„Wir wollen zumindest für drei Menschen das Leid mildern“

Claudia Lambeck und Stefan Görnert haben einer ukrainischen Mutter und ihren beiden Kindern ein neues Zuhause gegeben.

Der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hat uns sehr mitgenommen“, erinnert sich Stefan Görnert. Kurz zuvor hatten er und seine Lebensgefährtin Claudia Lambeck ein neues Haus in Wermelskirchen bezogen – mit einer kleinen Wohnung im oberen Stockwerk, die Claudia Lambecks Tochter Laura nutzen wollte. Aber Laura zog es schließlich doch nach Köln in eine WG.

„Wir wollten die Wohnung eigentlich erst mal nicht vermieten“, erklärt Stefan Görnert. Doch dann sahen sie die Bilder von Geflüchteten aus der Ukraine. „Wir konnten es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, dass wir aus Bequemlichkeit eine Wohnung leerstehen haben, und andere Familien suchen dringend eine Unterkunft.“ Stefan Görnert, der als Verwaltungsleiter der Stadt Wermelskirchen arbeitet, informierte Menschen in der Politik darüber, dass sie eine Wohnung für Geflüchtete zur Verfügung stellen könnten. Darüber entstand der Kontakt zu einem Reporter von RTL, der gerade in Warschau war und dort zwei Familien kennengelernt hatte, die ein neues Zuhause suchten. Als Claudia Lambeck und Stefan Görnert gefragt wurden, ob sie eine der Familien aufnehmen könnten, sagten sie sofort ja.

TRAUMATISIERT

Nun hatten sie eine Woche Zeit, um alles vorzubereiten. Die Wohnung war zwar weitgehend möbliert, aber einiges musste noch besorgt und renoviert werden. Schließlich war es so weit: Nach etwa 20 Stunden Zugfahrt kam Svetlana mit ihrem Sohn Danilo (17) und ihrer Tochter Nastia (12) in Wuppertal an. Dort wurden sie abgeholt und nach Wermelskirchen gefahren. Svetlanas Bruder, der schon länger in den Niederlanden lebt, war auch dabei und half der Familie, erst mal zur Ruhe zu kommen. Über ihn lief auch nach seiner Rückkehr nach Hilversum ein großer Teil der Kommunikation, da er im Gegensatz zu seiner Schwester gut Englisch und auch etwas Deutsch spricht. Ansonsten wird überwiegend über eine Übersetzungs-App kommuniziert. „Ich rede aber auch ganz bewusst Deutsch mit ihnen – mit Händen und Füßen“, erklärt Claudia Lambeck. Vor allem Nastia, die inzwischen eine Sekundarschule besucht, versteht schon ein bisschen Deutsch. Sie und ihr Bruder haben schwere Zeiten hinter sich, sind offensichtlich traumatisiert. Die Familie kommt aus Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, die wiederholt Ziel russischer Angriffe war.

Nastia hat nach der Flucht eine Woche lang nicht gesprochen. Erst als sie Nala, den Hund ihrer Gastgeber, kennenlernte, änderte sich das: „Sie hat Nala sofort ins Herz geschlossen und ist mit ihm durch den Garten getollt. Da ist bei ihr der Knoten geplatzt.“ Außerdem hat sie sich mit Jonathan, dem 12-jährigen Sohn der Nachbarn, angefreundet. Sie skaten zusammen und haben auch schon mit Svetlana einen Ausflug nach Köln gemacht. Danilo fällt es offensichtlich deutlich schwerer, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Viele Jungen in seinem Alter sind in der Ukraine geblieben, um mit den erwachsenen Männern zu kämpfen. In Wermelskirchen gibt es nur wenig gleichaltrige Ukrainer.

MORALISCHE VERPFLICHTUNG

Wichtig ist es Claudia Lambeck und Stefan Görnert, dass Svetlana und ihre Kinder sich nicht als Gäste fühlen, sondern unabhängig und eigenständig ihr Leben gestalten können. Deshalb haben sie ihnen eine eigene Waschmaschine gekauft und auch offiziell einen Mietvertrag gemacht. Die Miete übernimmt das Sozialamt. Trotzdem sind sie natürlich zur Stelle, wenn die ukrainische Familie Unterstützung braucht bei Ämtergängen oder Arztbesuchen. Zu Beginn habe sie das Engagement schon viel Zeit gekostet, erklärt Claudia Lambeck. „Aber mittlerweile ist es nicht mehr so viel.“ Zurzeit versuchen sie, für die Familie therapeutische Hilfe zu organisieren. Und – gerade für Danilo – auch einen Sportverein. In der Ukraine hat er geboxt. Nun suchen seine Gastgeber und Vermieter nach einem passenden Verein oder Angebot in Wermelskirchen.

„Ich habe einfach die moralische Verpflichtung gefühlt, da etwas zu tun“, erklärt Stefan Görnert. „Ich möchte etwas dazu beitragen, dass das Leid zumindest für drei Personen etwas gemildert wird.“ Er gibt zu, dass es ihn belastet, Nachrichten aus der Ukraine zu sehen. „Oft hoffe ich dann, dass sie oben in der Wohnung nicht dasselbe im Fernsehen sehen wie wir …“ Auch Claudia Lambeck bedrückt die Situation der Geflüchteten und der Menschen, die noch in der Ukraine leben. Vor einiger Zeit war sie mit Nastia bei einem Friedensgebet, das von verschiedenen Gemeinden der Stadt veranstaltet wurde. „Auf dem Rückweg flog ein kleines Flugzeug über uns hinweg. Da ist Nastia deutlich zusammengezuckt.“ Das Mädchen liegt ihr besonders am Herzen. Und auch die 12-Jährige hat Claudia Lambeck offensichtlich ins Herz geschlossen. „Letztens hat sie mir ein Bild mit einem Herzen gemalt und ‚Ich liebe dich‘ dazugeschrieben. Da geht einem schon das Herz auf!“

Bettina Wendland ist Redakteurin von Family und Family-NEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

Alles hat seine Zeit …

Wie ein biblisches Prinzip im Alltag hilft. Von Miriam Koller

Da war sie wieder, die mir so wohlvertraute Stimme meines inneren Kritikers, die mich immer wieder aufs Neue niedermacht, mich klein hält und verunsichert: „Na toll, hast ein paar Wochen durchgehalten, super. Und heute Abend machst du wieder alles kaputt. War ja klar, dass das nichts wird.“ Mein Blick fiel beschämt auf die Chipstüte vor mir, und ich fühlte mich augenblicklich hundeelend.

SPRUNG VOM 10-METER-BRETT

Vor einigen Wochen hatte mich im Buch „Problemzone Frau“ von Veronika Smoor die Aussage gepackt, wir Frauen dürften in puncto Ernährung auf unseren Körper vertrauen lernen. Ich wagte den mutigen Schritt und begann, nur noch so viel zu essen, wie ich tatsächlich Hunger hatte und nur noch das, worauf ich gerade Appetit hatte. Es fühlte sich im ersten Moment an wie ein Sprung vom 10-Meter-Brett. Anlauf nehmen, Augen zukneifen und hoffen, dass es gut geht. Luftleerer Raum, Schwerelosigkeit, Zweifel, Angst – war das wirklich eine so gute Idee?

Aber dann stellte ich nach kurzer Zeit fest, dass ich tatsächlich phasenweise auf ganz unterschiedliche Lebensmittel Appetit hatte und dass es gar nicht nur die „ungesunden“ waren. An der Mehrheit der Abende vermisste ich meine Schokolade überhaupt nicht, von der ich immer dachte, ich sei abhängig. Und statt der Befürchtung, dass ich aufgehen könnte wie ein Hefeteig, geschah tatsächlich das Gegenteil: Ich nahm ab. Ich fühlte mich so gut und so wohl in meinem Körper.

Gestern dann das: plötzlich ein abendlicher Heißhunger auf Chips, Cola und Schokolade. Und ich gab mich ihm hin. Nicht ohne mich dafür zu verurteilen und schwarzzumalen … Heute lese ich in einem Artikel, wie viel Energie der Körper benötigt, um eine Krankheit zu bekämpfen, und da muss ich plötzlich über mich selbst schmunzeln. Dass mich seit zwei Tagen eine Erkältung quält, hatte ich überhaupt nicht in den Zusammenhang gebracht mit meiner gestrigen Fressattacke. Dabei war es völlig klar: Mein Körper hatte nach Lebensmitteln geschrien, die ihm möglichst schnell viel Energie liefern sollten. Natürlich nicht gerade die besten, aber statt auf ihn zu hören und zu vertrauen, dass er schon weiß, was er da tut, habe ich den inneren Kritiker laut seine Schimpftiraden über mir ausschütten lassen und – das ist das Schlimme – ihm auch noch geglaubt.

