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Geliebt und genervt: Wie ich meinen Partner ändern kann

Alle wissen, dass man den Partner nicht ändern kann. Paarberater Marc Bareth verrät, wie es trotzdem klappt.

Wir kennen es alle: Unser Partner oder unsere Partnerin verhält sich nicht immer so, wie wir es uns vorstellen. Je länger wir in einer Partnerschaft sind, desto mehr springen uns Charaktereigenschaften ins Auge, die so richtig nerven. Da stellt sich schnell einmal die Frage: Wie kann ich mein Gegenüber ändern? Wer sich mit dem Thema beschäftigt, merkt schnell, dass die Aussagen vieler Fachleute und der Literatur darauf hinauslaufen, dass dies eben gar nicht möglich ist. Und auch unsere Erfahrung zeigt, dass das Unterfangen ziemlich aussichtslos ist. Wir können unsere Mitmenschen nur sehr bedingt verändern. Der berühmte amerikanische Paartherapeut Dan Wile sagt: „Wenn du einen Partner wählst, wählst du damit unweigerlich auch ein bestimmtes Set an unlösbaren Problemen.“ Deshalb der Tipp: Nimm dein Gegenüber an, wie sie oder er ist, und nicht wie sie oder er sein sollte. Ändern kannst du ihn oder sie sowieso nicht.

Ich kann mich ändern

Meinen Partner kann ich also nicht ändern. Doch es gibt einen Weg, sein oder ihr Verhalten nachhaltig zu verändern. Hier kommt die Paardynamik ins Spiel. Das Verhalten des Mannes ist jeweils die Reaktion auf das Verhalten der Frau und umgekehrt. Das weitaus erfolgversprechendste Mittel ist es also, sein eigenes Verhalten zu ändern. Genau: Du gibst deinem Gegenüber die Chance, sich zu ändern, indem du dich selbst anders verhältst.

Was langfristig nicht funktioniert, sind Druck, Vorwürfe, Nörgeln und Forderungen. Denn Druck erzeugt Gegendruck und führt nicht zu einer Verhaltensänderung.

Ein Beispiel: Sandra kommt aus einer Familie, in der man Konflikte direkt und auch mal laut angeht. Wenn sie Philipp mit dem konfrontiert, was ihrer Meinung nach schiefläuft und alles auf den Tisch legt, reagiert der sehr einsilbig. Sandra lässt dann aber nicht locker. Sie fühlt sich durch Philipps Passivität provoziert und wird immer lauter, bis Philipp sich irgendwann einfach verdrückt, was Sandra noch mehr verärgert.

Andere Wege suchen

In Philipps Familie wurde offener Streit um jeden Preis vermieden, weil niemand damit umgehen konnte und Konflikte häufig Beziehungsabbrüche bedeutet haben. Lernt Sandra, ihr Anliegen so anzusprechen, dass Philipp sich nicht in die Enge gedrängt fühlt, wird sie viel mehr erreichen, als wenn sie ihn anbrüllt, er solle doch auch mal was sagen. Wenn Philipp die Erfahrung macht, dass Meinungsverschiedenheiten mit Sandra nicht zum Beziehungsabbruch führen, wird er anders auf sie reagieren können. Sandra kann also Philipps Verhalten nur verändern, indem sie sich selbst anders verhält.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter familylife.ch/five.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Fotobuch

Nicht das wahre Leben

Katharina Hullen will Erinnerungen festhalten und prägen – schöne Erinnerungen.

Katharina: „Schaut doch bitte kurz noch mal alle zu mir!“ Ich versuche, einen schönen Abschlussmoment festzuhalten, nachdem ich meine Familie mehr oder weniger unauffällig den ganzen Tag umtanzt habe, um einige der schönen Szenen unseres heutigen Ausflugs digital zu verewigen. Nicht allen ist dabei zum Lächeln zumute, aber wir wissen ja, wofür wir uns hier ins Zeug legen – das alljährliche Familien-Fotobuch muss gefüllt werden!

Alle lieben diese Bücher – die Großeltern wünschen sich zu Weihnachten nichts anderes. Und es ist auch ein großartiges Geschenk: eine Galerie der Menschen, die wir lieben, eine wunderbare Dokumentation des Familienlebens, der Entwicklungen und Meilensteine eines jeden Mitglieds unserer kleinen Einheit. Ausflüge, Geburtstage, Einschulungen, Abschiede, Aufführungen. Wir können beim Betrachten in Erinnerungen schwelgen und mithilfe der schönen Baby- und Kleinkindbilder und der zugehörigen Erzählungen sogar Erlebnisse und Empfindungen prägen, die bei den Kindern ansonsten gar nicht im aktiven Bewusstsein wären.

Diese Bücher sind naturgemäß angefüllt mit den schönen Momenten, mit lächelnden, fröhlichen, ausgelassenen, stolzen, konzentrierten und glücklichen Menschen.

Ich hatte noch nie den Drang, ein Foto zu machen, wenn ich gerade am Mittagstisch ein Donnerwetter loslasse oder wenn sich zwei Streithähne buchstäblich in den Haaren liegen. Auch das Aufwischen von Erbrochenem oder das Durchsetzen einer Auszeit für ein bockiges Kind hat es bei uns noch nicht als Fotomotiv gegeben.

Ist es daher nicht eigentlich ein unehrliches und geradezu ärgerliches Produkt einer zu ehrgeizigen Mutter, die jeden Moment nur nach seiner Fotobuch-Tauglichkeit beurteilt und eben nicht das wahre Familienleben dokumentiert? Warum nicht einfach den Moment genießen und fotolos verstreichen lassen?

Einfacher wäre das, denn es steckt sehr viel Zeit und Arbeit in diesen Büchern. Und dass unser Familienleben auch viel Streit, Frust und Versagen beinhaltet, ist selbstverständlich genauso wahr wie die vielen schönen Augenblicke.

Dennoch gefällt mir der Gedanke, dass diese Bücher vor allem das Positive festhalten: Es war richtig schön! Wir haben sehr viel Gutes und Lustiges zusammen erlebt. So haben wir uns entwickelt, das konnte der oder die damals schon richtig gut und schau, was daraus geworden ist. Solche Fotoalben können helle Landmarken im Leben setzen, wenn man irgendwann mal das Gute vergisst oder niemand mehr da ist, der einen erinnert.

Ich verbuche für mich die Kritik am Fotografieren in der gleichen Kategorie, wie es meine Familie wohl nervt, wenn ich nach gewaschenen Händen und wetterangemessener Kleidung frage. Mütter nerven dann eben. Tja.

 

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Das Lächeln gefriert

Hauke Hullen möchte den Moment genießen – ohne Fotobuchgedanken.

Hauke: Familienfeier im Garten: Die ganze Verwandtschaft ist da, unsere Kinder baden in Geselligkeit und herzlicher Aufmerksamkeit, als unser 6-Jähriger stolz seiner Cousine Jule den aktuellen Wackelzahn präsentiert. „Komm, den hol ich dir raus“, verspricht die 24-Jährige. Man muss dazu wissen: Jule ist nebenberuflich Zahnfee. Wann immer sie uns besucht, verlieren unsere Kinder einen Milchzahn. Es bahnte sich also ein spektakuläres Ereignis an, da unterbricht die beste Ehefrau von allen: „Moment, die Kamera!“

Es folgt eine hektische Suche nach dem richtigen Handy, dem richtigen Winkel und dem richtigen Bildmodus: Porträt, Panorama oder doch lieber ein Video? Vielleicht in Slow Motion? Am Ende gibt es alles auf einmal, weil inzwischen die gesamte Sippe ihre Handys im Anschlag hat, um dutzendfach zu dokumentieren, wie die zupackende Cousine eine weitere Lücke in der Kauleiste unserer Kinder hinterlässt. So geht das ständig. Bei jeder sich nicht bietenden Gelegenheit ist Katharina dem Zwang erlegen, alles fotografisch festhalten zu müssen – für das legendäre Fotobuch, was stets für die Großeltern und für uns unterm Weihnachtsbaum liegt.

Am schlimmsten ist es, wenn sie ein neues Handy mit neuen Kamerafunktionen hat. Dann gleicht jeder Sonntagsspaziergang einer Hetzjagd, bei der Mann und Mäuse vor der wildgewordenen Knipserin flüchten. In diesen Zeiten entstehen besonders viele menschenleere Landschaftsaufnahmen, bei denen man mit etwas Glück dann doch ein paar Familienmitglieder entdeckt, die sich entnervt hinter den Bäumen verstecken.

Denn die Fotos rauben zwar nicht uns die Seele, aber dem Moment. Wenn Kathi das pralle Leben festhalten will, tut sie exakt das: Das Leben und alle Personen erstarren, das Gelächter hört auf, das Lächeln gefriert zur Grimasse – und all die Leichtigkeit ist weg.

Warum kann man nicht einfach den Augenblick genießen, ohne ständig an die fotogene Verwertbarkeit denken zu müssen? Und warum müssen immer wieder künstlich Aktionen gestartet werden, nur damit schöne Fotobuch-Motive entstehen? Das Fotobuch entwickelt sich zu unserem analogen Instagram-Channel, zu einer Puderzucker-Version unseres Lebens!

Besonders sinnfrei dabei: die Selfie-Seuche. Ganze Urlaubsalben, die nur aus den immer gleichen zwei Visagen bestehen. Immerhin bestraft die Kamera diese Selbstbezogenheit mit übergroßen Nasen, weshalb man diese Bilder nachher auch keinem mehr zeigen mag. Informativ sind die Fotos eh nicht: Man weiß zwar, man war da, sieht aber nicht, wo.

Klar, die Kinder schauen sich gern die Bilder von früher an. Sie glauben dann sogar, sich an diese Kindheit erinnern zu können – dabei weiß die Wissenschaft längst, dass man mit Fotos Erinnerungen in den Köpfen säen kann. Könnte sich Kathi auf diese Weise nicht viel Arbeit ersparen, indem sie einfach ein paar hübsche Motive aus dem Internet kopiert? Hier, unser Hawaii-Urlaub, und da, da warst du Fallschirmspringen! Dann könnten wir endlich in Ruhe unser Leben leben.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Schwierige (Schwieger-)Eltern: Manchmal ist Abgrenzung nötig!

Die Beziehung zu den (Schwieger-)Eltern ist oft kompliziert, weil unbewusst Macht ausgeübt wird. Paartherapeut Jörg Berger erklärt, wie solche Konflikte entstehen und wie die schwierige Beziehung gelingen kann.

Als ich ein kleiner Junge war, habe ich mir ein Abendgebet ausgedacht, vermutlich nach dem Vorbild von Gebeten, die ich im Kindergottesdienst gehört habe: „Danke für meine guten Eltern und meine Schwester.“ Erst spät ist mir bewusst geworden, dass ich mir auch deshalb gute Eltern bewahrt habe, weil ich mich sehr an sie angepasst habe. Ich war ein braver Junge. Ich habe meine Gefühle für mich behalten und sie stellenweise ganz betäubt. Meine Bedürfnisse habe ich nur dort gezeigt, wo sich meine Eltern nicht von mir gereizt gefühlt haben. Jeden Schritt über diese unsichtbare Grenze hinaus habe ich mit Schlägen, bedrohlichem Schimpfen und Beschämung bezahlt. Gleichzeitig haben meine Eltern Liebe gezeigt, wo sie es konnten. Sie haben ihr Bestes gegeben. Sie haben mir sogar mehr gegeben, als sie selbst als Kinder von ihren Eltern empfangen haben.

