel wird.

„Wir kommen immer auf den letzten Drücker zum Mutti-Kind-Kreis. Oft ist es leider nur ein weiterer Termin im stressigen Alltag“, beschreibt eine Mutter das Problem vieler Familien. Der Alltag ist so vollgepackt, dass – selbst familienfreundliche – Gemeindeveranstaltungen manchmal nur zusätzlicher Stress sind. Dabei können enge Beziehungen, die über die kirchlichen Veranstaltungen hinaus Bestand haben, günstig für das eigene Glaubensleben und Wohlbefinden sein. Deshalb plädieren viele Eltern dafür, bei Gemeindeveranstaltungen mehr Zeit für Austausch und die Pflege von Beziehungen einzuräumen. Zum Beispiel bei Familientreffen mit viel gemeinsamer Zeit und einem kurzen geistlichen Impuls. Ein gemeinsames Mittagessen nach dem Gottesdienst würde den Druck verringern, sich zu Hause um das Essen kümmern zu müssen und für Gemeinschaft und Austausch sorgen. Gleichzeitig hätten die Kinder gleichaltrige Freunde zum Spielen, was auch die Eltern entlastet. „Je mehr die Menschen aus der Gemeinde auch Teil des alltäglichen Lebens sind, umso einfacher ist es auch, Glaube in den Alltag zu bringen. Besonders wenn auch die Freunde der Kinder Teil der Gemeinde sind“, betont ein Vater.

Gottesdienst als Familie erleben

Der Besuch des wöchentlichen Gottesdienstes ist vor allem für die Eltern herausfordernd, deren Kinder noch nicht alt genug für den Kindergottesdienst sind. Dann kann bei Paaren nur ein Elternteil bewusst dem Gottesdienst folgen, während der andere den Nachwuchs betreut. Für Alleinerziehende ist es noch schwieriger. Einige Eltern bemängeln die ungünstigen Zeiten oder die zu lange Dauer der Gottesdienste. „Familienfreundliche Gottesdienste sollten zu familienfreundlichen Zeiten stattfinden sowie abwechslungsreich, kurz und prägnant gestaltet werden“, schlägt eine Mutter vor. Dennoch gehen einige Familien auch mit Babys und (Klein-) Kindern fast jeden Sonntag in den Gottesdienst. „Für mich schafft der Gottesdienst Zeit und Raum für Begegnungen mit Gott, die mir im Alltag fehlen. Zudem ist mir die Zeit auch wichtig für die Begegnung mit anderen und weil meine Kinder im Kindergottesdienst etwas vom Glauben hören“, erklärt ein Vater seine Beweggründe. Eine Mutter betont, dass es wichtig sei, gemeinsam als Familie Erfahrungen mit Gott zu machen. Die altersspezifischen Angebote unter der Woche nehme meist nur ein Teil der Familienmitglieder wahr. „Im Gottesdienst können wir zumindest zeitweise alle zusammen sein. Das stärkt uns als Familie gemeinsam in unserem Glauben.“

Zum Fußball oder in die Gemeinde?

Neben jüngeren Kindern sind auch Teenager ein wichtiger Teil von Gemeinden, der gelegentlich zu wenig beachtet wird. Manchmal konkurrieren ihre Hobbys, wie ein Fußballspiel oder eine Theateraufführung, zeitlich mit Gemeindeangeboten. Für viele Teenager ist entscheidend, zu welchem Angebot ihre Freunde gehen. Spezielle Jugendgottesdienste, gemeinsame Ausflüge, Mahlzeiten oder (Online-)Treffen unter der Woche stärken die Gemeinschaft und Freundschaften der Teens innerhalb der Gemeinde. Einige Eltern finden, ihre Teens könnten mehr in die Gemeindestrukturen eingebunden werden und Aufgaben übernehmen, damit sie Verantwortung lernen und sich gebraucht fühlen. „Man kann Jugendlichen schon mehr Verantwortung und Aufgaben übertragen, als man manchmal denkt“, meint eine Mutter. Auf diese Art können sich die jüngeren Gemeindemitglieder auch in verschiedenen Bereichen ausprobieren und ihre Begabungen entdecken und stärken. Gottesdienste und andere Angebote sollten so gestaltet werden, dass sie die Lebenswelt der Jugendlichen ansprechen. So fühlen sich Teenager auch nach der Konfirmation oder dem Ende des Bibelunterrichts noch als Teil der Gemeinde.

Anschluss nicht verlieren

„Seit wir Kinder haben, gehen wir nicht mehr jeden Sonntag in den Gottesdienst. Es ist einfach zu anstrengend, die Kinder ruhig zu halten, mit ihnen zu spielen und gleichzeitig noch dem Lobpreis oder der Predigt zu folgen. Ein Kinderprogramm gibt es erst ab drei Jahren. Da bleiben wir lieber zu Hause.“ Das berichtet eine Mutter von Zwillingen im Alter von einem Jahr. Und sie ist mit dieser Erfahrung nicht allein. Seit die Corona-Pandemie verschiedene Online-Angebote wachsen ließ, nutzen besonders Familien mit Babys und Kleinkindern, die noch zu jung für die Kindergottesdienste sind, die Möglichkeit, vom gemütlichen Sofa aus an Online-Treffen teilzunehmen oder den Gottesdienst im Livestream zu verfolgen. Eine Mutter berichtet, dass auch ihr spezieller Hauskreis für Mütter mit Babys meist online stattfindet: „So kann man sich stummschalten, wenn das Baby schreit. Und jede Mama kann füttern und wickeln, wie es gerade passt“, berichtet sie. Auch bei Hausgottesdiensten innerhalb der Familie oder zusammen mit Gästen kann durch mehr Flexibilität besser auf die einzelnen Bedürfnisse eingegangen werden.

