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Gegensätze in der Ehe – Kraft oder Sprengstoff?

„Warum siehst du das so ganz anders, als ich mir das vorstelle?“ „Warum bist du so weit weg?“ Dr. Michael Hübner erzählt von einem Paar, das sich neu finden musste.

Das gibt’s doch einfach nicht! Ohne sich mit mir abzusprechen, hat mein Mann einen Urlaub in Norwegen gebucht. Einfach alles: Häuschen am See, Überfahrt mit der Fähre und vieles mehr. Ich bin so enttäuscht! Bin ich denn eine Marionette, dass ich da überhaupt nicht mitreden kann? Er ruft auch einfach den Lehrer von unserem Sohn an wegen der Rechtschreibschwierigkeiten, oder er leitet den Neukauf eines Elektroautos ein. Wie oft habe ich ihm schon gesagt, dass ich da auch mitentscheiden möchte?“

Verstehe ich den Kummer von Marina (Person, Situation und Name verändert) recht? Ihr Ehemann Mark entscheidet über wichtige Dinge wie den Familienurlaub und den Autokauf einfach, ohne seine Frau einzubeziehen? Ich kenne seine Ziele, Zwecke und Motivationen nicht. Ist er denn so ein gemeiner, rücksichtsloser Mensch? Hat er so wenig Kooperationsbereitschaft und Gemeinsinn? Bei der Ehefrau macht sich Feindseligkeit ihm gegenüber breit.

Häufig entwickeln Paare an diesem Punkt automatisch Wut, Ärger und Aggressionen, ohne sich bewusst zu machen, was sie da tun. Manchmal „knallt es“, die Gegensätzlichkeit von beiden ist zum Sprengstoff geworden. Sie verstehen einander nicht mehr und wenden sich deshalb vom Partner ab, gehen in den Rückzug, schmollen und sind verletzt. Gedanken an Trennung schleichen sich ein.
Ich kann schon nachvollziehen, dass man hier sauer reagiert. Gleichzeit gebe ich dem bedeutenden Individualpsychologen Rudolf Dreikurs recht, wenn er meint: „Brauchen wir feindliche Gefühle, um Konflikte zu lösen? Die meisten Menschen sind geneigt, das zu glauben. Wie unrecht haben sie doch! Konstruktive Veränderungen bedürfen keiner Feindseligkeit, im Gegenteil …“ (Die Ehe – eine Herausforderung, S. 112) Sicherlich werden viele Paare diesem Gedanken etwas abgewinnen können. Wenn sie als Christen ihre Beziehung an Jesus ausrichten möchten, dann ist das ein guter Ansatzpunkt: Jesus ging es nie um Feindseligkeit, um Konflikte zu lösen.
Es ergibt für mich wenig Sinn, dass ich nur Marina höre. Ich kann das Denken ihres Partners Mark ja nur erahnen. Also vereinbaren wir einen Termin zu dritt und treffen uns etwa eine Woche später. Sie berichtet alles noch einmal. Dann kommt ihr erstaunter Mann zu Wort: „Liebling, zu Beginn unserer Ehe hat es dir doch so gefallen, wenn ich unseren Urlaub geplant habe. Kannst du dich noch an meine Überraschung damals mit Korsika erinnern? Was hast du mich damals gelobt, wenn ich die Dinge in die Hand genommen habe! Da habe ich mir gesagt, das mache ich ab jetzt weiter für dich und unsere Familie. Du hast doch genug mit den Kindern um die Ohren, und wer macht’s denn, wenn nicht ich …?“
Fast verschämt schaut sie zu Boden. Das ist eine ganz andere Perspektive. Für mich ist sie wichtig, um das gemeinsame Problem verstehen zu können.

Unsere gewollte und doch ungewollte Unterschiedlichkeit

Die Ursache für offene und versteckte Ehekonflikte liegt oft in der Unterschiedlichkeit der Partner: Es gibt schnell zupackende Menschen und eher langsame. Es gibt die „Peacemaker“ und kritisch „eckige“ Menschen. Die lauten „Vielredner“ mit einem eher zurückhaltenden stillen Partner. Die mehr gefühlsbetonten und die „trockenen“, nüchternen. Einer ist ein Nähemensch und der Partner der Distanztyp. Der eine sieht schon wieder die nächste drohende Pandemiewelle über sich zusammenschlagen, und der andere …?

Und hier ist längst nicht Schluss. Selbst in Glaubensdingen kann sich das zeigen: Ein eher innig gläubiger Mensch zieht einen in der Gottesbeziehung skeptischen oder sogar ungläubigen Menschen an. Beziehungen beruhen also auf Wechselwirkungen. Beide Partner spielen unbewusst einander fortwährend in die Hände. Aus der Eheberatung wissen wir: Selbst „Tyrannei in der Ehe kann ohne nachgiebige Unterwürfigkeit des anderen Teils nicht aufrechterhalten werden“ (Dreikurs, S. 114).
Ein Lehrsatz aus der Eheberatung mag dabei aufschlussreich sein: „Der Punkt der Anziehung wird in der Partnerschaft leicht zum Punkt des Konfliktes.“ Fazit: Es ist das Phänomen jedes Verliebtseins, dass wir zu Beginn unbewusst wählten, was wir von unserer eigenen Persönlichkeit nicht kannten. Ohne uns dessen bewusst zu sein, war die fremde Andersartigkeit das, was uns reizte. Das kann später zum Konflikt werden.
Der bereits erwähnte Rudolf Dreikurs bringt es so auf den Punkt: „Wir fühlen uns angezogen, wenn wir jemandem begegnen, der uns durch seine Persönlichkeit die Möglichkeit bietet, unsere persönliche Eigenart zu verwirklichen, […] der uns erlaubt, Pläne, die wir seit der Kindheit mit uns getragen haben, fortzusetzen oder wiederzubeleben.“ (S. 114) Dieses unbewusste Verhalten geht noch weiter. Wir können sogar mit Sicherheit sagen: Unser Verhalten beeinflusst den Partner positiv und sogar negativ, weil wir irgendetwas davon haben, was uns selbst meist völlig unklar ist. Fazit: Wir spielen einander unbewusst fortwährend in die Hände und schaffen die Voraussetzung für das, was wir beim anderen erleben.