DEN INNEREN KRITIKER ZUM SCHWEIGEN BRINGEN

Während ich heute darüber nachdachte, wie wunderbar Gott unseren Körper eigentlich geschaffen hat, kam mir ein Bibelvers in den Sinn, an den ich in letzter Zeit öfter denken musste. Prediger 3,1: „Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist.“ Lässt sich diese Aussage nicht vielleicht auf viel mehr Bereiche unseres Lebens ausdehnen, als wir erahnen? Der Bibelabschnitt geht weiter mit: „Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben.“ Und in diesem Zusammenhang verstehen wir diesen Vers meist. Dass es um die Endlichkeit unseres Lebens geht. Aber dass noch eine ganze Reihe an weiteren Aufzählungen folgen, war mir bisher weniger präsent:

„Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen. Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden. Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden.“

Was hier beschrieben wird, lässt den Schluss zu, dass sich diese Weisheit auf sehr viele Bereiche des Lebens anwenden lässt. Warum also nicht auch auf unsere Ernährung und auf unser Vertrauen in unseren Körper? Und wie viel leichter und schöner wäre doch das Leben für uns, wenn wir uns erlauben würden, dieses Prinzip tatsächlich auf uns anzuwenden? Wenn wir den inneren Kritiker zum Schweigen brächten in dem Wissen, dass Gott das ganz anders sieht? Dass unser Schöpfer uns wunderbar gemacht hat und uns den Bauplan „Alles hat seine Zeit“ in die DNA gelegt hat?

DICKE STAUBSCHICHTEN

Ein weiteres Beispiel: Bevor ich Mutter wurde, war mein Haushalt perfekt geplant. Ich führte einen genauen Ablaufplan, wann ich was zu tun hatte und hielt mich daran. Ich hatte das Gefühl, den Haushalt im Griff zu haben. Dann kam die Geburt und mit dem Einzug dieses neuen kleinen Menschleins wurde meine Welt komplett umgekrempelt. Ich hielt keinen meiner Pläne mehr ein. Machte frustriert einen neuen, nur um dann auch diesen nicht erfüllen zu können. Unsere Regale setzten dicke Staubschichten an. Durch die Fenster sahen wir unsere Umgebung zunehmend getrübter. Es gab Ecken in unserem Zuhause, die über Monate hinweg nicht mehr gesaugt wurden. Und wie sehr machte ich mir dafür Vorwürfe …

Es kamen aber auch wieder andere Zeiten. Ich hätte es damals nicht für möglich gehalten. Auch heute noch gibt es diese Phasen, in denen ich es einfach nicht schaffe, den Haushaltsplan einzuhalten. Wo mir schlichtweg die Kräfte fehlen und ich mich nicht dazu aufraffen kann, die Betten frisch zu beziehen. Und auch da habe ich inzwischen eines gelernt: Es bringt weder etwas, mich zu quälen, nur damit „der Plan eingehalten“ wird, noch den inneren Kritiker zu Wort kommen zu lassen und mich schlecht zu fühlen für „mein Versagen“. Nein, ich darf darauf vertrauen, dass es – vielleicht schon in ein paar Tagen – einen Vormittag geben wird, an dem ich plötzlich vor Kraft nur so strotze, es mir förmlich in den Fingern juckt, heute die Betten zu beziehen, und mir die Arbeit dann federleicht von der Hand geht. Alles hat seine Zeit! Gott spricht es uns zu in seinem Wort. Wir dürfen darauf vertrauen, dass es die Wahrheit ist und es als Schutzschild vor uns halten, wenn die spitzen Pfeile des inneren Kritikers mal wieder versuchen, uns zu durchbohren.

Miriam Koller lebt und arbeitet in Weinstadt in der Nähe von Stuttgart. Sie ist Buchhändlerin in einer christlichen Buchhandlung und Mutter einer Tochter im Kindergartenalter.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Sinnlose Angebote

Im Wald baden

Katharina Hullen sucht zusammen mit ihrem Mann nach einem passenden Paar-Event und entdeckt allerhand Skurriles.

Katharina: Katharina: Kürzlich bekamen wir einen Erlebnisgutschein geschenkt. Nun stehen der beste Ehemann von allen und ich vor der Qual der Wahl, aus tausenden Erlebnissen das – ja, was genau soll es sein? – aufregendste, romantischste, erholsamste, außergewöhnlichste Event für einen besonderen Tag zu zweit herauszusuchen. Keine leichte Aufgabe, aber auf jeden Fall eine sehr unterhaltsame, denn neben all den Stadtführungen, Kochkursen und Funsport-Aktivitäten findet man allerlei skurrile Dinge, bei denen man sich fragt, warum Menschen dafür Geld ausgeben! So kann man sich für nur 29,90 Euro für 3 Minuten bei -150 Grad Celsius in einer Kältekammer einschließen lassen – was für ein Spaß, vor allem für mich, die schon bei 24 Grad plus fröstelt! Aber vielleicht ist es ja auch ein Schnäppchen – immerhin ist eine Tasse grüner Tee inklusive. Wer das gleiche Geld aus einem anderen Fenster werfen möchte, verschenkt ein Kinderhoroskop zur Geburt. Dort werden der Sternenstand am Tag der Geburt und die Auswirkungen auf Charakterzüge und Schicksal ausgewertet, vorhergesagt und in einer mehrseitigen Mappe zur Verfügung gestellt. Aha! Nein, vielleicht doch etwas Gemeinschaftsförderndes für die Paarbeziehung? Zum Beispiel Holzrücken: Da zieht man alte Baumstämme mithilfe von Pferden aus unwegsamem Waldgelände heraus. Für nur 84,90 Euro dürft ihr den ganzen Tag in schönster Natur dem Waldbesitzer seine schwere Arbeit abnehmen. Großartig! Wer zwar gerne im Wald sein möchte, aber dabei lieber nicht schuften will, bucht einfach 2,5 Stunden Waldbaden. Dort kann man mithilfe von diversen Achtsamkeitsübungen für 49,90 Euro die Ruhe des Waldes genießen. In Gruppen von bis zu 14 Personen. Und zwar in einem Waldgebiet in der Großstadt Essen, irgendwo zwischen A40 und A52. Und hier noch Empfehlungen für Tierliebhaber: Wem der Spaziergang in schöner Kulisse mit dem eigenen Partner nicht reicht, nimmt sich einfach wahlweise Alpaka, Rentier oder Esel mit. Was für eine wunderbare Vorstellung, wie Hauke vier Stunden lang mit einem Alpaka an der Leine durch Duisburg trottet! Wem das zu sportlich ist, dem sei das Husky-Knuddeln ans Herz gelegt: Für knapp 30 Euro darf man 2 Stunden lang einen Hund streicheln.
Interesse? Dann hätten wir auch selber noch ein paar Ideen: Wie wäre es mit meditativem Wäschefalten im Hause Hullen, pro Stunde für nur 19,90 Euro? Oder ihr puzzelt mit unserem 8-jährigen Autisten 4 Stunden lang das gleiche Puzzle? Alternativ könnten wir auch das große „Abenteuer Prozentrechnung (7. Klasse)“ anbieten (das Abfragen der Englisch-Vokabeln ist optional zubuchbar) für nur 49,90 Euro. Gibt auch eine Tasse Tee dazu! Ach ja, dieser Gutschein zeigt wunderbar, wie kreativ der Mensch werden kann, um Dinge an den Mann und die Frau zu bringen. Uns hat er eine schöne und lustige Paarzeit beschert – und zwar bereits beim Aussuchen des Erlebnisses. zeAls wir ihn einlösen wollten, war er schon abgelaufen.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Rehrücken-Shampoo für gefestigte Persönlichkeiten

Hauke Hullen kämpft mit Haushaltshelfern, die nicht helfen, und badet in Bolognese.