Dennoch berichten manche Eltern, sich durch den fehlenden persönlichen Kontakt nicht mehr richtig als Teil der Gemeinde zu fühlen. Deshalb stellt sich neben der Frage, wie familienfreundlich Gemeinden sind, auch die Frage, wie gemeindefreundlich eine Familie ist. Die Möglichkeiten der Eltern, sich in die Gemeinde einzubringen, sind vielfältig: einen Hauskreis oder die Jugendgruppe leiten, den Gottesdienst moderieren, sich im Lobpreis, dem Leitungskreis oder der Technik engagieren. Die Verantwortung zwischen dem Dienst in der Gemeinde und der Betreuung der Kinder kann dabei abwechselnd aufgeteilt werden. Oder man nimmt die Kinder mit und integriert sie, soweit es geht. „Wenn ich den Beamer-Dienst im Gottesdienst habe, sitzt mein Sohn meist mit auf meinem Schoß. Manchmal lasse ich ihn eine Folie weiterklicken und er freut sich, dass er mir helfen kann“, berichtet ein Vater.

In Gemeinden Talente für Gott einsetzen

Eine andere Familie erzählt, dass sie sich gemeinsam als „Familienband“ in der Lobpreisarbeit beteiligen. „Das ist für uns perfekt. Wir haben als Familie ein gemeinsames Hobby, können gleichzeitig Zeit in der Gemeinde verbringen und unsere Talente für Gott einsetzen“, erklärt die Mutter. Gemeinsame Mahlzeiten nach Gottesdiensten, Aktivitäten mit anderen Familien oder feste wöchentliche Treffen tragen die gemeindeinternen Beziehungen in den Alltag und können auch von den Familien selbst initiiert werden. Zudem können sich Eltern für regelmäßige Familiengottesdienste stark machen und aktiv dort mitwirken. Wenn die Eltern-Kind-Räume nicht zufriedenstellend sind, können sich Familien zusammenschließen und selbst für eine Verbesserung einsetzen.

Sowohl die Gemeinden als auch die Familien selbst sind durch gegenseitiges Verständnis, Austausch und Kompromisse in der Verantwortung, eine gemeinsame Basis zu finden. Nur so kann eine Gemeinde für alle gelebt werden. Eine Mutter betont, Gemeinden sollten Familien als „stark prägende Konstante für das Glaubensleben“ wertschätzen und unterstützen. Ihre Idee: eine „Patenschaft“ von älteren Eltern für jüngere Familien.

Lisa-Maria Mehrkens ist Journalistin, Autorin und Psychologin. Mit ihrer Familie wohnt sie in Chemnitz. Mehr auf Instagram unter: mehrkens.journalismus und himmelslichtfuerdich

Auf die Väter kommt es an

Väter spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Kinder. Warum Väter nicht wie Mütter sein müssen und was wirklich wichtig ist, erklärt Hannsjörg Bachmann.

Seit ca. 50 Jahren wird gezielt über Väter geforscht. Diese Forschung zeigt auch, dass vieles von dem, was Väter ausmacht, in der Vergangenheit oft nur geringe Chancen hatte, sich zu entfalten und gelebt zu werden. In dem traditionellen Familienmodell wurde Vaterschaft meist auf das indirekte Engagement als Versorger der Familie reduziert. Andere Vater-Kompetenzen waren in diesem Modell wenig gefragt.

Dass Väter auch noch andere Qualitäten in sich tragen, haben erst die neuen Familienmodelle richtig sichtbar gemacht. Sie geben den „neuen“ Vätern viele Möglichkeiten, sich auch direkt in der Familie zu engagieren – in der Beziehung zu den Kindern und in der Partnerschaft. Persönliche Erfahrung und Forschung zeigen, wie wertvoll, wohltuend und inspirierend Väter und diese Form ihres fürsorglichen Engagements für die Familie sind. Indem Väter sich so einbringen, setzen sie viele innovative Prozesse in der Familie in Gang. Diese Entwicklung gelingt am besten, wenn sie von Beginn an in enger Abstimmung mit der Partnerin erfolgt – in gemeinsamer Elternschaft. Lohnend ist diese Entwicklung aber auch dann, wenn sie erst mit zeitlicher Verzögerung erfolgt. Viele Väter sind überrascht davon, wie fundamental sich ihre Sicht auf das Leben und die Gesellschaft verändert, wenn sie sich auf die Sicht ihres Kindes einlassen.

Die aktuellste Übersicht zu allen entwicklungspsychologischen Aspekten der Väterforschung findet sich in dem Buch von Lieselotte Ahnert, dessen Titel ich als Überschrift für diesen Artikel gewählt habe. Ich beschränke mich hier auf einige wenige Aspekte, die ich für besonders relevant halte.

Eine eigenständige Vater-Kind-Beziehung suchen und finden

Väter sind keine Mütter. Sie sind, wie sie sind – anders. Und das ist gut so. Von dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul stammt die Aussage: „Man kann nicht von Müttern lernen, wie man ein guter Vater wird.“ Jeder Vater wird für sich selbst herausfinden (müssen), was Vatersein für ihn bedeutet und wie er es authentisch leben kann. Das Vorbild des eigenen Vaters kann überzeugen, es kann vielleicht aber auch dazu herausfordern, einen anderen Weg zu suchen. Anregend ist es auf jeden Fall, sich mit anderen Vätern über die eigenen Erfahrungen auszutauschen.

Unterschiedlichkeit als Gewinn. Väter gestalten die Beziehung zu ihrem Kind auf ihre eigene Art und Weise – oft ganz anders als die Mütter. Auch wenn Mütter und Väter die gleichen Werte vertreten, wirkt sich diese Unterschiedlichkeit überall aus (beim Sport, beim Spiel, dem Umgang mit Schulproblemen, bei kleineren oder auch größeren Krisen im Leben der Kinder). Diese Unterschiedlichkeit von Mutter und Vater, Feinfühligkeit bei beiden vorausgesetzt, ist für die Kinder kein Problem, sondern ein großer Gewinn. Sie erleben so sehr konkret, wie verschieden Menschen sind, wie unterschiedlich sie mit allem umgehen und dass es nur sehr selten „richtig“ oder „falsch“ gibt. Über die Mütter finden die Kinder oft eher einen Zugang zur emotionalen Welt, über die Väter häufiger zur Welt der Gedanken und Vorstellungen, zur mentalen Welt.

