Beiträge

Kommunikation ohne Eskalation: Expertin gibt Tipps

Unbedachte Worte in der Partnerschaft können tief verletzen. Beziehungs- und Kommunikationsexpertin Piroska Gavallér-Rothe erklärt, wie achtsame Kommunikation einfach gelingen kann.

Gerade war noch alles gut, doch plötzlich kippt die Kommunikation und ein Satz schießt um die Ecke und bohrt sich wie ein spitzer Pfeil in Thomas’ Herz. Thomas’ Kopf weiß: „Das ist nicht böse gemeint!“ – dennoch kann er nicht anders und zieht sich verletzt zurück. Den Rest des Abends muss Lea allein verbringen.

Auch bei Hannah und Jonas nimmt der Abend eine abrupte Wendung: Jonas macht einen unbedachten Kommentar – schon wird Hannah laut. Schneller als sie gucken können, haben sie sich wieder in einen Streit verstrickt.

In der Tat sind es oft Kleinigkeiten, an denen sich in Partnerschaften Streitigkeiten entzünden. Viele Paare stehen dann hilf- und ratlos da und fragen sich, woran es liegt. Es gibt verschiedene Gründe, die zu solchen Situationen führen. In diesem Artikel möchte ich vier Aspekte herausgreifen, die mir in meiner Arbeit mit Paaren regelmäßig begegnen:

1. Formulierungen mit Eskalationspotenzial

Auch wenn wir es selten böse meinen – aus kommunikationspsychologischer Sicht verwenden Menschen erschreckend viele dysfunktionale Sprachmuster. Mit ihnen bringen wir direkt oder indirekt zum Ausdruck, unser Gegenüber habe etwas falsch gemacht oder sei nicht okay.

Zu den dysfunktionalen Sprachmustern zählen insbesondere Urteile und Bewertungen wie zum Beispiel:

  • Du bist einfach viel zu empfindlich!
  • Das war mal wieder eine deiner vorschnellen Aktionen.
  • Vielleicht solltest du erst mal den Kopf einschalten und erst dann sprechen.

Aber auch Vergleiche bergen ungute Botschaften über unser Gegenüber in sich und können daher schnell zu einer Eskalation der Situation führen:

  • Du bist schon so wie deine Mutter!
  • Warum bloß hat niemand außer dir ein Problem mit dem, was ich sage?
  • Früher hast du nicht alles gleich auf die Goldwaage gelegt!

Eine subtile Form dysfunktionaler Sprachmuster ist das Leugnen von Verantwortung. In diesem Fall klingt das Gesagte so, als sei unser Gegenüber für die angesprochene Misere verantwortlich – während man selbst bequem aus dem Schneider ist:

  • Du könntest mittlerweile wirklich wissen, wo meine wunden Punkte liegen …
  • Wenn du nicht immer so empfindlich wärst, hätten wir weitaus weniger Probleme!
  • Wieso soll ich jetzt freundlich bleiben, wenn du mich gerade so angefahren hast?

Frühe Prägung

Die meisten von uns wurden schon seit frühester Kindheit von solchen Formulierungen geprägt. Wir haben sie so oft und selbstverständlich gehört, dass wir sie unbewusst übernommen haben. Heute verwenden wir sie selbst – meistens ohne es überhaupt zu merken! Genau deshalb ist es oft schwer nachvollziehbar, wenn das Gegenüber unleidig reagiert oder sich verletzt zurückzieht.

Dysfunktionale Sprachmuster wirken wie Tretminen in der Kommunikation. Besonders gilt das für Beziehungen, in denen Menschen in einem Näheverhältnis zueinander stehen – also in der Partnerschaft, aber auch in der Eltern-Kind-Beziehung oder der Beziehung zwischen Geschwistern. Das hohe Maß an Intimität macht die beteiligten Menschen verletzlich, denn nirgendwo tut Ablehnung so weh, als in Beziehungen, in denen wir uns nach Liebe sehnen.

2. Empfindliche Ohren in der Kommunikation

Auch empfindliche Ohren können dazu führen, dass Gespräche aus dem Ruder laufen. Oft sind sie das Ergebnis dysfunktionaler Erziehungsbotschaften. Kritische Urteile wie zum Beispiel „Du bist zu neugierig!“, und negative Vergleiche wie beispielsweise „Nimm dir mal ein Beispiel an deinem Bruder!“, können das Selbstvertrauen von Kindern ebenso erschüttern wie der Vorwurf, für unerwünschte Gefühle anderer Menschen die Verantwortung zu tragen: „Mama ist jetzt ganz traurig, weil du immer noch nicht schlafen willst.“ Schnell entsteht so die kindliche Überzeugung, „schuldig“ oder „nicht richtig“ zu sein.

Ohne positive Gegenimpulse gräbt sich dieses negative Selbstbild tief ins eigene Erleben ein und beeinflusst auch im Erwachsenenalter unsere Wahrnehmung und unsere Reaktionen. Auch positiv gemeinte Äußerungen wie zum Beispiel: „Ich bin wirklich froh, dass du heute Abend so entspannt bist!“, können dann leicht als persönlicher Vorwurf gehört werden und zu gekränkten Reaktionen führen: „Sag doch gleich, dass es dich nervt, dass ich in letzter Zeit so gestresst bin!“

Ungute Paarung

Treffen dysfunktionale Sprachmuster auf empfindliche Ohren, ist das Unglück vorprogrammiert. Meistens fehlen nämlich auf beiden Seiten Fertigkeiten, um das Gespräch zurück in konstruktive Bahnen zu lenken: Die sprechende Person vermag es nicht, über ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Selbst wenn sie Ich-Botschaften zu verwenden versucht, verbirgt sich oft noch eine vorwurfsvolle Du-Botschaft in ihren Worten („Ich bin traurig, weil du mich mal wieder nicht ernst nimmst.“).

Der empfangenden Person fehlen wiederum die Fähigkeiten, in vorwurfsvollen Aussagen die Gefühle und Bedürfnisse des Gegenübers zu erkennen, ohne sich dadurch selbst angegriffen oder schuldig zu fühlen („Bist du traurig, weil es dir wichtig ist, ernst genommen zu werden?“).

3. Störungen der Beziehungsebene

Dass es in Beziehungen zu Unstimmigkeiten kommt, ist normal und im Grunde auch nicht schlimm. Schlimm wird es nur, wenn sie nicht aufgelöst werden – weil man zum Beispiel keine Zeit darauf verwenden mag oder es nicht vonnöten erscheint. Dann kommt es zu Verwerfungen auf der Beziehungsebene. Wie bei tektonischen Platten führt das zu Spannungen. Kommen weitere unaufgelöste Unstimmigkeiten hinzu, verstärken sich die Spannungen. Schließlich kann die Spannung so stark werden, dass sie sich selbst bei kleinen Dingen in heftigen Erschütterungen entlädt.

Verbindungslücke

Die herkömmliche Form unserer Kommunikation ist nicht geeignet, Unstimmigkeiten in verbindender Weise auflösenzu können. Stattdessen fördert sie zermürbende Diskussionen, in denen man sich im Kreis dreht und am Ende doch nichts klärt.

4. Biografische Verletzungen

Es gibt immer wieder Situationen, in denen so starke Emotionen zu wirken beginnen, dass wir sie nicht richtig zu steuern vermögen. Dann übernimmt ein Autopilot das Ruder und wir tun oder sagen Dinge, die wir später bereuen.

Ein aktivierter Autopilot zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit an, dass gerade tiefgreifende und noch immer schmerzende Verletzungen in uns berührt werden. Die Heftigkeit der emotionalen Reaktion weist darauf hin, wie groß der stimulierte Schmerz in Wirklichkeit ist.

Verdrängt und abgespalten

Besonders schmerzhaft oder gar traumatisch erlebte Erlebnisse – insbesondere aus der Kindheit – werden sehr häufig aus dem Bereich des bewusst Zugänglichen in den Bereich des Unbewussten verschoben. Die emotionale Reaktivität bleibt jedoch erhalten. So schlittern wir immer wieder in reaktive Verhaltensweisen, können aber nicht wirklich nachvollziehen, weshalb.

Lichtblick

Eskalierender Streit in der Kommunikation als Paar – das muss kein Schicksal bleiben! Als Paar kann man sehr wohl einiges tun, um entspannter miteinander auszukommen:

Kommunikation

Hierbei geht es weder um Rhetorik noch um kommunikative Tipps und Tricks, sondern um die Fähigkeit, anders zu sprechen und anders zu hören.

Anders sprechen bedeutet: Sich aus dysfunktionalen Sprachmustern zu befreien und stattdessen Worte wählen zu können, mit denen wir wertschätzend und klar zum Ausdruck bringen, was wir fühlen und was wir brauchen.