Wer Ähnliches erlebt hat, kennt die Last, die Kinder schwieriger Eltern tragen: Wir fühlen uns unendlich schuldig, wenn wir aussprechen, dass wir schlecht behandelt worden sind. Wir zweifeln lieber an uns selbst. Wir suchen verzweifelt nach dem Trick, der uns in die Kinder verwandelt, mit denen die Eltern ganz zufrieden sind und denen sie ihre besten Seiten zeigen können. Es fällt uns heute noch schwer, uns gegen eine schlechte Behandlung zu wehren. Stattdessen gleichen wir lieber aus und verhindern angestrengt ein Scheitern. Bei mir ist es gut ausgegangen. Meine Braver-Junge-Masche hat mir wohlwollende Erzieherinnen und Lehrer, gute Noten, aufgeschlossene Mitmenschen und schließlich eine liebe Frau eingebracht. Mein frühes Interesse für Psychologie – warum wohl? – hat mich in einen Beruf geführt, der mir viel Freude macht. Mit meinen Eltern habe ich einen versöhnlichen Weg gefunden, auch wenn das Kraft gekostet hat und heute vieles nicht möglich ist, was schön wäre. In meiner Praxis begleite ich Menschen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. Eine umfassend schöne Beziehung zu den Eltern ist für viele Menschen nicht möglich. Doch Konflikte befrieden kann man fast immer.

Was Eltern heute noch Macht gibt

Es gibt Eltern, die zu viel Macht ausüben. Um sie soll es im ersten Teil dieser Serie gehen. Dabei spreche ich von „Eltern“ so, als ob beide Grenzen überschreiten, abwerten oder bestrafen würden. Manchmal ist das auch der Fall. Aber häufiger übt nur ein Elternteil Macht aus und das andere ignoriert dies, verharmlost oder unterstützt es sogar. Denn würde das andere Elternteil korrigierend dazwischengehen, gäbe es das Problem für die Kinder so nicht. (Stattdessen gäbe es wohl ein gefährliches Problem in der Ehe der Eltern.) Wenn Sie das mitdenken, kann ich vereinfachend von „Eltern“ sprechen.

Eltern, die Grenzen überschreiten. Manche Eltern können auch ihren erwachsenen Kindern keine Freiheit lassen. Sie haben unverrückbare Vorstellungen: wie Besuche ablaufen, wie man die Welt sieht und wie man lebt. Mit Leidenschaft regieren sie in das Leben ihrer Kinder und Schwiegerkinder hinein. Wenn sich Kinder wehren, werden sie in zähe Diskussionen verwickelt. Deborah (alle Namen wurden geändert und Umstände verfremdet) zum Beispiel könnte die Hilfe ihrer Eltern so gut gebrauchen, seit das dritte Kind da ist. Aber statt Aufgaben so zu erledigen, wie Deborah es braucht, bestehen die Eltern darauf, die Dinge nach ihren eigenen Vorlieben zu erledigen. Statt einer entspannten Zeit auf dem Spielplatz bestehen die Eltern auf Wanderungen, von denen die beiden Großen kaputt und quengelig zurückkommen. Deborah ist nach einem Besuch am Ende. Hat sich das wirklich gelohnt? Es sind zwar viele Aufgaben erledigt, aber Deborahs Nerven liegen blank.

Eltern, die abwerten. Julian hat sich ein dickes Fell wachsen lassen. Sein Vater schätzt Julians Beruf nicht besonders. Er findet wohl seinen Verdienst zu gering und weist ihn immer wieder auf Karrieremöglichkeiten hin. Und dass sein Vater Annika so offen ablehnt, das trifft Julian zutiefst. Der Vater reagiert bei Tisch einfach nicht, wenn seine Schwiegertochter etwas sagt. Nur wenn er ihre Meinung ganz daneben findet, holt er zu einer langen Belehrung aus. Abwertende Eltern stellen sich auf einen Sockel der Überlegenheit. Von dort aus beurteilen sie das Leben der Kinder. Was hinter ihren Maßstäben zurückbleibt, kommentieren sie mit niederschmetternden Worten. Dabei meinen sie es gut. Sie wollen doch nur, dass ihre Kinder und Schwiegerkinder ein gutes Leben haben.

Eltern, die bestrafen. Muss Strafe sein? Das ist schon bei der Kindererziehung fraglich. Doch manchen Eltern liegt es so im Blut, dass sie auch noch ihre erwachsenen Kinder strafen. Sie ziehen sich zurück, wenn sie sich nicht gut behandelt fühlen, und werfen bei ihren Kindern die Frage auf, was sie verbrochen haben. Strafende Eltern binden ihre Zuneigung, ihre Großzügigkeit und Hilfe an das Wohlverhalten der Kinder und entziehen diese, wenn sie einen Grund dafür sehen. Erwachsene Kinder fühlen sich dann durch Liebesentzug und den Entzug von Unterstützung bestraft. Auch stinkige Reaktionen, die demonstrative Bevorzugung von Geschwistern und gezielt verletzende Bemerkungen eignen sich zur Bestrafung. Kein Wunder, dass Kinder ihre Eltern dann wie rohe Eier behandeln und noch heute in der Furcht leben, etwas falsch zu machen.

Eltern und Schwiegereltern liebevoll entmachten

Eltern erwachsener Kinder haben nur die Macht, die ihnen ihre Kinder heute noch geben. Erwachsene Kinder sollten Liebe nicht mit Liebsein verwechseln. Es gibt auch eine starke Liebe, die sich vor Schwächen der Eltern schützen kann. Sie führt erwachsene Kinder auf einen Weg, der sich zunächst verboten, dann aber sehr befreiend anfühlt.

Freiheit vom schlechten Gewissen. Niemals würden sich erwachsene Kinder von anderen bieten lassen, was sie manchmal bei Eltern und Schwiegereltern ertragen. Das liegt an ihrem Gewissen. Eltern zu ehren ist uns tief eingeprägt, auch ohne kirchliche Prägung. Außerdem ist es für schwierige Eltern charakteristisch, dass sie die Schuld bei den Kindern sehen. Deborahs Eltern halten ihre Tochter für undankbar und kompliziert. Und so fühlt sich Deborah auch nach den Besuchen: undankbar und kompliziert. Erwachsene Kinder dürfen sich von solchen Schuldgefühlen frei machen. Sie sind ihren Eltern Wertschätzung schuldig: für die Würde, die im Elternsein liegt, und für das, was sie den Kindern geschenkt haben. Doch erwachsene Kinder schulden Eltern und Schwiegereltern nicht, dass sie unfaires Verhalten ertragen.

Die Angst vor dem „Scheitern“ verlieren. Der Umgang mit den Schwächen anderer wird leichter, wo man sich an folgende Selbstverständlichkeit hält: Wo mich einer fair und liebevoll behandelt, darf er mir nahekommen. Wer das nicht kann oder will, muss damit leben, dass ich einen Sicherheitsabstand wahre. Mit einem gesunden Abstand kann man viele menschliche Schwächen ertragen. Doch in der Beziehung zu Eltern oder Schwiegereltern bedeutet ein Abstand auch ein Scheitern. Denn es ist schön, sich Eltern zu öffnen, ihren Rat zu suchen, längere Besuche zu machen oder sogar Urlaubstage mit ihnen zu verbringen. Es ist verbindend, wenn sich Eltern und Schwiegereltern tatkräftig und finanziell in das Leben ihrer Kinder einbringen, besonders in fordernden Lebensphasen. Wo erwachsene Kinder das nicht mehr zulassen, ist das ein Scheitern. Es schmerzt und macht traurig, selbst wenn klar ist, dass der Preis für die Nähe viel zu hoch ist. Wenn erwachsene Kinder den Mut zum Scheitern aufbringen, gewinnen sie eine Freiheit, die Chancen mit sich bringt.

Die Tür zu einer guten Zukunft offen halten. Erwachsene Kinder, die in ihrem Gewissen frei geworden sind, können Eltern und Schwiegereltern vor die Wahl stellen. Falls diese an unfairem Verhalten und einer ungesunden Beziehung festhalten wollen, geht manches nicht. Doch die Tür zu einer guten Beziehung steht immer offen. Julian hat das etwa so gemacht: „Papa, ich habe ja schon angesprochen, dass du oft nicht reagierst, wenn Annika beim Essen etwas sagt, außer du willst ihr irgendetwas erklären. Du hast vielleicht deine Gründe dafür. Aber Annika fühlt sich damit nicht wohl. Und ich kann das verstehen. Mir tut es auch weh, wenn ich das Gefühl habe, sie wird von dir ignoriert und nicht geschätzt. Ich finde, es ist kein großes Ding, wenn du ab und zu auf sie eingehst. Du könntest nachfragen oder etwas aufgreifen, was sie sagt. Das gehört doch auch zur Gastfreundschaft. Vielleicht siehst du das anders. Dann werde ich aber manchmal allein kommen und auch nicht mehr so oft.“

Erwachsene Kinder wie Julian erobern sich so eine angemessene Macht zurück. In aller Regel geht das gut aus. Plötzlich bewegt sich etwas in der Beziehung. Oft wird es dann sogar für beide Seiten schöner. Manchmal halten Eltern aber an unfairen Ansichten und Verhaltensweisen fest, als ginge es um ihr Überleben. Dann geht manches eben nicht. Vorerst.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (epaartherapie.de). Mehr zum Thema in den nächsten Ausgaben und in seinem Buch „Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Frieden schließen und versöhnt leben“ (Francke).

5 Tipps: So überlebt die Beziehung in der Kleinkindphase

Die Kleinkindphase ist eine Herausforderung für die Beziehung der Eltern. Familienberaterin Isabelle Bartels erklärt, wie die Partnerschaft trotzdem aufblühen kann.

„Mir wächst hier alles über den Kopf und ich wäre froh, einfach mal wieder eine Nacht durchzuschlafen. Wo bleibt da noch Zeit für die Beziehung?“ Das höre ich oft von jungen Eltern. Und ganz ehrlich: Ich kann das gut verstehen! Denn diese Zeit ist extrem herausfordernd.

Meinem Mann und mir ging es während unserer Familiengründungsphase immer wieder genauso. Und gleichzeitig haben wir uns gefragt, wie wir als Paar in Verbindung bleiben können – auch im Alltag mit Kleinkindern. Denn wir wollten unsere Beziehung nicht dem Zufall überlassen und es auch nicht glauben, dass es vorbei ist mit Zweisamkeit und Nähe, wenn die Kinder klein sind. Doch wie genau können wir Einfluss nehmen auf die Resilienz unserer Partnerschaft? Was hält sie lebendig, wenn wir Eltern werden und als Paar wenig Exklusivzeit haben? Aus meiner eigenen Lebenserfahrung und als Ergebnis meiner Beratungen sind es vor allem fünf Bausteine, die wir als Paar kultivieren dürfen, um unserer Beziehung weiterhin Raum zur Entfaltung geben zu können.