Weichenstellung mit Langzeitwirkung. Die Entscheidung des Vaters, eine eigenständige Beziehung zu seinem Kind zu suchen, gehört zu den wichtigsten Weichenstellungen in der Familie. Optimalerweise erfolgt sie schon in den Wochen um die Geburt herum. Sie trägt dann wesentlich dazu bei, dass der Vater im emotionalen Zentrum der Familie bleibt und dass er sich zusammen mit seinen Kindern weiterentwickelt, Vater und Kind „wachsen“ gemeinsam. Die Familie entwickelt sich „um beide Elternteile herum“.

Zu unserer Realität gehört, dass viele Väter diese Weichenstellung verpassen – nur vorübergehend oder auch auf Dauer. Oft fehlt ihnen in ihrer Umgebung einfach ein Vater-Vorbild, das diese Form des Vaterseins authentisch vorlebt. Für einen Richtungswechsel ist es nie zu spät – Nachlernen ist auch im fortgeschrittenen Alter durchaus möglich.

Väter und ihre Eigenarten

Feinfühlige Väter? Väter bringen alle Voraussetzungen mit, um zu ihrem Kind eine eigenständige, lebendige Beziehung aufzubauen. Wir wissen heute, dass Väter genauso feinfühlig sein können wie Mütter – manchmal sogar noch feinfühliger. Auch zwischen Vätern und Kindern kann sich eine sichere emotionale Bindung entwickeln – als stabiles Fundament für das ganze Leben. Väter vermitteln ihre Liebe und Akzeptanz auf ihre eigene Art, unverwechselbar. Dann erleben sie – oft mit großem Erstaunen – dass sie von ihren Kindern bedingungslos geliebt werden. Es entsteht eine tiefe Vertrauensbeziehung. Viele Väter erleben diese emotionale Erfahrung als tiefes Glück.

Väterliche Feinfühligkeit ist in jedem Lebensalter gefragt, nicht nur im Säuglings- und Kleinkindalter, auch danach, im Schulalter, in der Adoleszenz, in der Beziehung zu den erwachsenen Kindern. Es geht um die Fähigkeit und den Willen des Vaters, sich in die Welt des Kindes hineinzuversetzen, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und so gut wie möglich zu verstehen. Und gleichwürdig mit dem Kind umzugehen.

Gleichwürdig meint, Tochter und Sohn so zu behandeln, wie man als Erwachsener auch selbst behandelt werden möchte. Diese innere Haltung verändert auch das Zuhören und Reden des Vaters. Das Kind spürt unmittelbar, ob der Vater mit echtem Interesse zuhört oder nur flüchtig, und wie er mit ihm redet – bewertend, kommentierend, kritisierend, bevormundend – oder ob er ein Gespräch ermöglicht, in dem sich Kind und Vater öffnen können. Wenn ein Kind immer wieder, an guten und schlechten Tagen, die Erfahrung macht, dass es vom Vater gesehen, gehört und verstanden wird, verinnerlicht es tief, dass es bei ihm sicher aufgehoben ist und dass es so, wie es ist, geliebt und wertgeschätzt ist.

Bemerkenswert ist, wie unmittelbar diese neue Qualität des Zuhörens und Redens die Familienatmosphäre und die Beziehung zwischen Kind und Vater in eine positive Richtung verändert. Ich zitiere ein 8-jähriges Mädchen, dessen Vater sich ohne Wissen des Kindes entschlossen hatte, eine neue Gesprächskultur in die Familie zu bringen und mit dem Kind so respektvoll zu reden wie mit Erwachsenen: „Vater, es gefällt mir, wenn du so anders mit mir redest.“

Gegenüber und Modell. Mit Mutter und Vater als verlässlichem, feinfühligem Gegenüber erlernen Kinder schon früh, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen, einzuordnen und zu benennen. Alle Gefühle, auch die für die Eltern „herausfordernden“ (wie Wut, Ärger, Angst …), sind erlaubt. Sie werden nicht negativ bewertet – Gefühle sind einfach da; sie sind, wie sie sind. Die Kinder lernen, in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben. Sie entwickeln Selbst(wert)gefühl und Empathie. Die Interaktion mit dem Kind berührt und aktiviert auch bei Vater und Mutter viele bislang wenig bekannte Emotionen und hinterlässt oft tiefe Spuren in ihrer Seele.

Väter mit Defiziten im „seelischen Fundament“ und/oder biografischen Brüchen. Nicht alle Väter haben eine „glückliche“ Kindheit erlebt und in ihren Familien konstruktive Beziehungsmuster kennengelernt. Oft waren die eigenen Eltern – trotz bester Absicht – nicht in der Lage, ihrem Kind ein stabiles seelisches Fundament mitzugeben. Dass ihnen etwas Wesentliches fehlt, entdecken diese Väter häufig erst im Erwachsenenalter, wenn Lebenskrisen darauf hinweisen, dass es gravierende Leerstellen in ihrem seelischen Fundament gibt.

Ein aktuelles Interview in der ZEIT (Nov. 23) mit Lance Armstrong und Jan Ullrich zeigt eindrucksvoll, dass selbst tiefgreifende existenzielle Krisen, wie beide sie über viele Jahre erlebt haben, nicht das letzte Wort haben müssen. „Nachlernen“ ist auch dann noch möglich. Besonders gute Lehrmeister sind – neben den psychotherapeutischen Fachleuten – oft die eigenen Kinder. Lance Armstrong sagte: „Ich selbst habe in meinen dunkelsten Momenten nur an meine Familie gedacht … vor allem an meine Kinder. Ich wollte, dass sie ihren Vater respektieren können. Ich wollte ihr Bild von mir nicht zerstören, das war meine größte Furcht – und mein Antrieb, mich nicht aufzugeben.“

Zum Nachlernen gehört, die Verantwortung für das eigene Leben mit allen Brüchen voll zu übernehmen – und dies auch gegenüber den Kindern zu artikulieren, verbunden mit der Aussage „Es tut mir leid“. Kinder sind dann meist sehr bereit für einen Neuanfang.

