„Lernt mein Kind genug für die Schule?“ Das rät der Elterncoach

„Meine Frau macht unserem Sohn total Druck, weil er ihrer Meinung nach zu wenig für die Schule macht. Ich finde, er ist alt genug, um es selbst zu entscheiden. Wie können wir diesen Erziehungskonflikt lösen?“

Die Beziehungen zu unseren Kindern verändern sich im Lauf ihrer Entwicklung. Ein großer Umbruch ist der Übergang von der Kindheit ins junge Erwachsenenalter. Dieser fordert sowohl uns als Eltern als auch die Teenager heraus. Eine Aufgabe für Teenager besteht darin, von der emotionalen Abhängigkeit zu mehr Selbstständigkeit zu gelangen. Für Eltern heißt eine große Lernaufgabe: von direktem Versorgen und Entscheiden hin zu mehr indirektem Begleiten und Freiheit schenken.

Diese Umstellung fällt uns nicht immer leicht. Da jeder von uns seine eigenen Erziehungserfahrungen gemacht hat, liegt die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es auch verschiedene Sichtweisen zu gleichen Themen gibt. Das kann uns als Paar herausfordern, da wir doch häufig gute Gründe für unsere Einstellungen zu bestimmten Themen haben und gerne hätten, dass der andere diese mit uns teilt. Manchmal sind hier Konflikte vorprogrammiert. Es ist gut, dass Sie sich auf den Weg machen möchten, Erziehungskonflikte gemeinsam zu lösen – trotz unterschiedlicher Sichtweisen.

SCHRITT 1: ZIEHEN SIE AN EINEM STRANG!

Finden Sie gemeinsame, realistische Erziehungsziele für Ihr Kind. Stecken Sie sich lieber kleine, erreichbare Ziele als große und unrealistische. Möglicherweise müssen Sie hier Kompromisse finden. Um das zu erreichen, schlage ich vor, sogenannte „Erziehungskonferenzen“ durchzuführen, bei denen Sie sich Zeit nehmen, ungestört über die aktuellen Erziehungsherausforderungen zu reden.

Sprechen Sie dabei auch über Ihre jeweiligen Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. Jeder hat hier seinen eigenen Rucksack auf den Schultern. Aussagen wie: „Ich werde das auf jeden Fall anders machen!“ kennen wir vermutlich alle. Unterhalten Sie sich über Ihre Erziehungserlebnisse, hören Sie einander zu. Wichtig sind nicht nur die Sachaussagen, sondern auch die geäußerten Gefühle und Einstellungen. Das schafft Verständnis für so manche Verhaltensweise.

SCHRITT 2: TREFFEN SIE EINE VEREINBARUNG

Setzen Sie sich mit Ihrem Sohn zusammen und vereinbaren Sie einen sozialen Vertrag. Was ist das Mindeste an schulischer Leistung, was wir als Eltern erwarten? Wie werden wir damit umgehen, wenn er sich nicht an die Vereinbarungen hält, und was sind positive Konsequenzen bei Einhaltung? Welches Verhalten wünscht er sich von seinen Eltern?

Besprechen Sie diese Fragen mit Ihrem Sohn und lassen Sie ihn unbedingt mitentscheiden. Handeln Sie mit ihm Grenzen und Freiräume aus. Wo ist er alt genug und kann eigene Entscheidungen treffen? Versuchen Sie Absprachen zu finden, die für alle Beteiligten zufriedenstellend sind. Geben Sie ihm die Möglichkeit, auch ungewohnte Dinge zu versuchen oder ungewöhnliche Ideen auszusprechen. Verschriftlichen Sie Ihre gemeinsamen Absprachen in einem Vertrag. Jeder sollte ihn unterschreiben. Das hat erhöht die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung – gerade vonseiten der Teenager.

Sandra Schreiber ist Beraterin und Systemischer Elterncoach im „LebensRaum Gießen“. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

 

 

Plötzlich gelähmt: Wenn der Sohn im eigenen Körper gefangen ist

Am 7. Juni 2015 verändert sich das Leben von Jutta Schmidt schlagartig. Ihr Sohn Max erleidet eine Hirnblutung. Die Ärzte geben ihn auf. Doch dann geschieht das Wunder.

Jutta Schmidt sitzt am Tisch eines Cafés. Ihre Ellenbogen hat sie auf den Tisch gestützt, ihre Hände umfassen ein Wasserglas. Sie schaut nach vorn. Ihre grünen Augen wirken müde, aber fokussiert. Cafébesuche wie dieser haben in ihrem durchgetakteten Alltag normalerweise keinen Platz. Gerade hat sie ihren Sohn Max zum Physiotherapeuten gebracht. In einer Stunde muss sie ihn abholen und zu den nächsten Therapiestunden fahren, Ergotherapie und Logopädie. Zwischendrin muss sie ihre anderen beiden Kinder versorgen, die von der Schule kommen. Für sie ein ganz normaler Tag – sofern man von normal sprechen kann. „Das Familienleben ist nicht mehr das, was es vorher war. In keinem Punkt.“, sagt sie, und ihr Blick verliert sich.

Vier Jahre sind inzwischen vergangen, seit die alleinerziehende Mutter ihre drei Kinder ins Auto gepackt hat und mit ihnen nach Holland gefahren ist. Eis essen, im Meer baden, am Strand liegen – es ist ein ganz normaler Familienurlaub, bis Max, ihr ältester Sohn, Kopfschmerzen bekommt, die immer heftiger werden. Als sein Zustand sich verschlechtert, fährt sie ihn ins nächstgelegene Krankenhaus. Die zwei jüngeren Geschwister Ben und Nora bleiben bei Freunden. „Ich wusste, dass da etwas nicht stimmt.“ Nach einem CT ist klar: Es gibt eine Blutung in Max‘ Gehirn. Sofort wird er ins Klinikum nach Brügge verlegt. Dort können die Ärzte wenig für ihn tun. Eine OP ist zu riskant, die Ursache für die Blutung unklar. Als er anfängt zu krampfen, wird er in ein künstliches Koma gelegt. Jutta Schmidt sitzt hilflos an seinem Bett. Alles, was sie hört, sind das Piepen der Überwachungsmonitore und die Geräusche der Beatmungsmaschine, die ihren Sohn am Leben erhält.

„In dem Moment waren der Schmerz und die Angst, mein Kind zu verlieren, so groß. Er war doch gerade noch gesund und plötzlich lag er da und ich konnte einfach nichts machen“, sagt sie. Immer noch liegt Fassungslosigkeit in ihrer Stimme. Das Einzige, was Jutta Schmidt damals tun konnte, war, zu hoffen, dass die Blutung aufhört und keine weitere Nachblutung auftritt. Die Ärzte machen ihr jedoch wenig Hoffnung und legen ihr und ihrer Familie nahe, sich von Max zu verabschieden. Nacheinander treten sie an sein Bett, um Lebewohl zu sagen. „Das ist das Schlimmste, was man sich als Mutter vorstellen kann.“

WIE EINGESCHLOSSEN

Wie ein Wunder überlebt Max und erwacht wenige Wochen später aus dem Koma, ist aber fortan in seinem Körper gefangen. Als „Locked-in-Syndrom“ bezeichnen die Mediziner seinen Zustand. Max ist zwar bei vollem Bewusstsein, jedoch körperlich vollständig gelähmt und unfähig, sich durch Sprache oder Bewegungen verständlich zu machen – wie „eingeschlossen“.

„Das war schlimm. Max war ein richtiges Draußen-Kind, schon immer. Er hat nie Computer gespielt und wenig Fernsehen geguckt. Klettern, springen, laufen, das war seins.“ Nun muss Max gehoben, gewaschen, gefüttert und gefahren werden. Ihn so hilflos zu sehen, macht sie unendlich traurig.