Anders hören bedeutet: Einfühlsam und bedürfnisorientiert unserem Gegenüber zuhören zu können – sogar dann, wenn es gerade dysfunktionale Sprachmuster nutzt.

Dialog

Der Dialog ist der Gegenentwurf zur Diskussion. Kommunikatives Kräftemessen und die Durchsetzung der eigenen Meinung wird ersetzt durch einen verbindenden Austausch auf Augenhöhe. Die dialogische Gesprächsführung folgt klaren Abläufen und verbindet die neue Form des Sprechens und des Hörens zu einem lebendigen Ganzen.

Heilung

Möchten wir auch in Situationen mit einer hohen emotionalen Last angemessen agieren können, kommen wir nicht umhin, uns um unsere tiefliegenden Verletzungen zu kümmern. Kümmern bedeutet nicht, die Situation psychologisch analysieren oder kognitiv erklären zu können. Vielmehr geht es darum, sich der eigenen Verletzung liebevoll anzunehmen und sie damit zu versorgen, was sie braucht, damit es weniger schmerzt – auch und insbesondere dann, wenn sie einen schmerzvollen Impuls durch das Außen erfährt. Erst durch unsere fürsorgliche Zuwendung wird der Anteil nach und nach entspannen und durchatmen können, anstatt sich durch reaktive Automatismen zu schützen zu versuchen.

Am besten gelingt eine solche Heilungsarbeit in einem professionell begleiteten Kontext. Sich einfühlsam den eigenen Verletzungen zu widmen, stärkt nicht nur die persönliche Resilienz, sondern ermöglicht auch die Versöhnung mit der eigenen Biografie. Und wer versöhnt ist mit sich selbst, kann auch versöhnlich mit dem Partner sein.

Piroska Gavallér-Rothe ist Trainerin für Konflikt- und Kommunikationskompetenz und Paartherapeutin. Weitere Informationen unter: gavaller-rothe.com

Partnerschaft: Wir brauchen Vertrautheit und Überraschung

Beziehung, Liebe und Sexualität leben von Gegensätzen, die eine gesunde Spannung in das gemeinsame Leben bringen. Wir brauchen Routinen, aber auch Abwechslung, erklärt eine Psychologin.

Luise und Tom sitzen gemeinsam auf dem Sofa. Sie lieben diese Abende: Endlich schlafen die Kinder und sie haben Zeit zu zweit. Ihre Augen suchen den Insta-Feed ab, immer auf der Suche nach neuen lustigen Videos, die sie einander zeigen können. Dabei kuscheln sie, genießen die Gegenwart des anderen und tauschen sich über ihren Tag aus, bis Tom an diesem Abend auf die Toilette muss. Plötzlich springt die Tür auf. Tom stürmt herein mit dem Ritterhelm des Sohnemanns auf dem Kopf. Dabei schwingt er einen Besen und ruft: „Sinke vor Ehrfurcht nieder, Weib! Sir Tom Tomus ist mit dem gebührenden Respekt zu begegnen, wenn er seinen Minnesang vorträgt.“ Luise lacht, sie legt das Handy weg und lässt sich zurück auf die Couch sinken, die Hände ergebend erhoben.

Überraschende Momente, die die Vertrautheit unterbrechen, bringen uns schlagartig in die Gegenwart zurück und erregen unsere Aufmerksamkeit. Innerhalb von Sekunden verändern sie unsere Stimmung und reißen uns aus unseren Gedankenschleifen heraus. Wer mit Kindern zu tun hat, kennt diese Erfahrungen. Mit ihrer einzigartigen Logik überraschen sie uns oft und erhellen im Nu unsere Laune. Auch Witze leben von Überraschungseffekten. Humor, Unerwartetes, Neues – danach sehnt sich jeder und das ist es, was den Beginn einer Beziehung meist so schön und aufregend macht. In Langzeitbeziehungen zeigt sich das Neue nicht mehr täglich. Wir glauben, unsere Partnerin oder unseren Partner zu kennen und wissen bereits, was er oder sie denkt und möchte. Überraschungen sind wie ungewohnte, vielleicht sogar selbst ausgedachte Drehungen in einem Paartanz, die die Vertrautheit von Takt, Grundschritten und Lied durchbrechen. Beim Tanz achten beide Partner aufeinander, sind einander zugewandt und schenken einander ihre volle Aufmerksamkeit. Dabei erwartet der oder die Geführte das Unerwartete. Die Unvorhersehbarkeit der nächsten Figur bringt Leichtigkeit und Spaß in die routinierte Abfolge der Grundschritte. Das ist schön und lässt sich auch auf den Alltag übertragen. Sich

immer wieder einander zuzuwenden, den anderen anzusehen, zuzuhören und aufmerksam zu erspüren, wohin er oder sie im Gespräch möchte, sind Nebenwirkungen einer Beziehung, die Raum für Neues lässt. Ganz im Sinne von Oscar Wilde: „Das Unerwartete zu erwarten, verrät einen durchaus modernen Geist“ – einen Geist, der offen für Veränderungen ist, sich eine gewisse Flexibilität zur Anpassung bewahrt und eingefahrene Muster kritisch hinterfragt.

Gegensätze, die einander brauchen

Vertrautheit und Überraschung sind zwei Pole der Intimität. Während Neues und Überraschendes vor allem beim Kennenlernen und Verlieben eine große Rolle spielt, übernimmt mit der Zeit die Vertrautheit die Führung. Sie wird zum Rückzugsort, an dem beide Partner sie selbst sein können und sich angenommen fühlen. Vertrautheit stärkt die emotionale Bindung und das Gefühl inniger Liebe. Doch so tröstlich sie auch sein mag, ohne die Unterbrechung durch überraschende Momente wird Vertrautheit so spritzig wie eine abgestandene Cola. Langeweile macht sich breit und es fällt immer schwerer, einander die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz ehrlich: Warum auch? Denn wir verbleiben in unseren Mustern und der damit einhergehenden Vorhersehbarkeit von Abläufen und Verhaltensweisen, ähnlich einem Grundschritt ohne Figuren. Nur wenn wir mit dem Unerwarteten rechnen, bleiben wir offen dafür, dass der Partner beispielsweise wirklich etwas Unvorhersehbares zu erzählen hat und hören ihm oder ihr länger als acht Sekunden zu (so lange dauert es in der Regel, bis wir innerlich unsere eigene Antwort formulieren).

Zu viele Überraschungen hingegen überfordern uns. Bestünde das Leben nur aus Überraschungen, würden wir nach kurzer Zeit erschöpft zusammenbrechen. Die Schönheit des Unerwarteten würde der Hässlichkeit des Willkürlichen Platz machen – begleitet von Angst und Stress. Der vertraute Gleichschritt und die Zeit, um die Überraschungen im Nachgang zu genießen, sind genauso wichtig.

Liebe sehnt sich nach der Sicherheit und Geborgenheit des Vertrauten, während die sexuelle Leidenschaft das Abenteuerliche der Überraschung liebt. Beide brauchen einander und bringen in ihrem Zusammenspiel Leichtigkeit und Lebendigkeit in eine Beziehung.

Das Dilemma

Überraschungen bringen Schwung in unseren vertrauten Alltag. Leider haben die meisten von uns die Tendenz, zu wenig zu überraschen und der Vertrautheit den Vortritt zu lassen. Denn zu überraschen bedeutet, sich aufzurappeln. Das kostet Energie, die wir nicht gerne verschwenden und oft einfach nicht haben. Wenn wir über längere Zeit kraftlos sind und die eingefahrenen Muster sich aufgrund des Energiemangels verstetigen, sinkt auch der Mut, die vertrauten Bahnen zu verlassen. Genauso, wie

das Verhalten unseres Partners uns Sicherheit gibt, wollen wir mit unserem Verhalten die Stabilität nicht gefährden. Leider auch dann nicht, wenn es sich um destruktive Muster handelt. Wie beim Tanz nehmen beide Partner eine Rolle ein. Und tappen dabei in eine Falle. Denn wie kann es sein, dass zwei Partner ein Problem lösen wollen und es dabei noch schlimmer machen? Beide Partner geben sich große Mühe und halten das Problem trotzdem am Leben oder machen es durch ihr Handeln noch schlimmer.

Luise und Tom kennen das. Je mehr Luise Tom bittet, seine Sachen wegzuräumen und je mehr sie demonstrativ für Ordnung sorgt, desto weniger räumt er auf und beteuert, dass ein bisschen Chaos nicht schade. Je öfter Tom Annäherungsversuche zum Sex unternimmt, desto bedrängter fühlt sich Luise und weist ihn noch öfter zurück. Was Tom als die Lösung sieht, wird für Luise zum Problem und andersherum. Beide nehmen die Probleme wahr und wollen ihnen auf den Grund gehen. Doch der Grund spielt bei der Lösung eines Problems meist eine untergeordnete Rolle. Er ist nur für die Schuldfrage relevant. Wenn wir aber wirklich eine Lösung anstreben, ist folgende Frage viel wichtiger: Will ich lieber recht haben oder verheiratet sein?