Die Partnerschaft bereichern

Oft liegt der Fokus beim Vatersein auf der Beziehung zum Kind. Genauso wichtig ist es, gleichzeitig auch die Dynamik der Paarbeziehung im Blick zu haben. Denn die Veränderung, die mit der Vaterschaft verbunden ist, betrifft immer das gesamte Familiensystem, auch die Partnerschaft. Es gilt die alte Weisheit: „Wenn es beiden Eltern als Paar gut geht, geht es gewöhnlich auch dem Kind gut.“ Forschungsergebnisse zeigen eindeutig, dass sich Väter besonders gerne in ihrer Vaterschaft engagieren, wenn sie auch mit ihrer Partnerschaft zufrieden sind.

Gleichberechtigte Partnerschaft. Für viele Väter ist es heute selbstverständlich, dass sie sich an den vielen Tätigkeiten beteiligen, die nötig sind, um den Alltag in der Familie gut zu bewältigen. Die im Haushalt und bei der Kinderbetreuung anfallenden Aufgaben werden möglichst „gerecht“ verteilt.

Weniger selbstverständlich ist es – oft betrifft das die Väter –, sich auch ebenso aktiv in die Prozesse einzubinden, die mit der inneren Struktur der Familie zu tun haben, also mit dem, was die Familie im Kern zusammenhält: der Qualität der Beziehungen – zu sich selbst, zu der Partnerin, zu den Kindern –, der Art der Kommunikation, dem Umgang mit Konflikten, der feinfühligen Begleitung der Kinder in den Höhen und Tiefen des Alltags. Diese Bereiche kann man nicht aufteilen; wünschenswert ist, dass beide Partner hierfür gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Emotionale Sprachfähigkeit. Von großer Relevanz ist, dass beide Partner sprachfähig sind bzw. werden – nicht nur auf der Ebene der Fakten, des Wissens, des Verstandes, des Alltäglichen, sondern vor allem auch auf der emotionalen Ebene – im Austausch über Gefühle wie Freude, Dankbarkeit, Sorgen, Zweifel oder Ängste. Eine Begegnung beider Partner von Herz zu Herz gibt es eben nur auf dieser emotionalen Ebene. Hier entsteht Verbundenheit, Nähe und Vertrautheit.

Viele Frauen wünschen sich, dass ihre Männer auf diesem Sektor zusätzliche Kompetenzen erwerben. Sie erleben „emotionale Spracharmut“ als schmerzhafte Leerstellen – in der Partnerschaft ebenso wie in der Vater-Kind-Beziehung und der Beziehung der Männer zu sich selbst. Viele Männer und Väter nehmen dieses Defizit gar nicht wahr.

Ein exzellenter Führer in das Land der emotionalen Sprachfähigkeit ist das Buch „8 Gespräche, die jedes Paar führen sollte“ der US-amerikanischen Paartherapeuten und -forscher John und Julie Gottman. Mütter und Väter, die sich auf diesen Weg begeben, verändern nicht nur ihr eigenes Leben, sie beeinflussen und bereichern auch das Leben ihrer (kleinen und großen) Kinder, die Paardynamik und das ganze Familiensystem.

Einige persönliche Anmerkungen

Optimal ist es, wenn dieser Schritt zum „neuen“ Vatersein zu Beginn der Familienphase erfolgt. Meine eigene Biografie zeigt, dass es aber auch später noch möglich ist, sich auf einen neuen Weg zu begeben. Ich habe viele meiner wichtigen persönlichen Weichenstellungen in diesem Bereich erst in der zweiten Lebenshälfte vollzogen. Der Rückblick auf die in den Jahren zuvor verpassten Möglichkeiten war und ist oft schmerzhaft. Gleichzeitig gab es in dieser zweiten Lebensphase einen großen Zugewinn an lebendigen Beziehungen; ich hätte es mir vorher nie so vorstellen können – in den ganz nahen Beziehungen (zu mir selbst, meiner Frau, zu unseren erwachsenen Kindern plus Schwiegerkindern, zu unseren Enkelkindern), aber auch darüber hinaus. Die „Familienwerkstatt“ und auch das Vater-Tochter-„Familien leben“-Buch gäbe es ohne diese Erfahrungen nicht.

Prof. Dr. Hannsjörg Bachmann, geboren 1943, war 20 Jahre lang Leiter einer Kinderklinik in Bremen. Er machte Ausbildungen bei Jesper Juul und Karl-Heinz Brisch und ist Mitbegründer der „Familienwerkstatt im Landkreis Verden e. V.“.

Die wahren Gründe hinter dem Streit

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Inakzeptabel!

Über die befreiende Kraft, sich seinen Schwachpunkten zu stellen.

Warum sorgen immer wieder Menschen für Skandale, von denen man es am wenigsten erwartet hätte? Menschen, die hohe moralische Ansprüche an sich selbst und an ihr Umfeld stellen. Die in der Öffentlichkeit stehen und Vorbilder sind. Politikerinnen, Pastoren und Geschäftsleute gehen plötzlich fremd, veruntreuen Geld oder missbrauchen ihre Macht. Wenn dann jemand auffliegt, sind wir überrascht und empört. Dabei vergessen wir, dass auch ganz normale Menschen wie du und ich Gefahr laufen, verheerende Fehler zu machen.

Ein Beispiel: Herr Müller fühlt sich seit Jahren einsam. Aber er würde es nie zugeben, nicht sich selbst und schon gar nicht einem anderen Menschen gegenüber. Es macht ja keinen Sinn. Er, der glücklich verheiratet zu sein scheint. Er, der immer von Menschen umgeben ist, die ihn schätzen. Warum sollte er sich einsam fühlen?

Ausweichmanöver

Für Herrn Müller ist bald klar, dass es an seiner Frau liegen muss, dass er sich einsam fühlt. Bei ihr müsste es ihm doch gut gehen, aber das tut es nicht. Aber natürlich ahnt auch Herr Müller, dass es Unsinn ist, seiner Frau die alleinige Schuld zu geben. Deshalb löst jede Begegnung mit seiner Frau eine innere Zerrissenheit bei ihm aus.