Beziehung braucht Zeit zur Reflexion

Zurück zu Marina und ihrem Mann Mark: Sie stellen zunächst einmal fest, dass sie sich bisher wenig Zeit genommen haben, ihre Beziehung miteinander zu reflektieren. In vielerlei Richtung sind sie engagiert: Mark ist rastlos in gehobener Stellung als Geschäftsführer tätig. Marina hat durch eine Fortbildung alle Hände voll zu tun. Hinzu kommt aktuell der Hausbau, der durch den Familienzuwachs notwendig wurde, und vieles mehr. Paare, die sich zu wenig Zeit nehmen, um anhand ihrer gemeinsamen Erlebnisse ihre Beziehung zu reflektieren, kommen zweifellos leichter in Konflikte. Meist verlieren sie ihr anfangs gemeinsames Ziel, das Leben miteinander liebevoll zu teilen, aus den Augen. Manche denken, das Motto „Dass ich dich liebe, habe ich dir ja bei unserer Hochzeit schon gesagt!“ sei zielführend.

Verbreitet unter uns ist auch der Glaube, Ehe müsse in einem fast mechanischen Sinne „funktionieren“. Wenn es funktioniert, bedeutet das: „Dann passen wir zueinander.“ Wenn es nicht klappt, heißt das umgekehrt, dass die Rädchen nicht ineinandergreifen. Also passen A und B nicht zueinander. Das ist ein Trugschluss. Eheleute „machen sich passend“. Indem sie sich teils bewusst, teils unbewusst an den Partner und die neuen Gegebenheiten anpassen, verlieren sie nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Sie gewinnen und genießen eine immer mehr gelingende Beziehung. Dieses „Anpassen“ bedeutet nicht, dass sie in allem immer nachgeben, sich selbst aus dem Auge verlieren oder gar unterwerfen. Weil der Mensch keine „Maschine“ ist, die „passt“ oder „funktioniert“, ist auch die Ehe dynamisch und nicht als „Mechanismus“ zu verstehen. Der Mensch ist also ständig veränderbar und nicht festgelegt.
Darum sollten Eheleute immer wieder über ihr „Projekt Ehe“ reden, das sie einmal in eigener Verantwortung gegründet haben. Jede/r sollte zur Sprache bringen, wo sie oder er sich benachteiligt fühlt. Paare werden dann vor allem die Bereiche ansprechen, in denen sie ein gewisses Ungleichgewicht, eine Benachteiligung empfinden. Uns ist meist nicht klar, dass wir schon bald nach unserem ersten Kennenlernen nach diesem Gleichgewicht in unserer Beziehung suchen, eine gewisse Ausgewogenheit, eine ausbalancierte „Waage“. Wird sie nicht empfunden, entsteht Unzufriedenheit.
Es kann beispielsweise sein, dass einer von beiden, der sowieso dazu neigte, weniger zu reden, jetzt noch stiller wird, weil der andere meist eher das Wort ergreift. Oder jemand anderes entwickelt noch mehr Zurückhaltung und zieht sich eher zurück, weil der andere als Person der Öffentlichkeit überall bekannt ist. Wenn zwei Leute ähnlich ordentlich sind, werden sie sich nach meiner Erfahrung unbewusst anders ergänzen wollen. Bei einem Paar wurde die geradezu zwanghafte Ordnungsliebe so stark, dass sich einer nur noch „genervt“ sah.
Dieses ergänzende Gleichgewicht darf sein. Sobald allerdings einer von ihnen ein Verhalten als einseitig oder gar störend empfindet, sollte es angesprochen werden. Wo dies nicht geschieht, entwickeln sie sich je länger, desto mehr auseinander, ohne dass es ihnen klar ist.
Bei Marina und Mark lag der erste Korsika-Urlaub bereits fünfzehn Jahre zurück. Muss man sich da nicht ganz nüchtern betrachtet die Frage stellen: Sollten die beiden sich seitdem so wenig in ihrer Persönlichkeit entwickelt haben? Und plötzlich empfindet Mark schmerzhaft, dass er, wie er sagte, sich an einem Ort wiederfindet, wo er gar nicht alleine hinwollte. Er schaut sich um und die Partnerin scheint sehr weit weg vom eigenen Denken, Fühlen und Wollen. Das Gegenüber ist im wörtlichen Sinne „ver-rückt“. Dieses Empfinden hatte auch Marina aufgeschreckt. Deshalb hat sie die Eheberatung aufgesucht. Erst das Reflektieren macht klarer: „Der Partner tickt doch ganz anders als ich. Das muss ich immer wieder neu verstehen. Und ich bin es, die sich auf ihn einstellen, ihn abholen soll, mit ihm das Leben zusammen gestalten will. Das soll fester Entschluss sein.“

Die Frage nach dem Warum

Marina hatte angefangen, Fragen zu stellen. Es waren Fragen wie: „Warum machst du das?“ „Warum übergehst du mich?“ „Warum fühle ich mich nur noch als Anhängsel deiner bereits getroffenen Entschlüsse?“ „Ich fühle mich, als ob ich hinter dir herlaufe und du nur noch den Ton angibst.“

Hilflosigkeit kann wütend, aggressiv, arglistig und hart machen. Hoffnungsvoll und hilfreich kann es dagegen durchaus sein, dass Marina nach dem Warum fragt, wenn es tatsächlich darum geht, den anderen zu verstehen. Solche Fragen können Reibung erzeugen, doch einen Konflikt zur Sprache zu bringen, ist viel besser, als in einem unzufriedenen Nebeneinanderher weiterzumachen.
Marina und Mark sind ins Gespräch gekommen. Sie versuchen, ihre Motive zu klären und sich besser verstehen zu lernen. Ihnen wird langsam klar, warum sie da gelandet sind, wo sie sich jetzt befinden. Gleichzeitig wird ihnen bewusst, dass sie in diesem Zustand nicht verharren möchten und das auch nicht müssen. Es gibt Veränderungsmöglichkeiten und die wollen sie in Angriff nehmen. Dabei hilft ihnen ein weiterer Schritt zurück: Paare können einander besser verstehen, wenn beide ihre Rolle in ihrer Biografie verstehen. Wenn sie sich klarmachen, woher sie kommen und was sie aus ihrer Ursprungsfamilie bewusst und unbewusst einbringen.
Wie Marina und Mark in diesem Prozess weitergekommen sind und was ihre Herkunftsfamilien und Biografien für ihre Ehe bedeuten, darum soll es in der nächsten Ausgabe gehen.