1. Annehmen, was ist

Letztens bei uns: Wir hatten uns seit Tagen auf einen Restaurantbesuch zu zweit gefreut – und eine Stunde vorher sagt uns das Kindermädchen ab. Puh! Die Vorfreude weicht der Enttäuschung und dem Frust. Statt gemütlich essen zu gehen nun das normale Ich-will-nicht-schlafen-gehen-Programm mit den Kindern. Ich merke: Ich habe keine Lust! Früher habe ich mir Gedanken wie „Ich habe gerade keine Lust auf meine Kinder!“ nicht erlaubt. Doch dann habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Annahme von allem, was ist, die Grundlage ist, um überhaupt wieder heraus aus dem Opfermodus in die Handlungsfähigkeit zu kommen.

Was bedeutet das konkret für die Situation? Solange ich glaube, ich müsse immer Lust auf meine Kinder haben, komme ich nicht weiter. Ich bin weiterhin genervt, habe ein schlechtes Gewissen und bin unzufrieden mit mir, weil ich es nicht schaffe, dankbarer zu sein. Hier hilft die Annahme aller Anteile in mir mit ihren widerstreitenden Gefühlen. Ich gestehe mir ein, dass ich manchmal am liebsten meinen Mann für mich allein hätte und so nicht meinem Bild eines perfekten Elternteils entspreche. Und plötzlich wird mir klar, dass ich nicht falsch bin, sondern dass meine Gefühle einfach menschlich und ein Ausdruck für meinen Wunsch nach mehr Zweisamkeit und Selbstbestimmung sind. Ich komme raus aus dem inneren Kampf und kann stattdessen nach Lösungen für die veränderte Situation suchen.

Als Paar könnt ihr euch gegenseitig helfen, den täglichen Kampf zu erkennen, und euch liebevoll aus den Gedankenschleifen herausholen. Dazu reichen oft ein einfaches „Stopp“ und eine Umarmung. Macht es euch immer wieder leicht und entscheidet euch bewusst dafür, nicht irgendeinem Ideal zu entsprechen. Und wenn es die Situation erfordert, wiederholt ihr das alle fünf Minuten.

2. Selbstfürsorge – Raum für mich und meine Interessen

Den Kindern geht es nur so gut, wie es den Eltern als Paar miteinander geht. Der Beziehung als Paar wiederum geht es nur so gut, wie es jedem Einzelnen geht. Das sind zwei meiner Lieblingsgrundsätze für beziehungsstarkes Familienleben. Doch es ist oft ein riesiger Schritt, sich diesen Raum für sich selbst zu erlauben und ihn wirklich einzunehmen.

Deshalb ist der erste Schritt immer: die Selbsterlaubnis. Erlaube dir, Raum und Zeit mit dir selbst zu genießen und dich zu fragen: Was brauche ich? Wie kann ich mir selbst Gutes tun, um dann wieder die Mutter oder der Vater, die Partnerin oder der Partner zu sein, die oder der ich sein möchte?

Der zweite Schritt ist hier die klare Kommunikation: Rede mit deinem Partner darüber. Formuliere deinen Wunsch klar und spreche mit ihm darüber, dass du dir mehr Raum für dich nehmen willst.
Als wir angefangen haben, Räume für uns selbst in unseren Alltag einzubauen, kamen oft Bedenken von einem von uns wie: „Unsere tägliche To-do-Liste ist jetzt schon nicht zu schaffen, wie soll ich da noch Zeit für mich einbauen?“

Uns ist klar geworden: Ohne Selbstfürsorge geht es nicht. Mir hilft da immer das Bild aus dem wunderbaren Gedicht von Bernhard von Clairvaux: Die Schale der Liebe. Nur, wenn wir so gefüllt sind, dass wir überfließen wie eine Schale voller Wasser, können wir unsere Liebe und unsere Kraft weitergeben. Da sind wir wieder beim Thema Erlaubnis: Erlaube dir, deine Schale aufzufüllen. Hierzu reichen manchmal schon ein paar Minuten täglich.

Der dritte Schritt ist: Umsetzung! Schnappt euch den Kalender und tragt euch Alleinzeiten ein. Und plötzlich merkst du, dass der Alltag leichter wird, wenn du lernst, gut für dich selbst zu sorgen! Du erlebst dich viel gelassener mit den Kindern. Und die lange To-do-Liste kannst du ebenfalls besser annehmen, weil du spürst, dass du immer genug Kraft haben wirst, um alle Herausforderungen des Alltags zu bestehen.

3. Zeit für Beziehung – kleine Oasen im Alltag schaffen

Es ist wichtig für die Beziehung als Paar, dass auch sie Raum hat, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen. Die Frage ist also nicht, ob wir Zeit zu zweit haben, sondern wie. Deshalb habe ich mir im Folgenden Fragen überlegt, die helfen können, auch in der Kleinkindphase Paarzeiten zu etablieren:

  • Wie können wir ohne Druck und so, dass es sich für uns leicht und entspannt anfühlt, Zeiten für kleine Paar-Oasen im Alltag freihalten?
  • Was dient uns jetzt gerade mehr auf unserem Weg – viel Paarzeit? Oder lieber mehr Zeit allein?
  • Welche Aufgaben können wir auch anderen Menschen übergeben, sodass dadurch neue Freiräume für uns entstehen?

Und hier kommen noch drei Ideen für Mikro-Oasen! Schnell und einfach umgesetzt – Babysitter wird nicht benötigt!

  • Stellt den Wecker auf 5 Uhr morgens. Zieht eure Kleidung aus und kuschelt Haut an Haut. Spürt die Verbindung! Da muss gar kein Sex heraus entstehen – sondern es geht erst einmal darum, in Verbindung zu sein. In dieser Atmosphäre können auch die schönsten Gespräche entstehen. Probiert’s mal aus! PS: Der Jüngste wird auch in aller Frühe wach? Na, dann kuschelt er halt mit. Was für eine schöne Erinnerung ans Wochenbett, als ihr auch Haut an Haut mit ihm gekuschelt habt!
  • Ihr arbeitet im Home-Office? Macht ein Mittagessen für die Hand und verbringt die Mittagspause draußen! Nehmt euer Kind in die Trage und macht einen Spaziergang. Redet nicht über organisatorisches Kleinklein, sondern fragt bewusst und interessiert: „Wie geht es dir gerade?“
  • Nehmt euch einen späten Nachmittag Zeit für ein Familienpicknick: im Sommer im Garten oder im Park, im Winter am gemütlichsten Ort in der Wohnung. Dann setzt ihr euch allesamt auf den Boden und esst gemeinsam. In dieser entspannten Atmosphäre schwärmen die Kinder meistens nach dem Essen zum Spielen aus oder kuscheln sich einfach an, sodass ihr entspannt reden könnt.

4. Streiten & vergeben

Wie fühlen sich Konflikte für euch an? Wie seid ihr geprägt? Und wie freigiebig seid ihr beim Thema Vergebung? Die Antwort auf diese Fragen beeinflusst maßgeblich eure aktuelle Konfliktkultur. Kaum ein Paar streitet gern. Doch die gute Nachricht lautet: Konflikte gehören dazu! Und wir können lernen, sie zu lösen. Mein Mann und ich sind das beste Beispiel. Am Anfang unserer Beziehung dachten wir, wir würden niemals konstruktiv streiten lernen. Während ich alles ausdiskutieren musste, wollte er als Harmonietyp so schnell wie möglich raus aus dem Konfliktgespräch. Bevor eine Lösung für den akuten Konflikt in Sicht war, haben wir uns schon darüber gestritten, wie wir streiten.

Mittlerweile schaffen wir es zu 90 Prozent, unsere Konflikte zu lösen. Und wenn wir das können, könnt ihr das auch. Ich kann jetzt aus ganzem Herzen sagen: Konflikte sind wichtig und sind Chancen, um zu wachsen! Konflikte eskalieren häufig dann, wenn ein Anteil in uns durch die aktuelle Situation an eine schmerzhafte Erfahrung aus der Vergangenheit erinnert wird. Wenn wir bereit sind, unsere eigenen alten Verletzungen anzuschauen, werden Konflikte konstruktiv. Es ist ein toller Erfolg, wenn du in einem Konflikt selbst erkennst, dass du gerade in einen alten Schmerz gerutscht bist. Die Basis für einen solchen Moment sind die Bausteine 1 und 2: Annehmen, dass dieser Schmerz gerade da ist, und so gut wie möglich für dich sorgen.

Der nächste Schritt ist erst dran, wenn die hochgekochten Gemüter sich wieder beruhigt haben. Vergib deinem Partner oder deiner Partnerin freigiebig und vor allem auch dir selbst. Für mich als Christin hilft die Gewissheit, dass Gott mir vergibt. Immer wieder. Er liebt mich und nimmt mich an. Also lasst uns täglich sagen und signalisieren: „Ich vergebe dir.“

5. Gemeinsam träumen

Dieser Baustein hat unglaublich viel Potenzial, den Alltag zu durchbrechen und über das Chaos hinweg Verbindung zu schaffen. Fragt euch regelmäßig: Was ist unsere gemeinsame Perspektive? Was ist noch alles möglich hinter dem Tellerrand des Alltags? Worauf leben wir gemeinsam hin? Es lohnt sich, die Paar-Oasenzeiten zum gemeinsamen Träumen zu nutzen und auch mal einen Träumertag einzulegen! Das heißt, dass ihr beide euch einen Tag Zeit nehmt und gemeinsam so viel wie möglich von euren „Wie schön wäre es, wenn wir …“-Ideen da hineinpackt. Die Energie, die ihr daraus mitnehmt, wird euch durch die nächste Durststrecke tragen und euch inspirieren, viel öfter zu fragen: Was tut uns in unserem Alltag gut? Wie wollen wir eigentlich leben? Und wovon können wir jetzt sofort noch mehr in unseren Alltag bringen?

Ja, es gibt immer wieder diese Phasen, in denen wir das Gefühl haben, dass alles über uns hereinbricht und wir nur noch reagieren können. Doch wir haben immer die Möglichkeit, als Individuen und als Paar gemeinsam zu entscheiden, wie wir darauf reagieren wollen. Ich wünsche euch viel Kreativität und gute Ideen, die genau zu euch und eurem Alltag passen.

Isabelle Bartels ist Pädagogin und familylab-Familienberaterin, lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ostwestfalen und bloggt unter isabellebartels.com.

Soziologieprofessor sagt: Diese drei Dinge machen eine gesunde Beziehung aus

Laut Aaron Antonovsky braucht es drei Stellschrauben für eine gute Partnerschaft. Paarberaterin Ira Schneider sagt, wie sie sich in der Praxis umsetzen lassen.

Mitten im Alltag zwischen all den Aufgaben bleibt die Partnerschaft die klitzekleinste Zelle unserer Gesellschaft. Wenn diese kleine feine Zelle gesund bleibt und munter ist, dann ist das Resultat eine pure Freude. Paare in gesunden Partnerschaften schöpfen aus einer besonderen Kraftquelle. Ich finde es spannend, dass es beispielsweise nachgewiesen ist, dass sie seltener krank werden oder auch beruflich erfolgreicher sind. Doch wie kann eine solche nachhaltig blühende und gesunde Partnerschaft gestaltet werden? Wie gesund ist unsere Beziehung? An welchen Stellschrauben können wir drehen, wenn es nicht so gut läuft?