Um nicht ständig mit diesen widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert zu werden, zieht er sich immer mehr von seiner Frau zurück. Er beginnt, wie verrückt Sport zu treiben. Einen Ironman hat er absolviert, geholfen hat es nichts. Jetzt ist er drauf und dran, sich auf andere Ersatzhandlungen einzulassen, die seiner Ehe noch mehr schaden werden, um dieses Gefühl der Einsamkeit für kurze Zeit zu betäuben.

Wir alle haben Persönlichkeitsanteile und Gedanken, die nicht besonders vorzeigbar sind. Natürlich versuchen wir, unsere schwierigen Seiten so gut wie möglich zu verbergen. Manchmal sogar vor uns selbst, weil wir uns schämen, uns einsam, minderwertig, zornig, lüstern oder eifersüchtig zu fühlen. Aber das Problem ist: Wenn wir unsere inakzeptablen Seiten verdrängen, verschwinden sie nicht. Nur weil sie nicht sein dürfen, sind sie nicht plötzlich weg. Im Gegenteil: Sie werden dann auf Umwegen und besonders in unserer Partnerschaft umso heftiger wieder auftauchen.

Selbstannahme und Veränderung

Um das zu verhindern, braucht es Ehrlichkeit und Mut. Die Ehrlichkeit, sich einzugestehen, dass man selbst auch problematische Persönlichkeitsanteile hat. Und den Mut, sich seine Abgründe anzusehen. C. G. Jung hat es einmal so formuliert: „Nur was ich annehme, kann ich verändern.“ Herr Müller kann seine Einsamkeit entweder weiter verdrängen und sich in Süchte oder in eine neue Partnerschaft flüchten. Oder er kann sich ihr stellen. Wenn es ihm gelingt, ehrlich mit seiner Frau ins Gespräch zu kommen, stehen die Chancen gut, dass seine Einsamkeit keine destruktiven Ventile mehr braucht oder sogar geheilt werden kann.

Für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und für ihre hohen moralischen Ansprüche bekannt sind, ist die Gefahr besonders groß, ihre inakzeptablen Seiten zu verdrängen. Auf der Bühne beklatscht zu werden und sich gleichzeitig einzugestehen, dass man bedürftig ist und hässliche Persönlichkeitsanteile hat, ist anspruchsvoll. Es scheint einfacher zu sein, diese inakzeptablen Seiten zu verdrängen. Doch genau das führt dazu, dass sich diese Anteile ein anderes Ventil suchen und so wesentlich zu den Skandalen beitragen.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Baret ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter: familylife.ch/five

Schicksal Sandwichkind?

Wie stark prägt die Geschwisterkonstellation die Persönlichkeit von Kindern? Daniela Albert räumt mit einigen Missverständnissen auf.

„Mama, ich habe es eigentlich am besten! Ich hatte immer irgendwen zum Spielen. Ich bin voll froh, das mittlere Kind zu sein!“ Na also, geht doch, denke ich mir, als mein Sandwichkind mir die Vorteile seiner Position inmitten seiner Geschwister erklärt. Normalerweise führe ich nämlich ganz andere Gespräche, wenn es um die Vor- und Nachteile geht, die dieses Kind, das gleichzeitig kleine und große Schwester ist, mit ins Leben nimmt.

Sandwichkindern haftet die Vorstellung an, dass sie von ihren Eltern oft übersehen oder vernachlässigt werden. Die Aufmerksamkeit der Eltern, so die These, wird eher vom ältesten und vom jüngsten Kind beansprucht. „Die Arme“, habe ich schon das eine oder andere Mal in Bezug auf unser mittleres Kind gehört. Doch wie arm sind Sandwichkinder wirklich? Und wie führungsstark und extrovertiert die Großen? Eine rebellische, unternehmungslustige Kleine hätte ich hier bei uns im Haushalt definitiv im Angebot – die Frage ist nur, ob das Zufall ist oder tatsächlich der Geburtenreihenfolge geschuldet.

Die fürsorgliche große Schwester

Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Geschwisterforschung. Lange Zeit galten dort bestimmte Charaktereigenschaften, die sich durch die Position innerhalb der Familie ergeben, als erwiesen. Verschiedene Studien haben bestimmte Typen identifiziert. So scheinen die kleinen Brüder in einer reinen Jungs-Familie besonders wettbewerbsfreudig und ehrgeizig zu sein und eigentlich immer darauf aus, andere zu übertrumpfen. Große Schwestern hingegen gelten als besonders mütterlich und fürsorglich. Kleine Schwestern, besonders, wenn sie mit großen Brüdern aufwuchsen, sollen besonders weiblich sein und bei Männern zeitlebens einen Beschützerinstinkt wecken.

Du ahnst es: Solche Typen mögen zwar einst in Studien aufgefallen sein, doch sie eignen sich nicht besonders gut als Aussage über die Auswirkung der Konstellation der Geschwister. Vielmehr sind sie Kinder ihrer Zeit gewesen – denn viele dieser Erkenntnisse sind bereits 30 oder 40 Jahre alt, einige sogar noch älter. Erziehung fand in unserer eigenen Kindheit und besonders in der der Generation davor noch stark entlang von Geschlechtergrenzen statt. So war es zum Beispiel sehr wahrscheinlich, dass eine große Schwester von der Mutter auch Aufgaben im Bereich der Betreuung und Versorgung jüngerer Geschwister zugeteilt bekommen hat und sich so auch für diesen Bereich mitverantwortlich fühlte. Daraus ist eine prägende Erfahrung für das weitere Leben entstanden.

Die Erziehung von Jungs hingegen erfolgte wettbewerbsorientiert. Schon früh wurden sie dazu ermutigt, miteinander ihre Kräfte zu messen und sich bei Sport und Spiel zu übertrumpfen. Kleinere Brüder mussten sich hier doppelt und dreifach anstrengen. Meistens gelang es ihnen nicht, mit den Großen mitzuhalten. Es trotzdem immer wieder zu versuchen, kann für sie ein starker Antrieb gewesen sein – und darin gemündet haben, dass sie Zeit ihres Lebens mithalten oder besser sein wollten.