Dr. (theol.) Michael Hübner ist verheiratet und hat fünf erwachsene Kinder. Er ist Gründer und Dozent der Stiftung Therapeutische Seelsorge und Leiter einer Beratungs- und Psychotherapiepraxis in Neuendettelsau. Sein neues Buch: „Der Kick für die Partnerschaft – Vitaminkur für das Ehegespräch“ (Concepcion SEIDEL)

Einfache Regeln fürs komplizierte Leben

Paare brauchen bewährte Grundsätze, mit denen sie gut durchs Leben kommen, wenn es unübersichtlich wird. Von Jörg Berger

Beziehungen und Menschen waren schon immer kompliziert. Die Gesellschaft aber wird vielfältiger und vernetzter, das Tempo gesellschaftlicher Veränderungen zieht an. Deshalb widmet die Wissenschaft ihre Aufmerksamkeit zunehmend der Frage, wie Menschen in komplizierten Situationen entscheiden. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann hat auf faszinierende Weise entlarvt, welche Denkfehler uns unterlaufen, wenn wir Entscheidungen treffen. Sein Bestseller dazu heißt: „Schnelles Denken, langsames Denken.“ Der Cambridge-Professor für Management Donald Sull und die Stanford-Professorin für Ingenieurwissenschaften Kathleen Eisenhardt haben ihre Forschungsergebnisse in dem Bestseller „Simple Rules“ zusammengefasst: Erfolgreiche Menschen und Unternehmen orientieren ihre Entscheidungen an einfachen Regeln. Bewährte Regeln schützen uns vor Fehlern, besonders wenn Situationen emotional und unübersichtlich werden. Ihre Einfachheit hilft, dass wir sie auch wirklich anwenden.

Das hat mich inspiriert, auch einmal für Paarbeziehungen zu fragen: Wie finden wir einfache Regeln, die das gemeinsame Leben gelingen lassen? Längst hat sich unsere Lebenserfahrung zu Regeln verdichtet, an denen wir unsere Entscheidungen orientieren. Es ist spannend, sich das einmal bewusst zu machen. So können wir unsere Regeln überprüfen und auch neue Regeln finden.

Einfache Regeln sind konkret

Wenn ich bei uns als Paar und Familie beginne, dann ist mein erster Gedanke: „Als Christen wollen wir uns in jeder Entscheidung an Jesus orientieren. Das ist unsere einfache Regel.“ Doch in dieser Verallgemeinerung sagt eine Regel alles und nichts. Was heißt es denn konkret, dass wir uns an Jesus orientieren? Zwingen wir zum Beispiel unsere Kinder früh zum Teilen, weil Jesus auch geteilt hat? Oder wäre das lieblos und überfordernd? Wir haben aber auch konkrete Regeln gefunden. Eine ist: „Lebensentscheidungen treffen wir nicht aufgrund von finanziellen Kriterien. Wir vertrauen, dass Gott uns materiell versorgt.“ So haben wir in manchen Jahren Ersparnisse aufgebraucht, statt Vermögen zu bilden und uns um die gebotene Altersvorsorge zu kümmern. In anstrengenden Zeiten hatten wir beide unsere Stellen reduziert. Dadurch blieb für unser Familienleben und unsere Ehe so viel Zeit, wie es uns gut und richtig erschien. Wir könnten heute vielleicht wohlhabender sein, wenn wir nach einer anderen Regel entschieden hätten. Aber gefehlt hat uns bisher nichts.

Einfache Regeln sind individuell

Wir haben uns auch eine Priorisierungsregel gegeben: „Erst die persönliche Gottesbeziehung von jedem von uns beiden, dann Ehe und Familie, dann der Beruf und dann das übrige Engagement, zum Beispiel in der Kirche.“ Meine Frau hat mich auch in der Kleinkindphase zu Schweigetagen im Kloster freigesetzt, obwohl das für sie anstrengend war. Meine Tätigkeit als Psychotherapeut in einer Klinik dagegen hat zeitweise nicht zu unserer Priorisierungsregel gepasst. Durch die Überstunden und die hohe emotionale Beanspruchung hat sich der Beruf dann gegen meinen Willen an die erste Stelle geschoben. Meine verbleibende Kraft hat sich auf die anderen Bereiche aufgeteilt. Erst die Tätigkeit in meiner eigenen Praxis hat das geändert. Ich erwähne das auch, weil deutlich wird: Das darf nicht jeder so machen. Wer würde seine Erfahrung an junge Kollegen weitergeben, wenn jeder in die Freiheit einer eigenen Praxis fliehen würde? Wo stünden wir, wenn nicht manche Paare das Wagnis eingingen, für eine berufliche Schlüsselposition eines Partners die Familie hinten anzustellen und zu vertrauen, dass es trotzdem gutgeht? Unsere Priorisierungsregel passt zu uns. Wir sind überzeugt, dass wir mit ihr unser Bestes geben können. Die gleiche Regel könnte aber das Leben eines anderen Paares in die Irre führen.