Hauke: Was für ein Jammer! Da ist der Mensch als Krone der Schöpfung mit göttlicher Kreativität gesegnet – und was macht er daraus? Er erfindet Dinge, die kein Mensch braucht. So blockiert seit Jahren ein Zwiebelschneider wertvollen Platz in der Küchenschublade. Dieses Ding, mit dem man in wenigen Sekunden eine Zwiebel würfeln kann, um sich danach eine Viertelstunde lang mit der Reinigung abzumühen. Sein dümmerer Bruder ist der Bananenschneider: eine Schere, die mit nur einem Schnitt direkt sechs Scheiben abtrennt. Was man davon hat? Ein weiteres schwer zu reinigendes Utensil, aber dafür auch eine respektable Zeitersparnis im niedrigen einstelligen Sekundenbereich. Und kennen Sie den Butterstempel? Einfach die Schablone leicht auf die Butter drücken, und schon zeigen feine Linien an, wie groß eine 20-Gramm-Portion ist. Wie haben die Leute bloß früher gewusst, wie viel Butter sie für ein Brötchen brauchen? Da wäre außerdem die Plastikdose für exakt eine Kiwi. Wann kommt die Dose für ein Paar Kirschen oder eine Erdbeere? Frühstücksboxen für Bananen gibt’s schon, gelb und gebogen. Was die Box nicht weiß: Die Norm-Bananen aus dem Supermarkt sind fast gar nicht mehr krumm, passen also gar nicht hinein. Wohl dem, der jetzt einen Bananenschneider hat!
Während hier unsere Intelligenz subtil beleidigt wird, geht es an anderer Stelle offensiver zu: Kaum sitze ich am Frühstückstisch, schreit mich mein Müsli an: „Feige Nuss!“ Der Honig nimmt mich nicht ernst und will mir seine Herkunft nicht verraten: Er komme „aus EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern“. Warum schreibt man nicht direkt „Honig von irgendwo“? Oder: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“? Immerhin, der Käse ist ehrlich und sagt mir, wer und woran ich bin: „mittelalt“. Auch das Bad ist voll mit unnützen und missverständlichen Produkten: Wonach werde ich riechen, wenn ich das Shampoo „Frohe Weihnachten!“ benutzt habe? Nach Bratapfel oder Rehrücken? Das Duschgel meiner kleinen Söhne heißt „Wilde Tiere“. Wollte ich diesen Geruch nicht eigentlich loswerden? Auch das Duschgel von „Puma“ macht mich misstrauisch. Darum greife ich lieber zum nicht ganz so exotischen Badezusatz „Thymian & Oregano“ – um den Rest des Tages ein Odeur zu verbreiten, als hätte ich in Bolognese-Sauce gebadet. Was aber gewiss erträglicher ist als die gewagte Kombination des Axe-Duschgels „sneakers & cookies“. Turnschuh & Keks, ernsthaft? Schon der Drogerie-Einkauf erfordert eine gefestigte Persönlichkeit, legen diese Produkte doch den Finger in jede Wunde: „Fettiges Haar! Spröde Haut! Trockene Haare!“ Angeblich sollen die Shampoos umso besser sein, je mehr Beleidigungen draufstehen. Ein Wunder, dass sich so etwas verkauft. Aber schon der Ökonom Jean-Baptiste Say wusste: Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage – offenbar auch, wenn das Produkt weitgehend sinnfrei ist. Apple warb einst mit „Wenn du kein iPhone hast, dann hast du kein iPhone“, eine Kinder-Spielkartenserie mit dem Slogan „Sammel sie alle!“ – kaufe etwas, damit du es hast. Der Besitz als reiner Selbstzweck – manchmal ist die Krone der Schöpfung ganz schön dämlich.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Glückwunschkarten

Wertschätzung brauchen wir alle

Katharina Hullen steckt viel Zeit in Geburtstagskarten. Leider wird sie häufig trotzdem nicht rechtzeitig fertig.

Katharina: Heute sind unsere Zwillinge zum Geburtstag ihrer Freundin eingeladen. Das Geschenk ist besorgt und hübsch verpackt. Ich frage die Mädchen, ob sie Karten zu ihrem Geschenk geschrieben haben. Und es ist wie jedes Mal: Die eine Tochter zückt ein effektvoll gebasteltes Karten-Kunstwerk voller Pop-up-Elemente und Geheimfächer, wohingegen die andere motzig in ihrem Zimmer verschwindet, um noch schnell auf ein nacktes DIN A4-Blatt ein paar Glückwünsche zu kritzeln. Sticker drauf, fertig! Sie pfeffert ihr Werk neben das Geschenk mit den Worten: „Echt, Mama, kein Mensch schreibt mehr Karten! Die will auch keiner lesen und am Ende werden sie eh weggeworfen!“ Offenkundig scheint es eine Typfrage zu sein, ob man seinen Mitmenschen wenigstens zu bestimmten Anlässen auch ein paar nette Worte schreiben will. Aber ist es nicht so, dass jeder gern persönliche Karten bekommt? Ein paar Zeilen voll ehrlicher Wertschätzung und guter Wünsche? Ein Bildmotiv passend gewählt, eine liebevolle Bastelei, ein besonderer Umschlag? Alles doch Zeichen für: Ich habe an dich gedacht! Zwar wird es so ein Papier natürlich nicht gleich in den Nachlass des Beschenkten schaffen, doch ich hoffe, dass es ihm wenigstens für diesen Moment das Herz erwärmt. Wie sagte Mark Twain? „Von einem guten Kompliment kann ich zwei Monate leben.“ Doch das Problem ist: Um wirklich bedeutsame und tiefergehende Worte zu finden, braucht es leider auch viel mehr Zeit. Wie soll man es bloß schaffen, all die guten Wünsche, all die gemeinsamen Erfahrungen, all die Sympathie in wenigen Sätzen auf ein kleines Kärtchen zu quetschen? Oft schon habe ich stundenlang an den richtigen Formulierungen gefeilt – und dann die Karte doch in Haukes Hände gegeben. Einfach, weil wir jetzt wirklich losmussten. Und weil Hauke, obwohl er ein Beziehungsmuffel ist, ironischerweise dann doch die witzigsten Karten schreibt. Zwar nicht besonders tiefgründig, aber eben sehr unterhaltsam. Diese Texte fließen ihm einfach so aus der Feder – was für eine Gabe! Der Beschenkte hat immer ein Lächeln auf den Lippen! Und schmeißt die Karte dann nachher weg.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Ein Jahr älter – na und?

Hauke Hullen findet das Tamtam, das um Geburtstage gemacht wird, völlig überzogen.

Hauke: Ich muss zugeben: Ich gratuliere nicht gerne. Vor allem nicht schriftlich. Und mündlich eigentlich auch nicht. Irgendwie erschließt sich mir der Sinn dieses Rituals nicht: Wofür soll ich gratulieren? Dass jemand es geschafft hat, ein Jahr älter zu werden? In der Regel war dazu keine besondere Leistung nötig – älter werden wir von ganz allein, das kann jeder bestätigen, der sich wie ich beim Schuhezubinden jedes Mal überlegt, was man bei der Gelegenheit noch alles erledigen könnte, wenn man schon mal da unten ist.

Nein – Anerkennung fürs Überleben verdienen nur diejenigen, die unter prekären Bedingungen aufwachsen, weil vielleicht im Stadtteil Gewalt grassiert, im Land eine Hungersnot wütet oder die Eltern Volksmusik hören. Logischerweise sollte man daher eher der Mutter des Jubilars zum Jahrestag ihrer Niederkunft gratulieren – war sie doch die einzige, die an dem Tag etwas Produktives gemacht hat. Die beste Ehefrau von allen will trotzdem, dass ich Leuten zu ihrem Geburtstag beglückwünsche, weil es darum gehe, dem anderen seine tiefe Wertschätzung zu zeigen. Wirklich? Einmal im Jahr? Und ausgerechnet an diesem einen Tag? Immerhin mag man seine Freunde und Bekannten ja meistens durchaus langfristiger als nur 24 Stunden, da müsste man ja eigentlich täglich oder wenigstens im Wochentakt ein paar warme Worte wechseln, oder? Außerdem gibt es auch Menschen, mit denen mich gar nicht so wahnsinnig viel verbindet. Sie teilen sich nur dank einer Laune der Natur den gleichen Lebensraum mit mir in Firma, Verein oder Kirche. Doch statt sich konsequenterweise neutral zu verhalten, muss man sich auch dort eine Gratulation abringen, vor allem, weil das Geburtstagskind den Weg zum Kuchenbuffet versperrt. Auch der Empfänger interessiert sich doch nicht wirklich für die wohlgesetzten und tiefsinnigen Sentenzen, die wir mit Herzblut auf die Karte gezirkelt haben. Für meine Kinder ist das Kartenlesen eine lästige Pflicht vor dem Auspacken, dessen einziger Sinn darin besteht, die Spannung auf das Geschenk zu erhöhen. Wozu also der ganze Stress? Am nervigsten sind Chatgruppen auf WhatsApp & Co. Irgendwer sammelt immer ein Fleißkärtchen und schickt um kurz nach Mitternacht den ersten Glückwunsch auf die Reise. Danach pingt und brummt es, bis der Akku leer ist. Irgendwann sieht man sich genötigt, sich den zahlreichen Vorrednern anzuschließen. Man möchte ja nicht wie ein gefühlskalter Idiot erscheinen, weil man als Einziger nicht gratuliert. Vor ein paar Wochen hatte ich übrigens selbst Geburtstag. Viele haben mir gratuliert. Hat mich sehr gefreut.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Geliebte Nervensäge

Kann man sich ein Leben lang faszinierend finden trotz all dieser wahnsinnig nervigen Eigenschaften, die wir alle mit uns herumtragen? Eigentlich nicht, meint Steffi Diekmann – und doch kann die Faszination immer wieder neu aufblühen.