Hier kommt Überraschung ins Spiel: Zu überraschen bedeutet, sich so zu verhalten, wie es unsere Partnerin oder unser Partner nicht erwartet. Die größte Überraschung passiert somit dort, wo wir uns selbst überraschen. Denn damit rechnet der Partner bestimmt nicht. Für Tom und Luise bedeutet das, jeweils das Gegenteil von dem zu tun, was sie bisher taten. Tom müsste abends all seine herumliegenden Sachen aufräumen. Luise müsste aushalten, dass sie nicht für Toms Sachen verantwortlich ist und sie kommentarlos liegen lassen. Alternativ könnten sie als Kompromiss „Toms Minnekiste“ aufstellen, in die Luise alles werfen darf, was sie stört, und Tom die Verantwortung überlassen kann, wichtige Rechnungen unter den Socken trotzdem auf dem Schirm zu haben. Des Weiteren müsste Tom aufhören, Annäherungsversuche zu unternehmen, bis Luise freiwillig die Initiative zum Sex ergreift. Alternativ könnten die beiden einen Deal vereinbaren, dass Luise auf jeden seiner abgelehnten Annäherungsversuche selbst innerhalb von drei Tagen auf ihn zugeht. So können beide ihre Bedürfnisse wahren, ohne Vorwurfs-Rechtfertigungs-Pingpong.

Vier Stellschrauben, um die Leichtigkeit in der Beziehung durch Überraschungen zu erhalten:

1. Überrasche deinen Partner:
Kleine Überraschungen lockern den Alltag auf und teilen deiner Partnerin oder deinem Partner mit: Ich sehe dich. Du bist mir wichtig. Ich mag unsere Beziehung.

Get active: Fertige eine Liste mit Dingen an, die deine Partnerin gernhat, sowie Aufgaben, die sie überhaupt nicht gern mag und beginne, diese Aufgaben anzugehen. Überrasche sie damit am nächsten Tag wieder und den Tag darauf auch. Lade deinen Partner zu einem kurzen Abendspaziergang ums Haus ein, zünde abends mal wieder eine Kerze an oder bring deiner Partnerin morgens einen Kaffee ins Bad. Tun es bei ihr eher Worte der Anerkennung, dann verstecke kleine Botschaften in Jackentasche, Brotdose oder Geldbeutel. Oder schreibe mal wieder eine Mail, am besten in einer anderen Sprache.

2. Überrasche dich selbst:
Was könnte eine größere Überraschung sein, als sich so ungewohnt zu verhalten, dass man über sich selbst staunen muss?

Get active: Frage dich, worauf du wirklich gar keine Lust hast, und dann mache es. Wenn du beispielsweise nicht magst, dass dein Partner abends gerne am PC spielt, überrasche ihn, indem du mitspielst. Wenn du ein hingebungsvoller Langschläfer bist, stelle deinen Wecker zu einer Unzeit und mach euch einen Kaffee. Falls du dich zu den Warmduschern zählst, stell dich unter die eiskalte Dusche. Dabei darfst du gern kreischen, dann hat dein Partner direkt etwas zu lachen.

3. Bewahre einen „modernen Geist“:
Die Fähigkeit, sich flexibel an Bedingungen anzupassen und offen für Unbekanntes zu bleiben, kann geübt werden.

Get active: Wechselt jeden Monat ein paar Aufgabenverteilungen und am besten auch gleich die Bettseite. Plant jede Woche etwas zusammen, was ihr noch nie gemacht habt: eine gegenseitige Handmassage, Sex an einem neuen Ort, ein Eisbad, einen Fallschirmsprung… Je mehr Adrenalin dabei ausgeschüttet wird, desto verliebter werdet ihr danach wieder sein. Erstellt eine Traumliste, was ihr noch alles gemeinsam erleben wollt. Entlarvt typische „Das macht man halt so“ und macht das Gegenteil.

4. Mach Sport:
Ja, richtig gelesen. Sport stärkt Körper und Psyche und liefert langfristig Energie, die wir wiederum brauchen, um uns gegenseitig zu überraschen.

Get active: Schon eine einzige, schwere Wiederholung einer Liegestütze liefert messbare Effekte. Absurd einfach, oder? Falls du dich nur schwer motivieren kannst, dann kopple den Sport an feste Routinen im Alltag, wie beispielsweise eine einzige Kniebeuge nach dem Spülmaschine-Anschalten.

Viel Freude beim Blick über den vertrauten Tellerrand auf der Suche nach Alltagsabenteuern!

Tabea S. Müller ist Psychologin. Sie coacht bei „Micro Sabbaticals“ und „Friede deiner Hütte“.

Vier Tipps: So bleibst du für deinen Partner begehrenswert

Wenn ein Paar lange zusammen ist, kann die Sehnsucht nach körperlicher Nähe schwinden. Eine Psychologin gibt Tipps, wie beide Partner in einer Beziehung füreinander wieder begehrenswerter werden können.

Luise (Namen geändert) ist verliebt. Voller Spannung wartet sie auf Nachrichten von Tim. Ihr Herz hüpft, wenn er geschrieben hat. Eigentlich gehört sie zu den frühen Vögeln, aber um seine Stimme zu hören, wird sie zur Nachtigall, schläft erst nach stundenlangen Telefonaten ein. Nur um danach von Tim zu träumen. Sie begehrt ihn, will nah bei ihm sein, nicht mehr von ihm getrennt sein. Wenn er sie beiläufig streichelt oder sich ihre Knie berühren, fährt ein heißer Schauer durch ihren Körper.

Nach einigen Jahren und der gemeinsamen Hochzeit ist Tim ihr nah, schläft neben ihr ein und wacht neben ihr auf. Er ist Teil ihres Alltags geworden. Und er bleibt es auch – bis ans Ende ihrer Tage, das haben sie einander versprochen. Sie genießt seine Nähe und Vertrautheit, seine Meinung, sein Mitentscheiden bei Kleinigkeiten. Aber sie begehrt ihn nicht mehr. Die Spannung in ihr ist einer Entspannung gewichen. Die Sehnsucht ist erschlafft.

Der Raum der Gegensätze

Spannung aufzubauen und aufrechtzuerhalten, kostet Kraft. Darum lösen wir sie gern auf, so schnell es geht. Das ist menschlich. In einer Langzeitbeziehung wird es so allerdings zu entspannt. Dann lohnt es sich, sowohl Nähe als auch Distanz immer wieder ungebremst auszuhalten. Beide Extreme im Wechsel zu leben, bedeutet, deinen Mann oder deine Frau in deine Seele blicken zu lassen und ihm oder ihr andererseits Bereiche zu gewähren, die er oder sie ohne dich ausleben darf. Denn zwischen den Gegensätzen Nähe und Distanz öffnet sich ein Raum. Man kann ihn als Raum deiner Seele bezeichnen, mit der du dein Gegenüber liebst.

Gift für eure Beziehung dagegen ist der goldene Mittelweg: das schnelle Wegschauen, wenn dir der intime Blick des Partners zu nah wird. Zur Begrüßung ein Schmatzer anstatt eines innigen Sechs-Sekunden-Kusses. Deine Partnerin auf ihre bekannten Seiten zu reduzieren, weil du dich in vertrautem Terrain wohler fühlst und dir Unbekanntes Angst macht. Dem Partner nicht die Freiheit zu lassen, allein auf ein Festival zu fahren, weil du dann die Kontrolle über die Beziehung verlierst. Jede Beziehungsmelodie braucht Schwingungen, das wellenförmige Auf und Ab, damit sie schön und voll klingt. Schwingungslos, tonlos und auf Dauer ziemlich leblos ist es in der Mitte.

Das Dilemma

Endlich zusammenziehen, die Distanz auflösen, eins werden, das war Luises Ziel. Aber das hatte einen Preis. Den Preis des Nicht-mehr-Begehrens. Wir Menschen können nur begehren, was wir nicht haben. Ein Partner, der dir über Jahre hinweg treu zur Seite steht und Höhen und Tiefen mit dir teilt, den hast du ja schon. Er ist Teil von dir und du von ihm. Untermauert wird diese Annahme durch gemeinsame Kinder, gemeinsame Freundinnen und Freunde und ein gemeinsames Heim. Seid ihr miteinander so verschmolzen, dass es nur noch Wir statt Du und ich gibt, dann wisst ihr nicht mehr genau, was euch selbst ausmacht, wo ihr anfangt und aufhört. Euch gegenseitig zu begehren, wird unglaublich schwierig.