Der entscheidende Faktor

Heute haben wir eine größere Achtsamkeit entwickelt, was Rollenzuschreibungen und Aufgabenverteilungen innerhalb der Familie angeht. Jungs haben immer häufiger Väter als Vorbilder, die sich ebenfalls in der Kindererziehung und der Hausarbeit einbringen. Und Mädchen werden zu Hause genauso ermutigt, Leistung zu erbringen und sich etwas zuzutrauen, wie ihre Brüder dies seit jeher wurden. Doch bedeutet das, dass es im Kontext von moderner Erziehung egal ist, in welcher Reihenfolge wir geboren werden?

Nicht ganz. Denn zum einen mögen wir heute viele Klischees hinterfragt haben und uns in unserer Erziehung nicht mehr so sehr von traditionellen Rollenverständnissen leiten lassen – frei davon sind wir aber noch lange nicht. Auch heute noch müssen Töchter weit häufiger im Haushalt helfen oder die Betreuung der kleinen Geschwister übernehmen als Söhne. Bei Jungen werden Leistungs- und Wettbewerbsgedanken noch immer stärker gefördert, während wir Mädchen noch immer unbewusst beibringen, lieber bescheiden und zurückhaltend zu sein. Wir können aber festhalten, dass das Erziehungsverhalten von uns Eltern der entscheidende Faktor ist, wenn es darum geht, wie sich unsere Kinder entwickeln.

Geschwister – die längste Beziehung

Neben den eher geschlechtsspezifischen Eigenschaften, die durch Erziehung und den Platz in der Geschwisterkonstellation geprägt werden, gibt es ja auch noch die allgemeineren Vorstellungen davon, wie Kinder aufgrund ihrer Geburtsreihenfolge sein können. Was ist denn nun dran an den führungsstarken Ältesten, den teamfähigen Sandwichkindern und den rebellischen Kleinen?

Selbstverständlich hängt unsere Entwicklung auch davon ab, wie wir aufwachsen und welchen Platz wir in unserer Familie und unter unseren Geschwistern einnehmen. Die Geschwisterbeziehungen sind in der Regel die längsten und intensivsten Beziehungserfahrungen, die wir machen. Anders als die Beziehung zu unseren Eltern, die von einem starken Machtgefälle geprägt ist, sind Geschwisterbeziehungen mehr auf Augenhöhe. Unterschiede, die vor allem in den frühen Jahren bestehen, gleichen sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr an. Und Hierarchien werden im Lauf des Lebens mehrfach neu verhandelt.

Ältere Kinder übernehmen in der Interaktion mit ihren jüngeren Geschwistern oft automatisch die Führung. Sie erklären Spiele, leiten ihre kleinen Brüder und Schwestern in sozialen Situationen an und sind Vorbilder. Die Jüngeren sind in diesem Konstrukt immer bestrebt, mit den Großen mitzuhalten, hinterherzukommen, dabei zu sein. Sie versuchen, das Gefälle, das es oft zwischen ihnen gibt, weil die Großen nun einmal mehr können und mehr dürfen, wettzumachen, indem sie sich besonders anstrengen. Manchmal machen sie Entwicklungsschritte dadurch deutlich früher, als es bei ihren großen Geschwistern der Fall war. Natürlich prägt auch all das die Persönlichkeit.

Die mittleren Kinder sind – wie meine Tochter es so schön beschrieben hat – die, die immer mit jemandem eng verbunden sind. Je nachdem, in welcher Entwicklungsphase sie sich gerade befinden, fühlen sie sich mal mehr den Älteren und dann wieder den Jüngeren zugehörig. Sie können auch als Bindeglied zwischen den Großen und Kleinen dienen, weil sie sich aufgrund ihrer Position in beide hineinversetzen können. Die ihnen zugeschriebenen positiven Eigenschaften Teamfähigkeit, Verhandlungsgeschick, Kompromissbereitschaft konnten gut erlernt werden.

Nicht in Schubladen stecken

Nur: Pauschalisieren kann man all dies nicht. Geschwisterkonstellationen haben einen Einfluss darauf, wie wir uns entwickeln, aber dieser ist weit weniger von der Geburtsreihenfolge abhängig, als lange Zeit angenommen. Vielmehr kommt es darauf an, was für Persönlichkeiten in unserer Familie miteinander leben und wie wir als Eltern mit unseren Kindern umgehen. Welche Rolle jemand in einer Familie einnimmt, ist von vielen verschiedenen inneren und äußeren Faktoren abhängig. Auch kann sich die Rolle der jeweiligen Kinder im Lauf des Lebens verändern. Wir sind nicht auf einen bestimmten Platz im Familiensystem festgeschrieben.

Als Eltern können wir einen großen Teil dazu beitragen, dass unsere Kinder nicht in Schubladen geraten, die vermeintlich an ihrem Platz in der Geschwisterreihenfolge hängen. Beispielsweise können wir Rollenklischees, die wir mit uns herumtragen, reflektieren und bewusst aufbrechen. Auch diese Fragen können wir uns stellen: Sehen wir unsere Kinder so, wie sie sind, und gehen wir entsprechend auf sie ein? Wie werden bei uns zu Hause Probleme besprochen, wie darf Streit ausgetragen werden, wo werden wir selbst als Vermittler zwischen unseren Kindern tätig? Schlagen wir uns unbewusst oft auf die Seite eines bestimmten Kindes? Haben wir Erwartungen an eines unserer Kinder, die wir an die anderen nicht haben? Fördern wir Konkurrenz zwischen den Geschwistern oder Kooperation?