Ich bin hellwach. Wie immer beginnt mein Tag früh und mein Mann schläft. Sein Schnarchen macht mich sauer. Wie kann er so pennen? Klar gönne ich es ihm. Aber wir haben eine lange Liste an Kleinigkeiten zu bewältigen heute. Und er … ist tiefenentspannt.

Als Jugendliche fand ich an Henrik so faszinierend, dass er klar und gelassen wirkte. Klar in seinen Aussagen, Handlungen und Haltungen und sehr entspannt mit Kindern, desaströsen Chorproben und hitzigen Diskussionen. Und mit mir. Meine Emotionen sind rau, oft ungefiltert und meine Wahrheit ist ganz lange wahr – bis Henrik mir hilft, den Horizont zu weiten.
Diese Faszination hatte er für meine Vielfältigkeit, Entschlossenheit und Kreativität auch. Gute Voraussetzungen, um sich ein Leben lang neu zu entdecken, oder?
Am Beginn unserer Ehe haben wir uns oft über den kühlen Ton mancher Ehepaare gewundert, die verloren gegangene Faszination und wachsende Lieblosigkeit. Während ich mich nun durch meinen schlummernden Mann mit den Tagesaufgaben allein gelassen fühle, stelle ich fest: same here. Die Erkenntnis, dass ich ihm nicht mal ein Ausschlafen gönne, trifft mich nicht zum ersten Mal.

ÜBERFORDERT DURCH DEN FAMILIENALLTAG

Als nach und nach Kinder in unser Leben traten, ließ meine Faszination für seine eindeutigen Ansagen nach und wich immer öfter meiner Bitte um mehr Einfühlungsvermögen. Aus meinem bezaubernden Menschenflüsterer wurde ein polternder Vater, wenn der Apfelsaft zum wiederholten Mal umfiel. Seine Klarheit, die ich einordnen konnte, empfanden Freunde oft als Arroganz oder Lieblosigkeit. Gleichzeitig erinnere ich mich, dass in dieser Phase immer mehr Rückmeldungen zu meinem „alltäglichen Drama“ von ihm kamen. Meine Überforderung, meine Gefühle und Wahrnehmungen zu sortieren, wuchs und wurde sichtbarer. Wir hatten auf der einen Seite das Glück, Familie zu werden, das verlangte uns auf der anderen Seite aber auch viel ab.

Was am Anfang gülden schimmerte, blendete uns nun gegenseitig schmerzhaft, wenn die eigenen Kräfte am Limit waren. Durch einen von Bronchitis begleiteten Kleinkindalltag, finanzielle Herausforderungen, Schlafdefizit vom Feinsten, Streit in der Kirchengemeinde und veränderte Beziehungen zu Eltern und Familie sehnten wir uns nach einem Partner, der das Zuhause-Gefühl bedingungslos ausstrahlt. Ein Partner, der sich auf mich freut und mir zeigt, wie willkommen ich bin. Die wachsende Anspannung sorgte jedoch dafür, dass ich den Reaktionen meines Partners immer kritischer gegenüberstand. Das reibungslose Prinzip unserer Anziehungskraft wurde erschüttert. Wir nervten uns.

EIN GEHÖRIGER SCHRECKEN

Dabei hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Als wir in einem verregneten Low Budget Campingurlaub ankamen, legte sich Henrik erst mal fiebernd und schlafend hin. Ich bebte innerlich vor Neid und Empörung. Wie konnte er mich so mit dem ganzen Chaos alleine lassen? Ausladen, auspacken, aufbauen, Kinder versorgen und mein Mann lag darnieder!

Mein unbarmherziger Ärger jagte mir selbst einen gehörigen Schrecken ein. Damals traf ich einen Entschluss: Ab sofort wollte ich nicht mehr aufrechnen, wer wann wie viel wickelt, füttert, Hausaufgaben begleitet oder putzt. Ich traf den Entschluss nicht demütig, sondern weil mein Zorn auf meinen Partner so groß war, dass ich von mir selbst schockiert war. Seine Gelassenheit und entspannte Sicht waren die schimmernden Faszinationspunkte und ich war gerade dabei, sie mit Alltagsstaub zu bewerfen. Bei einer Tasse Tee teilte ich meinem immer noch kranken Mann meinen Entschluss mit und er begann wieder zu strahlen. Als ich aufhörte, ihn zu attackieren, wurde ich mit seiner Fürsorge beschenkt. Bis heute erzählt er, wie gut es ihm getan hat, dass ich jeden Morgen die Frühschicht übernommen habe.

Danach lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Schön wär’s! Wenn ich Henrik heute frage, was ihn an mir richtig nervt, kommen Umschreibungen der Dinge, die ihn einmal sehr angezogen haben. Natürlich kenne auch ich diese Seiten an mir. Doch dieses Wissen schützt nicht vor Missverständnissen, manchmal ebnet es ihnen sogar den Weg: Wenn Henrik eine Schere sucht, rattert es in meinem Kopf. Ich habe für seinen Blick, sein Seufzen eine Deutung. Ich meine, meinen Mann so gut zu kennen, dass ich weiß, was er ausdrücken will. Ich bin mir bewusst, dass er unter meiner Kreativität leidet, jeden Tag einen neuen Platz für eine Schere zu finden. Als dies aus mir herausplatzt, guckt mich mein Mann ganz verdutzt an: „Äh, nein! Ich suche nur eine Schere. Ich denke dabei nicht an dich.“ Den Fokus auf die Reibungspunkte zu legen, ist eine Falle im Bewältigen des Alltags.

AN DIE GUTEN TAGE ERINNERN

Um den Partner aus der Bewertungsklammer zu entlassen, hilft uns ein Schritt zurück. Wie haben wir zusammen eine lustige Episode erlebt, einen großen Streit in der kirchlichen Kleingruppe geschlichtet oder Trauer gemeistert? Wenn wir aussprechen, was wir in diesen Erlebnissen am anderen wohltuend wahrgenommen haben, ist das wie ein Zündfunke für den Faszinationsglimmer zwischen Verbündeten.

Ich erinnere mich, welche Wesenszüge zu Beginn unserer Ehe strahlend waren, und frage mich: Wo sehe ich das heute? Was könnte ich heute an meinem Partner loben und neu bewerten? Dies können kleine Dinge sein, die neu verbindend zwischen uns wirken. Den Duft des anderen wahrnehmen, das kleine Lächeln der Augen sehen, einen klugen Satz hervorheben, sich bedanken für Alltägliches. Das Enttäuschende und Trennende zu benennen, ist für mich keine Kunst. Vor Freunden den Partner zu loben, zu ihm zu stehen oder im Beisein der Eltern von den Erfolgen des anderen zu sprechen, aber sehr wohl. Mit diesen Entscheidungen entsteht ein neuer Glanz. So glimmen neue Anziehungspunkte am Partner auf. Heute treffe ich wieder diese Entscheidung wie vor Jahren im Campingurlaub: Ich will meinen Mann entdecken.

Wenn ein bewusstes Hinsehen auf die Stärken des anderen nicht möglich erscheint, so kann eine kleine Geste helfen. An welchem Moment des Tages lächle ich meinen Mann gern an? Dieses Lächeln hat meinen Mann tatsächlich schon oft von den beengenden Klebefolien meiner Bewertung befreit. Sein Lob bringt mich zum Lächeln und so funkeln wir uns mitten im Alltag neu an.

Jetzt steht mein Mann endlich verschlafen vor mir. Nimmt mich in den Arm. Während ich seinen Duft aufsauge, flüstert er: „Schon so wach? Wir schaffen den Tag schon, mein Schatz …“ Ich seufze und entscheide mich, seine entspannte Haltung wundervoll zu finden. Einen tollen Mann habe ich!

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

Den Partner neu entdecken

Im stressigen Alltag kann es schnell passieren, dass der Mensch an unserer Seite vor allem nervt. Folgende Fragen können helfen, immer wieder eine neue Perspektive zu gewinnen.