Max am Strand in Holland, kurz bevor er die Hirnblutung erleidet. Foto: Privat

Max muss in die Reha. „Für mich war klar, dass ich ihn nicht allein da hinlasse. Er ist doch mein geliebtes Kind!“ Jutta Schmidt muss Anträge stellen, Formulare ausfüllen, Ben und Nora umschulen, eine Unterkunft suchen. „Ich habe so oft gedacht: Ich schaffe das nicht. Ich kam mir so vor, als stünde ich in einem Nebelschleier.“ In diesem Nebel tauchen immer wieder Menschen auf, die ihr helfen: Ihr Bruder, der sofort nach der Hirnblutung nach Brügge reist, um das Fachenglisch der Ärzte zu übersetzen, ihr Ex-Mann und Max‘ Vater, der ihr zur Seite steht, sie am Bett ablöst und mit Max im Rollstuhl spazieren fährt, einfühlsame Pfleger und Therapeuten, kompetente Sozialarbeiter, Menschen, die sich um ihre anderen Kinder kümmern. Viele Freunde mobilisieren sich in den kommenden Monaten und setzen sich für die Familie ein. „Während Max‘ Reha in Gailingen haben zwei Freundinnen von mir ihren Urlaub storniert und sind stattdessen zu uns nach Baden-Württemberg gekommen. Sie haben mit meinen beiden jüngeren Kindern Ausflüge gemacht, sodass ich mich voll und ganz auf Max konzentrieren konnte“, erinnert sie sich. Auch heute sei sie dafür noch unendlich dankbar.

Entgegen allen ärztlichen Erwartungen und dank intensiver Therapien kämpft sich Max allmählich ins Leben zurück. Heute ist er 18 Jahre alt. Er ist wieder zu Hause, kann sich im Elektrorollstuhl fortbewegen und dank intensiver Logotherapien auch wieder einigermaßen verständigen. Dennoch braucht er rund um die Uhr Betreuung und Pflege – er hat Pflegegrad vier. „Er wird von mir geduscht, angezogen, an den Frühstückstisch gefahren. Ich reiche ihm das Essen und Trinken, mache ihn für die Schule fertig. Ich fahre ihn zu 14 Therapien in der Woche, hole ihn wieder ab, schlage seine Schulbücher auf, schreibe seine Vokabeln groß, sodass er sie sehen kann. Gehe mit ihm zur Toilette. Nachts muss seine Urinflasche geleert werden.“ Jutta Schmidt zählt all die Aufgaben, die jetzt zu ihrem Alltag als Mutter gehören, an ihren Fingern ab. „Seit dem Tag, an dem die Blutung kam, funktioniere und renne ich nur noch und komme mir manchmal vor wie in einem stürmischen Meer: Die Wellen schlagen über mir zusammen.“ Sie nimmt einen Schluck Wasser. Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt da nicht.

GESCHWISTERKINDER MÜSSEN ZURÜCKSTECKEN

„Es dreht sich zu 98 Prozent um Max. Und damit meine ich gar nicht unbedingt die Aufmerksamkeit, sondern die Zeit, die ich investiere“, erklärt sie. „Nora und Ben mussten total schnell selbstständig werden und sind beide ihrem Alter weit voraus. Für andere klingt das vielleicht positiv, aber mich macht das oft traurig.“ Sie schluckt. „Mein Herz wird schwer, wenn ich mich frage, wo die Jahre hin sind. Ich war nie mit ihnen im Schwimmbad oder im Kino, konnte nie das mit ihnen unternehmen, was Kinder in ihrem Alter mal mit ihrer Mutter unternehmen möchten.“ Tränen schießen ihr in die Augen. Wenn sie ihre Tochter, die inzwischen 15 Jahre alt ist, fragt, wie sie die letzten Jahre geschafft haben, antworte sie immer: „Mama, wir mussten ja.“ Erst vor kurzem hat sie in der Schule ihre mündliche Realschulprüfung über das Thema „Schattenkinder“ abgelegt – Kinder, die weniger Aufmerksamkeit bekommen, als ihnen zusteht, weil ein Geschwisterkind krank oder behindert ist. Das Beschaffen und Lesen der Literatur habe Mutter und Tochter dabei geholfen, das Geschehene Revue passieren zu lassen und miteinander über die Familiensituation ins Gespräch zu kommen.

Und Max? „Max sagt immer: Glaubt an mich, schreibt mich nicht als behindert ab. Ich möchte laufen lernen, ich möchte gesund werden.“ Daran glaube sie und darum bete sie auch immer wieder. Trotzdem gebe es auch immer wieder ganz schwere Momente. Seine alten Schulfreunde machen jetzt ihren Führerschein, haben Freundinnen, machen ein Auslandsjahr oder Abitur. Das kriegt er natürlich mit und es macht ihn traurig, dass er nicht mehr dazu gehört. Er selbst wird jeden Morgen von einem Krankentransporter abgeholt, weil er nicht mal mehr einen Fuß vor die Tür setzen kann. Schon häufig sei er am Morgen deshalb in Tränen ausgebrochen. Es gebe aber auch viele Momente der Hoffnung und Freude. „Max war immer schon witzig, ironisch und schlagfertig. Er hatte immer schon diese Power, ihm war nie eine Hürde zu groß. Da hat er sich nicht verändert.“ Selbst die Ärzte und Therapeuten seien erstaunt gewesen, als sie gesehen haben, wie er in der Reha seine Therapien durchgezogen hat. „Er hat immer noch den Witz und Humor von damals. Das sind Dinge, die ich sehr an ihm bewundere. ‚Ich schaff das‘, sagt er immer. Da ziehe ich echt den Hut, er hat so eine Energie.“

WÜTEND AUF GOTT

Gerade hat er seinen Realschulabschluss absolviert und ganz nebenbei ein Buch über seine Erfahrung mit dem Locked-in-Syndrom geschrieben, das nun unter dem Titel „Tsunami im Kopf“ erschienen ist und innerhalb kürzester Zeit bereits viele Leser berührt hat. 18 Kapitel hat er dafür mühsam oftmals bis tief in die Nacht in sein Handy eingetippt, weil neben Unterricht, Therapien und Hausaufgaben tagsüber keine Zeit dafür war. Er hat jeden Buchstaben großgezogen, damit er sie trotz Sehschwäche besser sehen konnte. „Ich habe davon keinen einzigen Satz gelesen, bis es fertig war und er mich bat, nach Fehlern zu suchen“, staunt Jutta Schmidt. Es ist ein bewegender Bericht über seinen Kampf zurück ins Leben. Immer wieder berichtet er darin auch von seiner Mutter: „Ich habe wahre Liebe vor allem durch meine Mutter erfahren, die nicht eine Sekunde von meinem Krankenbett wich (…). Irgendwie bin ich überzeugt davon, dass ihre Liebe und Gebete in diesem Zimmer spürbar gegenwärtig waren und die Atmosphäre verändert haben“, schreibt er. Dabei habe sie sich selbst oft überhaupt nicht stark gefühlt, erklärt Jutta Schmidt. „Ich habe Gott so oft angefleht und um Hilfe gerufen. Oder ich war einfach nur wütend auf ihn und hab ihm geklagt: Du hast gesagt, du lädst nur so viel auf, wie wir ertragen können, aber eigentlich kann ich nicht mehr.“