Antanovskys Theorie

Ich stelle mir die Fragen für meine eigene Partnerschaft, aber auch im Kontext unserer Paarberaterarbeit. Vor allem aber stelle ich sie mir immer wieder neu. Von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt sind andere Herangehensweisen passend. Vor einigen Jahren bin ich auf Aaron Antonovsky, einen Gesundheitssoziologen aus dem 20. Jahrhundert, gestoßen. Immer wieder entdecke ich, wie sich seine Definition von Gesundheit auf die unterschiedlichsten Paardynamiken übertragen lässt. Er behauptet, dass für die Gesundheit ein Dreiklang bestehend aus Bewältigbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit notwendig sei.

Wie können wir unseren Alltag bewältigen? Wie können wir einander verstehen? Wie können wir tiefe Sinnhaftigkeit erleben? Für uns bedeutet das konkret: Wie können uns diese Parameter helfen, Bedürfnissen nach Spaß und Abenteuer, nach emotionaler Nähe und gegenseitiger Anteilnahme und gemeinsamer Ausrichtung zu begegnen? Hier geht es vor allem um die Prophylaxe, also darum, gesund zu bleiben. Seine Definition scheint mir sehr einleuchtend, da er Komponenten nennt, die wir unkompliziert innerhalb unserer Partnerschaften einbauen können und die uns zugleich einen bunten Gestaltungsspielraum eröffnen.

1. Alltag muss schaffbar bleiben

Den Alltag zu regeln – das bestimmt bei den allermeisten Paaren sowieso die Kommunikation: Wie lange dauert deine Sitzung? Wann holst du die Kleine ab? Brauchen wir noch Bananen? Es gibt tausend Dinge zu klären. Sind wir in der Lage, unseren Alltag zu bewältigen? Die Frage mag banal klingen, denn wenn es klappt, dann denken wir gar nicht groß darüber nach. Wenn es allerdings nicht gelingt, die täglichen Anforderungen des Lebens gemeinsam zu meistern, dann ist das eine stetige Quelle der Unzufriedenheit und ruft zahlreiche Konflikte hervor: Ich hatte dich doch gebeten … Warum kannst du nicht einmal …? Siehst du denn nicht, dass ich fürchterlich im Stress bin?

Die Partnerschaft kann schweren Schaden nehmen, wenn Lasten ungleich verteilt sind, man den Eindruck hat, sich nicht aufeinander verlassen zu können oder einer von beiden sich dauerhaft überfordert fühlt. Deshalb ist es so wichtig, hier miteinander im Gespräch zu bleiben: Beim anderen nachfragen, sich gegenseitig unterstützen, einander überraschen mit kleinen Gesten der Zuwendung, einander trösten, sich austauschen und etwas von den alltäglichen Erlebnissen preisgeben. Statt sich von dem tückischen Alltag überwältigen zu lassen, können wir ihn durch unsere tiefe Verbindung und unser Füreinander-da-Sein zusammen bewältigen. So viele Herausforderungen zerren an uns. Auf der Arbeit, in der Ausbildung, in der Kindererziehung oder auch in der Familie.

In der Praxis: Eheabend

Bei uns sieht das ganz praktisch so aus, dass wir einander von unseren täglichen Erlebnissen berichten und gemeinsam unsere Verpflichtungen wie Haushalt, Termine, Einkauf besprechen. Zu Beginn unserer Beziehung fand vor allem die Anteilnahme über das täglich Erlebte völlig automatisch statt, da wir uns extra verabredeten, um einander zu sehen und uns auszutauschen. Doch als wir zusammenzogen, merkten wir schnell: Jeder braucht erst mal Zeit für sich und das ist gut und okay. Dann müssen wir uns nun gemeinsam in der Wohnung verabreden. Wir wollen up to date in den Prozessen und Erlebnissen des anderen sein. Dabei helfen uns folgende tägliche Fragen, gemeinsam den Alltag zu bewältigen: Wie war dein Tag? Wie geht es dir? Welche Absprachen stehen noch an?

Um im Alltag sowohl mit den Absprachen zufrieden zu sein als auch emotional verbunden zu sein, haben wir seit einigen Jahren einen festen Eheabend und einen festen Abend für Terminabsprachen. Genau an diesen Stellen ist Raum, die genannten Bedürfnisse zu äußern, wie zum Beispiel Spaß und Abenteuer bewusst einzubauen, in den Kalender zu schauen und zu überlegen: Wo und wann könnten wir einen Ausflug machen?

2. Wir müssen einander verstehen

In all unseren Bemühungen, den Alltag gemeinsam zu meistern, werden wir an Grenzen stoßen. Eine Grenze ist unsere Unterschiedlichkeit. Wir verstehen oft nicht, warum unser Partner Dinge auf diese Weise tut oder auch nicht tut. Statt dem anderen unfaire Motive zu unterstellen oder schnell mit mehr oder minder gutem Rat beizustehen, ist es hilfreich, nach dem Wozu und nach dem Warum zu fragen. Warum handelt sie so? Kennt er oder sie diese Gewohnheiten woandersher? Helfen ihm oder ihr diese Handlungen in anderen Momenten weiter? Die Handlung als Strategie zu erfassen, ist der Schlüssel. Was braucht er eigentlich? Was für ein Bedürfnis steckt hinter der Handlung? Nachfragen lohnt sich, denn häufig steckt mehr dahinter, als wir denken. Unsere Erinnerungen und Erfahrungen prägen und begleiten uns und finden Ausdruck in unserem Alltag.

In der Praxis: Das Kuchen-Beispiel

Hier ein kleines Beispiel: Mein Mann und ich geraten immer wieder aneinander, wenn es ums Essen geht. Ihm ist wichtig, dass ein Stück Kuchen mehr oder weniger genau geteilt wird. Es geht für ihn um Gerechtigkeit. Zu Hause wurde unter den Geschwistern immer fair geteilt. Ich hingegen öffne den Kühlschrank und bediene mich an dem, was da ist. Es würde mich nicht stören, wenn er das auch tun würde. Dann kauft man halt einen neuen Kuchen.

Kein großes Ding, aber durchaus spannend, wenn man mal genauer draufschaut. Es bedurfte einiger Gespräche, um zum Kern des Problems durchzudringen. Meine Rücksichtslosigkeit fand mein Mann oftmals ärgerlich. Dass ich ihm auch einfach das ganze Stück überlassen konnte, hat er wiederum als großzügig empfunden. Für mich galt lange die Einstellung: Was weg ist, ist weg. So kannte ich es von zu Hause. Inzwischen verstehen wir den anderen und können schmunzeln. Mein Bruder kam zur Welt, da war ich 16. Mein Mann hingegen ist mit zwei Schwestern großgeworden. Beide Erfahrungen des Aufwachsens gingen mit verschiedenen oder in meinem Fall vielmehr mit wenigen Regeln einher. In unseren Elternhäusern herrschten unterschiedliche Kulturen zum Umgang mit Essen und vor allem zum Teilen von Essen. Das musste ich erst lernen und lerne es immer noch.

3. Die Beziehung muss Sinn haben

Aber in einer Beziehung geht es nicht nur darum, den Alltag zu meistern und einander zu verstehen – mindestens genauso wichtig für unsere seelische Gesundheit ist es, dass wir unser Tun und Sein als sinnhaft erleben. Gemeinsam zu träumen, tiefe Wünsche auszusprechen und in die Zukunft zu schauen, verschafft ein Gefühl von Sinnhaftigkeit. Wir schauen etwas Größerem als unserem Alltag entgegen. Wir begreifen tiefer, weshalb wir die Dinge tun, die wir tun, und richten uns gemeinsam aus.

In der Praxis: Wochenende mit Realitätsabgleich

Da für uns die Sinnhaftigkeit einen besonders hohen Stellenwert hat, haben wir dafür ein kleines Ritual entwickelt. Wir nehmen uns regelmäßig eine Auszeit, fahren übers Wochenende weg und schauen auf unser Leben. Es ist eine Zeit, in der wir das, was wir täglich tun, mit unseren Zielen, Träumen und Wünschen abgleichen. Es ist beispielsweise ein Traum von uns, immer wieder Menschen mit Gottes Liebe zu erreichen, ihnen zu zeigen, dass Gott in jedem Mangel an ihrer Seite ist. In unserer Auszeit fragen wir uns, welche Rolle dieser Traum in unserem Alltag spielt. Wo sind wir da einzeln und als Paar unterwegs? Wer könnte unsere Unterstützung brauchen? Sich das bewusst zu machen, verändert wieder unsere Gestaltung des Alltags und räumt Zeit ein für das, was uns wichtig ist.

20 Minuten reichen

Ich bin überzeugt, dass die drei Parameter von Antonovsky eine Menge darüber aussagen, wie wir gemeinsam unterwegs sind. Die Bewältigbarkeit richtet dabei den Blick auf die tagtäglichen Erlebnisse. Die Verstehbarkeit versucht das Handeln und Sein des anderen anzunehmen, zu erforschen und auszuhalten, dass es anders ist als das eigene. Die Verstehbarkeit erinnert uns auch daran, dass wir einen langen Lebensabschnitt ohne unseren Partner durchlebt haben. Und die Sinnhaftigkeit träumt und malt ein Bild der Zukunft.

Was benötigt ihr gerade? Ist einfach ein intensiverer Austausch über das Alltagsgeschehen dran? Tut es euch vielleicht gut, euch über Vergangenes und Aspekte aus der Herkunftsfamilie auszutauschen? Oder wünscht ihr euch neue gemeinsame Träume und Visionen für die Zukunft? Denn zack, da ist er, der gute, liebe, nervige, mühsame, manchmal bunte und gemütliche, manchmal nicht vor To-dos enden wollende Alltag. Aber eine kleine Frage und 20 Minuten Zeit zum Durchatmen können schon genügen. Und plötzlich sind wir überrascht von den Antworten unseres Gegenübers und erleben wieder ein abenteuerliches kurzes Gespräch, emotionale Nähe oder merken, wie unser Zusammensein ein gemeinsames Ziel verfolgt.

Ira Schneider ist Lehrerin für Englisch und Theater und Paarberaterin (Euer-Paarcoaching@web.de). In ihrer Freizeit ist sie gerne kreativ und hat einen kleinen Onlineshop unter dem Label murmel.design. Unter „ira.schneider_“ ist sie auf Instagram zu finden. 

Seismograph der Ehe

Kann eine Partnerschaft florieren, wenn im Bett nicht mehr viel geht? Oder umgekehrt: Kann Sex eine bröckelnde Ehe zusammenhalten? Und was können Paare tun, wenn der Wunsch nach Sex bei einem weniger ausgeprägt ist als beim anderen? Christof Klenk bat den Therapeuten Dr. Michael Hübner um Antworten.

Es kann eine Ehe beflügeln, wenn es im Bett gut läuft. Umgekehrt profitiert das eheliche Sexleben davon, wenn die Ehepartner gut miteinander unterwegs sind. Würdest du dem zustimmen?
Grundsätzlich ja. Beziehung und Sex gehören zusammen. Man kann sogar sagen, dass die Zufriedenheit in der sexuellen Beziehung seismographisch die Ehe widerspiegelt. Anders ausgedrückt: Wo Paare gut miteinander kommunizieren und diese Ebene für beide schön ist, werden beide in der Regel auch guten Sex haben. Ausnahmen sind allerdings beispielsweise körperlich-medizinische Störungen, die das Sexualleben beeinflussen können, oder auch Missbrauchserfahrungen.

