Toxische Beziehungen sind in aller Munde, aber was genau passiert da eigentlich? Die psychologische Beraterin Christina Glasow erklärt, wie man eine toxische Beziehung erkennt, was man tun kann und wann eine Trennung nötig ist.
Katja bekommt das Grinsen gar nicht mehr aus ihrem Gesicht, sie ist glücklich. Ben hat ihr Blumen geschenkt. Einfach so. „Du bist so wunderschön. Ich liebe dich. Du machst mich zum glücklichsten Mann“, hat er gesagt und sie angelächelt, dass ihr die Knie weich werden. Zwanzig Minuten später hat sie einen dicken Kloß im Hals. Beim Auswechseln einer Glühbirne ist ihr der Lampenschirm aus der Hand gerutscht und in tausend Teile zersprungen. „Wie dumm und idiotisch bist du eigentlich!? Du solltest am besten gar nichts machen, du hast einfach zwei linke Hände!“, ist dabei noch das Netteste, was aus Bens Mund kommt. Katja sagt kein Wort. Etwas zu entgegnen würde alles nur noch schlimmer machen. Sie fühlt sich dumm, klein und schuldig.
Sie entschuldigt sich immer wieder und nachdem sie besonders lieb und zuvorkommend mit Ben umgegangen ist, findet schließlich, wie so oft, im Bett die Versöhnung statt.
Was genau ist eine toxische Beziehung?
Eine Beziehung sollte ein Raum sein, in dem sich zwei Menschen einander liebevoll zuwenden und gleichzeitig die Freiheit haben, sie selbst zu sein – mit ihren Ecken und Kanten. Manches ist und bleibt herausfordernd, deshalb ist eine Beziehung aber nicht gleich toxisch. Wenn deine Beziehung jedoch mehr von Zwängen, Schmerz oder Einsamkeit als von dem Gefühl der Wertschätzung und des Angenommenseins geprägt ist, dann schadet sie dir mehr, als dass sie dir guttut.
In manchen Beziehungen ist Kampf an der Tagesordnung. Ihr streitet oft nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ und nehmt keine Rücksicht auf den anderen. Diese destruktiven Konflikte enden irgendwann aus Verzweiflung oder Erschöpfung. Vielleicht landet ihr zur Versöhnung im Bett oder lasst bis zum nächsten Mal Gras darüber wachsen; aber einem gesunden Miteinander seid ihr kein Stück nähergekommen.
Auch Beziehungen, die nach außen sehr harmonisch wirken, können innen toxisch sein. Es gibt keinen Streit, weil die Angst vor Verlust und Liebesentzug so groß ist, dass du dich und dein Verhalten lieber anpasst, als die Harmonie zu gefährden. Du sprichst nicht über deine Gefühle und Bedürfnisse, um nicht anzuecken. Allerdings verlierst du so mehr und mehr den Kontakt zu deinem Gegenüber und auch zu dir selbst.
Besonders toxisch ist die Dynamik von Katja und Ben. Sie läuft nach dem Täter-Opfer-Prinzip ab: Der „Täter“ wertet ab und handelt egozentrisch, empathielos oder manipulativ, trägt oft narzisstische Züge. Das „Opfer“ denkt und handelt abhängig vom Verhalten des Gegenübers. Eigene Gefühle und Interessen werden zurückgestellt. Man nennt das „co-abhängig“.
Der Ursprung dieser toxischen Verhaltensmuster liegt meist zeitlich weit zurück, sie haben deine Persönlichkeit über einen langen Zeitraum geprägt.
Das kann sich in deiner Beziehung beispielsweise so anfühlen:
- Du erlebst eine emotionale Achterbahnfahrt. Hochs (in den Himmel gelobt werden, „Love-Bombing“) und Tiefs (Abwertung, Erniedrigungen) wechseln sich ab. Die schönen Momente werden immer weniger. Für die guten Momente erträgst du die schmerzhaften. Du glaubst, wenn du nur ganz doll liebst, wirst du auch zurückgeliebt.
- Du glaubst, du kannst dein Gegenüber retten, er oder sie braucht deine Hilfe, um die Probleme zu überwinden. Du glaubst, dass du das Problem bist, weil du nicht gut genug bist. Du glaubst, du musst dich ändern. Aus Angst vor Konflikten und dem Verlassenwerden nimmst du dich immer mehr zurück. Du machst dein Verhalten abhängig vom Verhalten deines Gegenübers und nimmst dich selbst nicht so wichtig. Dein Gegenüber ist sehr schnell gekränkt. Du wirst kontrolliert und immer mehr eingeengt, zum Beispiel, ob und mit wem du dich triffst, wofür du Geld ausgibst usw.