„ALS WÜRDE JESUS NEBEN MIR SITZEN“

Trotzdem ist sie sich sicher: „Ohne meinen Glauben an Jesus hätte ich das nicht überstanden. Er ist mein Anker, mein Rettungsschirm, mein Halt, mein Trost, mein Alles.“ Oft habe sie in der Zeit die Bibel aufgeschlagen und genau das gelesen, was sie brauchte. „In der akuten Phase brauchte ich gar nicht unbedingt Freunde zum Reden“, erzählt sie. „ Es war mir alles viel zu anstrengend. Ich hätte mich da nicht so mitteilen können. Ich wollte einfach nur bei Max sein. Mein Gespräch war mit Jesus. Er kennt mich, er kennt meine Situation. Ich muss nichts erklären, ich muss nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Er weiß um uns. Es war für mich, als würde er neben mir sitzen, und das reichte mir. Auch heute noch.“

Ihre Angst ist immer noch groß. Die Angst, dass eine Nachblutung kommt, die Angst, wie sie es als Alleinerziehende in der Zukunft schaffen soll. Bevor Max die Hirnblutung bekam, war sie bereits fünf Jahre mit den Kindern allein, „der Mann im Haus“, wie sie sagt. Doch die neue Situation stellt sie vor ganz neue Herausforderungen. „Angst gehört zu meinem Leben dazu. Es gibt Christen, die sagen: Wenn man an Gott glaubt, dann kennt man keine Angst. Aber sie vergessen, dass Jesus auch Angst hatte. Wir sind nicht frei von Angst und Leid, aber Jesus geht mit uns hindurch. Und das macht mich wiederum stark“, betont sie. Auf dem Transporter, der Max jeden Morgen zur Schule abholt, steht auf dem Nummernschild neben dem Ortskürzel „MH“. „Wenn Max nach so einem traurigen Moment seinen Mut wiederfindet und mit seinem Elektrorollstuhl in dieses Auto fährt, sehe ich ihm immer hinterher. Und da steht MH für mich jedes Mal für ‚Mein Heiland‘. Dann gehe ich erst mal rein, heule eine Runde, lese in der Bibel, bete und lege Gott meinen Schmerz hin. Und dann geht‘s weiter.“

Ruth Korte ist freie Schriftstellerin und lebt mit ihrer kleinen Familie in Gießen.

Selbstgespräche am Frühstückstisch

Der Auszug seiner zweiten Tochter fiel Christian Rommert besonders schwer.

„Papa, ich zieh aus!“, höre ich unsere Tochter sagen. Ich frage mich, ob ich ein Déjà-vu habe und beiße erst einmal in meinen Apfel. Vielleicht geht es ja vorbei? Doch nach einigen Augenblicken der Stille höre ich: „Papa? Schläfst du?“ Diese Situation ist also echt … Vor mir steht unsere zweite Tochter. Die Kleine. „Du möchtest in eine eigene Wohnung ziehen?“, frage ich entgeistert und schaue zu der Frau, die ich liebe. „Warum das denn?“

Für mich kommt das sehr plötzlich. Was soll das? Es kommt mir doch so vor, als wäre sie gerade erst geboren. Ich erinnere mich noch, wie ich sie in nur einer Hand tragen konnte! Na gut, inzwischen ist unsere Tochter 20. Sie studiert. Sie arbeitet. Sie ist umsichtig und organisiert. Aber warum in aller Welt ausziehen? Irgendwie fühlte sich das bei unserer Großen anders an. Wie ein natürlicher Schritt. Wie ein bisschen mehr Freiheit. Und wie nach weniger Wäsche.

Doch hier klingt es ganz falsch! Es ist doch schön so, wie es ist. Abends sitzen wir zusammen und essen gemütlich. Manchmal kommen unsere Tochter und unser Jüngster zu uns runter. Auch die Große schaut oft noch vorbei. Alles ist perfekt so. Da muss man nichts ändern! Ich liebe es, unsere Kinder am Tisch zu haben. Ich möchte weiter mit ihnen das Essen für das Wochenende planen, spontan grillen oder einen Film schauen. Nur zu dritt – das ist doch doof. Der Wäschekorb ist leer. Die Wohnung ist leer und am Frühstückstisch bin ich der Einzige, der mir beim Reden zuhört! Ja, wirklich: Katrin und der Jüngste haben es um die Uhrzeit nicht so mit Gesprächen.

SIE MEINT ES ERNST!

„Also, Papa, ich habe im Internet nach Wohnungen geschaut. Eine klingt echt super!“, höre ich sie erzählen. Sie berichtet ganz begeistert von dem Viertel, das sie schon gut kennt, von dem Balkon und dem Zuschnitt. Unsicher frage ich, zu wann die Wohnung denn frei wäre. „Ich könnte in vier Wochen einziehen!“ „Das geht doch gar nicht“, starte ich einen kläglichen Versuch, sie davon abzuhalten: „Ich bin die nächsten Wochenenden verplant und kann dir gar nicht richtig helfen!“

Doch statt einzusehen, dass sie unmöglich ausziehen kann, sagt sie mit einer unfassbaren Leichtigkeit: „Ach, Papi, das schaffen wir schon! Streichen, Schränke aufbauen und Lampen anbringen kann ich doch selber. Oder Freunde helfen mir! Und ein paar Bohrlöcher setzt du vielleicht mal zwischendurch, okay?“ Sie meint es wirklich ernst. Wie ernst, wird mir wenig später klar. Alles geht plötzlich ganz schnell! Der Mietvertrag ist nach fünf Tagen unterschrieben. „Ich fahre zu Ikea!“, verabschiedet sie sich nun fast täglich. Schließlich sehe ich mich beim Möbelschleppen und Autopacken. Sie zieht das tatsächlich durch …

OB ER NOCH DA IST?

Während ich das hier schreibe, ist der Umzug schon zwei Wochen her. Am Frühstückstisch klapperte es die letzten Tage spürbar leiser. Nur ich plappere wie ein kleines Äffchen und rede mit mir selber. „Kleine werden groß und Große werden alt. So ist das nun einmal“, sage ich mir. Und kann es selber nicht glauben. Seltsam, wie die Dinge sich ändern. Noch vor ein paar Jahren liefen sie hinter dir her und baten: „Papa, hast du Zeit zum Spielen?“ Jetzt ist man selber derjenige, der hinter ihnen hergeht und fragt: „Wann kommt ihr mal wieder vorbei?“ Erwachsen werden ist irgendwie auch keine Lösung!

Naja, wir haben sie jetzt für nächsten Sonnabend eingeladen – alle: die Große, die Kleine und ihre Freunde. Bis dahin gehe ich immer mal wieder in der Etage unseres Sohnes vorbei. Einfach nur so … Und um zu schauen, ob er noch da ist.

Christian Rommert ist Autor, Redner und Berater und Fan des VfL Bochum. Er ist verheiratet mit Katrin und Vater von drei erwachsenen Kindern. Regelmäßig spricht er das Wort zum Sonntag in der ARD.
Foto: Wolfgang Wedel

„Er hat ständig neue Freundinnen“

„Mein Sohn studiert seit einem Jahr in einer anderen Stadt. Seitdem hatte er bereits mehrere Freundinnen, mit denen er aber schnell wieder Schluss gemacht hat. Wie finde ich einen Zugang zu ihm bei diesem Thema? Oder kann ich gar nichts machen?“

Lebensentwürfe, die unseren eigenen entgegengesetzt gelebt werden, können uns ordentlich unter die Haut gehen. Wir wollen das Beste für unsere Kinder und sie vor Fehlentscheidungen und Schaden bewahren.

RESPEKT UND WERTSCHÄTZUNG ZEIGEN

Ihr Sohn ist auf dem Weg zum Erwachsensein und für sein Leben selbst verantwortlich. Der Übergang vom Kindes- ins Erwachsenenalter ist eine große Herausforderung und ein wichtiger Entwicklungsschritt, in dem sich einiges neu orientiert. Die körperliche Reife und die geistig-seelische Reife klaffen in dieser Zeit auseinander, und die Phase ist geprägt von Umschwung und Unsicherheit. Verantwortliche Entscheidungen sind zu treffen, Selbstständigkeit und Freiheit nehmen rapide zu und Eltern haben nur noch wenige Einflussmöglichkeiten.