Gegenseitig zur Masturbation ermutigen

Gleichzeitig scheint Sex durchaus auch in guten Ehen ein heikles Thema zu sein. Woran könnte das liegen?
Häufig ist es ein Problem, dass er öfter Sex möchte als sie oder umgekehrt. Man hat festgestellt, dass der Höhepunkt der Libido im männlichen Lebenszyklus bei etwa zwanzig Jahren liegt, der der Frau erst etwa bei vierzig Lebensjahren. Danach geht sie ganz langsam zurück. Als Theologe glaube ich, dass Gott den Sex zur Lust, zum Spaß für beide geschaffen hat. Ich rate, Sex eher zu gestalten als zu problematisieren.

Und wie könnte das Gestalten aussehen, wenn ein Teil häufiger will als der andere? Zurückweisen, weil man keine Lust hat, ist nicht schön. Vom anderen zurückgewiesen werden, ist auch nicht schön.
Das ist durchaus eine typische Situation bei vielen Paaren. Wie so oft, gilt auch hier: Die beiden sollten offen miteinander darüber reden. Manche lernen es in der Sexualberatung. Sie können ihre sexuelle Begegnung unterschiedlich gestalten, wenn sie sich gegenseitig liebevoll beschenken wollen. Kreative Möglichkeiten gibt es genug: Sie können sich gegenseitig zur Masturbation ermutigen – freilich ohne Porno, wie heute oft üblich –, oder sie befriedigen sich gegenseitig und führen sich so zum Orgasmus. Auch wenn zum Beispiel die Frau einmal gar nicht zum Orgasmus kommen möchte – es ist ihr vielleicht im Moment „zu aufwendig“ –, so kann sie sich doch körperlich ihrem Mann zum Glied-Scheide-Verkehr hingeben. Oder beide versprechen sich am nächsten Tag zu einem gemeinsamen Date, einem Fest, das vorbereitet ist.

Anders anziehend

Nach zehn oder zwanzig Jahren Ehe kennt man die Vorlieben des anderen und ist vertraut miteinander. Das ist sicher ein Vorteil, aber eine gewisse Routine kann auch langweilig werden.
Geht man von zwei sexuellen Begegnungen pro Woche aus, dann hat ein Paar in zwanzig Jahren ungefähr zweitausend Mal Sex miteinander. Da kann schon mal eine gewisse Routine einkehren, die beide eher als langweilig empfinden.

Ist das das Schicksal von langjährigen Ehen oder kann man dem entgegenwirken?
Liebe und Lust zeigen sich nach Jahrzehnten anders als am Anfang. Das Empfinden für körperliche Attraktivität tritt vielleicht zurück. An ihrer Stelle werden andere Qualitäten des Partners, der Partnerin sexuell anziehend: Vertrautheit und Wärme, Genussfähigkeit, Sinnlichkeit, Zeit zum Spiel, Verwöhnaktionen … Für sie mag es nicht mehr nur seine Sportlichkeit oder der knackige Hintern sein. Sie mag beispielsweise empfinden: Wenn ich ihn mit Abstand reden höre, seine entschlossenen Entscheidungen und den liebevollen Umgang mit den Kindern und seine Zärtlichkeit sehe, dann will ich seine Nähe. Für ihn spielt nicht mehr die Form des Busens eine große Rolle, dafür macht es ihn vielleicht an, ihre geschmeidigen Bewegungen auf dem Fahrrad zu sehen, während er hinter ihr fährt, oder wie sie musiziert … Kreativität im sexuellen Spiel ist angesagt. Manchmal kommt in dieser Zeit der „Appetit auch erst beim Essen“: Ein schöner Sexabend kann wie ein kleines Fest gestaltet werden. Schöne Musik, ein Gläschen Wein, Bodylotion, Duftkerze und angenehmes Licht – das alles ist nicht wie „Fastfood“ und die Vorfreude und Erregung kann steigen.

Sex nicht totschweigen

Wenn das alles nicht mehr hilft, ziehen manche Paare einen Schlussstrich unter das Thema. Nach dem Motto: Bei uns läuft nicht mehr viel, aber es gibt Wichtigeres.
Überarbeitung, Burnout, aber auch ungeklärte Themen und Ablenkungen können die sexuelle Erregungskurve stören und beispielsweise die männliche Erektion beeinflussen. Selbstverständlich sind dies schambehaftete, heikle Themen. Warum? Nicht jeder kann über sexuelle Themen frei reden. Manchmal auch deshalb, weil gerade auch in guten Ehen einer den anderen oder auch sich selbst schonen möchte und das Gegebene hinnimmt. Dies alles kann sich aber früher oder später auf die Beziehungsqualität legen. Paare sollten das aber nicht ignorieren und das Thema Sex nicht unterschätzen. Die Schamschwelle zu überwinden und qualifizierte Hilfe zu suchen, ist jetzt angesagt. Es gibt sehr gute Seelsorger, christliche Berater, Therapeuten oder auch Ärzte und hilfreiche Medikamente, und die Prognose ist in dem Bereich gut.

Es gibt Paare, die keinen Sex miteinander haben, aber nach eigenen Angaben glücklich miteinander sind, vielleicht sogar glücklicher, weil das Feld der Sexualität immer mit Konflikten verbunden war.
Das kann ich mir kaum vorstellen. Wenn sie es aber beide ehrlich sagen: wieso nicht? Dann sollte niemand ein Problem daraus machen.

Ich hätte die Befürchtung, dass dann doch mal irgendjemand kommt, der das Bedürfnis nach Intimität bei einem von beiden weckt.
Da gebe ich dir Recht. Ich würde diesem Paar deshalb ans Herz legen, dass sie über dieses Thema offen und kontinuierlich im Gespräch bleiben. Auch darüber, ob sie ihre sexuellen Bedürfnisse auf andere Weise befriedigen. Manchmal besteht ein ausgesprochener oder unausgesprochener Kontrakt, mit dem sie sich gegenseitig die Freiheit dazu geben. Sich aber beispielsweise anhand von Pornos zu befriedigen, ist keine gute Lösung. Keinen Sex miteinander haben sollte nicht heißen: Wir reden nicht mehr drüber.

Körperlichkeit alleine reicht nicht

Mal von der anderen Seite: Eine Frau schrieb uns, dass ihre Ehe in einem schlechten Zustand war, weil sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Auf körperlicher Ebene lief es aber trotzdem noch gut mit ihrem Mann. Das habe sie sogar ein Stück weit zusammengehalten. Ist das für dich nachvollziehbar?
Da möchte ich korrigieren: Sie hatte sich in einen anderen verliebt, weil ihre Ehe in einem schlechten Zustand war. Denn wer verliebt ist, verliebt sich nicht anderweitig. Und die Frage ist eigentlich: Warum liebte sie ihren Mann nicht mehr und was hatte sie dafür getan, ihn zu lieben? Dass nur die Körperlichkeit noch zusammenhält, das gibt es tatsächlich, ist aber keine Lösung. Ihr hat anscheinend der andere Mann etwas gegeben, was sie bei ihrem nicht bekommen konnte. Darüber hätte ich mit ihnen in meiner Praxis gerne geredet. Sie befinden sich in einer notvollen fürchterlichen Sackgasse, die sich in der Regel bald psychisch negativ auswirkt.

Kann Sex zusammenhalten, was eigentlich auseinanderdriftet?
Das mag bei manchen Paaren so sein. Die amerikanische Soziologin Judith Wallerstein beschreibt Ehetypen so: Neben der traditionell geführten und der partnerschaftlichen Ehe gibt es die Ehe als Zuflucht, aber eben auch die „leidenschaftliche Ehe“, um die es hier geht. In ihr spielt die sexuelle Lust von beiden Seiten eine sehr große Rolle. Das birgt natürlich auch Gefahren. Wenn einzig sexuelle Lust zwischen beiden der Kitt ist, der sie zusammenhält, kann dies beispielsweise dann zur Gefahr für die Beziehung werden, wenn mindestens einer von beiden – aus welchen Gründen und wie lange auch immer – Sex nicht möchte oder nicht haben kann.

Wöchentliches Ehemeeting

Erotische Anziehung scheint davon zu leben, dass der Partner/die Partnerin anders ist als ich. Ist zu viel Harmonie und Seelenverwandtschaft vielleicht gar nicht so förderlich?
Ja, das Fremde ist das Attraktive. Wenn wir das Fremde im Gewohnten immer wieder zu entdecken versuchen – unser Gegenüber verändert sich ja auch immer wieder –, bleibt die Beziehung spannender. Im Gewusel des Alltags fallen uns die Veränderungs- und Entwicklungsprozesse oft gar nicht so auf. Meine Frau und ich – wir machen Paaren Mut zu einem wöchentlichen „Ehemeeting“. Das ist ein wichtiger Punkt in unserem Buch. Bei so einem Meeting kann es dann auch darum gehen, über Sexualität zu reden. Wichtig ist, miteinander im Gespräch zu bleiben – und das besonders in bestimmten Lebensphasen, wenn die gemeinsame Zeit knapp bemessen ist, weil die familiäre Situation oder der Beruf sehr viel abverlangt.

Dr. (theol.) Michael Hübner ist Gründer und Dozent der Stiftung Therapeutische Seelsorge und leitet eine Therapiepraxis in Neuendettelsau. Mit seiner Frau Utina hat er das Buch „Der Kick für die Partnerschaft – Vitaminkur für das Ehegespräch“ geschrieben.

Wie ehrlich sollten Partner miteinander sein? Das sagen die Experten

Ist die kleine Notlüge in der Beziehung erlaubt? Wann Ehrlichkeit zwingend notwendig ist und wann nicht, darauf gibt es keine leichte Antwort.

Paul [Name von der Redaktion geändert] hat seit mehreren Wochen eine Affäre. Seine Ehefrau und seine Familie liebt er, so sagt er. Sexuell fehlt ihm seit Jahren etwas in seiner Ehe. Trennen will er sich auf keinen Fall. Denn seine Familie steht für Paul an erster Stelle und er fühlt sich moralisch verpflichtet, zu seinem Ehegelübde zu stehen. Ehrlichkeit ist für ihn keine Option. Seine sexuellen Bedürfnisse permanent hintanstellen kann er aber auch nicht.

Auch Clara [Name von der Redaktion geändert] hat ein Geheimnis. Sie verschweigt ihrem Mann, dass ihre Konten jeden Monat überzogen sind, sie überall Schulden hat und ihre Kreditkarte glüht. Clara kauft Kleidung. Ihr Selbstwertgefühl ist nicht sehr hoch und sie kompensiert diesen Mangel mit einem kurzen Glücksgefühl, wenn sie eine neue Tüte mit Kleidung in ihren Händen trägt. Sie versteckt die neuen Sachen vor ihrem Mann. So lange, bis sie ihm ohne zu lügen sagen kann, dass ihre angeblich neuen Sachen doch schon etwas älter sind.