Warum nervt mich das gerade so? Mal angenommen, es geht nicht darum, mich zu schikanieren: Kann ich nachvollziehen, warum er oder sie so handelt? Was hat mich am Anfang so fasziniert an meinem Partner? Wo und wie sehe ich das heute? Was haben wir zusammen erlebt und durchgestanden? Was habe ich dabei über uns erfahren? Mit welchen kleinen Gesten könnte ich heute erfreuen? Wo möchte ich gerne großzügig sein? Was würde mir dabei helfen?

„Ich vermisse unseren Sohn“

„Unser Sohn ist ausgezogen. Nun drehen sich meine Gedanken den ganzen Tag darum, was er gerade macht, vor welchen Schwierigkeiten er stehen könnte und ob ich ihm helfen sollte. Ich weiß, dass ich loslassen muss, aber es fällt mir schwer. Wie kann ich es lernen?“

Unsere Kinder in die Selbstständigkeit zu entlassen, ist ein wichtiger und oft auch schmerzhafter Prozess. Er vollzieht sich in vielen kleinen Schritten, die schon früh beginnen: Das erste Mal allein im Kindergarten, das erste Mal allein zu Fuß zur Schule gehen, das erste Mal allein zum Zahnarzt – all das sind wichtige Meilensteine. Wenn eines der wichtigsten Erziehungsziele ist, dass aus den Kindern selbstständige, verantwortungsvolle Menschen werden, die ihren Platz in der Welt finden, ist jeder dieser Schritte ein Grund zur Freude. Es ist eine wichtige Aufgabe von uns Eltern, unsere Kinder darin zu fördern und diese Dinge nicht für sie zu erledigen.

Vermeiden Sie zu häufige Telefonate!

Wenn dann der große Schritt des Auszugs nach Ausbildung oder Abitur kommt, sind die jungen Erwachsenen hoffentlich gut darauf vorbereitet, auch die nächsten Schritte zu gehen: eine passende WG aussuchen, sich in einer neuen Stadt orientieren, dafür sorgen, dass man genug zu essen im Kühlschrank hat, Menschenkenntnis in den vielen neuen Begegnungen anwenden … Wer seine Kinder darauf in den ersten 20 Jahren vorbereitet hat, hat gute Grundlagen gelegt.

Für die meisten Kinder ist der Auszug ein großes Abenteuer und eine aufregende Zeit, die sie genießen und zelebrieren. Das sollten wir ihnen gönnen und uns über die Erfolge freuen. Widerstehen Sie auf jeden Fall der Versuchung, mehr als einmal in der Woche anzurufen oder unablässig Nachrichten zu schicken. Telefone funktionieren in beide Richtungen. Wenn es unlösbare Fragen gibt, wird Ihr Sohn sich schon melden.

Loslassen ist ein Trauerprozess

Und trotzdem bleibt die innere Unruhe und Trauer. Ja, es ist wirklich ein Trauerprozess, den wir als Eltern durchlaufen. Vom Nicht-wahr-haben-Wollen („Mein Sohn kommt ja noch ganz oft nach Hause, das Kinderzimmer lassen wir so, wie es ist“) über eine gewisse Wut („Anderes ist ihm jetzt viel wichtiger als ich, obwohl ich alles für ihn getan habe“) bis zum Einrichten in die neue Situation, die ja auch Angenehmes hat. Aber zunächst muss ich loslassen. Ich konnte meine Kinder viele Jahre umsorgen und mich für sie einsetzen, aber jetzt weiß ich nicht mehr, wo sie sich Tag für Tag genau aufhalten und wie es ihnen geht.

Die Beziehung zum Kind wird nicht mehr die gleiche sein wie vorher. Allein das anzunehmen, kostet Kraft und Zeit. Mir persönlich hat es geholfen, Sorgen und Ablösungsschmerzen bei Gott abzugeben. Ihm konnte ich sowohl die Sicherheit meiner Kinder als auch meinen eigenen Schmerz anvertrauen. Kontrolle, Klammern und ständiges Nachfragen sind dagegen keine Option. Wir werden als Eltern aber auch auf uns selbst geworfen, wenn die Kinder ausziehen: Eine neue Lebensphase beginnt, in der wir viel Freiheit haben. Wie will ich diese Lücke füllen? Was kommt jetzt für mich als Vater oder Mutter? Es dauert meistens eine ganze Weile, bis man darin etwas Positives entdecken kann.

Anke Kallauch ist Referentin für Kindergottesdienst im Bund Freier evangelischer Gemeinden und Mutter von drei erwachsenen Kindern. 

„Ist er neidisch?“

„Mein Sohn (17) und meine Tochter (15) sind total unterschiedlich: Während er der zurückhaltende Typ ist, kaum Hobbys hat und mittelmäßige Schulnoten, ist sie aufgeschlossen, sehr beliebt und in der Schule ein Ass. Er verhält sich ihr gegenüber oft beleidigend und ausgrenzend. Meine Tochter fühlt sich deshalb oft verletzt. Wir haben das Gefühl, dass er neidisch ist. Wie können wir den beiden helfen, miteinander klarzukommen?“

Geschwister sind neben den eigenen Eltern die ersten Menschen, mit denen wir es alltäglich zu tun haben. Vom ersten Tag an rivalisieren wir mit den Geschwistern um die Gunst der Eltern.

Die Frage, ob das jüngere Geschwisterchen den älteren Bruder, die ältere Schwester vom Gunst-Thron bei den Eltern stößt, verführt ältere Geschwister oft genug dazu, die eigene Macht hinterrücks zu demonstrieren. Da wird geschlagen und gemobbt – häufig, wenn die Eltern gerade nicht hinschauen. Gleichzeitig wissen nachgeborene Kinder meist sehr genau, was sie tun müssen, um den Beschützerinstinkt bei den Eltern zu wecken. Deshalb flüchten sie sich gern in eine Opferrolle, in der sie zeigen, wie gemein der ältere Bruder, die ältere Schwester ist. Sie verstehen es auch, sich in Szene zu setzen als kleiner Prinz oder kleine Prinzessin.

INTERESSE ZEIGEN

Ihre Kinder sind jedoch alt genug, um zu wissen, wie sie miteinander umgehen sollten. Vielleicht ist der große Bruder gar nicht neidisch auf die Erfolge seiner kleinen Schwester, sondern darauf, wie diese Erfolge bei den Eltern, also Ihnen, ankommen. Natürlich sind Sie stolz auf Ihre Tochter, weil sie viele Freunde hat und ein schulisches Ass ist. Das würde alle Eltern glücklich machen. Aber da ist auch Ihr Sohn. Auch er hat Hobbys. Vielleicht nicht so weltbewegende. Möglicherweise sind es Interessen, mit denen Sie nichts anfangen können? Versuchen Sie es trotzdem. Interessieren Sie sich für das, was ihn bewegt. Nehmen Sie an der Welt Ihres Sohnes teil. Wenn er merkt, dass er genauso viel wert ist wie Ihre Tochter, ist es für ihn nicht mehr so wichtig, die Schwester herabzusetzen. Ja, vielleicht ist er im Augenblick tatsächlich neidisch. Wenn er allerdings keinen Grund mehr dafür hat, fällt es ihm leichter, diesen Neid zu überwinden.

STÄRKEN AUFZEIGEN

Sicherlich lieben Sie Ihre Kinder in gleicher Weise – zumindest sind Sie dieser Ansicht. Trotzdem reagieren Sie vielleicht unterschiedlich auf die sportlichen Erfolge und die Noten Ihrer Kinder. Wenn Ihre Tochter eine Eins nach Hause bringt – sind Sie da nicht enthusiastischer, als wenn Ihnen der Sohn eine Vier unter die Nase hält? Doch denken Sie daran, dass Ihr Sohn für die Vier trotzdem hart gearbeitet hat! Zeigen Sie Ihrem Sohn seine Stärken auf (auch Zurückhaltung ist eine Stärke), dann hat er keinen Grund mehr, Ihre Tochter auszugrenzen. Es ist harte Realität, dass die wenigsten von uns Überflieger sind. Wir sind nicht alle gleich. Aber wir sind alle gleichwertig. Das zu erkennen, darin liegt die eigentliche Größe – für jeden von uns.

Ingrid Neufeld hat als Erzieherin zuletzt mit Flüchtlingskindern und deren Eltern gearbeitet. Nun genießt sie ihren Ruhestand als Mutter von drei erwachsenen Töchtern und zwei Enkeln. Sie lebt bei Bamberg. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Ein Paar, zwei Perspektiven: Herz versus Kopf

„Wichtigeres als Schule“

Katharina Hullen weiß, wie die Freunde ihrer Kinder heißen. Wo Bhutan liegt, findet sie nicht so essenziell.