Wir möchten Sie ermutigen, die Beziehung, trotz der unterschiedlichen Lebensentwürfe, zu halten. Genießen Sie die Zeiten, in denen Austausch gelingt. In einem Miteinander, das von Wertschätzung, Respekt, Wärme und Echtheit geprägt ist, können auch kritische Themen in Angriff genommen werden. Zeigen Sie Interesse an seinem Leben und daran, was ihn gerade bewegt, für ihn wichtig oder herausfordernd ist. Fokussieren Sie sich nicht ausschließlich auf das Thema „Partnerschaften“.

GLAUBEN UND WERTE VORLEBEN

Aber auch Eltern von erwachsenen Kindern können sich die Freiheit nehmen, ihre Sorgen auszudrücken. Dabei ist es wichtig zu beachten, aus der Perspektive der Ich-Botschaft zu sprechen, sodass Ihr Sohn immer die Wahl hat, das Gesagte für sich zu bewerten und für sich eigene Entscheidungen zu treffen. Niemand möchte sich gerne im Erwachsenenalter bevormunden lassen. Tappen Sie nicht in die Falle der Eskalation oder der Streitspirale, indem man die eigene Sichtweise als die einzig richtige darstellt. Möglicherweise ist Ihr Sohn auch dabei, seine Lebens- und Wertevorstellungen herauszufinden, und manchmal sind Fehlentscheidungen nötig, um standhafte Werte für das eigene Leben zu kreieren. Signalisieren Sie Gesprächsbereitschaft, Ihr Sohn kann dann entscheiden, ob und, wenn ja, wann er auf Ihr Angebot zurückkommen möchte.

Eltern werden auch in solchen Zeiten in ihrer Rolle als Vorbilder neu herausgefordert. Leben Sie Ihrem Sohn Ihren Glauben und Ihre Überzeugungen vor und handeln Sie auch danach. Leben Sie, was Ihnen wichtig ist. Glaube, der in guten wie in schwierigen Tagen sichtbar wird, gewinnt an Attraktivität.

Martina Schäfer und Sandra Schreiber sind Beraterinnen und systemische Elterncoaches in der christlichen Beratungsstelle „LebensRaum Gießen“.

 

 

Ein Paar, zwei Perspektiven: Wärme

FROSTBEULEN

Katharina Hullen friert auch im Sommer.

Katharina: Es hat geschneit. Der Garten ist ein Winterwunderland. Ich schaue aus dem Fenster, angelockt vom fröhlichen Gequieke unserer Mädchen, die der Schnee nach draußen gelockt hat. Und da sehe ich sie: fröhlich, ausgelassen, den Schnee mit beiden Händen einander zuwerfend und schon die erste Kugel des Schneemanns über den Boden rollend. Keine von ihnen trägt eine Jacke, eine Mütze oder einen Schal! Mittendrin in diesem Gewusel mein lieber Mann, ebenfalls ohne Jacke, wild verstrickt in eine tobende Schneeballschlacht.

Ist es wirklich nur das Mutter-Gen, das es mir unmöglich macht, nur diesen schönen idyllischen Moment zu sehen? Ich will auch da raus und zwar beladen mit Jacken, Mützen, Schals und der Ansprache, dass man bei -2 Grad nicht ohne Winterkleidung das Haus verlässt! Immerhin haben es die Füße doch auch noch in die Winterstiefel geschafft!

Habe ich einfach nur ein anderes Temperaturempfinden als der Rest meiner Familie? Das könnte sein: Alle anderen laufen immer auf Socken und in T-Shirts in der Wohnung herum, ich trage stets meine Hausschuhe und gerne noch eine Strickjacke über dem Pullover.

Hauke bringt oft nachts um eins zu jeder Jahreszeit den Müll im T-Shirt nach draußen, deckt im Winter dabei noch die Frontscheibe des Wagens ab und füllt kurzerhand den Frostschutz nach. Ich friere, während ich das hier schreibe! Liegen wir dann im Bett, habe trotzdem ich die kalten Füße – wie kann das sein?

Hauke ist bestimmt auch naturverbundener als ich. Er liebt es, im Sommer nachts im Garten zu liegen – auf einer Decke – und einfach in den Himmel zu sehen. Ich liege zwar neben ihm – aber zugedeckt bis an die Nasenspitze. Ich sehe auch den Himmel – und ich höre! Ich höre alles kriechen, sirren, knistern um unsere Decke herum! Und auch wenn wir im Haus sind, hätte mein Liebster gerne nachts die Rollläden oben, die Fenster geöffnet. Er möchte die Welt sehen und hören, die da draußen ist. Ich persönlich möchte nachts weder sehen noch hören, was da vor sich geht, oder gar selbst gesehen werden.

Vermutlich liegt mal wieder aller Unterschied in der Kindheit begründet. Ich wuchs in einem alten Haus mit zugigen Fenstern auf. Mein Wellensittich musste sich mühsam gegen Windstärke 3 auf seiner Stange halten, während ich neben ihm mit wehendem Haar meine Hausaufgaben am Schreibtisch erledigte. Ich hatte immer kalte Füße, und die Wärmflasche war mein täglicher Begleiter. Jetzt haben wir eine Fußbodenheizung – was für ein Geschenk!

Fünf Wohnungseinbrüche habe ich inzwischen auch miterlebt. Daher sicher mein Wunsch, bei Dunkelheit die Schotten dicht zu machen. Hauke wuchs im 4. Stock eines großen Hauses mit vielen Menschen darin auf. Er ist ein großer, starker Mann, der im Zweifel jeden Einbrecher überragt. Und trotzdem lässt er mir zur Liebe die Rollos runter.

Was für ein Geschenk, dass ich so einen coolen Mann habe!

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

HITZEWALLUNGEN

Hauke Hullen lebt in einer Trockensauna.

Hauke: Der Mensch gilt als Krone der Schöpfung, und auch wenn vorerst unklar bleibt, ob der Frau oder dem Mann dabei die Rolle der Kronjuwelen zufällt, so soll doch auf jeden Fall an dieser Stelle festgehalten werden: eine Frau ist ein wahres Wunder!

Frauen arbeiten doppelt und jammern nur halb so viel wie Männer, Frauen sorgen für soziale Wärme in Familie und Gesellschaft und sichern seit Jahrtausenden buchstäblich das Überleben unserer Spezies, während Männer zumindest Teilen der Menschheit immer wieder den Garaus machen wollten.

Doch gerade weil Frauen im Allgemeinen und meine Frau im Besonderen mit so vielen wunderbaren Eigenschaften ausgestattet sind, fällt es besonders schmerzhaft auf, dass bei der Konstruktion dieses Modells ein wichtiges Bauteil vergessen wurde: ein funktionierender Temperaturfühler!

Katharina ist es immer zu kalt – darum sind wir die besten Kunden unseres Energieversorgers. Unser Schlafzimmer ist von der allgemein empfohlenen Schlaftemperatur ungefähr ein halbes Kohlekraftwerk weit entfernt. Und trotz flauschiger Bettwäsche, langer Schlafanzüge und einer zusätzlichen Wolldecke über der Bettdecke benutzt mich Kathi abends regelmäßig als menschliche Wärmeflasche und schiebt ihre kalten Füße auf meine Seite des Bettes. Das fühlt sich so an, als ob ein Gletscher kalbt.