Die Frage nach Ehrlichkeit stellt sich in einer Beziehung oft erst, wenn einer oder beide Partner sich unehrlich verhalten. Wird die Beziehung die Wahrheit aushalten? Oder kann sie scheitern an Lüge und Verschwiegenheit? Wie Menschen diese Frage für sich beantworten, ist entscheidend dafür, wie offen sie gegenüber der Partnerin oder dem Partner sind.

Verletzende Wahrheiten besser verschweigen?

Was, wenn man genau weiß, dass die eigene Ehrlichkeit verletzend sein wird? Gerade bei Paul würde seine Ehrlichkeit sehr viel Schmerz auslösen. Es ist jedoch illusorisch, zu denken, Verletzungen in der Partnerschaft ließen sich vermeiden. „Dinge nicht anzusprechen kann genauso verletzend sein wie sie auszusprechen“, sagt Veronika Schmidt, klinische Sexologin und systemische Beraterin. Letztlich traue man dann dem anderen und der Beziehung Herausforderungen nicht zu. Durch Frustrationen und Belastungen würden wir stärker, die Beziehung brauche sie. Könne eine Beziehung das nicht aushalten, könne sie letztlich vielleicht auch langfristig nicht bestehen. „Wenn man ehrlich ist, so sollte man sich bewusst sein, dass der eigenen Ehrlichkeit ein schmerzhafter Weg folgt, den man mitzugehen bereit sein sollte. Ist man das nicht, könnte Schweigen vielleicht sogar angebrachter sein“, ergänzt die Beraterin.

Diesem Ansatz widerspricht Dr. Tatiana Gorbacheva, Professorin für Psychologie an der LEE University in Cleveland, Tennessee. Sie plädiert für ehrliche Beziehungen, weil es darin keine Zweideutigkeiten und dadurch hervortretenden Stress gibt. Sie ist der Meinung, dass das Eingestehen eines Fehlverhaltens, die Reue und die Konfrontation mit den Folgen der Verletzung des Anderen helfen kann, einander näherzukommen. „Im Allgemeinen sind Geheimnisse schädlich für Beziehungen und Menschen“, betont Dr. Tatiana Gorbacheva. Sie entzweiten Ehepartner und führten zu einer ungesunden Dynamik, weil einer etwas vor dem anderen verbergen müsse. Geheimnisse seien oft mit Scham verbunden. „Und: Man sagt auch ‚Du bist so krank, wie deine Geheimnisse‘.“

Paare sollten unveränderliche Fehler nicht ansprechen

Clara hat eine Schwäche fürs Shoppen. An ihrer Schwäche kann sie arbeiten. Oftmals aber ist es ähnlich wie bei Übergewicht, Rauchen, Zuckersucht, Bequemlichkeit, mangelndem Selbstvertrauen oder Unpünktlichkeit: Es sind Gewohnheiten, die sich in der eigenen Persönlichkeit manifestiert haben und die sich aus eigener Kraft kaum überwinden und verändern lassen.

Manche Makel lassen sich außerdem gar nicht ändern. Dazu können gehören: schlechter Orientierungssinn, Nervosität vor fremden Menschen, körperliche Schönheitsfehler und noch vieles mehr. Solch einen Makel dem Partner vorzuhalten, ist nicht nützlich, meint der Psychotherapeut Jörg Berger. Besser sei es, einen Weg zu finden, um den Partner anzunehmen. „Auch dass man darum ringt, muss der Partner nicht unbedingt erfahren. Denn wenn es sich bei seinem Makel um einen wunden Punkt handelt, könnte dies die Sicherheit in der Beziehung und das Gefühl des Geliebtseins erschüttern.“

Zwanghafte Ehrlichkeit

Wenn sich ein Paar dazu entscheidet, miteinander ehrlich alles zu teilen, müssen sie sich bewusst machen, dass das Leben zu kurz und zeitlich begrenzt ist, um tatsächlich alles miteinander teilen zu wollen. Auch gibt es eine Form der sogenannten „tyrannischen Intimität“, die beinah zwanghaft vom Gegenüber fordert, jeden Gedanken offenzulegen. „Man will ständig in den Kopf, die Gedanken und Gefühle des anderen eindringen. Das hat letztlich nichts mit Ehrlichkeit zu tun, sondern mit Kontrolle“, sagt Veronika Schmidt. Aus dieser Kontrolle resultiert oft, dass der oder die Andere noch eher versuchen wird, Dinge zu verheimlichen, weil die Person sich nicht vollständig ausliefern will.

Der Psychotherapeut Jörg Berger plädiert ebenfalls dafür, Respekt vor dem Geheimnis des Partners oder der Partnerin zu haben und nicht zu sehr in diese Intimsphäre einzudringen. „Es ist ein Geschenk, wenn Partner sich einander öffnen, sich in ihren tiefen Gedanken und Gefühlen mitteilen können. Doch Menschen tragen ihre schwersten Kämpfe in einer existenziellen Einsamkeit aus, an Orten, zu denen kein anderer Zutritt findet“, schreibt er in einem Artikel für die Zeitschrift Family: „Wenn man nach diesen Kämpfen in ein freundliches Zuhause tritt und eine Umarmung spürt, dann ist das Glück.“

Paare sollten sich grundsätzliche Fragen stellen

Die grundsätzliche Frage, die sich ein Paar laut Veronika Schmidt gemeinsam stellen sollte, ist: Wie ehrlich wollen wir sein? Ist das etwas, was wir gemeinsam als Wert festlegen wollen? Oder: Warum können wir voreinander nicht ehrlich sein? Und: Habe ich mich genug selbst reflektiert, um überhaupt ehrlich sein zu können? Die Antworten auf diese Fragen können Paare auf eine zukunftsorientierte und tragende Diskussionsebene bringen.

Von Priska Lachmann

Geliebte Nervensäge

Kann man sich ein Leben lang faszinierend finden trotz all dieser wahnsinnig nervigen Eigenschaften, die wir alle mit uns herumtragen? Eigentlich nicht, meint Steffi Diekmann – und doch kann die Faszination immer wieder neu aufblühen.

Ich bin hellwach. Wie immer beginnt mein Tag früh und mein Mann schläft. Sein Schnarchen macht mich sauer. Wie kann er so pennen? Klar gönne ich es ihm. Aber wir haben eine lange Liste an Kleinigkeiten zu bewältigen heute. Und er … ist tiefenentspannt.

Als Jugendliche fand ich an Henrik so faszinierend, dass er klar und gelassen wirkte. Klar in seinen Aussagen, Handlungen und Haltungen und sehr entspannt mit Kindern, desaströsen Chorproben und hitzigen Diskussionen. Und mit mir. Meine Emotionen sind rau, oft ungefiltert und meine Wahrheit ist ganz lange wahr – bis Henrik mir hilft, den Horizont zu weiten.
Diese Faszination hatte er für meine Vielfältigkeit, Entschlossenheit und Kreativität auch. Gute Voraussetzungen, um sich ein Leben lang neu zu entdecken, oder?
Am Beginn unserer Ehe haben wir uns oft über den kühlen Ton mancher Ehepaare gewundert, die verloren gegangene Faszination und wachsende Lieblosigkeit. Während ich mich nun durch meinen schlummernden Mann mit den Tagesaufgaben allein gelassen fühle, stelle ich fest: same here. Die Erkenntnis, dass ich ihm nicht mal ein Ausschlafen gönne, trifft mich nicht zum ersten Mal.

ÜBERFORDERT DURCH DEN FAMILIENALLTAG

Als nach und nach Kinder in unser Leben traten, ließ meine Faszination für seine eindeutigen Ansagen nach und wich immer öfter meiner Bitte um mehr Einfühlungsvermögen. Aus meinem bezaubernden Menschenflüsterer wurde ein polternder Vater, wenn der Apfelsaft zum wiederholten Mal umfiel. Seine Klarheit, die ich einordnen konnte, empfanden Freunde oft als Arroganz oder Lieblosigkeit. Gleichzeitig erinnere ich mich, dass in dieser Phase immer mehr Rückmeldungen zu meinem „alltäglichen Drama“ von ihm kamen. Meine Überforderung, meine Gefühle und Wahrnehmungen zu sortieren, wuchs und wurde sichtbarer. Wir hatten auf der einen Seite das Glück, Familie zu werden, das verlangte uns auf der anderen Seite aber auch viel ab.

Was am Anfang gülden schimmerte, blendete uns nun gegenseitig schmerzhaft, wenn die eigenen Kräfte am Limit waren. Durch einen von Bronchitis begleiteten Kleinkindalltag, finanzielle Herausforderungen, Schlafdefizit vom Feinsten, Streit in der Kirchengemeinde und veränderte Beziehungen zu Eltern und Familie sehnten wir uns nach einem Partner, der das Zuhause-Gefühl bedingungslos ausstrahlt. Ein Partner, der sich auf mich freut und mir zeigt, wie willkommen ich bin. Die wachsende Anspannung sorgte jedoch dafür, dass ich den Reaktionen meines Partners immer kritischer gegenüberstand. Das reibungslose Prinzip unserer Anziehungskraft wurde erschüttert. Wir nervten uns.

EIN GEHÖRIGER SCHRECKEN

Dabei hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Als wir in einem verregneten Low Budget Campingurlaub ankamen, legte sich Henrik erst mal fiebernd und schlafend hin. Ich bebte innerlich vor Neid und Empörung. Wie konnte er mich so mit dem ganzen Chaos alleine lassen? Ausladen, auspacken, aufbauen, Kinder versorgen und mein Mann lag darnieder!

Mein unbarmherziger Ärger jagte mir selbst einen gehörigen Schrecken ein. Damals traf ich einen Entschluss: Ab sofort wollte ich nicht mehr aufrechnen, wer wann wie viel wickelt, füttert, Hausaufgaben begleitet oder putzt. Ich traf den Entschluss nicht demütig, sondern weil mein Zorn auf meinen Partner so groß war, dass ich von mir selbst schockiert war. Seine Gelassenheit und entspannte Sicht waren die schimmernden Faszinationspunkte und ich war gerade dabei, sie mit Alltagsstaub zu bewerfen. Bei einer Tasse Tee teilte ich meinem immer noch kranken Mann meinen Entschluss mit und er begann wieder zu strahlen. Als ich aufhörte, ihn zu attackieren, wurde ich mit seiner Fürsorge beschenkt. Bis heute erzählt er, wie gut es ihm getan hat, dass ich jeden Morgen die Frühschicht übernommen habe.

Danach lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Schön wär’s! Wenn ich Henrik heute frage, was ihn an mir richtig nervt, kommen Umschreibungen der Dinge, die ihn einmal sehr angezogen haben. Natürlich kenne auch ich diese Seiten an mir. Doch dieses Wissen schützt nicht vor Missverständnissen, manchmal ebnet es ihnen sogar den Weg: Wenn Henrik eine Schere sucht, rattert es in meinem Kopf. Ich habe für seinen Blick, sein Seufzen eine Deutung. Ich meine, meinen Mann so gut zu kennen, dass ich weiß, was er ausdrücken will. Ich bin mir bewusst, dass er unter meiner Kreativität leidet, jeden Tag einen neuen Platz für eine Schere zu finden. Als dies aus mir herausplatzt, guckt mich mein Mann ganz verdutzt an: „Äh, nein! Ich suche nur eine Schere. Ich denke dabei nicht an dich.“ Den Fokus auf die Reibungspunkte zu legen, ist eine Falle im Bewältigen des Alltags.