Sexuelles Begehren und Eifersucht brechen oft erst dann wieder hervor, wenn ein toter Punkt in der Beziehung erreicht ist – die Partnerin, der Partner dir entgleitet, du dir ihrer oder seiner nicht mehr sicher bist. Durch das lange Entspannen in der sicheren und vertrauten goldenen Mitte habt ihr euch auseinandergelebt, wie man so schön sagt. Unbewusst die Distanz gesucht, um euch in all der Verschmelzung nicht selbst zu verlieren, bis es mit der Entspannung vorbei war. Der Partner oder die Partnerin ist dir fremd geworden und hat sich verändert.

Angst ist oft die erste Reaktion auf Entfremdung, weil du hier kein berechenbares Aktions-Reaktions-Verhalten kennst und nicht in deiner Komfortzone bleiben kannst. Fremd im Sinne des germanischen Wortstamms „fram“ bedeutet aber nichts anderes als „fern von“ oder „weg von“. Es drückt erst einmal nur Distanz aus, der du auch mit Neugier anstelle von Angst begegnen kannst. Wenn du die Angst loslässt, dich oder deine kleine berechenbare Welt schützen zu müssen, dann kannst du deinen Partner, deine Partnerin mit einem neuen, interessierten und offenen Blick betrachten. So wie damals. Aber das passiert nicht von allein. Es braucht die Entscheidung, die gefühlte Distanz zu deinem Partner nicht als Gefahr, sondern als Potenzial zu sehen, ihn wieder ganz frisch und unvoreingenommen wahrzunehmen. Dann ist wieder Raum für Begehren.

Das Fremde ist begehrenswert

Wann fühlen sich Menschen am meisten zu ihrem Partner, ihrer Partnerin hingezogen? Laut der belgischen Psychotherapeutin Esther Perel, die zahlreiche Paare befragt hat, lassen sich die Antworten auf diese Frage folgenden Kategorien zuordnen:

  • Wenn mein Partner im Flow ist und ganz in seinem Element aufgeht
  • Wenn meine Partnerin längere Zeit weg war und wir uns wieder treffen
  • Wenn mich mein Partner überrascht
  • Wenn ich meine Partnerin mit den Augen eines anderen Menschen sehe

All diese Antworten drücken Entfremdung oder Distanz aus. Der oder die Fremde im eigentlich so vertrauten Gegenüber ist begehrenswert. Ihn oder sie besitze ich nicht. Er/sie hat Dinge im Leben, die er gut kann, die sie mag und die ihn begeistern.

Eine Partnerin, die in ihrem Element aufgeht, strahlt Selbstvertrauen aus, das ist sexy. Wenn du sie in solchen Momenten beobachten darfst, vielleicht auf der Bühne oder beim Toben mit den Kids, dann siehst du nicht deine Frau, die heute Morgen den Abwasch vergessen hat, sondern die Fremde. Sie braucht dich in diesem Moment nicht. Du kannst deine fürsorgliche Seite fallen lassen und sie bewundern.

Ein Partner, der unterwegs ist, macht Erfahrungen ohne dich und trifft Leute, die du nicht kennst. Geheimnisvoll kann er wieder Teil deiner Fantasien werden, die in der Realität des ständigen Beisammenseins verkümmert sind, sich jedoch hervorragend als Nährboden für deine Sehnsucht eignen.

Eine Partnerin, die dich überrascht, indem sie beispielsweise mit neuen Outfits spielt, eröffnet eine fremde Seite, die du noch nicht kennst. Oft zeigt sich diese Seite im Urlaub, da das Standardrepertoire des alltäglichen Verhaltens wegfällt. Sie kommt auch hervor, wenn sie sich trotz Harmonieliebe entscheidet, bei einem Streit nicht wie gewohnt auszusteigen, sondern bis zum Ende zu diskutieren, wo auf euch beide eine neue Perspektive wartet.

Einen Partner, der im Café angeflirtet wird, siehst du mit dem ersten Eindruck eines anderen. Du nimmst neu wahr, wie andere auf seinen Humor und Charme reagieren. Deine Augen öffnen sich für die bewundernswerten Dinge, für die du vielleicht mit der Zeit blind geworden bist. Du hörst ihn mit Nachbarn über Themen reden, die ihr sonst nie ansprecht, und bist von seiner Haltung angezogen. Du bekommst mit, wie sich eine alte Dame über seine Ansprache in der Kirche bedankt und erkennst, dass er im Leben anderer einen positiven Unterschied macht, den du bei dir als selbstverständlich angenommen hast.

Das Exotische, Neue, Überraschende wirkt anziehend. Das gilt auch umgekehrt. Welche Stellschrauben in deinem Leben kannst du drehen, damit dein Mann oder deine Frau auf die gleichen Antworten kommt?

Vier Stellschrauben, um begehrenswert zu bleiben:

1) Im Flow sein

Es ist leichter, deinem Partner, deiner Partnerin Freiraum zu gönnen, wenn du mit dir selbst im Reinen bist und ebenfalls deinen „Spielplatz“ gefunden hast. Fehlt dir deine „Spielzeit“ im Alltagswahnsinn und machst du dein Gegenüber dafür mitverantwortlich, dann schaffst du eine Distanz, die nicht im Begehren, sondern in Ablehnung mündet. Mal ganz ehrlich: Wie oft warst du letzte Woche so vertieft in eine

Sache, dass du die Welt um dich herum vergessen hast? Hat deine Frau, dein Mann das überhaupt mitbekommen?

Get active: Priorisiere zu Beginn der Woche freie Zeitfenster, in denen du Zeit für dich hast und dem nachgehen kannst, was dich begeistert. Sei es Puzzeln, Backen, Lesen, Stricken, Spielen, Rätseln, Programmieren oder Sport.

2) Allein reisen

Beruflich längere Zeit im Ausland zu sein, ist in manchen Branchen normal. Allein Urlaub zu machen, fühlt sich dagegen für viele falsch an. Dabei gibt es tolle Angebote. Und es eröffnet die Möglichkeit, mal keinen Kompromiss zwischen Familienzeit und Lesen, Bergen und Meer, Schweigen und Reden eingehen zu müssen. Mein persönlicher Favorit sind Schweige-Exerzitien.

Get active: Plane dieses Jahr mindestens einen Aufenthalt außer Haus allein ein.

3) Den Partner überraschen

Überraschung zeigt sich im Spontanen, im Neuen und in der Improvisation. In kleinem Stil ist da jeden Tag etwas möglich.

Get active: Probiere ein neues Gericht, google nach Witzen oder nerde dich in ein Thema ein, mit dem du deinen Partner, deine Partnerin beeindrucken kannst.

4) Ein frischer Blick

Von allen vier Stellschrauben macht der frische Blick den größten Unterschied. Leider liegt es außerhalb deiner Kontrolle, wie leicht es deinem Mann oder deiner Frau fällt, dich mit neuen Augen zu sehen. Ein Anfang ist jedoch die Gegenseitigkeit: Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.

Get active: Wenn dein Partner, deine Partnerin zu Hause ist, schließe deine Augen für mehrere Sekunden. Schau ihn/sie anschließend an, als würdest du ihm/ ihr zum ersten Mal begegnen. Was willst du über ihn wissen? Was macht sie interessant, wenn man alle Aspekte ausblendet, die mit eurer Beziehung und deinen eigenen Bedürfnissen zu tun haben? Es braucht sowohl ein gutes Gespür für sich selbst und für den anderen als auch den Austausch darüber, um gemeinsam im Takt beim Tanz zwischen den Extremen Nähe und Distanz zu bleiben. Dazu ermutige ich dich und wünsche viel Erfolg!

Tabea S. Müller ist Psychologin und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in der Nähe von Karlsruhe.

Störenfried: Wenn das innere Kind dazwischenfunkt

Ein plötzlicher Ausraster, undefinierbare Gefühle – so oder anders kann sich das innere Kind zu Wort melden und die Harmonie in der Partnerschaft stören. Therapeutin Melanie Schüer erklärt die Zusammenhänge.

„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich mich so aufgeregt habe. Irgendwas hat mich daran total getroffen …aber es ist nicht deine Schuld“, murmelt Lea, während sie sich Milch in ihren Kaffee gießt und zaghaft ihrem Mann zulächelt. Wieder mal ist sie ziemlich wütend geworden in einer Situation, die so ähnlich – das fällt ihr jetzt, mit etwas Abstand auf – immer wieder für Konflikte sorgt.

„Wenn ich mal so darüber nachdenke, geht es bei meinen Ausrastern ziemlich oft um dieses Thema Vergessen werden“, denkt sie laut nach. Und tatsächlich: Gerade hat ihr Mann den Käse vergessen, den sie so gern morgen zum Frühstück genossen hätte. Ihr Sohn hat vor ein paar Tagen nicht daran gedacht, ihren Brief zur Post zu bringen, als er in der Stadt war und als ihre beste Freundin hatte sich letzte Woche nicht, wie angekündigt, gemeldet. In all diesen Situationen hatte Lea ziemlich wütend reagiert – übertrieben wütend, wie sie selber findet, eigentlich unreif, kindlich. Und das ist ganz logisch, denn diese Situationen lösen aufgrund von Leas Biografie etwas aus, das ihr inneres Kind betrifft.