1. Gesprächsimpuls: Regeln für unsere Prioritäten

Macht euch doch einmal eine Liste mit den zehn Dingen, die euch im Leben am wichtigsten sind. Versucht eine Reihenfolge zu finden, die euch als Orientierung dienen kann. An dieser geordneten Liste könnt ihr eure Priorisierungsregeln ablesen: „Wenn … und … nicht beide gut zu schaffen sind, dann muss … zurückstehen.“

Einfache Regeln verändern sich durch Erfahrungen

Manche Regeln stellen sich mit der Zeit als unpassend oder zu idealistisch heraus. Eine Regel, die uns selbstverständlich erschien, könnte man vielleicht so formulieren: „Wir begegnen jedem Menschen offen, ehrlich, konfliktbereit und unterstützend.“ Diese Regel hat uns aber auch in Auseinandersetzungen geführt, die uns viel Kraft gekostet haben, ohne dass dadurch etwas Gutes entstanden wäre. Wir haben uns auch an Unvollkommenheiten unserer Arbeitsstellen und unserer Kirchengemeinde gerieben und oft vergeblich mit Verantwortlichen nach besseren Wegen gesucht. Heute würden wir die Regel ergänzen: „Aber wir lassen los, bevor wir zum Opfer unguter Verhaltensweisen oder Strukturen werden.“ Man kann immer Nischen finden, man kann sich immer diplomatisch und unauffällig zurückziehen und sich so auf die Beziehungen und Einsatzfelder konzentrieren, in denen wirklich etwas Gutes entsteht. Umgekehrt würden wir ja auch nicht wollen, dass sich jemand lange und vergeblich an unseren Schwächen aufreibt. Unsere Lebenserfahrung stellt daher Regeln auf den Prüfstand. Wer sich an Regeln orientiert hat, die für andere passen mögen, sich aber für das eigene Leben nicht bewähren, der braucht den Mut zu eigenen Regeln. Und wer sich an überfordernden Grundsätzen abgearbeitet hat, darf sie bescheidener fassen.

Einfache Regeln für schwierige Zeiten

Seit über zwanzig Jahren begleite ich Menschen. Ich bin vielfach Zeuge von Gelingen und Scheitern geworden. Warum halten die einen Belastungen und Versuchungen stand? Warum zerbricht anderen, was sie sich aufgebaut haben? Ein Grund für das Scheitern hat mit unserem Thema zu tun. Menschen haben sich für vorhersehbare Schwierigkeiten keine Regel gegeben. Zum Beispiel ist es wahrscheinlich, dass sich im Lauf einer Ehe einer einmal fremdverliebt. Wer dann erst nach einer Regel sucht, ist vielleicht verloren. Auf dem Boden starker Gefühle gedeihen exotische Grundsätze, die nichts mit den bisherigen Überzeugungen eines Menschen zu tun haben, zum Beispiel ein Grundsatz wie dieser: „Seinen Gefühlen muss man folgen, wenn man sich treu bleiben will.“ Es hat aber noch einen weiteren Nachteil, wenn Menschen erst in Krisen nach einer guten Regel suchen. Denn eine junge Überzeugung kann sich nicht tief genug in der Persönlichkeit verwurzeln. Sie hat vielleicht die Kraft, ein schlechtes Gewissen zu wecken, doch Entscheidungen bestimmt sie nicht. Partner dagegen, die eine Fremdverliebtheit gut bewältigt haben, hatten Regeln wie: „Wenn mir das einmal passieren sollte, offenbare ich mich sofort meinem besten Freund/meiner besten Freundin und unternehme nichts, ohne dort Rechenschaft abzulegen.“

2. Gesprächsimpuls: Unsere Regeln für schwierige Zeiten

Habt ihr schon eine Regel für die Fremdverliebtheit? Und habt ihr einfache Regeln für andere Lebensereignisse, die euch vermutlich einmal treffen werden: ein Partner muss durch eine Krankheit gehen und verliert in dieser Zeit seine Leistungsfähigkeit und Ausgeglichenheit; in eurer Ehe entsteht ein Problem, das ihr trotz vieler Gespräche nicht lösen könnt; einer erlebt in seiner Gottesbeziehung eine längere Funkstille und wird von Glaubenszweifeln heimgesucht; einer gerät in eine berufliche Situation, die so schwer ist, dass sie auch das gemeinsame Leben belastet; eines der Kinder trifft eine Lebensentscheidung, die Leid nach sich ziehen wird. Vielleicht entdeckt ihr auch Regeln, die grundsätzlich für schwierige Zeiten passen.

Mit einfachen Regeln das Leben aufbauen

Einfache Regeln bauen unser Leben also in dreifacher Weise auf. Sie helfen uns erstens dabei, das Wichtige auch wirklich wichtig zu nehmen und unsere alltäglichen Entscheidungen daran zu orientieren. Eine einfache Regel, die uns als Familie gut durch die Jahre gebracht hat, lautet: „Was immer auch passiert, wir nehmen uns Zeit für schöne Momente und gute Gespräche miteinander.“ Das hat auch seinen Preis gehabt, denn in der Zeit, in der wir dieser Regel gefolgt sind, haben wir uns für anderes keine Zeit genommen. Zweitens helfen uns Regeln, Dinge auf Anhieb richtig zu machen. Eine How-to-Regel zum Beispiel, die ich gerne früher entdeckt hätte, lautet: „Versuche ein Kind erst zu erziehen, nachdem du eine einfühlsame innere Haltung gefunden hast und diese auch in deiner Körpersprache und deinen Worten ausdrücken kannst.“ Und drittens helfen uns einfache Regeln, in schwierigen Situation Fehler zu vermeiden. Ab und zu erziele ich in der Paartherapie schnelle Erfolge. Wenn das gelingt, dann nur aus einem Grund: Ich habe ein Paar dafür gewonnen, sich einfachen Regeln zu unterwerfen. Meist sind es die Regeln wie diese, die ich beiden Partnern an die Hand gebe: „Konzentriere dich auf das, was du selbst beeinflussen kannst. Wenn etwas nicht hilft, dann überlege dir etwas anderes. Wo du alleine überfordert bist, warte auf Hilfe.“

3. Gesprächsimpuls: Unsere How-to-Regeln

Im Alltag folgt ihr längst Regeln. Versucht doch einmal, von eurem Verhalten auf die Regeln zu schließen, denen ihr folgt: zum Beispiel in der Kindererziehung, bei der Haushaltsorganisation oder bei der Pflege eurer Beziehungen. Gäbe es hier vielleicht einfache Regeln, die euren Alltag noch leichter und erfolgreicher machen? Welchen Regeln folgen Paare, die euch in einem bestimmten Bereich ein Vorbild sind?