Die Fröstelei der besten Ehefrau von allen ist also keine Einbildung, sondern wortwörtlich gefühlte Wahrheit. Dummerweise überträgt sie ihr Empfinden auch auf den Rest der Familie, nach dem Motto: „Zieh dir eine Jacke an, mir ist kalt!“ Wenn wir mit unseren Kleinkindern das Haus verlassen, sehen sie stets aus wie Michelin-Männchen, auch wenn die Expedition schon vor der Garage im guttemperierten Auto endet. Und was die Kids im Winter draußen anziehen sollen, darüber will ich erst gar nicht reden!

Um die Wärme im Haus zu halten, müssen die Fenster natürlich geschlossen bleiben. So bleibt nicht nur die Kälte draußen, sondern auch Mücken, Einbrecher und Sauerstoff. Selbstredend werden auch am späten Nachmittag die Rollläden heruntergelassen – wahrscheinlich damit das kalte Licht der Gestirne nicht in unsere Wohnung scheint.

So liege ich dann nächtens in unserem licht- und luftdicht verschlossenem Schlafzimmer, von Hitzewallungen gequält, und denke über meine wunderbare Frau nach. Tatsächlich: Während ich stöhnend vor mich hin fiebere, erträgt sie unsere Trockensauna, ohne zu jammern. Sie sorgt täglich aufs Neue für ein warm(herzig)es Klima in unserer Familie. Und mit ihrem „Heizung-hoch-und-Rollo-runter“-Tick sorgt sie womöglich wirklich für das Überleben unserer Sippe. Ein dick vermummter Einbrecher kann und will hier nicht hinein! Und erfrieren wird sowieso keiner.

Was habe ich für eine coole Frau!

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

„Sie hat nur Mode im Kopf“

„Meine Tochter (17) schminkt sich extrem und beschäftigt sich mit nichts anderem als mit Mode. Ihr Taschengeld gibt sie nur für Klamotten und Schminke aus. Muss ich mir Sorgen machen, dass sie sich so auf Äußerlichkeiten reduziert?“

Die heutigen 17-jährigen zählen zur sogenannten „Generation Z“, also zu den Menschen, die von klein auf digital aufgewachsen sind. Für diese Jugendlichen gehören Smartphones und Tablets so selbstverständlich dazu wie für frühere Generationen das Fernsehen. Dazu zählt auch ihre aktive Nutzung, um sich selbst darzustellen. Natürlich so schön wie möglich.

Ihre Tochter erhält Beauty-Tipps von Freundinnen und – was nicht unwahrscheinlich ist – auch von YouTubern, die ihre Schmink- und Schönheitstipps zum Nachmachen ins Internet stellen. Die Mädchen schminken sich, machen sich zurecht, fotografieren sich mit dem Handy und schicken sich die Fotos. Jede will natürlich besonders gut aussehen. 17-Jährige haben heutzutage andere Vorbilder als früher.

SEIN ÄUSSERES LIEBEN IST GUT

Im Grunde ist es durchaus positiv, wenn sich Menschen gefallen. Denn erst wenn man sich selbst liebt, ist man in der Lage, auch andere wertzuschätzen. Schminke kann helfen, das eigene Äußere zu unterstreichen, den einen oder anderen unschönen Pickel zu überdecken oder den Blick auf die strahlenden Augen und nicht auf die zu große Nase zu lenken. Auch die entsprechende Kleidung kann viel zum eigenen Selbstwertgefühl beitragen.

Für Ihre Tochter ist es wichtig, das richtige Maß zu finden. Dabei können Sie ihr helfen. Zunächst einmal sollten Sie „ihre Themen“ nicht verurteilen. Das Entdecken der eigenen Schönheit ist ein wichtiger Baustein in Richtung Erwachsenwerden. Falls Sie sich selbst auch schminken, zeigen Sie Ihrer Tochter, wie Sie sich schminken und weshalb Sie darauf verzichten, Ihre Augen mit Kajalstift so zu umranden wie eine Traueranzeige oder wie Sie Make-Up dezent verwenden.

Auch wenn es Ihre Tochter scheinbar nicht zu interessieren scheint: Es wird eine Wirkung haben. Eine andere Möglichkeit ist, dass Sie gemeinsam mit Ihrer Tochter ein Wellness-Wochenende verbringen. Solche Angebote gibt es zum Beispiel bei den Deutschen Jugendherbergen. Neben Massagen spielen auch Frisur und Make-Up eine Rolle. So ein Wochenende macht Spaß und zeigt Ihrer Tochter, dass sie von ihrer Mutter verstanden wird. Außerdem lernen Sie andere Mutter-Tochter-Paare kennen, denen es ähnlich wie Ihnen geht.

ABWARTEN UND ZEIT GEBEN

Auch wenn Ihre Tochter noch nicht das richtige Maß gefunden hat, müssen Sie sich keine Sorgen machen, denn mit 17 Jahren ist die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen. Vielleicht zeigt sie auch nur deshalb so viel Interesse an diesen Äußerlichkeiten, weil Sie weiß, dass die eigene Mutter anders damit umgeht. Dann ist das für sie die Möglichkeit, sich abzugrenzen. Zeigen Sie Interesse, geben Sie ihr Zeit. Dann wird sich der richtige Umgang mit diesen Äußerlichkeiten sicherlich einpendeln. Dazu kommt, dass ihr Taschengeld nicht lange genug vorhält. Das wird dazu führen, dass sich ihr Konsum von Schminksachen und Kleidung auf das Normalmaß reduziert.

Ingrid Neufeld arbeitet als Erzieherin mit Flüchtlingskindern und deren Eltern. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Töchtern und lebt in Schlüsselfeld bei Bamberg.

 

 

Silberkrönchen auf Föhnfrisur

Warum Christian Rommert und seine Frau nach Irland fliehen.

Sie hat es gesagt. Das böse Wort! Silberhochzeit! Ich habe den Gedanken daran verdrängt, vermieden, ignoriert. Bisher! „In einem Jahr ist es soweit!“, sagt die Frau, die ich liebe, „Wir sind 25 Jahre verheiratet.“ 25 Jahre! Echt jetzt?

EIN TRAUM VON EINEM FEST

Ich sehe mich bei der Feier unserer Silberhochzeit im Anzug am Kopf einer Festtafel sitzen. Neben mir meine Frau mit Silberkrönchen auf einer frischgeföhnten Frisur. Mein Bruder hat ein wenig Programm vorbereitet. Die Kinder tragen Flötenstücke vor. Es gibt ein Gedicht von den Jüngsten. Sie haben auch eine Präsentation zusammengestellt. Peinliche Bilder von einem viel zu jungen Bräutigam. Was macht diese bildschöne Frau nur mit solch einem Typen? Bilder vom Studium. Bilder von unserer Zeit in Hamburg, Elstal und Bochum. Die Geburten der Kinder. Ausflüge und Reisen. Die Präsentation ist sehr lang. In 25 Jahren ist ja auch viel passiert. Zwischen den Folien singen wir gemeinsam Lieder. Mein Bruder hat eine Vorliebe für Paul Gerhardt. Und Paul Gerhardt hat eine Vorliebe für sehr lange Lieder. Unser Pastor hält eine Andacht. Zu unserem Trauvers. Er stammt aus einem sehr langen Psalm. Ich sehe mich im zu engen Anzug am Kopf der Tafel sitzen. Neben mir sitzt die Frau, die ich liebe, mit Silberkrönchen. Wir sind hungrig und verschwitzt. Vor uns steht eine Torte. Auf ihr ein Silberpaar und eine 25.