Wichtig ist, dass wir im Hinterkopf behalten, dass wir es mit kleinen Menschen zu tun haben, die jenseits ihres Alters und der Frage, als wievielter sie in unsere Familie gekommen sind, gesehen und wertgeschätzt werden wollen. Mit kleinen Menschen, die in unserer Familie Übungsfelder brauchen, in denen sie ihre Fähigkeiten und Talente entfalten dürfen und auf denen ihre ganz eigene Persönlichkeit einen sicheren Platz hat.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin (familienberatung-albert.de). Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kaufungen bei Kassel und bloggt unter eltern-familie.de

Wir sind alle so erschöpft

Das Familienleben ist häufig erschöpfend. Warum das so ist und wie Familien zu neuer Stärke finden, erklärt der Psychotherapeut Jörg Berger.

Erschöpft zu sein ist anders als müde oder erholungsbedürftig. Wer müde ist, schläft ein paar Nächte und fühlt sich wieder fit. Wer Erholung braucht, verbummelt ein Wochenende oder genießt einen Urlaub. Dann ist der Akku wieder geladen. Doch Erschöpfung geht tiefer. Man schläft und bleibt müde. Man ruht und wird nur antriebslos. Der Akku bleibt leer. Wer müde und erholungsbedürftig ist, kann es sich außerdem erklären: Vielleicht waren die Nächte schlecht oder ein Infekt hat den nächsten abgelöst. Oder einer steigt wieder in den Beruf ein und die Kinderbetreuung fällt aus. Das kostet Kraft. Doch wenn die Belastung nachlässt, kommt auch die Energie wieder. Das ist bei Erschöpfung anders. Man ist in normalen Lebensphasen k. o. und fragt: „Warum bin ich so erschöpft?“

Dann gibt es offenbar immer Dinge, die zu viel Energie kosten. Das betrifft erschreckend viele Menschen. Die Sozialforschungsgesellschaft Forsa hat 2019 im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse 1.000 Eltern mit Kindern unter 18 Jahren befragt. Über ein Drittel der Eltern hat angegeben, unter Erschöpfung und Burnout zu leiden. Etwa genauso viele haben auch Gereiztheit, Nervosität, Müdigkeit und Schlafstörungen erlebt. Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht es nicht anders, wie die Befragung „Jugend in Deutschland“ 2022 zeigte: Von den 1.000 repräsentativ ausgewählten jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren berichteten 45 Prozent von Stress, 35 Prozent von Antriebslosigkeit und 32 Prozent von Erschöpfung. In der Forsa-Umfrage wurden gestresste Eltern auch gefragt, was ihnen helfen würde. Sie wünschen sich vor allem zweierlei: mehr Zeit (70 Prozent) und innere Gelassenheit (72 Prozent). Hier können vier Strategien ansetzen, die aus der Erschöpfung führen.

1. Den Selbstwert stärken

Selbstwert und Energie hängen eng zusammen. Menschen, die sich wertvoll fühlen, spüren Energie in ihrem Körper. Sie können sich auf den Augenblick einlassen, genießen ihre Lieben und ihre Aufgaben. Und sie können über sich lachen und nehmen selbst Dinge, die schiefgehen, gelassen. Wer sich dagegen oft hinterfragt, kritisiert und schuldig fühlt, hemmt sich bis in sein körperliches Energielevel hinein. Er nimmt Dinge schwer und persönlich. Wer über Erschöpfung nachdenkt, sollte daher zuallererst am Selbstwert ansetzen: einander ermutigen, einander vertrauen und zutrauen, geräuschlos vergeben, auch das annehmen, was unvollkommen ist.

Aber macht das nicht selbstbezogen und rücksichtslos? Im Gegenteil, Annahme und Ermutigung machen korrigierbar. Wer sich wertvoll fühlt, bei dem kommen Signale an: „Ups, damit fühle ich mich nicht wohl.“ – „Wolltest du nicht noch …?“ – „Ich glaube, du bringst XY gerade in eine unangenehme Situation.“ Wer sich einer Korrektur verschließt, hat meist das Gefühl, nicht zu genügen und dass es ohnehin nie gut genug ist.

Selbstwert brauchen wir vor allem, wenn wir uns gegen das Zuviel wehren, mit dem fast jede Familie zu kämpfen hat. Es ist schrecklich überfordernd, was wir alles wissen, können, tun, leisten, haben und schaffen müssen. Aber müssen wir das wirklich? Vieles nicht. Gerade Verpflichtungen gegenüber Verwandten, Freunden und Bekannten, gegenüber Institutionen wie Kindergarten, Schule, Verein und Kirche können wir überprüfen: Müssen wir wirklich alles tun, was von uns erwartet wird? Wo nicht, können wir lernen, uns fröhlich zu schämen. Doch wer sich wertvoll genug fühlt, kann Erwartungen enttäuschen. Ich könnte eine lange Liste mit Punkten schreiben, in denen ich hinter dem zurückbleibe, was man von einem gebildeten, rücksichtsvollen und engagierten Menschen erwartet. Wo das sichtbar wird, schäme ich mich. Manchmal lassen es mich andere auch spüren, dass sie mehr von mir erwarten. Das lässt mich nicht kalt. Es kränkt, es schmerzt. Aber niemals würde ich mir die Freiheit nehmen lassen, so zu leben, wie es mir entspricht und wie es auch denen guttut, die ich liebe. Dann schäme ich mich lieber fröhlich.

2. Gefühle und Konflikte willkommen heißen

Kennen Sie den Gedanken: „Auch das noch!“, wenn wir es mit Gefühlsausbrüchen oder Konflikten zu tun bekommen? Etwa bei einem Wutausbruch unserer Kinder, einer Sinnkrise unseres Partners oder einem Streit? Doch wenn wir so reagieren, offenbart das: Unser Leben ist so voll, dass für Gefühle und Konflikte keine Kraft mehr da ist. Schon Bücher über berufliche Zeitplanung empfehlen: „Planen Sie in Ihren Arbeitstag Zeit für unvorhergesehene Dinge ein, denn die kommen immer. Wenn Sie den ganzen Tag bereits verplant haben, bringt Sie alles, was unerwartet kommt, unter Druck.“ Was für die Arbeit gilt, trifft in ähnlicher Weise für unser Privatleben zu.