Das innere Kind und die Persönlichkeit

Manchmal nehmen wir Menschen in uns verschiedene Stimmen wahr. Das ist keine Spaltung der Persönlichkeit, sondern die normale Tatsache, dass jeder Mensch verschiedene innere Anteile besitzt. Diese inneren Anteile hängen auch mit unseren unterschiedlichen Rollen zusammen, die wir im Alltag einnehmen – zum Beispiel der Rolle als Freundin, als Partner, als Mutter, Vater, Angestellter oder als Schülerin. Das innere Kind ist der Teil unserer Persönlichkeit, der stark in unserer Kindheit verwurzelt ist. Hier kommen prägende Eindrücke, Gefühle und Erfahrungen aus unserer Kindheit zum Tragen.

Innerer Erwachsener – inneres Kind

Zwei oft sehr gegensätzliche innere Anteile sind das sogenannte ‚Erwachsenen-Ich‘ und das ‚Innere Kind‘. Wenn wir sicher in der Rolle als Erwachsene agieren und uns dem, was uns begegnet, gewachsen fühlen, dann ist das Erwachsenen-Ich in uns besonders präsent. Wir fühlen uns dann souverän, selbstsicher und kompetent – zumindest sind diese Gefühle stärker als Ängste, Sorgen oder Selbstzweifel. Es ist wortwörtlich der erwachsene, reife Teil unserer Persönlichkeit – man könnte auch sagen, „Die Stimme der Vernunft“. Das mag positiv klingen, beinhaltet aber auch negatives Potenzial im Sinne von Druck, Perfektionismus und Verlust von Lebensfreude. Wer immer nur auf die eigene innere Erwachsene hört, schwächt oft wichtige Aspekte des Lebens wie Fantasie, Unbeschwertheit, Freude oder Spontaneität.

In diesen Zuständen kommt ein anderer Anteil besonders stark zum Vorschein: unser inneres Kind. Das innere Kind kann uns befähigen, das Leben zwischendurch leicht zu nehmen und zu genießen. Wir können dann herumalbern und völlig im Moment sein. Gleichzeitig sind mit dem Inneren Kind auch bestimmte negative Erfahrungen verbunden. Wenn das innere Kind in uns stark wird, dann kann es auch passieren, dass wir uns unzulänglich, gedemütigt, abgelehnt, hilflos oder belächelt fühlen. Diese Gefühle hängen mit Erfahrungen aus unserer Kindheit zusammen, die natürlich individuell unterschiedlich sind. Sie werden in Momenten wach, in denen wir an Situationen aus unserer Kindheit erinnert werden – oft sprechen wir dann von „Triggern“. Es kann sich dann anfühlen, als wären wir in die Situation von früher zurückversetzt. So wie Lea, die mit Blick auf die Trigger-Situationen der letzten Zeit ein Muster erkennt und versteht, dass sie sich in diesen Momenten fühlt wie in bestimmten Situationen ihrer Kindheit.

Grundüberzeugungen auf der Spur

Prägende Erfahrungen in der Kindheit führen zur Entwicklung fester Grundüberzeugungen. Das sind quasi Glaubenssätze, die oft unbewusst unsere Sicht auf uns selbst, andere Menschen und Situationen formen. Grundüberzeugungen können zum Beispiel sein:

  • Wenn ich nicht alles perfekt mache, werde ich nicht akzeptiert
  • Wenn ich anders als andere bin, werde ich zurückgewiesen
  • Egal was ich tue, es ist nie genug
  • Ich darf nicht zu hohe Ansprüche stellen, um andere nicht zu nerven
  • Ich muss alles kontrollieren, weil ich sonst nicht sicher bin
  • Andere Menschen werden mich früher oder später enttäuschen
  • Wenn andere mich wirklich kennenlernen, mögen sie mich nicht mehr

Selbstverständlich gibt es auch positive Überzeugungen, zum Beispiel „Ich kann etwas leisten!“ oder „Ich darf meine Meinung sagen!“ Aber durch Krisen und Problemen, insbesondere in der Paarbeziehung, bekommen die negativen Grundüberzeugungen stärkeres Gewicht. Das hängt damit zusammen, dass wir uns in einer Paarbeziehung besonders öffnen und dadurch verletzlich machen und an unser Gegenüber Bedürfnisse und Erwartungen herantragen, die denen eines Kindes gegenüber den Eltern ähneln (Geborgenheit, Annahme, Liebe, Interesse, etc.).

Im Fall Lea

In Leas Fall könnte man die negative Grundüberzeugung in etwa so formulieren: „Wenn andere mich vergessen, zeigt das, dass ich ihnen nicht wichtig bin.“ Lea war mit einem völlig überforderten alleinerziehenden als Vater groß geworden. Der Vater hatte oft vergessen, Lea etwas zu Essen vorzuberteiten oder Lea vom Kindergarten abzuholen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie dann als letztes Kind noch wartete, während ihr Erzieher Jan versuchte, ihren Vater zu erreichen.

Wenn Lea ihren Vater dann weinend begrüßte, spielte er das Problem herunter: „Ach komm, mach‘ doch nicht so ein Theater, Lealein. Ich komm doch immer irgendwann, oder etwa nicht? Es dreht sich doch nicht immer alles nur um dich.“ Irgendwann hatte sich Leas Traurigkeit mit Wut vermischt. Die Wut half ihr ein wenig, sich stärker zu fühlen. Das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der Traurigkeit, die ja ohnehin nur belächelt wurde, wurde ein wenig abgeschwächt durch die Wut über das Verhalten ihres Vaters. Und genau diese Gefühle kamen auch jetzt wieder hoch, wenn sich vergessen und infolgedessen nicht wertgeschätzt fühlte.

Das innere Kind und die Paarbeziehung

Diese negativen Grundüberzeugungen aus der Kindheit und die dazugehörigen Gefühle wie Scham, Angst Traurigkeit, Wut und Verhaltensweisen wie Konfliktvermeidung, übertriebene Anpassung oder mangelnde Offenheit haben einen enormen Einfluss auf die Entwicklung einer Paarbeziehung. Denn in einer solchen Beziehung machen wir uns besonders verletzlich und entwickeln eine enge Verbundenheit, die auch Verlassensängste oder Angst vor Abhängigkeit auslösen kann.

Im Paar-Alltag werden immer wieder Situationen entstehen, die uns an Erlebnisse aus der Kindheit entwickeln – oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst. Diese Ähnlichkeit der Situation (zum Beispiel eine frustrierte Reaktion meines Partners, weil ich etwas nicht schaffe) kann die vertrauten Denkmuster, Gefühle und dann auch Verhaltensweisen auslösen, zum Beispiel, wenn Lea ihren Mann anschreit, weil sie sich in diesem Moment wieder wie die kleine, vergessene Lea fühlt und, weil die Traurigkeit sich zu überwältigend anfühlt, mit Wut reagiert.

Diese Dynamik kann Konflikten immer wieder befeuern, weil beide Partner nicht verstehen, was eigentlich gerade passiert. Scheinbare kindische, unreife Verhaltensweisen treten immer wieder zutage, denn handlungsleitend ist in diesen Fällen tatsächlich das innere Kind!

Das innere Kind auf frischer Tat ertappen

Um diese Zusammenhänge zu erkennen, ist es wichtig, zunächst einmal zu verstehen, welche Situationen zu Unstimmigkeiten und Konflikten führen. Überlegen Sie in einer ruhigen Situation, mit etwas Abstand zu einem konkreten Streit, ob Sie gewisse Muster erkennen können. Was haben die letzten Konfliktanlässe, an die Sie sich erinnern können, gemeinsam? Was sind Themen, die ähnlich sind – zum Beispiel Äußerung von Kritik, Umgang mit Verschiedenheit, Einstellungen zu bestimmten Fragen wie Haushaltsführung, Finanzen, Alltagsgestaltung. Meist kommen schnell Muster zum Vorschein und zeigen an, was Ihr inneres Kind oder das Ihres Gegenübers triggert.

Dann gilt es, ein wenig in der Zeit zurückzureisen: Inwiefern kennen Sie dieses Thema/ähnliche Situationen aus Ihrer Kindheit? Wie haben Sie sich damals gefühlt? Was war damals belastend und stressig? Was hat Sie verletzt, beschämt, wütend gemacht oder geängstigt?

Das innere Kind beruhigen

Wichtig ist, in so einem Reflexionsprozess das innere Kind nicht einfach beiseitezuschieben im Sinne von „Ach so, das liegt nur an meiner Kindheit – okay, das ignoriere ich.“ Das wäre auf Dauer nicht hilfreich, denn das innere Kind meldet sich an ähnlichen Stellen wieder, weil dieses Thema in der Kindheit nicht ausreichend geklärt und verarbeitet werden konnte. Es gilt daher, die Verletzung des inneren Kindes ernst zu nehmen und wie ein liebevoller Erwachsener mit Verständnis zu reagieren.