Katharina:

Mark Twain sagte einmal: „Für mich gibt es Wichtigeres im Leben als die Schule.“ Nach monatelangem Homeschooling mit fünf Kindern weiß ich gar nicht, ob ich diesem Satz zustimmen oder widersprechen soll. Insbesondere, da Bildung für die Lehrer-Dynastie Hullen seit Generationen Elternsache ist. Es ist ein Wunder, dass sie mich ungebildetes Wesen überhaupt in ihren Kreis aufgenommen haben, denn wie sich zeigt, bin ich dem Homeschooling schon rein inhaltlich nicht mehr gewachsen. Was für ein Segen, dass es den klugen Lehrer-Papa gibt, der in allen Fächern aushelfen kann, wenn’s mal nicht läuft. Wie wichtig doch Schule und Lehrer sind!
Dennoch kann ich auch Haukes Schüler verstehen, die nicht interessiert, wo Bhutan auf der Weltkarte zu finden ist oder wie sich ein Parlament zusammensetzt. Ich suchte in meiner Schulzeit auf der Landkarte nur die Länder heraus, aus denen Freunde stammten. So wusste ich genau, wo Sri Lanka lag, bei Österreich konnte ich nur raten. Mein Vater ist parteipolitisch engagiert, und zu Hause wurde immer viel diskutiert und gestritten. Ich schaltete bei diesen Debatten immer automatisch ab, was leider auch zu großen Wissenslücken führte. Als ich Hauke kennenlernte, wusste ich daher nicht einmal, was eine „Opposition“ ist. Peinlich. Bei einem der ersten Treffen bei meinen Schwiegereltern in spe wurde beim Kaffeetrinken über die physikalischen Abläufe beim Abbrennen einer Kerze philosophiert. Eine mir bis dahin völlig fremde Gesprächskultur. Und mitreden konnte ich auch nicht. Warum gab es für den belesensten Ehemann von allen und das naive Landei doch noch ein Happy End? Nun, mir waren diese Bildungslücken peinlich. So kaufte ich mir eine große Weltkarte, hängte sie über mein Bett und studierte sie. Ich las in der Zeitung nicht mehr nur den Panorama-Teil und ersetzte einige Serien durch Dokumentationen. Bildung lässt sich also aufholen.
Aber noch viel entscheidender für das Happy End war dieses „Wichtigere im Leben“, das Mark Twain vermutlich meint. Der andere, der bessere Teil von mir, der super zuhören, mitdenken, praktische Lösungen finden, mitfühlen, spontan reagieren und sich jede Menge Zeit für mein Gegenüber nehmen kann. Was hilft das Zahlen-Daten-Fakten-Wissen, wenn man nicht erkennt, wie es den Menschen um einen herum geht? Was nützt Bildung, wenn ich nicht fühlen kann, was jetzt wichtig ist?
Unsere Kinder wachsen in einem Haushalt auf, wo Wissen und Bildung durch Schule, Eltern, Großeltern und der Sendung mit der Maus quasi rund um die Uhr vermittelt wird. Sie erleben den klugen Papa, den man alles zur großen weiten Welt fragen kann, und eine kluge Mama, die weiß, wie die Freunde ihrer Kinder heißen, worüber sie lachen und weinen, die spielt, bastelt, Anteil nimmt und ihnen hilft beim Finden kreativer Ideen. So manche dieser guten Gespräche mit den Kindern gehen an meinem gebildeten Hauke vorbei, obwohl er mit am Tisch sitzt – weil er gerade Zeitung liest!
Ich bin sehr dankbar über unsere Mischung – denn so können unsere Kinder gebildete und einfühlsame Menschen werden. Gott sei Dank!

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

„Weil Liebe nie zerbricht“

Hauke Hullen ist entsetzt, wenn ein Schüler London in Ostchina verortet. Wie gut, dass sein 5-Jähriger die Umrisse von Deutschland kennt.

Hauke:

Beim Abendbrot entspinnt sich ein Gespräch übers Sodbrennen. Da beginnt die 14-Jährige zu dozieren: Die Speiseröhre sei mit einer Schutzschicht ausgekleidet, diese werde jedoch von der Magensäure zerstört, wenn sie aus dem Magen hochsteigt. Anschließend geht es mit Einzelheiten zur Phosphorsäure weiter. Woher sie das alles weiß? Aus dem Chemie-Unterricht. Vor lauter stolzer Glückseligkeit kann ich kaum in mein Brot beißen. Doch es wird noch besser: Wenige Minuten später rupft unser 5-Jähriger den Schinken von seinem Brötchen. Der Knirps hält triumphierend den Fleischlappen in die Runde und ruft: „Das sieht ja aus wie Deutschland!“ Tatsächlich: Durch ein paar Bisswunden entstellt hat der Aufschnitt eine Form angenommen, in der man mit ein bisschen gutem Willen die Umrisse Deutschlands erkennen kann. Nun, ich will das nicht überbewerten, doch dass der jüngste Spross meiner Lenden unsere Landesgrenzen in Rindersaftschinken mit Pfefferkruste wiederfindet … Sicherheitshalber kontrolliere ich, ob das Telefon frei ist, falls das Nobelpreis-Komitee anruft. Denn in der Schule sehe ich oft das Gegenteil: Jugendliche, die erschreckend wenig von der Welt da draußen wissen. Während meinem Dreikäsehoch Aufschnitt reicht, um Deutschland zu identifizieren, kenne ich Oberstufenschüler, die die Bundesrepublik selbst auf einer Weltkarte nicht finden. Angehende Abiturienten, die Kronjuwelen unseres Bildungssystems, welche in Bälde studieren und die Geschicke unseres Landes lenken werden, aber nicht wissen, wo London liegt und irgendwann auf die Ostküste Chinas tippen, weil es dort offensichtlich viele große Städte gibt. Da wird das „Land“ (!) Afrika in Südamerika vermutet, die Entfernung zum Mond auf 80 Kilometer geschätzt und in einem Referat die Eröffnung eines NS-Konzentrationslagers im Jahre 1994 verortet. Das habe so im Internet gestanden. Wer gerade Bundespräsident ist, wissen auch nur 25 Prozent meines Leistungskurses Sozialwissenschaften. Und wenn Sie mal richtig schlechte Laune kriegen wollen, dann fragen Sie einen Teenager, was 15 Prozent von 200 Euro sind. Nun, es ist wohlfeil, sich über Wissenslücken von Jugendlichen lustig zu machen. Aber hier geht es nicht um Unterrichtswissen, sondern um Allgemeinbildung, die jedem zufliegt, der mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht. Wie will man diese Welt verstehen, wenn man nichts von ihr weiß? Wie will man Absurditäten erkennen, wenn kein Orientierungswissen vorhanden ist? Trotz 500 Jahren Aufklärung halten viele Menschen YouTube-Videos für seriöser als den wissenschaftlichen Konsens, vertrauen auf homöopathische Placebo-Medizin und lassen sich willfährig von allerlei Geschwurbel infizieren.

Da tut Bildung not! Darum hatten die beste Ehefrau von allen und ich direkt eine Weltkarte übers Ehebett gehängt. Mit einem Zeigestock ging es dann auf abendliche Weltreise, damit man weiß, wo die Freiheit am Hindukusch verteidigt wurde, wo Nordkorea die USA mit Raketen bedroht oder wo im Nahen Osten die Kulturen aufeinanderstoßen. Und damit man mitreden kann, wenn der 5-Jährige in der Wurst fündig wird.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Schmetterlinge auf Irrwegen

Frisch verliebt in den Freund meines Mannes – und dann?

„Was war das?“, dachte ich erschrocken. Dieser Blickkontakt dauerte etwas zu lange und ging mir viel zu tief. Zwar fühlte sich das ungewohnt schön an, aber natürlich auch zutiefst falsch. Mir wurde sofort bewusst, dass etwas Ungewöhnliches passierte, aber dass das der Beginn einer emotionalen Achterbahnfahrt mit heftigen Zerwürfnissen für meine Ehe war, ahnte ich nicht.

Zu Tom (alle Namen geändert), einem langjährigen Freund meines Ehemannes, pflegten wir als Familie ein freundschaftliches Verhältnis und teilten viele Alltagsmomente. Dass wir uns schon so viele Jahre kannten, erschwerte es mir, den Ernst der Lage zu erkennen. Nach diesem Blick nahm ich den jahrelangen Freund plötzlich anders wahr. Ich sammelte meinen Mut, schrieb Tom und konfrontierte ihn mit dem nicht zu leugnenden Knistern zwischen uns. Das war der Beginn vieler Nachrichten.