Langjährige Beziehung: Drei Tipps helfen, wenn im Bett die Luft raus ist

Je länger man verheiratet ist, umso unwichtiger wird Sex? Das ist kein Muss, sagt Sexualtherapeutin Cordula Kehlenbach.

Die Aussicht auf ein dauerhaft aufregendes Sexleben ist verlockend. Es soll vor allem lebendig sein, es soll sich etwas regen in Körper und Herz, die Beziehung soll in Bewegung bleiben. Mit Nervenkitzel, bitteschön. Wir haben glücklicherweise eine Ahnung, wie es sein könnte. Der Weg dorthin führt aber nicht über optimierte Techniken, Dessous oder Schönheitsoperationen. Sondern über …

1. Einzigartigkeit

Wir können heute viel lesen und hören über scheinbare Normalität in Sachen Sexualität. Dauernd Lust auf Sex zu spüren, fünf Stellungswechsel bei einer sexuellen Begegnung zu absolvieren (wozu eigentlich?) oder Spaß an Fesselspielen zu haben. Das Bild ist stark geprägt vom Internet mit seinen Fake News. Und macht vielen Menschen Stress. Aus „So kann man das machen“ ist ein „So muss man das machen“ geworden. Vor allem Männer stehen in der Gefahr, die Norm erfüllen zu wollen oder sogar einen Leistungssport aus dem Liebesspiel zu machen. Aus Spiel wird dann eine ernste, schlimmstenfalls abtörnende Sache. Welche Angst treibt einen in solchen Momenten? Den anderen zu enttäuschen? Vor der imaginären Konkurrenz schlecht dazustehen? Verlassen zu werden?

In Wirklichkeit sind andere Dinge „normal“: Dass man beim Sex auch abgelenkt ist, dass manchmal etwas wehtut, dass Erregung nachlässt, dass Highlights die Ausnahme sind.
Wahr ist auch, dass jeder einmalig ist mit seinen Vorlieben, Bedürfnissen und Ideen. Und dass jedes Paar einzigartig und wunderbar ist in seiner Kombination. Das ist spannend – und aufregend. Da steckt Potenz(ial) drin. Vergesst die Norm. „Die anderen“ sind nicht hilfreich. Findet heraus, was euch gefällt, was ihr wollt und genießen könnt. Es wird nicht mit einem Fingerschnippen die große Erkenntnis kommen. Sondern man kann – wenn auch etwas aufgeregt – zulassen, sich bei jeder Begegnung ein Stückchen besser zu verstehen und zu akzeptieren.

2. Forschergeist und Mut

Ins Reich der Märchen gehört, dass ein guter Liebhaber der Geliebten alle Wünsche erfüllt – und vor allem die unausgesprochenen. Tatsache ist, dass man doch gar nicht wissen kann, was für den anderen gerade jetzt angenehm ist. Es sei denn, man beherrscht das Gedankenlesen. Möchte mein Partner heute erst geküsst werden oder zart gestreichelt? Erst an den Armen oder lieber gleich an der Brust? Je mehr man es richtig machen möchte, um so verkrampfter wird es. Ja, wir haben Erfahrungen und können empathisch sein. Dennoch gibt es reichlich Spielraum für Fehlinterpretationen. Bedeutet das Schweigen jetzt Genuss oder Langeweile? Manche Missverständnisse werden jahrelang nicht aufgeklärt. Dabei liegt der Experte für die Lust des Partners doch direkt neben einem. Sie könnte mich entlasten, indem sie mich wissen lässt, was jetzt guttut. Mit Worten oder indem sie zum Beispiel meine Hand nimmt und sie an die richtige Stelle legt.

Reden erscheint unerotisch? Da erscheint mir den Mund zu halten, Unangenehmes zu ertragen und viel Unsicherheit aber wesentlich unerotischer. Vor allem bringt es keine Erregung in die Sexualität, sondern Erstarrung.

Den anderen neugierig zu erforschen oder sich immer wieder erforschen zu lassen, braucht Mut. Ich weiß nicht, ob der Partner mir diesen Wunsch auch erfüllen möchte. Oder ist sie geschockt, empfindet er das als unangenehm oder lehnt es ab? Nichts zu brauchen oder zu sagen ist da viel ungefährlicher. Aber führt nicht zum besagten „aufregenden“ Sex.

3. Improvisation

Aufregende Lebendigkeit in der Sexualität kann sich nur entwickeln, wenn man nicht nach einem festen Plan Liebe macht, sondern improvisiert. Also nicht einem angeblich vorgegebenen Plan zu folgen (Küssen, Fummeln, Ausziehen…), sondern sich gemeinsam treiben zu lassen und das Schöne auszukosten. Vielleicht beginnt es einmal mit einer Hand- oder Augenmassage. Sich treiben und fallen lassen kann nur, wer vertraut, dass es schön wird und dass er jederzeit auch abbrechen kann. Dieses Kontrollbedürfnis ist hier sinnvoll. Denn nur wer eingreifen kann, wenn etwas schiefläuft, kann sich genießend dem hingeben, was schön ist.

Damit kann man den anderen natürlich enttäuschen. Aber wenn er sich getäuscht hat (dass eine Berührung oder Stellung angenehm sei), ist es doch nur liebevoll, ihn – freundlich – darauf hinzuweisen. Diese positive Art von Kontrolle kann man auch als notwendige Eigenverantwortung bezeichnen. Hinderliche Kontrolle ist dort nötig, wo man sich nicht traut, seine Bedürfnisse klar zu äußern. Oder wo man sich nicht drauf verlassen kann, dass der Partner die gewünschten Grenzen respektiert. Das kann an beiden Seiten liegen. Eines ist klar: Lust kann nur aus Sicherheit entstehen.

Improvisation schließt nicht aus, dass man sich dafür im Bett verabredet, dass man den Zeitraum für möglichen Sex plant. Die Lust muss nicht am Anfang stehen! Freude auf eine Zeit mit entspannter, liebevoller Körperlichkeit (mit Open End!) reicht aus und ist außerdem verlockender als ein Pflichtprogramm. Wie bei musikalischen Improvisationen ist es auch wichtig, dass jeder sein Instrument, also seinen Körper kennt und auf ihm spielen kann. Nicht perfekt, aber gut genug für das Zusammenspiel. So kann aufregende Musik entstehen.