Es klingt vielleicht komisch, aber erlauben Sie sich ruhig ein wenig Kopfkino. Stellen Sie sich selbst als Kind in einer belastenden Situation vor, an die Sie sich noch erinnern können. Und dann gehen Sie in Ihrer Fantasie als heutiges, erwachsenes Ich auf Ihr jüngeres Ich zu und blicken es freundlich an. Sagen Sie ihm das, was Sie damals schon hätten hören müssen. Sprechen Sie Ihm Mut und Trost zu und erklären Sie, dass die Situation heute anders ist als damals. Wenn Sie offen dafür sind, stellen Sie sich auch gerne vor, sich dem inneren Kind zuwendet, es tröstet und stärkt.

Grundüberzeugungen verändern

Wenn Sie einen Schritt weitergehen möchten, reflektieren Sie auch, welche Grundüberzeugung hinter dem erlebten Konflikt stehen könnte – zum Beispiel im Beispiel von Lea: „Ich werde vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“

Überlegen Sie, welche Erfahrungen zu dieser Überzeugung geführt haben – und welche anderen, positiven Erfahrungen und Erkenntnisse ihr widersprechen. Sammeln Sie ruhig Argumente, was für uns was gegen die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Und wenn sie der Realität nicht standhält, dann formulieren Sie – am besten schriftlich, so lernt unser Gehirn effektiver – eine positivere, realistische Grundüberzeugung – wie beispielsweise „Ich bin Gott so wichtig, dass er sogar die Zahl der Haare auf meinem Kopf kennt. Ich bin mir selber wichtig. Und es gibt Menschen, denen ich wichtig bin wie …..“ Lesen Sie sich die positiven Sätze immer wieder durch – so So können Sie neue Denkpfade prägen, die nach und nach Ihre Wahrnehmung prägen und zur Realität werden. Womöglich fühlt sich das anfangs künstlich an – das ist normal, denn Ihr Gehirn hat ja jahrelang das Gegenteil gedacht! Geben Sie dem Training also etwas Zeit.

Nicht alles geht in Eigenregie

Vieles können wir selbst durch Reflexion erreichen. Manche Prozesse brauchen aber Begleitung und Hilfe. Einige Grundüberzeugungen sitzen so tief, haben eine so destruktive Wirkung, manche Erfahrungen unseres inneren Kindes waren so massiv, dass eine Aufarbeitung alleine nicht gelingt. Ein freundliches, professionelles Gegenüber macht einen großen Unterschied und kann einen sehr heilsamen Prozess in Gang bringen. Psychotherapie, Lebensberatungsstellen und Seelsorge können dazu hilfreiche Angebote sein.

Melanie Schüer ist Mutter von zwei Kindern und areitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin im Osnabrücker Land.

Fürsorge und Sicherheit: Worauf es bei bindungsorientierter Erziehung ankommt

Dass Kinder alle Wünsche erfüllt bekommen, ist eins der Vorurteile in Bezug auf bindungsorientierte Erziehung. Wie dieser Erziehungsansatz tatsächlich gedacht ist, erklärt Expertin Marina Hoffmann.

Viele Eltern wollen sich von den Erziehungsmethoden ihrer eigenen Kindheit distanzieren und suchen nach neuen Wegen der Erziehung. Wichtig dabei ist jedoch, sich nicht allein aus eigenen Kindheitswunden heraus leiten zu lassen, sondern einen klaren Blick dafür zu bekommen, was Kinder zum gesunden Aufwachsen brauchen.

Gefühlsausbrüche

Manche Eltern fühlen sich beispielsweise dazu bewegt, jede Träne oder Wut ihres Kindes zu vermeiden, um die Beziehung nicht zu belasten oder das Kind nicht zu verletzen. Und ja, die Gefühlswucht von Kindern, wenn sie Grenzen erleben, kann sehr schwer anzusehen sein. Man möchte sein Kind am liebsten davor beschützen – und vielleicht auch sich selbst. Es erfordert sehr viel Energie und die Fähigkeit zur Selbstregulation, um diese unangenehmen Gefühle auch halten und begleiten zu können.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht schaden Gefühlsausbrüche und Tränen aber weder der Kind-Eltern-Beziehung noch dem Kind selbst, ganz im Gegenteil: Die Bindung zwischen Kind und Elternteil kann sogar gestärkt werden, wenn das Kind dabei die Erfahrung macht, dass seine Eltern diesen Gefühlen einen sicheren Raum geben und trotz des Wutanfalls weiterhin präsent und zugewandt bleiben. Ein Kind, das in seiner Wut gesehen wird und Co-Regulation erfährt, lernt, dem eigenen Frust einen gesunden Ausdruck zu geben. Langfristig lernt es, seine Gefühle besser zu regulieren. Es macht außerdem die Erfahrung, dass seine Eltern Werte und Grenzen haben, für die sie einstehen dürfen.

Führung und Fürsorglichkeit

Die Co-Regulation eines 3-jährigen Kindes kann beispielsweise so aussehen: 1 „Ja, du bist jetzt echt sauer. Das ist richtig ärgerlich.“ Sieh das Kind in seinem Frust mit einer annehmenden Haltung und benenne das Gefühl.

2 „Drück gegen meine Hände, zeig mir, wie viel Wut du in dir hast!“ Zeige eine Möglichkeit auf, wie das Kind seinen Frust herauslassen kann, ohne jemanden zu verletzen. 3 „Puh, das war heftig. Aber wir haben es geschafft. Komm, wir knabbern jetzt einen Apfel.“ Versichere dem Kind, dass die Beziehung keinen Schaden genommen hat. Besprich die Situation erst, wenn das Kind entspannt und wieder aufnahmefähig ist.

Entgegen manchen Vorurteilen unterstützt der bindungsorientierte Ansatz also weder eine partnerschaftliche Haltung gegenüber dem Kind noch eine Erziehung ohne Grenzen. Vielmehr brauchen Kinder einen fürsorglichen Erwachsenen, der Sicherheit ausstrahlt und bei dem sie sich fallen lassen können. Elterliche Führung, gepaart mit unerschütterlicher Fürsorglichkeit, sind die Voraussetzungen, dass das kindliche Nervensystem Sicherheit registrieren und zur Ruhe finden kann.

Marina Hoffmann ist Expertin und Coach für Bindungsorientierte Erziehung.

Langfristige Partnerschaft: Von Spaziergängen und Wanderwegen

Eine Partnerschaft durchlebt viele verschiedene Stadien und ist von unterschiedlichen Faktoren geprägt. Wie wir Herausforderungen gemeinsam meistern und langfristig glücklich bleiben können, verrät Paartherapeutin Ira Schneider.

Zueinander „Ja“ zu sagen bedeutet, sich all dem Schönen zu widmen, das eine Partnerschaft zu bieten hat. Wir dürfen das Paarsein feiern – all das Leichte, Fluffige und Blumige genießen. Aber nicht nur: Manche der gemeinsamen Wegstrecken sind wie Spaziergänge, andere wie Wanderungen mit Hürden.

Berge und Täler

Wer eine Weile gemeinsam durchs Leben tanzt, erfährt auch Herausforderungen. Nicht nur ältere Paare, sondern auch viele junge Paare wissen unabweislich: Jedem Paar begegnen Stolpersteine. Das Leben, das uns von außen vor Herausforderungen stellt, aber auch unser emotionales Gepäck, die Anteile, die wir mitbringen, können überwältigend sein. Genau deswegen ist es wichtig, sich gemeinsam bewusst auf die Spaziergänge und auf die Wanderwege zu begeben, die uns zu Überwindern machen. Gemeinsam machen wir uns mit unserem Gepäck auf durch die Berge und Täler. Dabei gilt es, sich auch den inneren und äußeren Gepäckstücken behutsam zuzuwenden. Viele sind ständig auf der Suche nach neuen Tools, nach etwas, das schnell hilft. Das alles hat seine Berechtigung. Für Wanderwege dagegen braucht man Zeit, um sie zu bewältigen. Genauso kostet es Zeit und Bereitschaft, sich den biografischen Spuren zuzuwenden. Aber es lohnt sich.

Dieser Wanderweg kann für jedes Paar zu einer noch verbundeneren Zukunft führen, denn etwas, das fast jedes Paar nach einiger Zeit der Reflexion erlebt, ist, dass man innerhalb einer Beziehung mit seinem Gegenüber so spricht, wie früher mit einem selbst gesprochen wurde, oder dass man sein Gegenüber so erlebt, wie man Bindungspersonen in seiner Kindheit und Jugend erlebt hat. Da wiederholt sich etwas, da wird etwas Altes aktualisiert: Geborgenheit und Schmerz. Macht und Ohnmacht. Vertrauen und Angst. Zuwendung und Abwendung.