Kreidebleich falle ich aus dem Tagtraum. „Das müssen wir irgendwie verhindern!“, stöhne ich. Die Frau, die ich liebe, schaut irritiert. „Was? Die Silberhochzeit?“, fragt sie und fügt an: „Willst du dich trennen, oder was?“ Ich denke: „Wenn das der einzige Weg ist, das Fest mit Torte, Silberkrönchen und Paul Gerhardt zu umgehen, dann: Ja!“ Ich sage: „Nein, Quatsch! Ich lieb‘ dich doch! Aber es muss einen Weg geben, kein peinliches und verkrampftes Fest daraus zu machen!“ „Keine Lust auf Paul Gerhardt?“, fragt sie verschmitzt. „Kein Familienalbum, keine Präsentation mit dem Best-of der letzten 25 Jahre!“, antworte ich bestimmt. „Und was ist mit einem Silberkrönchen?“, will sie wissen. „Kein Silberkrönchen!“, da bleibe ich kompromisslos. „Keine aufwendige Föhnfrisur“. Wie immer hat meine Frau eine gute Idee: „Wie wäre es, wenn wir uns einen lang gehegten Traum erfüllen?“ Sollen unsere Kinder die Vogelhochzeit für uns umdichten und aufführen, frage ich mich und sage: „Fideralala?“

WHISKEY MIT FLÖTENMUSIK

„Wie wäre es, wenn wir nach Irland fahren?“ Irland? Ich bin sofort Feuer und Flamme. Dort gibt es Whiskey. Und das Land ist einsam. Und wenn lange Lieder gesungen werden, dann sind die lustig. Und die Musik klingt schön – obwohl jemand Flöte spielt. Gibt es die Vogelhochzeit eigentlich auch auf Englisch? Ich glaube nicht! Sofort schreibe ich eine E-Mail. Ich habe Freunde mit irischen Vorfahren. Sie haben ein Haus an der Küste, das sie Bekannten zur Verfügung stellen. Das Haus ist so weit im Nirgendwo, da gibt es keine Anzüge und keine Silberkrönchen.

Noch am selben Tag erhalte ich die Antwort: das Haus ist frei und für einen Freundschaftspreis zu mieten. Ich buche direkt und es steht fest: Wir fliehen! Hiermit gebe ich offiziell bekannt: Anlässlich unserer Silberhochzeit hauen wir ab. Das wird wunderbar! Und wenn unser Pastor mitkommen will, dann kann er das. Unser Trauspruch lautet: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen!“ Davon gibt es ja jede Menge in Irland. Vielleicht machen wir gemeinsam einfach ein paar praktische Übungen?

Christian Rommert ist Autor, Redner und Berater und Fan des VfL Bochum. Er ist verheiratet mit Katrin und Vater von drei erwachsenen Kindern. Regelmäßig spricht er das Wort zum Sonntag in der ARD.
Foto: Wolfgang Wedel

Liebe lässt sich nicht erzwingen

Wenn die 16-jährige Tochter das Elternhaus verlässt, reißt sie ein tiefes Loch …

Wir haben vor knapp zwei Jahren von heute auf morgen den Kontakt zu unserer ältesten Tochter verloren. Sie hatte aus verschiedenen Gründen immer mehr Zeit außerhalb unserer Familie verbracht. Bedingt durch mehrere schwere gesundheitliche Ereignisse in unserer Familie hatten wir nicht genug registriert, dass sie sich auch emotional von uns distanziert hatte. Die Auslöser waren sehr unterschiedliche Auffassungen zu Themen wie Freiheit, Sexualität und Glaube. Ohne dass wir es geahnt haben, hat unsere Tochter sich entschieden, auszuziehen und den Kontakt zu beenden.

In den ersten Wochen standen wir völlig unter Schock. Ich konnte kaum schlafen. Ich habe alles hinterfragt, ständig lief das Kopfkino auf und ab. Ich habe versucht, für die anderen Kinder zu funktionieren. Abends saß ich oft im Zimmer unserer Tochter und habe laut geweint. Ich schrie zu Gott, dass ich diesen Schmerz, diese Ohnmacht, diese Sehnsucht und dieses Ausgeliefertsein nicht aushalte. Es waren Stunden der Verzweiflung, der Wut, des Zerbruchs. Und dazwischen immer wieder die Bilder aus glücklichen Zeiten, die im ganzen Haus an den Wänden hängen …

ZERREISSPROBE
Ich kann Gott nur von Herzen danken, dass er mir seine Engel in Form von anderen Christen geschickt hat. Sie hatten offene Ohren zum Zuhören und beteten für uns. Und es waren oft nicht die Worte, sondern das Händedrücken oder die Umarmungen, die uns großen Trost gespendet haben.

Wir haben natürlich versucht, unsere Tochter zurückzugewinnen. Ein großes Problem war, dass mein Mann und ich sehr unterschiedliche Sichtweisen hatten. Ich bin eher der geradlinige Sturkopf, er der kompromissbereite Grenzenöffner. Was sich bisher ergänzt hatte, wurde nun zur Zerreißprobe. In diesem Punkt mussten wir viel lernen, hatten Kämpfe und Tiefschläge zu tragen und wissen heute, dass wir auch die kleinsten Entscheidungen nur gemeinsam treffen.

Ein großes Gefühl war auch die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Ich bin der Typ von Frau, die immer alles im Griff zu haben scheint. Hier war es an der Zeit einzugestehen, dass nichts mehr läuft und ich nur Gott alles vor die Füße werfen kann. Trotz unseres Kampfes bleibt am Ende nur eine Einsicht: Liebe, Dankbarkeit und Zugehörigkeit lassen sich nicht erzwingen. Trotz ihres minderjährigen Alters und obwohl wir nicht wissen und wussten, welchen Einflüssen sie ausgesetzt ist, blieb als einzig vernünftige Wahl, unsere Tochter loszulassen.

Wir haben sie losgelassen im Wissen, dass sie in Gottes Hand ist, und das ist unser gewaltiger Trost. Er lässt ihre Hand niemals los. Und er kann sie tausendmal besser führen, als wir es je hätten tun können. Dadurch wuchs unsere Zuversicht. Und wir konzentrierten uns auf die Aufgaben, die Gott für uns bereithielt. Wir haben dem Groll keinen Raum in unsere Herzen gegeben, auch wenn die Traurigkeit ein Teil unseres Lebens geworden ist. Aber die Gewissheit, dass Jesus größer ist und alles zum Guten wendet, hat uns eine tiefe innere Ruhe gegeben.

WEIHNACHTSWUNDER
Ende letzten Jahres hat sich Erstaunliches getan. Nach anderthalb Jahren stand unsere Tochter kurz vor Weihnachten überraschend vor unserer Tür. Unbeschreiblich schön und zugleich fern und befremdlich. Balsam fürs Mutterherz, das sich sofort ganz weit macht, obwohl man die Gefahr der Verletzlichkeit nur zu gut kennt. Mittlerweile reagiert sie auch auf Whats-App-Nachrichten und nimmt Einladungen an. Es gäbe viel aufzuarbeiten, und wir befinden uns auf einer vorsichtigen Reise in die gemeinsame Zukunft. Wir sind gespannt, wie Jesus uns führt und klammern uns an seine Hand.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Tor zur Freiheit?

Wenn die Kinder ausziehen, eröffnen sich neue Freiräume für die Eltern? Ja und nein, meint Birgit Weiß. Tatsächlich verändert sich ihre Rolle als Mutter und Ehefrau.