Je mehr Mut, Ehrlichkeit und Vertrauen in euch beiden über die Jahre wachsen – nicht nur im Liebesleben –, umso mehr wird sexuelle Kreativität Raum bekommen. Fühlt euch frei von der Norm. Bleibt Forschende. Und macht, was ihr wollt! So kann euer Sexleben aufregend bleiben.

Dr. med. Cordula Kehlenbach ist Sexualtherapeutin in eigener Praxis in Krefeld. Einige Gedanken hat die Autorin dem Buch „Guter Sex geht anders“ von Berit Brockhausen entnommen.

„Ballte seine Hand zur Faust“: Leonies Traummann wird ihr Albtraum

Schläge, Verbote und Misstrauen bestimmen ein halbes Jahr lang die Beziehung von Buchautorin Leonie Hoffmann*. Dann kann sie wie durch ein Wunder fliehen.

Gerade hatte ich mein Abitur abgeschlossen und war beflügelt von einem nie da gewesenen Freiheitsgefühl. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ihn, der mir diese große Freiheit mit all ihren Möglichkeiten innerhalb weniger Monate wieder nahm – und beinahe mein junges Leben.

Ich traf ihn auf einer Sommerparty in meiner Heimatstadt: Alex. Dieser Mann gab mir alles, wonach sich mein junges Herz gesehnt hatte: tiefe Liebe und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Die ersten Monate mit ihm schwebte ich im siebten Himmel. Ich glaubte, in ihm tatsächlich den Richtigen gefunden zu haben.

Alex wird rasend vor Eifersucht

Seine „abgöttische Liebe“ zu mir hatte jedoch eine unangenehme Begleiterscheinung. Was ich anfangs als schmeichelhaftes Nähebedürfnis interpretierte, entwickelte sich zunehmend zu einer besitzergreifenden Eifersucht. Wenn mein Blick zufällig den eines anderen Mannes streifte, konnte dieses „Vergehen“ ausreichen, um einen schönen Abend in hitzigen und tränenreichen Diskussionen enden zu lassen.

Doch diese zunehmenden kleinen Dramen änderten nichts an meinen großen Gefühlen für Alex. Ich war diesem Mann einfach hoffnungslos verfallen und ohne es zu merken, rutschte ich immer mehr in eine emotionale Abhängigkeit von ihm. Denn Alex schaffte beides: meine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung zu stillen und gleichzeitig durch subtile Kritik meine ohnehin schon großen Selbstzweifel zu nähren. So wurde ich buchstäblich süchtig nach diesem guten Gefühl, das scheinbar nur er mir geben konnte.

Ein Umzug aus Panik

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion zog ich nach nur drei Monaten Beziehung in seine spärlich eingerichtete Wohnung. Alex sagte, dies sei die einzige Chance, unsere Beziehung zu retten, nachdem ich mit einer Lappalie „sein Vertrauen endgültig zerstört habe“. Um mir wieder vertrauen zu können, wollte er mich eine Zeit lang kontrollieren – und ich ließ mich darauf ein. Denn der Gedanke, ihn sonst zu verlieren, versetzte mich in blanke Panik. Außerdem wusste ich ja, dass ich ihm treu war, und hoffte, endlich wieder zu unserem Anfangsglück zurückkehren zu können, wenn er sich auf diese Weise selbst davon überzeugen könnte.

Ein paar Tage später eskalierte die Situation zum ersten Mal bei einem seiner nun täglichen Verhöre. So war Alex der festen Überzeugung, ich hätte in meinem gerade begonnenen Studium einen anderen Mann kennengelernt. „Sag mir endlich die Wahrheit!“, schrie er mich immer wieder an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Eisblau und eiskalt. Dieselben Augen, in denen ich früher so viel bedingungslose Liebe gesehen hatte. Zunächst packte er mich nur fest an den Schultern und drückte mich gegen die Wand. Dann schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch mal. Und noch mal. Immer fester. Schließlich ballte er seine Hand zur Faust. In meinem Kopf begann es zu hämmern.

„Du hast dieses Monster aus mir gemacht“

Irgendwann ließ er von mir ab und brach in Tränen aus – scheinbar entsetzt über sich selbst. Nach wenigen Augenblicken kehrte jedoch die Anklage zurück: „Du hast dieses Monster aus mir gemacht! Das gerade wäre niemals passiert, wenn du einfach immer ehrlich zu mir gewesen wärst. Ich bin zu so etwas doch nur fähig, weil ich dich so unendlich liebe.“ Damit hatte er mich. „Vielleicht habe ich es ja verdient, so behandelt zu werden?“, fragte ich mich: „Vielleicht liebt er mich tatsächlich mehr als ich ihn – wenn ich ihn so zum Ausrasten bringe?“

Heute weiß ich, dass nichts davon wahr ist. Nichts, rein gar nichts rechtfertigt Gewalt in einer Beziehung. Damals zog ich es dennoch ernsthaft in Erwägung. Eine Tatsache, die mich im Nachhinein schockiert. Genauso wie der Umstand, dass sich meine Gefühle für diesen Mann offensichtlich nicht totschlagen ließen. So traf ich die größte Fehlentscheidung meines Lebens: Ich blieb. Monate später sagte mir meine Therapeutin: „Wenn man nach dem ersten Schlag nicht geht, geht man auch nicht nach dem zweiten oder dritten.“ Das ist die traurige Wahrheit. Umso wichtiger ist es deshalb, eindeutige Grenzüberschreitungen in einer Beziehung als solche wahrzunehmen und sich vor Augen zu halten: Auch die scheinbar grenzenloseste Liebe muss Grenzen haben, die niemals überschritten werden dürfen. Denn ist dies erst einmal passiert, gibt es kaum noch einen Weg zurück.