- Du wirst ständig kritisiert und bist an allem schuld. Dein Gegenüber sieht sich immer als Opfer. Du entschuldigst dich für Dinge, die du nicht getan hast. Du bist gestresst, weil du ständig Angst hast, etwas falsch zu machen.
- Du fühlst dich abhängig von deinem Gegenüber, denkst, du kannst ohne sie oder ihn nicht leben. Deine Grenzen werden nicht respektiert und immer öfter überschritten.
Du glaubst, dass er oder sie sich dieses Mal wirklich ändern wird.
- Du wirst manipuliert und die Realität wird verdreht, bis du immer mehr an dir zweifelst und schließlich selbst nicht mehr weißt, was wahr und was falsch ist („Gaslighting“).
Es findet, neben der seelischen, auch körperliche Gewalt statt.
So schlimm ist das ja bei uns nicht …
… denkst du jetzt vielleicht. Natürlich gibt es bei der Ausgestaltung von Beziehungen eine riesige Bandbreite. Jede Beziehung ist anders. Aber wo fängt denn nun das Toxische an? In der bibel finden wir eine sehr gute Orientierungshilfe. Jesus sagt in Markus 12,31: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Nicht nur unter Christen hat die Nächstenliebe zu Recht einen besonders hohen Wert.
Die Liebe zu sich selbst wird dagegen nicht selten mit Egozentrik oder Egoismus verwechselt oder einfach nur übergangen. Aber Liebe zu sich selbst meint einen liebevollen Umgang mit den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Grenzen. Eigenliebe und Nächstenliebe müssen in Balance stehen, um gute Beziehungen führen zu können: Selbstliebe ohne Nächstenliebe macht das Gegenüber zu einem ersetzbaren Objekt, das nur der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse dient. Liebe ohne Selbstliebe führt in die emotionale Abhängigkeit und zum Verlust der eigenen Identität.
Wenn du also dauerhaft (nicht punktuell!) egozentrisch oder selbstvergessen handelst, entsteht ein Ungleichgewicht. Hier fängt Toxizität an. Was kannst du selbst tun, um toxischem Verhalten entgegenzuwirken?
Erkennen
Vielleicht hast du in deiner Vergangenheit gelernt, dass Liebe an bestimmte Bedingungen geknüpft ist oder dass zur Liebe Schmerz dazugehört. Du empfindest es deshalb als normal, dass mit dir so umgegangen wird. Das ist es aber nicht. Niemand hat das Recht, dich schlecht zu behandeln, dich herabzusetzen oder dir emotionale oder körperliche Gewalt zuzufügen!
Wenn du dein Gegenüber niedermachst oder manipulierst, um dein eigenes Selbstbewusstsein zu pushen, und dir sicher bist, dass er oder sie dich nicht verlassen wird, dann ist dein Verhalten lieblos und egoistisch.
Ein liebevoller, wertschätzender Umgang ist in einer Paarbeziehung grundlegend, denn das ist der Ort, an dem wir uns besonders verletzlich machen.
Selbstverständnis und Fürsorge
Um aus schädlichen Mustern herauszukommen, die dir bei der Liebe zu dir selbst im Wege stehen, spielt Achtsamkeit eine entscheidende Rolle. Das bedeutet, dir selbst auf die Spur zu kommen und immer wieder innezuhalten in deinem Alltag: Was geht gerade in dir vor? Welche Gefühle sind da? Du kannst sie zum Beispiel in einem Gefühlstagebuch festhalten.
Jeder von uns schleppt falsche Glaubenssätze mit sich herum, die unser Denken und Handeln bestimmen. Sie lassen uns zum Beispiel glauben, dass wir nur geliebt werden, wenn wir etwas leisten. Oder dass wir uns nicht so anstellen sollen, weil es anderen ja schließlich viel schlechter geht oder dass wir zu nichts taugen. Die Liste dieser Lügen ist unendlich vielfältig und gleichermaßen lieblos. Ein erster Schritt, diesen schlechten Einfluss zu entmachten, ist, dir ihrer bewusst zu werden. Indem die Glaubenssätze vom Unbewussten ins Bewusstsein treten, kannst du dein Verhalten aktiv verändern. Du bist ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert und darfst stattdessen liebevolle Gedanken kultivieren und die Wahrheit über dich selbst entdecken. So kann zum Beispiel aus „Ich bin nicht schlau“ ein „Ich bin schlau genug“ werden.