Als ich vor zwei Jahren eine ehemalige Schulfreundin traf, die das Führen ihres „Hotels Mama“ so gründlich satthatte, dass sie es ihren zwei erwachsenen Töchtern nahelegte, doch endlich auszuziehen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, ob ich das eigentlich noch alles will. Denn im Grunde war ich noch mitten im Thema. Unsere Kinder waren 18, 22 und 24 und wohnten alle noch zu Hause. Die älteste Tochter und der Sohn studierten, die Jüngste ging noch zur Schule. Bei meiner ehemaligen Schulfreundin merkte ich jedenfalls ganz deutlich, dass ihre Seele extrem nach Freiheit lechzte. Dass sie nicht mehr länger bereit war, für erwachsene Kinder zu kochen, zu putzen und zu waschen, sondern dass sie nun endlich auch etwas von dem ihr „noch übriggebliebenen Leben“ für sich in Anspruch nehmen wollte.

WENIG ZEIT ZU ZWEIT

Einerseits konnte ich sie verstehen, andererseits empfand ich nicht genauso. Das Führen meines „kleinen Familienunternehmens“ betrachtete ich immer als wertvolle Aufgabe. Auch wenn ich mich um das Familienmanagement weitgehend allein kümmern musste, da mein Mann aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit nicht viel Zeit hat. Glücklicherweise befindet sich sein Büro aber in unserem Haus, sodass wir uns dennoch in einigen Bereichen ergänzen können. Ich kümmere mich zum Beispiel um die Buchführung, während er mir bei körperlich schweren Arbeiten in Haus und Garten hilft, sofern keins der Kinder da ist, das mit anpacken kann. Seine Selbstständigkeit brachte uns trotz allem aber auch schon immer den klaren Vorteil, dass wir als Familie alle zusammen am Esstisch sitzen konnten. Da allerdings bestimmten die Kinder weitgehend die Gesprächsthemen.

Unsere gemeinsamen Zeiten als Ehepaar dagegen hielten sich eher in Grenzen. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir uns einen regelmäßigen Ausgeh-Samstag freischaufeln konnten, an dem wir zum Schwimmen und anschließend zum Essen gehen. Aber selbst da ereilte uns beim Verlassen des Hauses so manches Mal noch die schnelle Frage: „Könnt ihr mir etwas mitbringen?“, und das haben wir dann auch meistens gemacht. Man kann die Kinder eben doch nicht ganz ausklammern, auch wenn man sich gerade mal etwas für sich gönnt.

FAMILIENZEIT GENIESSEN

Dass sich das auch jetzt, wo die Kinder erwachsen sind, nicht maßgeblich geändert hat, mag dem einen oder anderen übertrieben erscheinen, liegt aber vermutlich zumindest bei mir an dem Umstand, dass ich als Kind durch die Scheidung meiner Eltern, den frühen Tod des Vaters und die Alkoholkrankheit meiner Mutter kein normales Familienleben hatte. Deshalb schätze ich die Gemeinschaft mit meinem Mann und den Kindern umso mehr und bin bereit, eigene Wünsche zurückzustecken. Was natürlich trotz allem nicht heißt, dass ich mir nicht auch an manchem Tag ein freies Haus gewünscht hätte. Oder zumindest ein Plätzchen, an dem man nicht gestört werden kann. Mein Traum war immer ein eigenes Arbeitszimmer innerhalb der Wohnung, in dem ich die Buchführung sowie Schreibarbeiten in Ruhe erledigen kann, ohne dabei allzu weit von Herd und Waschmaschine entfernt zu sein. Da es sich aber aus Platzmangel nicht einrichten ließ, arbeite ich weitgehend im Wohnzimmer, und dort ist es eben äußert schwierig mit der Ruhe. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kinder während ihrer Schul- und Studierzeiten sehr viel zu Hause und damit auch immer irgendwie um mich herum waren. Aber: Kann man als Mutter überhaupt erwarten, ungestört zu sein, solange die Kinder im Haus sind? Müssen nicht erst alle ausziehen, damit man sich auch einmal auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren kann?

NAHTLOS IN DIE OMAPHASE?

Wenn ich mich im Bekanntenkreis umsehe, so kann ich feststellen, dass auch der Auszug der Kinder durchaus nicht immer das Tor zur Freiheit öffnet. Da begegnen mir beim Einkaufen Frauen meines Alters, die bereits mit ihren Enkelkindern unterwegs sind. Bei denen die Mutterphase nahtlos in die Omaphase übergegangen ist. Oftmals versorgen sie ihre Enkelkinder stundenweise, damit ihre Töchter oder Schwiegertöchter arbeiten können. Auch wenn einige von ihnen dies durchaus gern so handhaben, kann ich mir das im Moment noch nicht vorstellen. Ich würde mir zwischen Mutterphase und Omaphase doch einige Zeit Leerlauf wünschen, um mich wieder auf eigene Interessen besinnen zu können. Denn obgleich ich immer noch gern Mama bin, mache ich mir Gedanken darüber, was ich mit dem Leben „danach“ noch so anfangen könnte. Ein Besuchsdienst für ältere Menschen, den ich bereits im kleinen Rahmen begonnen habe, läge mir da zum Beispiel am Herzen. Ich empfinde den Kontakt zu älteren Menschen als Ausgleich, da sowohl Eltern als auch Schwiegereltern bereits verstorben sind und wir folglich keinen von ihnen mehr besuchen können.

Dass wir aus diesem Grund aber auch niemanden mehr haben, um den wir uns in den nächsten Jahren kümmern müssten, eröffnet gleichzeitig auch einen gewissen Freiraum für die Zukunft, den andere Ehepaare unseres Alters weniger haben. Die Fürsorge für die eigenen Eltern ist da ein Riesen-Thema und kann auch mal zu einer großen Last werden, wenn man die pflegerische Betreuung übernehmen muss, so wie das bei einer guten Bekannten der Fall ist. Sie hat auch jetzt, da ihre Kinder aus dem Haus sind, keine Zeit für sich. Sie habe das Gefühl, sagt sie mir, dass das Leben an ihr vorbeizieht. Dass sie selbst alt bei der Pflege wird und dass sie es als sehr frustrierend empfindet, dass niemand etwas von ihrer Leistung, die sie da im Stillen treu und täglich erfüllt, wahrnimmt. Obwohl ich sie nicht persönlich unterstützen kann, kann ich sie mit dem Gedanken trösten, dass Gott ihre Mühe sehr wohl sieht und ihre Fürsorge in seinen Augen sehr wertvoll ist. Jesus sagt ja: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40), und genau das hat mich persönlich getröstet, als mich vor über 25 Jahren die Sorgen um meine alkoholkranke Mutter selbst an den Rand der Erschöpfung brachten. Aber auch wenn diese Zeiten lange vorbei sind und unsere Ehe in Sachen „alternde Eltern“ keine Last zu tragen hat, leiden wir im Gegensatz darunter, dass sie viel zu früh verstorben sind. Wir vermissten sie im Laufe der Jahre nicht nur bei Familienfeiern oder den ersten Schultagen unserer Kinder, sondern generell. Wir hatten keinerlei Entlastung bei der Erziehung unserer Kinder. Und diese waren oft sehr traurig darüber, keinen Opa und keine Oma zu haben.

KINDER IN DER FERNE

Und während wir unsere Eltern vermissen, vermissen andere bereits ihre erwachsenen Kinder, weil es diese sehr weit in die Ferne gezogen hat. Denn auch das gibt es ja, dass Kinder nicht nur um die Ecke ziehen, sondern plötzlich Tausende von Kilometern weit weg sind, so wie das bei einer anderen Bekannten der Fall ist, deren junge Leute Hals über Kopf ausgewandert sind. Eigentlich kannte ich sie ja nur als unzertrennliches Gespann, nahe beieinander wohnend – und nun das! Keiner hatte damit gerechnet, die betroffene Mutter am allerwenigsten! Nun sieht sie ihre Lieben nur noch über Skype, hat schreckliche Sehnsucht und wird demnächst ihre Flugangst überwinden müssen, um sie besuchen zu können.