Zwischen Küssen und Schlägen

Die sechs Monate zwischen dem ersten und dem letzten Schlag vermischen sich in meiner Erinnerung zu einer zähen grauen Masse. Meine beängstigende Erkenntnis aus dieser Zeit: Man gewöhnt sich an alles. Erschreckenderweise gab es zwischendurch sogar immer noch Momente, in denen es mir gelang, mich so in den Augenblick zu versenken und alles andere auszublenden, dass unsere „Liebe“ die einzige Realität war. Der ganze Horror schien dann unwirklich. Es waren jene Momente, in denen ich sein „wahres Ich“ wieder zu erkennen glaubte. In diesen Momenten fühlte ich mich darin bestätigt, dass er „ja eigentlich ganz anders“ war.

Ja, noch immer konnte Alex mir das Gefühl geben, ihm alles zu bedeuten, die schönste und tollste Frau der Welt zu sein. In solchen Momenten war es unvorstellbar, dass sich der Schalter jemals wieder umlegen würde. Dass sich die Hände, die mich eben noch so zärtlich streichelten, irgendwann wieder zu Fäusten ballen und brutal auf mich einschlagen würden. Dass mich derselbe Mund, der mich eben noch anstrahlte und liebevoll küsste, irgendwann wieder anschreien, bespucken oder so bestialisch beißen würde, dass Muskeln dabei durchtrennt wurden. Aber es passierte. Immer wieder. In immer kürzeren Abständen. Denn genauso funktioniert die Abwärtsspirale der Gewalt.

„Ich hatte alles – außer Selbstvertrauen“

Ich log meine Eltern und Freunde mehrfach an, ignorierte etliche Nachrichten und Anrufe. Kümmerte mich von heute auf morgen nicht mehr um mein Pflegepferd und gab die Leitung meines Jugendkreises ab. Ich erschien zu einem lange geplanten Konzert meiner Band einfach nicht. Und das alles, weil ich nicht durfte. Ich hatte mehrfach buchstäblich Todesangst in Alex‘ Nähe, aber log lieber zwei Polizisten an, anstatt mit ihnen zu gehen und den ganzen Wahnsinn endlich zu stoppen.

Das alles ist nun zwölf Jahre her. Wie oft habe ich seitdem an diese Zeit zurückgedacht und mir immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Wie konntest du nur?“ Mittlerweile habe ich meine Antwort gefunden: Ich konnte mir alles nehmen lassen, weil ich als 19-jährige Abiturientin eigentlich alles hatte – außer einem gesunden Selbstvertrauen. Ich sehnte mich nach einem Partner, der mir genau das geben könnte – der mich sehen und erkennen würde, wie ich wirklich war, und mich genauso lieben würde. Und dann traf ich ihn, der mir nur all das nehmen konnte, weil er mir vorher alles gab. Heute wage ich zu behaupten, dass ausnahmslos jeder in so eine Abhängigkeit geraten kann, der nicht in seiner wahren Identität gefestigt ist und weiß, wer er ist und wie unglaublich viel wert er ist, vor allem in den Augen Gottes.

Der Wendepunkt

Das Ende dieser Schreckenszeit kam dann wie ein Wunder: Es war Karfreitag. Alex hatte mir erlaubt, den Fernseher anzuschalten, und es lief „Ben Hur“. Die Karfreitag-Tradition meiner Familie! Der Gedanke durchbohrte mich, ob ich jemals wieder Ostern mit ihnen feiern würde, ob ich sie überhaupt noch einmal sehen würde. Seit Monaten hielt Alex mich inzwischen in seiner Wohnung gefangen und hatte mir alle Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt genommen. Und endlich hatten die immer mehr eskalierende Gewalt und die immer selteneren schönen Momente die Hoffnung in mir totgeschlagen, dass sich jemals nochmal etwas ändern würde. Ich wollte nur noch weg, doch hatte inzwischen jede Hoffnung auf eine Befreiung aufgegeben. Alle Rettungsversuche meiner Angehörigen waren ins Leere gelaufen, und ich befürchtete, dass sie mittlerweile wirklich glaubten, dass ich den Kontakt nicht mehr wolle – wie Alex es sie durch Nachrichten in meinem Namen immer wieder wissen ließ.

Plötzlich stehen die Eltern vor der Tür

Ich ging ins Bad und schaute durch das kleine Dachfenster in den strahlenden Frühlingshimmel. Er wirkte friedlich und gleichzeitig erschreckend leer. Ich wagte seit Langem wieder ein Gebet zu Gott, dem ich in der Beziehung mit Alex ebenfalls den Rücken gekehrt hatte: „Gott, wenn du mich mittlerweile nicht ganz abgeschrieben hast, dann bitte hole mich hier raus, und ich will dir mein Leben lang dienen!“ Wenig später klingelte es. Nach allen gescheiterten Rettungsversuchen standen sie noch einmal vor unserer Wohnungstür: meine Eltern. Denn warum auch immer stand an diesem Tag die Haustür sperrangelweit offen. Alex drohte mir mit einem Besenstil und befahl mir, leise zu sein. Sie sollten denken, niemand sei zu Hause. Dann schubste er mich ins Schlafzimmer und schlug auf mich ein. Meine Eltern hörten, dass wir da waren. „Wir wollen euch nur zu einem Eis einladen und reden“, sagte mein Vater in unfassbarer Sanftmut. Da platzte Alex der Kragen. Er ließ von mir ab, riss die Wohnungstür auf und ging auf meine Mutter los. Ich rannte ihm hinterher.

Mein Vater gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich diesen kurzen Augenblick, in dem die Tür offen war, nutzen sollte. Während er zwischen Alex und meine Mutter ging, drängelte ich mich an ihnen vorbei. In die Freiheit. Meine Eltern eilten hinterher. „Wenn du jetzt gehst, siehst du mich nie wieder!“, rief Alex mir nach. Was früher seine schlimmste Drohung war, wurde nun zur Befreiung. Ostern verbrachte ich mit meiner Familie. Die Sonne schien. Die Welt blühte. Und wir feierten nicht nur Jesu Auferstehung von den Toten.

Bis zur Anzeige vergehen Jahre

Nun war ich zwar körperlich wieder frei, aber der Weg in die innere Freiheit sollte noch ein langer werden. Natürlich gab Alex nicht sofort auf. Erst nachdem ich alle Nachrichten von ihm ignorierte und dann mit einer Anzeige drohte, ließ er mich in Ruhe. Aufgrund von Alex‘ massiven Morddrohungen zeigte ich ihn nicht sofort an. Nach Monaten in permanenter Angst hatte ich einfach keine Kraft mehr.