Mit diesen neuen Erkenntnissen stehst du auf einer ganz neuen Basis, um dich zu fragen, welche Dinge dir guttun und dich auftanken lassen. Vielleicht fällt dir ein, womit du dich als Kind am liebsten beschäftigt hast, und du transportierst das in dein heutiges Leben (zum Beispiel Sport, kreativ sein, Instrument spielen, lesen, spazieren, Leute treffen…). Erlaube dir, dir hierfür Zeit zu nehmen. Du lernst so, deine Bedürfnisse zu spüren und deren Erfüllung in die Hand zu nehmen. Du übernimmst Verantwortung für dich selbst. Dazu gehört auch, darauf zu achten, welche Dinge oder Personen dir nicht guttun. Was löst in dir Stress oder „Bauchweh“ aus? Dazu gehört auch, dass du dir bewusst machst, was deine wichtigsten Werte und was deine No-Gos in einer Beziehung sind. Indem du hier achtsamer mit dir selbst umgehst, lernst du, deine eigenen Grenzen zu spüren und diese auch für dein Umfeld sichtbar zu machen. Du darfst freundlich, aber klar Nein sagen! Und du wirst erleben, dass Menschen dich trotzdem oder gerade deshalb mögen.
Ich-Botschaften helfen dir dabei, klarer zu kommunizieren, und eröffnen einen Weg aus eurer destruktiven Konflikt-Spirale. Dabei sprichst du über dein Gefühl („Es macht mich traurig, dass wir fast nie Zeit zu zweit verbringen.“) anstatt den anderen anzuklagen („Immer gehst du weg. Ich bin dir doch egal!“).
Die Erfahrung aus meiner eigenen Beratungs-Praxis zeigt, dass es hilfreich ist, hierfür professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, die dich in deinem Prozess unterstützt. Je tiefer die toxische Verstrickung, desto ratsamer, den Weg nicht alleine zu gehen.
Welche Voraussetzungen braucht es für eine gesunde Beziehung?
Dein neues, ungewohntes Verhalten stößt beim Gegenüber vielleicht nicht auf Gegenliebe, denn euer altes „Spiel“, euer Muster funktioniert nicht wie bisher. Veränderungen erfordern Mut und auch Disziplin. Vor allem, wenn du bisher jeden Konflikt gescheut hast. Lass dich vom Gegenwind nicht entmutigen, sondern bleibe zugewandt, aber auch liebevoll dir selbst gegenüber. Setze klare Grenzen. Du bist damit auf einem guten Weg, denn du gibst damit deinem Gegenüber und eurer Beziehung die Chance, zu wachsen und zu reifen.
In jeder Beziehung gibt es Krisen und Konflikte. Auch toxische Elemente wie Abhängigkeiten, Grenzüberschreitungen oder manipulatives Verhalten können vorkommen. Entscheidend ist, wie ihr dabei grundsätzlich miteinander umgeht. Nähe und Distanz, Nehmen und Geben, Bestimmen und Anpassen müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Liebe kann sich da entwickeln, wo Freiheit und Zuwendung gleichermaßen vorhanden sind. Unterschiedlichkeiten könnt ihr als wertvolle Ergänzung schätzen lernen. Dazu braucht es eine gute, offene Kommunikation, die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen und vor allem, den eigenen Anteil am Problem anzuerkennen. Dann müssen aus Worten Taten werden. Zum Beispiel gemeinsam zur Paarberatung zu gehen.
Wann ist es besser, sich zu trennen?
Deine eigenen Themen anzugehen, hat bleibenden Wert, unabhängig von der Paarbeziehung. Du lernst, besser für dich zu sorgen und bessere Beziehungen zu führen. Wenn dein Verhalten eher dem des „Täters“ entspricht, lernst du, die Perspektive deines Gegenübers besser zu verstehen und liebevoller zu handeln.
Mit Hilfe deiner Gos und No-Gos weißt du, was du bereit bist, für den Erhalt deiner Beziehung auf dich zu nehmen und was nicht mehr. Denn es kann sein, dass dein Gegenüber trotz deiner Bemühungen in toxischen Mustern kleben bleibt, keine eigenen Schritte zur Veränderung geht und deine No-Gos ignoriert.
Wenn sich abzeichnet, dass diese Beziehung für dich deshalb ein Ort des Schmerzes bleibt und Wertschätzung und Annahme fehlen, ist es ratsam, eine Trennung in Erwägung zu ziehen. Das gilt natürlich umso mehr, wenn körperliche Gewalt im Spiel ist.
Christina Glasow wohnt mit ihrer Familie in Pulheim bei Köln und arbeitet als Paarberaterin und Psychologische Beraterin. christinaglasow.de
Wenn du in einer toxischen Beziehung steckst, such dir Unterstützung! Sprich mit einer Person deines Vertrauens und/oder wende dich an eine Seelsorgerin, einen Berater oder Therapeuten. Im Internet findest du Organisationen in deiner Nähe, die Hilfe für Opfer von emotionaler und/ oder körperlicher Gewalt anbieten. Du kannst dich auch an die Telefonseelsorge wenden (0800/111 0 111) oder an das Hilfetelefon speziell für Frauen (hilfetelefon.de).