Zerrissen zwischen Glücksgefühl und Scham

Eine Grenze war überschritten. Es ging nicht mehr nur um Absprachen zur nächsten Grillparty oder zum nächsten Gottesdienstplan. Nein, plötzlich ging es um uns beide. Wir teilten uns einander mit. Wir schrieben über das, was wir fühlten, dachten und erlebten. Damit gossen wir Öl in das beginnende Feuer und beschleunigten die Gefühlslawine massiv.

Eine Zeit der Zerrissenheit in mir hatte begonnen. Auf der einen Seite die Glücksmomente mit Tom in unserer Nachrichtenwelt, auf der anderen die tiefe Scham gegenüber David, meinem Ehemann. Das Tempo der wachsenden Gefühle überstieg meine rationale Entscheidungsfähigkeit.

Kein Kontakt – unmöglich!

Nach wenigen Wochen erzählte ich David von meinen Gefühlen und dem Kontakt zu unserem gemeinsamen Freund. Er reagierte sanft schockiert, aber auch noch zuversichtlich und nicht verurteilend. Darüber war ich sehr dankbar. Jedoch wünschte er sich mit Nachdruck, dass Tom und ich keinen weiteren Kontakt haben sollten, damit es nicht schwieriger für alle Beteiligten werden würde.

Doch zu dem Zeitpunkt dachte ich noch völlig naiv, dass das nicht nötig sei. „Ich habe meine Gefühle doch im Griff und kenne meine Grenzen!“, behauptete ich. Dabei hatte ich die Situation schon lange nicht mehr unter Kontrolle. Ich schrieb Tom noch eine Weile offiziell, später dann heimlich.

Erfüllender als der Ehealltag

All die virtuellen Momente mit Tom erschienen mir schöner, romantischer und erfüllender als mein Ehealltag. Alles fühlte sich so echt, tief und unglaublich nah an, obwohl wir uns ausschließlich in unseren Nachrichten „trafen“. Ich nutzte jede freie Minute, um ihm zu schreiben.

Auf diese Weise nahm ich ihn virtuell fast überall mit – auf Geburtstagspartys, zur Beerdigung, zum Trainieren, zum Unkrautjäten. Ohne dass ich es wahrnahm, entwickelte er sich zu einem riesengroßen Teil meines Lebens. So permanent umgeben von Schmetterlingen gab es allerdings keinen einzigen Tag, an dem mich nicht mein Gewissen plagte und mich stumm anschrie. Ich schrie innerlich eine Menge an Rechtfertigungen zurück: „Wir schreiben uns doch nur und mehr passiert nicht!“, „Es ist doch gar keine echte Affäre!“ …

Die Ehe bröckelt

David spürte, dass ich nicht ganz bei ihm war, dass meine Gefühle und Gedanken bei einem anderen Mann festhingen. Es schmerzte ihn sehr, dass ich es nicht schaffte, den Kontakt zu Tom komplett zu unterbinden. Am meisten verletzte es ihn, dass ich nicht ehrlich zu ihm war. Häufig kam es zu Streit. Derart schwere Auseinandersetzungen hatten wir noch nie zuvor in unserer Ehe miteinander erlebt. Es wurde laut, emotional verletzend und aufwühlend. Nach vielen Diskussionen und Streitereien musste etwas passieren. Als Ehepaar waren wir uns mittlerweile so fremd geworden, dass ich an unserer Liebe zweifelte. Zweimal überlegte ich, ob es vielleicht besser sei, getrennte Wege zu gehen. Wir taten uns nicht mehr gut und verletzten uns permanent mit Worten. Es war keine Freude mehr, in Davids Nähe zu sein. Wir konnten zwar noch gut als Eltern-WG funktionieren, aber natürlich spürten unsere Kinder die Spannungen zwischen uns.

Allerdings gab es hin und wieder Momente der Nähe. Ohne viele Worte zu verlieren, konnten wir uns trotz allem Frust und aller Distanz intim nah sein. Dies war fast unsere einzige Brücke, die noch geblieben war. Wieso konnte es so weit kommen? Ich war doch während der letzten zehn Jahre glücklich in meiner Ehe, oder? Wie konnte Tom einen Platz in meinem Herzen einnehmen, den ich eigentlich meinem Partner versprochen hatte?

„Er hatte etwas in mir geweckt, was viele Jahre schlummerte“

Tom fand mich toll und war begeistert von mir, von meinem Wesen und von Eigenschaften, die David eher nicht so spannend oder erwähnenswert fand. Tom schätzte meine Kreativität, meine Ideen, meine Sensibilität und fand mich als Frau einfach wunderbar. David brachte Lob und Wertschätzung nur sporadisch zum Ausdruck. Eigentlich hatte ich mich damit abgefunden, dass David mir auf andere Weise seine Liebe zeigte.

Ich hatte meine Bedürfnisse vernachlässigt und viel zu selten reflektiert, was mir guttun würde. In den Kleinkindjahren war es leider fast ein Luxus für mich, mal ganz bewusst nach innen zu sehen und zu erkennen, was gerade für mich und uns als Paar dran ist.

Und plötzlich kommt jemand, der mich genau mit meinen Gaben wertschätzt, meine Bedürfnisse versteht und die offenbar brachliegenden Facetten meiner Persönlichkeit wahrnimmt. Er hatte etwas in mir geweckt, was viele Jahre einfach nur schlummerte. Ich sog die Aufmerksamkeit und Wertschätzung von Tom wie ein Schwamm auf. Da war jemand, der mich wirklich sah.

Abschied von Tom

Ein heftiger Streit zwischen David und mir ließ mich plötzlich realisieren, dass es so nicht weitergehen konnte. Meine Gewissensbisse türmten sich zu einer großen Welle, die über mich hereinbrach. Mein Herz schlug, meine Beine zitterten ununterbrochen und ich weinte. David konfrontierte mich damit, dass ich mich entscheiden musste. Das tat ich auch! Nur ein paar Stunden nach diesem Vorfall beendete ich die Verbindung mit Tom. Schweren Herzens, aber klar und bestimmt.

Der Abschied von Tom war schmerzhaft. Es fühlte sich an, als würde ein Teil in mir sterben und zerfallen. Gleichzeitig entwickelte sich eine tiefe Erleichterung und ein Frieden in mir. Endlich gab es keine Gewissensbisse mehr, die mir täglich zusetzten. Außerdem wurde mir mehr und mehr bewusst, was passieren hätte können, wenn wir über das Schreiben hinaus weitere Schritte gegangen wären …

Und heute?

Es hat gedauert, bis ich wieder im Ehealltag ankam. In den Jahren davor waren David und ich mit unseren zwei Kindern vor allem als Team, als WG, als Mini-Management-Group unterwegs. In der Krise haben wir uns als zwei individuelle Persönlichkeiten neu entdeckt. Es war gut, sich selbst neu zu betrachten und zu fragen: Wo stehe ich? Was ist von mir als Persönlichkeit noch da und was ist zu einem großen Wir verschmolzen?

Mittlerweile sind die Gefühle für Tom tatsächlich abgeklungen. Zu Beginn war der Verzicht auf die Nachrichten von Tom wie eine Entwöhnung. Tatsächlich stellten sich mit der Entscheidung für David Vertrautheit, Gefühle und Frieden in unserer Ehe nach und nach wieder ein. Davids Vertrauen in mich und uns musste wieder aufgebaut werden. Es wurde stetig besser, brauchte aber sehr viel Zeit.

Ich bin keineswegs dankbar für diese Erfahrung – zu schmerzhaft und auslaugend war diese Zeit. Dennoch durften wir so viel lernen. Dafür bin ich absolut dankbar!

Unsere Autorin möchte anonym bleiben.

Was hat geholfen?