Für Gefühle und Konflikte etwas übrig zu haben, ist schon deshalb entlastend, weil sie sich nicht verhindern lassen. Es gibt aber noch einen besseren Grund. Gefühle tragen viel Energie in sich: Sie brechen aus, reißen uns mit, sie bewegen oder überwältigen uns. Wo wir unsere Gefühle und die unserer Lieben bekämpfen, versiegt eine Energiequelle. Wo wir Gefühle dagegen verstehen, liebevoll beantworten und deren Energie in eine gute Richtung lenken, erhöht sich unser Energielevel. Auch die unvermeidlichen Konflikte können wir unter diesem Gesichtspunkt betrachten: Wo wir verstehen, worum es geht und einen guten Kompromiss finden, setzen wir Motivation und Kraft frei. Das Gegenteil wäre der ungelöste Konflikt, in dem wir uns gegenseitig blockieren, beschneiden, zensieren und das Leben eng machen, damit an dieser Stelle nicht schon wieder ein Streit ausbricht. Das macht nicht nur gereizt und traurig. Es lähmt unsere Lebenskräfte, die wir doch für unseren Alltag brauchen.

3. Energieräuber ausladen

Nichts greift tiefer in unser Nervensystem als das, was sich in unseren Beziehungen abspielt. Hier erneuert sich unsere Kraft, hier verlieren wir sie. Menschen ermutigen uns zu einem Leben, wie es uns entspricht. Menschen versuchen, über uns zu bestimmen und uns zu verbiegen. Für unseren Kräftehaushalt ist es daher entscheidend, wen wir in unsere Nähe lassen und wem wir emotionale Macht über uns geben.

Sozial eingestellte und gläubige Menschen sind großzügig gegenüber den Eigenarten anderer Menschen. Sie übernehmen Verantwortung für das Gelingen von Beziehungen, zur Not einseitig. Sie suchen im Zweifelsfall den Fehler bei sich. Doch manchmal ist das schädlich. Denn wenn andere sich unfair oder ausnutzend verhalten, brauchen wir eine starke Liebe, die den Schwächen anderer Grenzen setzt. Sie stellt andere vor die Wahl: „Möchtest du eine liebevolle, gesunde Beziehung mit mir leben? Oder bestehst du darauf, dich weiterhin unfair zu verhalten? Dann aber ohne mich.“

Nur wer fair und vertrauenswürdig ist, darf in unsere Nähe kommen. Viele Beziehungen sind gesetzt: Verwandtschaft, Nachbarn, Kollegen. Doch wir bleiben frei darin, wie viel Zeit wir mit jemandem verbringen und ob wir uns öffnen. Auch in einer oberflächlichen Beziehung, die sich auf das unvermeidliche Miteinander beschränkt, kann man freundlich, wertschätzend und hilfsbereit sein. Christlich geprägte Menschen erinnere ich manchmal daran, dass selbst Feindesliebe keine seelische Nähe erfordert. Beispiele für Feindesliebe in der Bibel sind beten, ein Kleidungsstück überlassen, etwas zu trinken oder etwas zu essen geben. Das alles ist möglich, ohne einen bösen oder schädlichen Menschen in sein Leben zu lassen. Manchmal spreche ich mit Menschen auch über die Frage, wie sozial man sein muss. Denn wenn sich jeder von schwierigen Menschen abwenden würde, blieben sie ja ganz allein. Doch man sollte das Potenzial schwieriger Menschen nicht unterschätzen, sich auf eine gesündere Beziehung einzulassen. Die Motivation dafür entsteht aber erst, wenn es nicht mehr genug Personen gibt, die sich unfair und ausnutzend behandeln lassen. Wenn das schwierige Verhalten Ausdruck einer psychischen Erkrankung ist, schenkt man einer Person besser in einem kleinen Netzwerk Gemeinschaft – alles andere überfordert oft.

4. Glück ist analog

Als Werkzeug ist die digitale Welt unendlich nützlich, als Lebensform erschöpft sie uns. Denn einerseits überreizt sie, andererseits schneidet sie uns von dem ab, was Kraft gibt: Berührungen, persönliche Begegnungen, in der Natur sein, etwas mit den Händen tun, die Welt mit allen Sinnen erfahren, die Wohltat des Nichtstuns genießen, in der Langeweile erleben, wie sich kreative Kräfte entfalten. Was einem schon der gesunde Menschenverstand sagt, können Studien präziser fassen. In der BLIKK-Medien-Studie 2017 wurden zum Beispiel über 5.000 Familien zum Umgang mit digitalen Medien befragt. Gleichzeitig wurde die Gesundheit und Entwicklung von Kindern untersucht. Das Ergebnis: Die Nutzung digitaler Medien begünstigt Schlafstörungen, Fütterstörungen, motorische Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Sprachentwicklungsstörungen, Konzentrationsstörungen und anderes. Je früher der Mediengebrauch einsetzt und je intensiver er ist, desto ausgeprägter sind die Effekte. Sowohl für die betroffenen Kinder als auch für Eltern, die sich Sorgen machen, sind die Folgen des Medienkonsums kraftraubend. Ins Positive gewendet liegt hier ein großes Potenzial für Wohlbefinden. Es gibt zwar den Sog in die digitale Welt und oft auch einen sozialen Druck. Doch wir bestimmen, inwieweit wir dem nachgeben. Je glücklicher wir in der analogen Welt sind, desto leichter wird es.

Wenn ich erschöpfte Menschen begleite, wünschen sie sich nichts mehr, als wieder Kraft zu haben. Um dann so weiterzumachen wie bisher? Lieber nicht. Denn Erschöpfung hat eine Botschaft, die uns etwas Wichtiges zu sagen hat. Wir haben uns von dem abschneiden lassen, was uns Kraft gibt. Wir haben den falschen Menschen oder Dingen Macht über uns gegeben. Wer die Botschaft hört und beherzigt, wird seine Erschöpfung feiern. Denn sie führt auf einen Weg, der das Leben leichter und glücklicher macht. Sie bringt mehr in Übereinstimmung mit dem, was einem wirklich wichtig ist.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (psychotherapie-berger.de/family).