Prägende Vergangenheit

Das Gemenge unserer kindlichen Erfahrungen, und zwar sowohl der wohltuenden als auch der schmerzlichen, vermischt sich mit unserem Hier und Jetzt. Muss uns das beunruhigen? Auf keinen Fall: Mit unserem Gegenüber können wir Uraltes überschreiben, ein zutiefst heilsames Korrektiv erleben und neue Beziehungserfahrungen über alte legen. Wir können unseren Lebenspfad neu beschreiben. Was wir nicht verkennen dürfen, ist, dass wir unsere Prägung nicht einfach abschneiden, uns umdrehen und nach vorne schauen können, als wäre sie bedeutungslos. Sie bleibt bei uns. Sie zählt. Sie ist nicht egal. Sie richtet sich ein und beeinflusst unbewusst unser Handeln und Fühlen im Hier und Jetzt. Wir können sie nicht mal eben wie ein Gewand abstreifen. Nein, sie kommt in einem anderen Kleid immer wieder ans Tageslicht.

Die vergangenen Erfahrungen jedes Einzelnen in seinem ursprünglichen familiären Umfeld und in seiner frühkindlichen Entwicklung haben mit den größten Einfluss auf eine Paarbeziehung. Das Gute ist aber: Alles, was wir verstehen, kann uns daran hindern, unbewusst alte verinnerlichte Reaktionsmuster zu wiederholen. Aber eins ist paradoxerweise wahr: Zurückblicken bringt Paare nach vorne.

Ob ihr in eurer Partnerschaft lieber erst einmal spazieren gehen und euch der gemeinsamen Wundertüte des Gestaltens widmen wollt oder gleich mit der Wandertour starten wollt, ist euch überlassen. Ihr entscheidet, was ihr gerade am meisten braucht. Wenn Ihr Lust habt: Ich würde mich freuen, euch mit meinem Buch auf der gemeinsamen Reise zu begleiten.

Ira Schneider arbeitet als Paartherapeutin und Autorin. Der Ausschnitt stammt aus ihrem frisch erschienenen Ratgeber „Jeden Tag ein neues Ja“ bei SCM Hänssler. Mehr dazu unter: @ira.schneider_ und auf schneider-ira.com

Die wahren Gründe hinter dem Streit

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Therapeut verrät: Darum streiten wir wirklich

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Psychotherapeut Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Was die Ehe schützt – Drei Lehren aus gescheiterten Beziehungen

Prinzipiell ist keine Ehe sicher davor, ins Wanken zu geraten. Was können wir tun, um die Ehe zu schützen? Paartherapeut Jörg Berger zieht Lehren aus gescheiterten Beziehungen und zeigt, was helfen kann.

Würden Menschen ein Haus bauen, wenn dabei jeder Dritte scheitern und das Haus mit Verlust verkaufen würde? Vermutlich nicht. Den meisten Menschen wäre das Risiko zu groß. Zum Glück ist unsere Risikobereitschaft größer, wenn es um die Ehe geht. Obwohl jede dritte Ehe zerbricht, gehen Menschen glücklich und hoffnungsvoll hinein. Vielleicht denkt man anfangs, die Menschen, deren Ehe nicht gelingt, seien irgendwie anders als man selbst. Doch die Lebenserfahrung zeigt: Es sind wunderbare Menschen, die auseinandergehen – nicht weniger reif und nicht weniger liebevoll als andere. Außenstehende erleben dann oft einen bangen Moment: Könnte uns das auch treffen? Jedes Ehepaar kann in eine kritische Situation geraten. Doch wir können von gescheiterten Paaren lernen. Denn im Nachhinein zeigt sich, was sie geschützt hätte.

Vertrauen, wenn es bedrohlich wird

Zehn Jahre lang waren Verena und Dirk glücklich miteinander. Dann erlebte Verena eine persönliche Krise, infolge derer es Verena wichtig war, selbstbewusster zu werden und ihr Leben stärker in die eigene Hand zu nehmen. Sie dachte, dass dies keine Auswirkungen auf ihre Ehe hätte. Doch sie hat eine Lawine in ihrer Beziehung losgetreten. Dirk fühlte sich übergangen und abgeschrieben. Erst bemühte sich Verena, ihm mehr Liebe zu zeigen und auf Dirks Gefühle einzugehen. Aber weil das wenig half, zog sie sich zurück. Konnte es sein, dass Dirk einbricht, nur weil sie ein wenig selbstbewusster geworden ist? Der Alltag funktionierte noch, aber das Glück und die Nähe waren weg. Sobald Verena ein falsches Wort sagte, war Dirk verletzt. Sie überlegte, auszuziehen.

Kann man sich vor solchen Entwicklungen schützen? Nein, leider nicht. Aber man kann eine Haltung einnehmen, die einen solchen Teufelskreis durchbricht. Es ist menschlich, dass wir dem anderen unser Vertrauen entziehen, wenn wir verletzt oder enttäuscht werden. Doch genau das setzt einen Teufelskreis in Bewegung. Diesen durchbricht man, indem man das Vertrauen erneuert. Für Verena könnte das so aussehen: „Für mich wirkt es so, als würde Dirk kindisch reagieren und als könnte er nur mit mir zusammen leben, wenn ich schwach bin. Doch so war Dirk doch eigentlich nie. Auch wenn ich seine Gefühle nicht verstehe, gibt es sicher einen Weg, wie er sich mit mir verbunden fühlen kann und ich trotzdem die Freiheit behalte, die mir gerade so guttut.“

Dirk könnte sein Vertrauen so aufrichten: „Es fühlt sich für mich zwar so an, als würde Verena unser gemeinsames Leben verraten und als wäre ihr die Selbstverwirklichung wichtiger als unsere Liebe. Aber eigentlich kann das nicht sein. Verena war nie selbstbezogen. Außerdem hat sie sich ja bemüht, auf meine Gefühle einzugehen, auch wenn mir das noch nichts gebracht hat. Wenn sie erst einmal versteht, wie es mir geht, was ich brauche und dass ich nichts Schlimmes von ihr verlange, können wir sicher einen gemeinsamen Weg finden. Sie ist bereit, mir zuzuhören, wenn ich ihr keine Vorwürfe mache.“

Natürlich sollte man prüfen, ob der Mensch, an den man sich binden möchte, vertrauenswürdig ist. Doch wenn man einem Menschen vertrauen kann und sich das durch das gemeinsame Leben bestätigt, muss man dem anderen das Vertrauen nie mehr entziehen. Dann sollen die Teufelskreise ruhig kommen. Selbst wenn nur einer das Vertrauen aufrecht hält, findet man wieder heraus.

Betrauern, was nicht möglich ist

Wieder ein schweigsames Sonntagsfrühstück. Irinas Mann liest etwas auf dem Smartphone. Sie betrachtet ihn. Plötzlich wird es ganz klar und ruhig in ihr: „Ich mag diesen Menschen nicht. Ich kann ihn nicht lieben, jedenfalls nicht als Ehefrau.“ Irina hatte ihren Mann schnell geheiratet. Sie engagierten sich damals in einer neu gegründeten Kirchengemeinde. Beide waren begeistert und haben viel mit Gott erlebt. Hatte sie das blind gemacht für die Frage, ob sie zueinander passen? Oder haben sie geglaubt, dass Gott alles gut macht, was schwierig ist? Irina kann sich heute nur schwer in ihr jüngeres Ich zurückversetzen.

Um zu verstehen, warum Ehen scheitern und was Ehen schützt, muss man manchmal auf die Partnerwahl zurückblicken. Denn die gelingt nicht immer. Befunde aus der Paarpsychologie legen nahe, dass knapp die Hälfte der Paare umfassend zufrieden mit ihrer Beziehung ist. Sie sagen: „Ich könnte nicht glücklicher sein, auch wenn bei uns natürlich nicht alles perfekt ist.“ Andere zweifeln in dunklen Stunden an ihrer Wahl. Sie sagen: „In manchen Bereichen passen wir gut zusammen, aber in anderen fehlt etwas so Wichtiges.“

Wie nicht jeder den perfekten Beruf oder die perfekte Wohnung findet, verliebt sich nicht jeder Mensch in eine Person, die umfassend passt. Viele Menschen entwickeln erst nach der Hochzeit die Reife, die erkennen lässt, wer man im Tiefsten ist und was man braucht. Doch niemandem würde man raten, deshalb mit der Partnerwahl zu warten, bis man 40 ist. Besser geht man ins Risiko. Mit diesem Risiko kann man einen Weg finden.