AN DIE GUTEN TAGE ERINNERN

Um den Partner aus der Bewertungsklammer zu entlassen, hilft uns ein Schritt zurück. Wie haben wir zusammen eine lustige Episode erlebt, einen großen Streit in der kirchlichen Kleingruppe geschlichtet oder Trauer gemeistert? Wenn wir aussprechen, was wir in diesen Erlebnissen am anderen wohltuend wahrgenommen haben, ist das wie ein Zündfunke für den Faszinationsglimmer zwischen Verbündeten.

Ich erinnere mich, welche Wesenszüge zu Beginn unserer Ehe strahlend waren, und frage mich: Wo sehe ich das heute? Was könnte ich heute an meinem Partner loben und neu bewerten? Dies können kleine Dinge sein, die neu verbindend zwischen uns wirken. Den Duft des anderen wahrnehmen, das kleine Lächeln der Augen sehen, einen klugen Satz hervorheben, sich bedanken für Alltägliches. Das Enttäuschende und Trennende zu benennen, ist für mich keine Kunst. Vor Freunden den Partner zu loben, zu ihm zu stehen oder im Beisein der Eltern von den Erfolgen des anderen zu sprechen, aber sehr wohl. Mit diesen Entscheidungen entsteht ein neuer Glanz. So glimmen neue Anziehungspunkte am Partner auf. Heute treffe ich wieder diese Entscheidung wie vor Jahren im Campingurlaub: Ich will meinen Mann entdecken.

Wenn ein bewusstes Hinsehen auf die Stärken des anderen nicht möglich erscheint, so kann eine kleine Geste helfen. An welchem Moment des Tages lächle ich meinen Mann gern an? Dieses Lächeln hat meinen Mann tatsächlich schon oft von den beengenden Klebefolien meiner Bewertung befreit. Sein Lob bringt mich zum Lächeln und so funkeln wir uns mitten im Alltag neu an.

Jetzt steht mein Mann endlich verschlafen vor mir. Nimmt mich in den Arm. Während ich seinen Duft aufsauge, flüstert er: „Schon so wach? Wir schaffen den Tag schon, mein Schatz …“ Ich seufze und entscheide mich, seine entspannte Haltung wundervoll zu finden. Einen tollen Mann habe ich!

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

Den Partner neu entdecken

Im stressigen Alltag kann es schnell passieren, dass der Mensch an unserer Seite vor allem nervt. Folgende Fragen können helfen, immer wieder eine neue Perspektive zu gewinnen.

Warum nervt mich das gerade so? Mal angenommen, es geht nicht darum, mich zu schikanieren: Kann ich nachvollziehen, warum er oder sie so handelt? Was hat mich am Anfang so fasziniert an meinem Partner? Wo und wie sehe ich das heute? Was haben wir zusammen erlebt und durchgestanden? Was habe ich dabei über uns erfahren? Mit welchen kleinen Gesten könnte ich heute erfreuen? Wo möchte ich gerne großzügig sein? Was würde mir dabei helfen?

Paartherapeut: Eine Fähigkeit verbessert den Sex. Aber sie ist schwer zu erlernen

Um die Erotik auch bei langjährigen Beziehungen aufrechtzuerhalten, braucht es laut Jörg Berger nicht viel. Aber Paare müssen dafür etwas wagen.

„Hat seine Wirkung nicht verfehlt“, schreibt Heinz-Dieter in der Bewertung in der Shop Apotheke. Früher waren es Tollkirsche, Muskat oder auch die Tomate als „Liebesapfel“, heute heißen sie Libido Lady oder libiLoges (Heinz-Dieters Wahl). Mittel, die unser Begehren steigern oder uns sogar begehrenswerter machen – das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Gleichzeitig gibt es kaum ein Paar, das sich nicht einmal Gedanken um die Erotik in seiner Beziehung macht. Ist die Anziehung zwischen uns noch so, wie wir es uns wünschen? Ist es normal, wenn die Intensität unserer sexuellen Begegnungen nachlässt?

Tatsächlich gibt es das: Ein Liebesmittel, das unser Begehren weckt und uns begehrenswerter macht. Es wirkt biochemisch. Trotzdem können wir es in keiner Apotheke kaufen. Es ist teuer. Doch wir bezahlen nicht mit Geld, sondern mit Mut. Das Liebesmittel ist die seelische Nähe, die ein Paar wagt, ein Lebendigsein in der Gegenwart des anderen. Sie entsteht durch Offenheit. Denn allein die räumliche Nähe schafft noch keine seelische Nähe. Zwei Gefangene können sich die Zelle teilen, ohne sich nahezukommen, zwei Kranke das Zwei-Bett-Zimmer oder auch ein pensioniertes Paar den ganzen Alltag. Seelische Nähe erfordert den Mut zur Offenheit und den Mut, den Partner so willkommen zu heißen, wie er wirklich denkt, fühlt und handelt. Aber tun wir das nicht ganz selbstverständlich? Und falls nicht, warum nicht?

Was ist psychische Nähe?

Wie lange können Sie Ihrem Partner in die Augen schauen, ohne dass es peinlich wird? Wie lange können Sie den Körper des anderen einfach betrachten oder aufmerksam berühren? Und wann wird das irgendwie unangenehm? Wie offen teilen Sie Ihre Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse und Gelüste mit? Wie lange fühlen sich beide sicher, wenn Tränen fließen?

Jedes Paar reguliert seelische Nähe. Es wagt Nähe und löst sie wieder auf: ansehen und wegsehen, die Intimität eines Schweigens zulassen und durch Humor wieder vertreiben, tiefe Gefühle offenbaren und dann sagen, dass sie kein Drama sind, einem Herzensleid Raum geben und dann nach einer Lösung suchen.

Das Mittelmaß ist wichtig

Offenbar haben wir ein Gefühl dafür, wie viel Nähe gut ist. Wir sorgen dafür, dass sie nicht zu viel und nicht zu wenig wird. Wir wollen uns dem anderen nicht auf eine Weise zumuten, die vielleicht unangenehm oder bedrohlich wird. Jeder hat als Kind auch die Erfahrung gemacht, einem Elternteil mit den eigenen Bedürfnissen und Verhaltensweisen zu viel zu sein. Das hat uns geprägt. Außerdem kann Nähe bei einem selbst zwiespältige Gefühle auslösen, zum Beispiel Unsicherheit oder Verpflichtung. Wenn wir eine entspannte Zeit haben wollen, regulieren wir seelische Nähe am besten auf ein gutes Mittelmaß. Aber wir können auch mehr seelische Nähe zulassen. Das setzt stärkere Gefühle frei. Wir werden lebendiger und drücken uns tiefer aus. Das kommt auch dem Sex zugute.

Mehr seelische Nähe zulassen bedeutet allerdings auch: mehr Scham, mehr Unsicherheit und mehr Schuldgefühle erleben. Billiger bekommen wir seelische Nähe nicht. Wir können diese Gefühle aber zulassen und annehmen. Sie sind menschlich. Mit der Zeit werden wir uns immer sicherer dabei fühlen. Außerdem können wir den anderen liebevoll unterstützen, wenn sie/er sich schämt, unsicher oder schuldig fühlt. Wie das aussieht und was das ermöglicht, kann ich an einem Beispiel aus der Sexualtherapie zeigen. Ich habe es verfremdet und andere Namen gewählt.

Ein Beispiel: Von wenig Lust auf Sex zu mehr Sex

Marit lernt für Prüfungen. Sie ist gestresst und das wird noch ein paar Monate dauern. Auf Sex lässt sie sich nur ein, wenn sie sich entspannt fühlt, und das kommt gerade selten vor. Gleichzeitig fühlt sie sich schuldig, weil sie so wenig auf Svens Bedürfnisse eingeht und diejenige ist, die bestimmt, was geht und was nicht. Sven ist ausgehungert und fast immer offen für Sex. Er versucht aber, kein Begehren aufkommen zu lassen. Denn er will den sexuellen Frust nicht spüren. Außerdem will er Marit nicht bedrängen. Was würden Sie den beiden raten?

Marit und Sven haben ihre Toleranz für seelische Nähe gesteigert. Denn Marit lässt sich nun auch auf Zärtlichkeiten ein, wenn sie gestresst ist. Das entspannt sie und sie öffnet sich für Svens Nähe, wenn sie unausgeglichen ist. Der Preis ist: Marit mutet sich Seiten zu, die sie selbst an sich nicht mag, ihre schlechte Laune und Gereiztheit zum Beispiel. Sie muss außerdem manchmal dazu stehen, dass Zärtlichkeiten nicht zum Sex führen. Mehr geht dann einfach nicht. Nun schämt sie sich und fühlt sich auch schuldig: Sie hat Sven Lust gemacht und muss sich zurückziehen.

Sven kann seinen Frust und seine Ungeduld dann nicht immer verbergen. Aber für all das gibt es nun eine Erlaubnis. Es darf so sein. Sven hilft Marit sogar, sich nicht schuldig zu fühlen, Marit bejaht Svens Frust und nimmt ihn nicht persönlich. Die beiden haben nun häufiger Sex als vorher. Denn Marit nutzt auch die Vielleicht-kommt-die-Lust-ja-Situationen, nicht nur die sicheren, entspannten Abende. Doch noch wertvoller ist die gewachsene seelische Intimität. Beide bringen tiefere Gefühle in die sexuelle Begegnung ein. Sie sind spontaner und zeigen mehr von sich. Sie folgen zwar immer noch einem vertrauten Ablauf, aber durch das, was sie von sich zeigen, erleben sie es immer anders.

Zu Lust und Unlust stehen

Hier sehen wir, wie seelische Nähe – wenn wir sie wagen – den Sex belebt. Je mehr wir in der sexuellen Begegnung von uns zu zeigen wagen, desto spannender wird sie. Auch wenn es manchmal Mut kostet, zur eigenen Lust und Unlust zu stehen, spontane Gedanken und Gefühle zu zeigen oder einer Neugier zu folgen, ohne vorher zu wissen, wie das für den anderen ist. Mut kostet es, weil wir beim anderen auch einmal einen Schreck auslösen, eine Abwehr oder ein Unbehagen. Aber genau das macht seelische Nähe aus, dass beide mit allem sein dürfen, was sie denken, empfinden und brauchen, und so reagieren dürfen, wie sie eben reagieren. Dabei setze ich voraus, dass dies einigermaßen taktvoll geschieht und keiner mit harter Kritik oder langem Rückzug belastet wird. Man könnte zwar auch bei Kritik oder Rückzug behaupten: „Ich bin authentisch und drücke so meine Gefühle aus.“ Aber das stimmt ja nicht, denn die wahren Gefühle bleiben hinter der Kritik oder dem Rückzug verborgen.

Wer seelische Nähe wagt, fördert auch die erotische Polarität. Idealerweise baut sich im Alltag eine erotische Spannung auf, die sich im Sex entlädt. Spannung entsteht zwischen Polen. Romane und Filme spielen mit der Polarität: die Karrierefrau und der Chaot, der Snob und die Frau aus einfachen Verhältnissen, der Vernunftmensch und die verhängnisvoll leidenschaftliche Femme fatale. Auch unsere Liebesbeziehungen spielen sich zwischen solchen Polen ab.