Als Elternpaar kennen auch wir das Spannungsfeld, in dem man sich befindet, sobald die Kinder aus der unmittelbaren Nähe verschwunden sind. Einerseits möchte man sie loslassen, gönnt ihnen und auch sich selbst die neue Freiheit, andererseits macht man sich trotzdem seine Gedanken und ist folglich doch nicht so ganz frei. Aktuell fühlen wir uns immer noch mitverantwortlich, weil unsere Kinder aufgrund ihres Studiums oder ihrer Ausbildung noch nicht ganz auf eigenen Füßen stehen.

Daneben kennen wir auch das Damit-Zurechtkommen- Müssen, dass sich Dinge plötzlich ganz anders entwickeln, als man sich das so gedacht hätte. Auch wir konnten uns nicht immer gleich mit allen Entscheidungen unserer Kinder anfreunden, sind aber im Laufe der Zeit flexibler geworden. Wir haben durch eigene und durch die Erfahrungen in unserem Bekanntenkreis erkannt: Es ist nicht gut, sich in gewisse Vorstellungen über die Zukunft zu verbeißen. Viel besser ist es, sich mit den jeweiligen Gegebenheiten bestmöglich zu arrangieren und in allem das Positive zu suchen.

LOSLASSEN EINGEÜBT

Um immer wieder über den häuslichen Tellerrand hinausschauen zu können, helfen meinem Mann seine Aktivitäten als Hobby-Musiker. Mir dagegen helfen Freundschaften, mein kleiner Besuchsdienst und vor allem mein Glaube an Gott. Ich merke immer wieder, wie der Herr mir beim Vergeben hilft, neue Kraft schenkt und meinen Liebestank treu auffüllt. Was ich immer schon als Privileg erachtet habe: Ich darf meine Lieben zu jeder Zeit und egal, wo sie sich gerade befinden, im Gebet begleiten. Zu wissen, dass der allmächtige Schöpfer des Universums höchstpersönlich auf sie Acht gibt, lässt mich am Abend ruhig einschlafen, auch wenn ich nicht weiß, wie sich alles weiterentwickeln wird.

Im Moment sieht es bei uns so aus: Unser Sohn ist in ein Studentenheim gezogen, das eine Autostunde von uns entfernt ist. Die Älteste kam kürzlich von einem halbjährigen Freiwilligendienst in Israel zurück nach Hause, um ihr Studium zu beenden, und die Jüngste lebt noch zu Hause, sucht aber nach einer Wohnmöglichkeit, um näher an ihrem Ausbildungsplatz zu sein. Der Gedanke, dass wir als Ehepaar auch bald zu zweit sein könnten, macht uns keinen Kummer. Zum einen hatten wir schon zwölf gemeinsame Jahre vor den Kindern, zum anderen haben wir das Loslassen inzwischen ja ein bisschen eingeübt.

Birgit Weiß lebt mit ihrer Familie in Oberfranken.

 

 

„Ja, weißt du das denn nicht?“

Christian Rommert merkt, dass man nie genug miteinander reden kann..

„Nein!“, „Doch!“, „Ohhh!“ Seit zwanzig Minuten diskutieren wir nun schon und kommen keinen Schritt weiter! Ich versuche zu rechtfertigen, warum ich das dritte Wochenende in Folge unterwegs bin. Katrin hält hartnäckig dagegen. Ich fühle mich verletzt, weil ich mit dem an den Wochenenden verdienten Geld doch das Auto, das Haus und den Urlaub bezahle. Katrin sitzt auf der Palme, und ich spüre: Gleich eskaliert es. Da- mit meine ich nicht, gleich fliegt Geschirr. Das passiert nie, wenn wir uns streiten. Die höchste Eskalationsstufe ist bei uns: das Schweigen.

DEN INNEREN KOSMOS MITTEILEN

Gleich ist es sicher wieder soweit. Mich macht das total fertig. Schweigen bedeutet für mich die Höchststrafe. Und Katrin beherrscht das Schweigen perfekt. Aber auch ich kann das gut! Ich bin darin mindestens genauso geübt wie sie. „Nein!“, „Doch!“, „Ohhh!“ Ich will gerade Arme verschränken und beleidigt schauen, da höre ich, wie Katrin mich fragt: „Was macht dir denn solchen Druck?“ Als Reaktion schaue ich sie blöde an. „Ja, weiß sie das denn nicht?“, frage ich mich. „Weißt du, du bist mein bester Freund! Ich brauche dich zum Reden!“, sagt sie. Ich schlucke meinen ersten Impuls herunter und vermeide eine Aufzählung der Gespräche und Spaziergänge, bei denen wir meiner Meinung nach doch ausreichend Zeit zu zweit hatten. Ein Artikel aus einer Zeitschrift kommt mir in Erinnerung. Dort stand: „Deine innere Welt ist für deine Partnerin unsichtbar. Du musst sie ihr mitteilen. Du musst ihr deinen inneren Kosmos mitteilen, damit er verstanden werden kann.“ Reden, sich verständlich machen, damit ich verstanden werden kann und zuhören, hinhören, nachfragen, damit ich verstehe … Das ist so schwierig. Schweigen ist definitiv einfacher!

DAS RICHTIGE MASS

Doch ich starte einen Versuch und erzähle ihr von der Herausforderung, als Selbstständiger und Freiberufler nie genau zu wissen, wieviel genug ist. Soll ich das Wochenende verkaufen und damit den wichtigen finanziellen Puffer für den Sommer aufbauen oder nicht? Ich verkaufe Lebenszeit für Geld. Das ist die Spannung, in der ich mich ständig befinde. Denn beides – Zeit und Geld – sind wertvolle Güter. Und es sind widerstrebende Interessen. Dinge, die miteinander konkurrieren. Das richtige Maß zu finden, fällt mir einfach schwer. Im Verlauf des Gespräches zeige ich Katrin meine Jahresplanung. Wir bauen uns ein paar Inseln der gemeinsamen Zeit, und einen Termin sage ich dafür ab. Dabei geht es noch ein paar Mal hin und her. Aber es scheint, als seien wir wieder auf einer heilsamen Spur. „Und bei dir so?“, frage ich Katrin und merke auch in ihrem Blick eine Irritation. Auf ihrer Stirn meine ich lesen zu können: „Ja, weißt du das denn nicht?“ Also sage ich: „Ich habe eine Fantasie, was es bei dir ist, aber ich weiß nicht, ob ich damit richtig liege. Ich will dich wirklich verstehen! Erzählst du mir, was dich beschäftigt?“

WIE HUSTENLÖSER

Im weiteren Verlauf unseres Gespräches bestätigt sich: Meine Bilder, von dem, was in meiner Frau vorgeht, sind meine Fantasien. Wie es wirklich aussieht, erfahre ich nur über Gespräch. Mein innerer Kosmos bleibt für Katrin ein Geheimnis, so lange ich ihn nicht zeige. Ihre innere Welt bleibt ein Geheimnis, wenn ich mich nicht darum bemühe, sie wirklich zu begreifen. Das klingt so banal und ist doch eine Erkenntnis, die für unsere aktuelle Situation wie Hustenlöser wirkt. Schließlich fragt Katrin mich: „Wie wäre es, wenn ich mir an dem Montag nach diesem Wochenende freinehme und wir etwas gemeinsam unternehmen?“ Als sie merkt, wie ich zögere, sagt sie verschmitzt. „Nein? Oder: Doch?“ Und ich antworte fröhlich: „Ohhhhh JAAA.“

Christian Rommert ist Autor, Redner und Berater und Fan des VfL Bochum. Er ist verheiratet mit Katrin und Vater von drei erwachsenen Kindern. Regelmäßig spricht er das Wort zum Sonntag in der ARD.