Meist kann man den Mangel bewältigen, bevor dadurch die Ehe zerbricht oder sich ein Verliebtsein außerhalb der Ehe entzündet. Dazu ist etwas nötig, das man in der Psychologie Trauerarbeit nennt. Vieles kann fehlen in einer Ehe: tiefere Gespräche, Berührungen, leidenschaftliche Sexualität, gemeinsame Interessen, emotionale Wärme. Wenn klar wird: Das Gegenüber kann das von der Persönlichkeit her nicht geben und möchte sich auch nicht auf eine Entwicklung einlassen, ist das wie ein Verlust, der existenziell erschüttert. Doch Menschen kommen selbst über schwere Verluste hinweg und werden wieder glücklich. Warum sollte das nicht auch funktionieren, wenn in der Ehe etwas fehlt? Doch die Trauer darüber verläuft ähnlich heftig. Sie beginnt, wenn man nicht mehr gegen den Mangel ankämpft, sondern ihn akzeptiert: „Das fehlt mir. Ich würde es so dringend für mein Glück brauchen. Doch ich werde es in meiner Liebesbeziehung nicht bekommen.“

Die Trauer darüber kann überwältigend sein. Man darf damit nicht allein bleiben. Man braucht gute Freunde und Begleiter, die einfach mit aushalten. Trauer verläuft in Wellen. Endlich glaubt man, allmählich damit klarzukommen, schon rollt eine neue Welle heran. Doch irgendwann wird eine Freude spürbar, ein neues Glück. Glaubende Menschen entdecken manchmal: „Genau da, wo mir menschlich etwas fehlt, ist meine Beziehung zu Gott inniger geworden. Hier ist jetzt Gott selbst mein Glück.“ Hätte es Irinas Ehe gerettet, wenn sie vor 15 Jahren getrauert hätte, statt weiter zu kämpfen und zu scheitern, statt weiter zu hoffen und enttäuscht zu sein? Vielleicht. Ihr Irren bei der Partnerwahl wiegt schwer, weil die Persönlichkeit ihres Mannes so wenig von dem abdeckt, was sie braucht. Es ist tragisch, wenn einem das erst im Nachhinein bewusst wird. Doch nicht immer liegt es an der Partnerwahl, wenn man das Gefühl hat: „Wir passen einfach nicht zusammen.“

Ein Fundament für die Ehe bauen, bevor die Stürme kommen

Heiko hat einen tiefen Glauben. Er hat seine Familie mitgezogen und Familienandachten eingeführt. Manchmal hat er die anderen moralisch unter Druck gesetzt. Denn Heiko hatte klare Vorstellungen, wie man als Christ lebt und wie nicht. Umso schockierender war es, dass ausgerechnet er fremdgegangen ist, zunächst heimlich und dann ganz offen. Wie passt das denn zu dem, was Heiko immer so ernsthaft vertreten hat? Doch Heiko hat seinen Glauben einfach an seine Gefühle angepasst: Man müsse auf das hören, was einem das Herz sagt. Gott wisse, dass Menschen scheitern, und er vergibt. Er möchte nicht, dass man in einer Ehe bleibt, die einem wie ein Gefängnis vorkommt. Das hätte Heiko so nie vertreten – bis die andere kam.

Kann man dem vorbeugen? Damit man nicht irgendwann von Gefühlen bestochen und seiner Überzeugung untreu wird? Ja, aber dazu braucht man eine Bindung, die wichtiger ist als das eigene Glück. Für mich persönlich sah das so aus: Ich habe als junger Erwachsener zum christlichen Glauben gefunden, der seither mein Leben prägt und mir mit der Bibel ein gutes Wertefundament gibt, die meine Entscheidungen leitet. Seit 30 Jahren habe ich deshalb Menschen, denen ich davon erzählen darf, wie sich mein Leben entwickelt. Sie helfen mir, auf dem Weg zu bleiben, den ich für mein Leben als richtig erkannt habe. Was sonst könnte mich halten, wenn ich einmal vor einem Abweg stehe?

Wenn mich jemand fragt, wie man eine Ehe aufbauen kann, würde ich daher antworten: „Überlege dir, was du tun möchtest, wenn die Stürme kommen, mit denen jeder rechnen muss: ein Fremdverliebtsein, eine emotional unerträgliche Situation oder auch eine Wüstenzeit, in der schöne Gefühle in der Beziehung fehlen. Und sorge jetzt dafür, dass du dann nach deinen Werten handeln wirst.“ Man kann sich gegenüber einem Freund oder einer anderen Vertrauensperson festlegen: „Wenn ich einmal in eine solche Situation gerate, möchte ich so damit umgehen. Erinnere mich dann bitte daran, frage nach, lass dich nicht abwimmeln.“

Wer glaubt, kann sich auch Gott gegenüber festlegen: „Ich werde mich dann eine Woche in die Stille zurückziehen, um zu hören, wie du mich weiter führen möchtest.“ Auch das ist keine Garantie für das Gelingen einer Ehe, aber es ist ein Fundament dafür, mit Krisen so umzugehen, wie es der eigenen Überzeugung entspricht. Ich habe schon viele Paare begleitet, für die genau das die Ehe gerettet und wieder glücklich gemacht hat.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut mit eigener Praxis in Heidelberg. Er ist mit Vorträgen, Büchern und Online-Kursen unterwegs, um Ehen zu stärken (psychotherapie-berger.de/family).

Abtreibung – und nun? Das brauchen Betroffene jetzt

Eine ungewollte Schwangerschaft und eine Abtreibung kann Frauen große Not bereiten. Eine Expertin erklärt, wie Verwandte und Freunde Betroffenen beistehen können.

Das wichtigste ist, für die Betroffenen da zu sein. Viele Frauen, die zu uns in die Beratungsstelle kommen, erzählen, dass sie von ihrer Meinung und Einstellung her immer gegen einen Schwangerschaftsabbruch waren. Als sie dann plötzlich schwanger wurden, haben sie sich doch für eine Abtreibung entschieden. Sie mussten eine Entscheidung treffen, ohne alles überblicken zu können. Der Schmerz innerhalb dieser Entscheidung ist, dass ein Schwangerschaftsabbruch endgültig ist. Dennoch gibt es einen Neubeginn, immer Hoffnung und es ist einfach wertvoll, wenn du jetzt für die Person, der du nahstehst, da bist und bleibst.

Abtreibung – eine Zeit voll Angst und Zeitdruck

Für einen Menschen da zu sein, der einen Schwangerschaftsabbruch erlebt hat, ist von hohem Wert. Die Zeit vor der Abtreibung ist von Angst geprägt und von dem Zeitdruck, in dem die Entscheidung getroffen werden musste. Die Frau hat den Vorgang des Schwangerschaftsabbruchs in und mit ihrem Körper erlebt und überlebt. Wenn nun alles vorbei ist, ist tatsächlich alles vorbei: Der Bauch ist leer. Leere füllt das Innerste. Die Welt um sie herum dreht sich weiter, aber die eigene Welt ist stehen geblieben. Was ist passiert? Abends, nachts oder auch tagsüber kommen viele Fragen hoch. Und oft auch wortlose, einsame Tränen.

Nicht selten ziehen sich Frauen zurück und verstummen, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch erlebt haben. Indem du der Person zeigst, dass du trotzdem und gerade jetzt für sie da bist, zeigst du ihr Wertschätzung und Anerkennung. Und nicht nur ihr. Es ist auch ein Ausdruck von Wertschätzung und Würdigung dem Menschen gegenüber, der nicht (mehr) ist: das Kind.

Betroffene erleben Grenzverletzung

Sei dir bewusst: Ein Schwangerschaftsabbruch ist immer auch eine Grenzverletzung. Es muss körperlich eine Grenze überschritten werden, damit die Schwangerschaft beendet werden kann. Viele empfinden zudem eine emotionale Grenzverletzung, weil der Verstand das Herz übertönt hat.

Wenn wir den Weg der Abtreibung gehen, treffen wir in der Gegenwart eine Entscheidung für die Zukunft. Das kann sein: „Jetzt bin ich schwanger (Gegenwart) und der Entbindungstermin fällt genau mit meinem Examen zusammen (Zukunft)“, ein typisches Beispiel aus meinem Beratungsalltag. Wenn die Frau dann das Examen hinter sich hat, erlebt sie die „Zukunft“, über die sie damals die Entscheidung getroffen hat und fragt sich: „Hätten wir doch beides geschafft: schwanger bleiben, das Kind bekommen und das Examen?“

Das sind Zeitpunkte, in denen Schmerz und Trauer auch noch viel später auftauchen können. Lass dich davon nicht verunsichern! Stell Fragen – und höre Antworten! Nimm Anteil – und bleibe zugewandt! Bleib da, durch alle Zeiten hindurch!

Tirza Schmidt ist Gründerin der „VillaVie. Raum für dich” in Bochum, die anbietet, über das Tabu Schwangerschaftsabbruch in den Dialog zu kommen. Infos: villa-vie.org, Instagram: @villavie_