  • Viele, viele Gespräche zu zweit: Wir versuchten, erst über dieses Thema zu reden, wenn die Kinder schliefen, aber es nicht zu spät werden zu lassen, weil unser Austausch nach 23 Uhr oft aus dem Ruder lief.
  • Körperliche Nähe: Auch wenn dies vielleicht paradox klingt: In manchen Phasen konnten wir uns nur auf körperlicher Ebene nahe sein – das hat unsere Ehe mit gerettet.
  • Freunde und Familienangehörige, die sich trauten, nachzufragen: Dies war leider wirklich eine Seltenheit. Wir versuchten, unsere Ehekrise nicht zu verheimlichen. Die wenigsten trauten sich aber, konkret nachzufragen. Dabei hätte ich mir so sehr mutiges Interesse gewünscht! Seitdem frage ich viel konkreter in meinem Freundes- und Familienkreis nach, wie es in den Ehen geht. Einsamkeit in schweren Zeiten ist kein guter Begleiter.
  • Ehe-Beratung: Wir haben beide schnell gemerkt, dass wir alleine nicht weiterkommen. Die Unterstützung einer Beratungsstelle war für uns massiv hilfreich. Eine Aussage der Beraterin half mir besonders: „Gefühle für jemanden außerhalb der Ehe zu entwickeln, ist völlig normal. Die Frage ist nur: Wie fair und ehrlich gehe ich damit um? Was mache ich draus?“
  • Professionelle Einzelberatung: Jeder von uns nahm persönliche Beratung oder psychologischen Support für sich in Anspruch. Es war gut, einen Rahmen zu haben, um diese Erlebnisse allein und ganz frei mit professioneller Hilfe aufzuarbeiten.
  • Der Eheabend: Unsere Eheberatung empfahl uns, einen festen Abend pro Woche für uns beide zu reservieren, und das machen wir seitdem. An diesem Termin wurde selbst in den schlimmsten Zeiten nicht gerüttelt, selbst wenn es alles andere als romantisch war. Doch diese Abende wurden zu einem emotionalen Anker für uns beide.
  • Eine Freundin: Für ihre Hartnäckigkeit und Ehrlichkeit war ich sehr dankbar. Sie ermutigte mich, an unserer Ehe festzuhalten und daran zu arbeiten. Sie sagte mir sehr oft: „Jeder Mensch hat wundervolle, aber auch herausfordernde Seiten. Das wird auch mit einem anderen Partner so sein.“ Völlig logisch, aber eben nur, wenn man nicht gerade frisch verliebt ist.

Stolperfalle Harmonie

Harmonie ist grundsätzlich etwas Gutes. Wenn Konflikte aber unter den Teppich gekehrt werden, kommen Menschen ins Stolpern. Von Sandra Geissler

Vor einiger Zeit telefonierte ich mit einer Mutter aus der Schule, um eine Verabredung abzusprechen. Zum Abschied rief sie fröhlich ins Telefon: „Aber immer doch, wir sehen diesen Schatz so gern bei uns! Das ist das einzige Kind, mit dem es wirklich nie Streit gibt. Man merkt gar nicht, dass Besuch da ist!“

Ich legte auf mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unbehagen. Eigentlich ist so ein pflegeleichtes Kind ja wunderbar. Ein Kind, dass sich überall so problemlos einfügt, dass man es gern zu Gast hat. Andererseits wurde mir schlagartig mulmig im Bauch. Ich kenne mein Kind und weiß, dass es sehr wohl potenzielle Konflikt- und Streitsituationen an solchen Spielnachmittagen gibt. Sie fallen nur nicht weiter auf, denn das Kind gibt stets nach und scheut den Konflikt. Sein Bedürfnis nach Harmonie wiegt nahezu immer stärker als der Anlass eines Streites. Mir ist dieses Verhalten wohlvertraut, denn ich bin selbst ein äußerst harmoniebedürftiger Mensch und lasse kaum eine Gelegenheit aus, einen ordentlichen Streit zu vermeiden. Ich freue mich nur sehr bedingt, dass ich diese Eigenschaft offensichtlich mit meinem Kind teile.

EINE EINZIGE STOLPERFALLE

Das Bedürfnis nach Harmonie ist erst mal nur das Bedürfnis nach Einklang, Einvernehmen, nach Eintracht und friedlichem Miteinander. Genau das sind die Bedeutungen des griechischen Wortes „harmonia“. Warum also jubelt mein Mutterherz nicht umgehend, wenn das eigene Kind dieses Bedürfnis in ausgeprägtem Maße hat? Hauptsächlich liegt es wohl daran, dass das Harmoniebedürfnis dazu neigt, sich schlechten Umgang zu suchen. Dann spaziert es mit seinen Freunden Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugnung durch die Lande, und gemeinsam kehren sie emsig alles unter die Teppiche des Lebens, was ihnen an Auseinandersetzungen und Ärgernissen begegnet. Das kann lange gutgehen, und das Leben wirkt hübsch aufgeräumt.

Doch zum einen sind all die Ärgernisse und Auseinandersetzungen nicht einfach verschwunden. Sie schwären leise vor sich hin, nur eben unter dem Teppich. Zum anderen werden die Falten der Teppiche immer höher und steiler von all dem Kehricht, der darunter versteckt wurde. Dann ist das Leben irgendwann eine einzige Stolperfalle. Es sind diese Stolperfallen, die Beziehungen aller Art in ernsthafte Schwierigkeiten und im schlimmsten Fall tatsächlich zu Fall bringen können.

ZUM KLINGEN KOMMEN

Sollte man sich und allen anderen das Bedürfnis nach Harmonie also schnellstmöglich abgewöhnen? Die Bibel gibt mir in solchen Lebensfragen hilfreiche Orientierung. Sie ruft immer wieder zu Eintracht, Vergebung und Sanftmut auf – das finde ich in den Psalmen von David und in den Gleichnissen von Jesus. Auch Paulus schrieb sich in seinen Briefen die Finger wund, um die frühen Gemeinden zu einem harmonischen Zusammenleben zu ermutigen. Die wörtliche Übersetzung von „harmonia“ aus dem Altgriechischen bezeichnet die Vereinigung von Entgegengesetztem zu einem Ganzen. Der Zusammenklang der Verschiedenheiten ergibt im günstigen Fall ein harmonisches Ganzes, bei dem sich alle Beteiligten ernst genommen und wohl fühlen. In diesem Sinn bedeutet Harmonie gerade nicht, dass sich einer oder mehrere ganz zurücknehmen, ihre Bedürfnisse hintanstellen und Streit und Konfliktthemen ausgeblendet werden. Vielmehr geht es darum, einen guten gemeinsamen Weg zu finden, bei dem alle zum Klingen kommen dürfen. Das wäre ein echtes harmonisches Zusammenleben, und danach will ich mich gern sehnen. Diese Sehnsucht macht das gemeinsame Auseinandersetzen mit allen Verschiedenheiten sogar notwendig, damit dem Ganzen am Ende nicht ein wichtiges Teil fehlt. Wenn uns die Bibel zu einem harmonischen Umgang miteinander aufruft, dann macht sie das in dem Wissen, das aus all ihren Teilen spricht: das Wissen um menschliche Begrenztheit und Eitelkeiten, um Schwächen und Eigenheiten. Auf dem Weg zur Einheit muss man sich nicht an die Gurgel gehen, den rechten Glauben absprechen oder gleich die ganz harten Geschütze auffahren. Oder wie meine Mutter meinte, die immer gern den alten Goethe zitierte: „Kinder, liebet einander. Und wenn das nicht geht, dann lasset wenigstens einander gelten.“

DAS RECHTE GLEICHGEWICHT

Auseinandersetzung auf dem Weg zur Einheit braucht Respekt, Barmherzigkeit und jede Menge Gnade. Sie erkennt an, dass das Gegenüber anders denkt, anders tickt, anders fühlt. Es ist kein Kampf um Sieg oder Niederlage, sondern ein wechselseitiges Entgegenkommen, ein Abwägen und gemeinsames Suchen um das rechte Gleichgewicht. Das ein oder andere Mal kann ich nachgeben, weil es mir nicht wirklich viel bedeutet, bei anderen Fragen will ich gehört werden.

Die harmoniebedürftige Mutter eines harmoniebedürftigen Kindes braucht kein mulmiges Gefühl zu haben. Harmonie ist etwas Großartiges, sie gibt der Verschiedenheit Raum und sucht Wege, wie wir alle gut zusammenklingen können. Darum werde ich nicht müde, mein Kind und mich selbst immer wieder zu ermutigen, zu den eigenen Bedürfnissen und Herzensanliegen zu stehen und für sie einzutreten. Das Erlernen von Streitkultur ist nicht nur eine Aufgabe für die konfliktbereiten Krakeeler, sondern gerade auch für die harmoniebedürftigen Stillen. Weil das aber viel Überwindung kostet, üben wir in kleinen Schritten. Weiß ich von einem Konfliktthema oder andauernden Ärgernis, überlegen wir zusammen, wie das Anliegen in gute Worte gefasst und zu Gehör gebracht werden kann. Wir wachsen an kleinen Erfolgen, denn überraschenderweise ziehen sich die wenigsten Menschen beleidigt zurück oder kündigen gar die Freundschaft, bloß weil das Gegenüber eine eigene Meinung vertritt. Nur vom schlechten Umgang müssen wir uns immer wieder bewusst verabschieden. Die Kumpels Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugner sind keine Freunde echter Harmonie, denn sie kehren mit den Konflikten auch die Gegensätze unter den Teppich. Und die braucht es doch für das gemeinsame Ganze.

Sandra Geissler ist katholische Diplom-Theologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.