Gegensätze ziehen sich an

Bei größeren Projekten – einem großen Ausmisten oder einem Umzug zum Beispiel – packt mich Furor, eine aggressive Entschlossenheit. Sie erleichtert Entscheidungen. Sie hilft, unsere Pläne auch gegen Widerstände zu behaupten. Meine Frau kann mit meiner Aggression besser umgehen, seit ich sie mit Worten ankündige oder zu ihr stehe, wenn sie sich nicht verbergen lässt. Denn dann ist klar, dass meine Frau ihren Pol ruhig auch ausleben darf. Sie hält meiner Geradlinigkeit dann Feingefühl entgegen, das auch mal wartet oder einen Umweg geht. Auch wenn das Konfliktpotenzial birgt, ergänzen wir uns. Gleichzeitig beleben solche Situationen unsere Beziehung auch in erotischer Hinsicht. Es wird eine Polarität spürbar, die vielleicht schon zu Beginn unserer Liebe Anziehungskräfte ausgeübt hat.

Andere Pole sind: stille Tiefgründigkeit und spritzige Geselligkeit, Sparsamkeit und Großzügigkeit, Gewohnheit und Veränderung, Berührbarkeit und Robustheit, Disziplin und Freiheit, Selbsthingabe und Durchsetzung. Die seelische Nähe nimmt zu, je mehr sich die Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse beider Pole zeigen dürfen und in der Beziehung Raum finden. Auch wenn wir Spannungen nicht unbedingt in unserer Beziehung brauchen, hält uns die Spannung lebendig. Manchmal würden wir den anderen lieber auf unseren Pol ziehen. Das Miteinander wäre dann einfacher. Aber statt echter Nähe hätten wir dann nur ein Arrangement, bei dem sich beide beschneiden und vieles für sich behalten. Warum sollten wir jemanden begehren, der uns immer ähnlicher wird? Warum verschmelzen mit einem Menschen, der sein Geheimnis verloren (nein! – nur vor uns verborgen) hat und uns kaum mehr schenken kann als das, was wir von uns selbst kennen?

Sex auf Platz zwei

Die Psychologie der seelischen Nähe ist mir in einer Hinsicht sympathisch. Sie verweist den Sex auf den zweiten Platz. Dort gehört er hin. Manchmal ist er ein Zeichen, wie es um die Liebe steht. Unsere Sehnsucht nach erfüllendem Sex verweist uns auf etwas Wichtigeres. Michael Lukas Moeller, Professor für Medizinische Psychologie und Paartherapeut, beschrieb das so: „Seit Menschengedenken sind alle Kulturen erpicht auf Liebesmittel, Aphrodisiaka. Mit den Beziehungen der Paare – kann man daraus schließen – stand es schon immer nicht zum Besten. Denn was ist das wirksamste Aphrodisiakum? Jeder weiß es, keiner wagt es, die Einsicht auszusprechen: das lebendige Paar.” (aus: Die Wahrheit beginnt zu zweit, S. 113)

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. Neben Ratgebern veröffentlicht er Online-Kurse, die Paaren helfen (epaartherapie.de; derherzenskompass.de/schwereliebe).

Besser als gedacht: Debora und ihr Mann gestalten ihre Ehe mit einem Business-Tool

Eigentlich soll die Methode „OKR“ Unternehmen nach vorne bringen. Debora Herwig und ihr Mann haben sie im Familienalltag ausprobiert, mit erstaunlichem Ergebnis.

Ein Business-Tool für die Ehe? Und das soll ein Ehekurs sein? Für mich klang OKR, also „objectives and key results“ (Ziele und Schlüsselergebnisse) nach Arbeit, nach Zielen und Unternehmensplänen, sehr fremd und wenig einladend. Außerdem war ich mit unserem Sohn im Kleinkindalter so ausgelastet, dass ich keinen Nerv dafür hatte, mir eine Ehe-Vision zu überlegen, die ich auch noch umsetzen soll. Mein Mann war jedoch sofort Feuer und Flamme, als er vom Seminar „OKR für Paare“ hörte. Mit OKR ist er vertraut, da er die Methode im Beruf anwendet.

Wir hatten uns bei unserer Hochzeit vor sieben Jahren vorgenommen, einmal im Jahr etwas ganz Besonderes für unsere Ehe zu tun. Wir gönnen uns zum Beispiel ein Wochenende zu zweit oder einen Ehekurs, um unserer Beziehung etwas Gutes zu tun und sie frisch zu halten. Der Kurs „OKR für Paare“ war aber ganz anders gestrickt als die Ehekurse, die wir bereits besucht hatten.

Partner entwickeln eine gemeinsame Vision

Wie können wir unser Leben so gestalten, dass wir uns nach unseren Zielen ausrichten und unsere Wünsche und Bedürfnisse Erfüllung finden? Genau darum geht’s bei „OKR für Paare“. Das fand ich spannend und überzeugend. Es gibt in diesem Kurs keinen Input zu klassischen Beziehungsthemen. Wir lernten eine Methode kennen, die uns in kurzer Zeit helfen sollte, das Leben zu leben, das wir uns wünschen. Es geht dabei um eine Ehe mit Sinn und tiefer Verbundenheit zum Ehepartner – trotz vieler Aktivitäten und begrenzter Zeit im Alltag.

Zunächst entwickelten wir eine gemeinsame Ehe-Vision basierend auf der Fragestellung: Wie soll unser (Ehe-)Leben in den nächsten Jahren aussehen? Dann arbeiteten wir eine Mission aus und definierten fünf Strategiefelder oder Bereiche, in denen wir diese Vision leben wollen.

Konkret sieht dies bei uns so aus: Wir haben viele großartige Menschen um uns herum, die nicht wissen, wie wertvoll sie sind und wie sie ihre Begabungen entfalten können. Wir haben daher die Vision entwickelt: „Die Welt blüht auf, weil Menschen eine neue Perspektive leben.“ Davon abgeleitet haben wir die Mission: „Menschen in unserem Umfeld erkennen ihren Wert und leben ihre Berufung.“ Dafür schlägt unser Herz! Zuallererst möchten wir diese Mission bei unseren Kindern und den Menschen um uns herum leben. Zusätzlich habe ich mich als Lebens- und Familienberaterin selbstständig gemacht. Mein Mann ist als Mentor für junge Männer tätig.

Leitfragen bestimmen den Alltag

Nun kann man große Visionen haben, ohne dass sie im Alltag eine Rolle spielen. Und irgendwann fragt man sich, welches Leben man eigentlich gelebt hat. Genau hier kommen die OKRs ins Spiel. Abgeleitet von den großen Linien werden viermal im Jahr konkrete Wünsche, Bedürfnisse und Ziele für die nächsten drei Monate entwickelt. Hierbei geht es nicht um To-do-Listen. Die Leitfrage lautet vielmehr: Wie soll sich unser Leben in drei Monaten anfühlen? Und woran erkennen wir, dass dabei herauskommt, was wir möchten? Die OKRs werden dann in einem „Wochencheck“ besprochen.

Wir wünschen uns mehr Ruhe und Zeit für uns? Wir wünschen uns eine tiefere Beziehung zu unseren Kindern? Wir möchten uns geliebt fühlen? All dies können Ziele für ein Quartal sein.

Eines unserer Strategiefelder ist zum Beispiel unsere wachsende Familie. Ein weiterer Sohn bereichert mittlerweile unsere Familie. Wir haben uns vorgenommen, dass wir herausfinden, was unseren Kindern Freude bereitet, und bauen dies bewusst in unseren Alltag ein. Unser Erstgeborener spielt gerne mit Wasser. Erst kürzlich wollte er mir in der Küche helfen und hat für mich „gespült“. Ich wusste, dass er danach von oben bis unten nass sein und die ganze Küche unter Wasser stehen würde. In unserer Strategie steht jedoch, dass unser Sohn glückliche Momente erleben soll, in denen er zum Beispiel „nass ist“. So konnte ich mich über seine Hilfe beim Spülen freuen, auch wenn das für mich hinterher viel Arbeit bedeutete.

Mehr Glück durch Wochenchecks

In unserer Strategie haben wir auch die Beziehungen zu unseren Herkunftsfamilien angeschaut und überlegt, wie wir diese leben möchten. Die Oma von meinem Mann ist schon alt. Es ist uns wichtig, dass unsere Kinder eine gute Beziehung zu ihr aufbauen können und wir die Zeit nutzen, die wir (noch) mit ihr haben. Konkret wurde daraus ein regelmäßiges Essen bei ihr zu Hause. Dass wir unser Abendbrot in einen Korb packen und zu ihr fahren, bedeutet für uns wenig Mehraufwand, es bereichert aber unsere Beziehung zu ihr. Das macht einen großen Unterschied.

Auch unsere Paarbeziehung ist ein wichtiger Teil unserer Strategie. Dort haben wir festgehalten, dass wir uns jede Woche Zeit als Paar nehmen, dass wir uns gemeinsam engagieren wollen, uns ein gemeinsames Hobby suchen wollen und unsere Kinder merken sollen, dass wir uns lieben. Hierzu haben wir uns überlegt, wann wir uns selbst vom anderen geliebt fühlen und dann immer beim Wochencheck reflektiert, wie stark wir dies in der vergangenen Woche erlebt haben. Das klingt im ersten Moment unromantisch, jedoch ist der Vorteil, dass wir unsere konkreten Wünsche im Blick haben, unsere Beziehung im Alltag bewusster gestalten und dadurch glücklicher sind.

Schwierige Gespräche, gutes Ergebnis

Der Wochencheck hilft nicht nur, die gemeinsame Entwicklung im Blick zu behalten, er schafft auch eine tiefe Verbindung zueinander, weil wir uns intensiv darüber unterhalten, wie es uns geht, was uns beschäftigt, was uns fehlt … Diese Gespräche sind sehr wertvoll, auch wenn sie ab und an schwierig sind, da es hier ans Eingemachte geht. Uns wird immer wieder deutlich, dass es schmerzhaft ist, wenn Bedürfnisse und Wünsche im Alltag untergehen. Manchmal stehen sich Bedürfnisse auch gegenseitig im Weg. So wünsche ich mir Sicherheit und Zeit mit der Familie, während mein Mann seine Selbstständigkeit gerne ausbauen möchte. Es ist herausfordernd, solche Themen zu klären, gleichzeitig ist es sehr wichtig, hinter unsere Wünsche und Ziele zu schauen. Genau solche Knackpunkte zu besprechen, die Bedürfnisse herauszufinden und vielleicht auch ganz neue Lösungen zu finden – dafür bietet die Methode einen guten Rahmen.

Nach über einem Jahr mit „OKR für Paare“ können mein Mann und ich diese Methode wärmstens empfehlen. Mit geringem zeitlichem Aufwand kann sich viel Positives in der Ehe und im Alltag verändern – das ist beeindruckend!

Debora Herwig ist Diakonin und Systemische Beraterin (deboraherwig.de). Sie lebt mit ihrer Familie im Kreis Calw im Nordschwarzwald.