Doch als ich eineinhalb Jahre später erfuhr, dass eine andere Frau in der Beziehung mit Alex ebenfalls Opfer von Gewalt wurde, wagten wir gemeinsam diesen Schritt. Er wurde verurteilt und saß jahrelang in einer geschlossenen forensischen Klinik ein.

Brecht das Schweigen!

Heute ist mein Leben schöner, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Gott hat mich zurück ins Leben und in die Freiheit geführt – eine Freiheit, die nirgendwo sonst zu finden ist. So habe ich die befreiende Kraft der Vergebung erfahren und inzwischen nicht nur mir selbst, sondern auch Alex von ganzem Herzen vergeben können, auch wenn ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm möchte. Ich kann wieder unbeschwert leben – sogar lieben und vertrauen, was ich niemals für möglich gehalten hätte.

Mein Tipp an Betroffene ist so simple wie schwer: Bitte brecht das Schweigen und holt euch Hilfe, solange es noch möglich ist! Kämpft euch zurück in die Freiheit, die euch zusteht und für die ihr geboren wurdet, erinnert euch an euren Wert und eure unantastbare Würde, die euch nichts und niemand nehmen darf.

*Leonie Hoffmann ist ein Pseudonym. Die vollständige Geschichte ist im Buch „ÜberWunden“ (Gerth Medien) aufgeschrieben. Teile des Artikels erschienen zuerst in der Zeitschrift LYDIA 2/19.

„Habt Orgasmen!“ Mutter fordert von Frauen mehr Selbstbewusstsein beim Sex

Nur 44 Prozent aller Frauen erkennen auf Fotos ihre eigene Vagina. Das muss sich ändern, findet Priska Lachmann. 

„Ich bräuchte eigentlich gar keinen Sex mehr. Ich bin abends viel zu müde dafür“, „Er fasst mich die ganze Zeit an, wenn er mehr von mir will, das setzt mich unter Druck“, „Ich vermisse Sex furchtbar, ich habe das Gefühl, mein Mann sieht mich gar nicht mehr als Frau“, „Jedes Mal, wenn wir Sex haben, habe ich eigentlich gar keine wirkliche Lust dazu“, „Seit der Geburt meines Kindes möchte ich nicht mehr berührt werden“, „Ich fühle mich so unwohl in meinem Körper, dass ich überhaupt nicht in Stimmung komme“ – diese Liste könnte man ewig fort­setzten. Habt ihr euch in einer der Aussagen wiederfinden können?

Sex nach Schwangerschaft ist kompliziert

Das Thema Sex ist in den meisten Fällen kein unbelastetes und nicht selten mit seelischen Schmerzen verbunden. Oftmals reden wir deshalb entweder gar nicht darüber oder aber viel zu viel, jedoch ohne dabei wirklich in die Tiefe zu gehen. Den Fall, dass wir unser Sexleben als unkompliziert empfinden, es frei genießen und völlig zufrieden damit sind, gibt es zwar, aber leider nur selten. Nach einer Geburt fühlt sich das erste Mal Sex wie beim allerersten Mal an. Gerade, wenn es Geburtsverletzungen gab, fühlt man sich verwundet. „Hoffentlich tut es nicht zu sehr weh!“, denkt man dann und ist viel zu vorsichtig und ängstlich, um es genießen zu können. Vielleicht muss man nach einer längeren Pause, bedingt durch die Schwanger­schaft, die Intimität mit dem Partner tatsächlich erst wieder neu erlernen. Wenn alter, seelischer Schmerz zu diesem Thema hin­zukommt, seien es Verletzungen aus der Vergangenheit, zu hohe Erwartungen an den Partner oder unerfüllte Wünsche, die nicht ausgesprochen wurden und dann über Jahre hinweg zu einer emotionalen Distanz geführt haben, wird es zusätzlich schwierig. Vor allem, wenn man nicht gemeinsam daran arbeitet.

Lust ist erlernbar

Vielleicht fühlt ihr euch auch nicht (mehr) wohl in eurem Körper nach eurer Schwangerschaft, schämt euch und habt das Gefühl, nicht mehr begehrenswert zu sein. Oder vielleicht gehört ihr zu den Frauen, die das Gefühl haben, dass ihr Mann sie nicht mehr wirklich als Frau sieht, und ihr sehnt euch nach Wertschätzung, Aufmerk­samkeit und liebevollen Komplimenten, aber euer Mann scheint innerlich meilenweit von euch entfernt zu sein? Die Sexualtherapeutin Veronika Schmidt spricht auf ihrem Blog „liebesbegehren“ und in ihren Büchern „Alltags­lust“ und „Liebeslust“ genau über dieses Thema. Sie ist der Überzeugung, dass fehlende Lust zwar manchmal hormonell bedingt sein kann, doch viel häufiger sei fehlende Lust etwas, wogegen man aktiv etwas tun könne – denn Lust sei erlernbar!

Frauen verneinen oft ihre Sexualität

Sex bedeutet nicht nur Stressabbau, ausgelöst durch Or­gasmen, und dadurch die Förderung unserer körperlichen und mentalen Gesundheit, sondern vor allem eben auch: Nähe. Zärtlichkeit. Wärme. Aufmerksamkeit. Sex erschafft das Gefühl von Einheit und Verbundenheit und ist deshalb essentiell für eine Liebesbeziehung. Ich komme aus einem konservativ christlichen Eltern­haus und habe es geschafft, nicht mal zu wissen, wohin ich meinen Tampon stecken musste, als ich 14 Jahre alt war. Frauen neigen oft dazu, die eigene Sexualität zu ver­neinen. Es gibt eine Studie, bei der 1.000 Frauen Fotos von ihrer Vagina gezeigt wurden. Nur 44 Prozent konnten ihre eigene Vagina erkennen und nur 60 Prozent die Vulva identifizieren. Habt ihr euch eure Vagina schon mal mit einem Spiegel an­geschaut? Sie ist ein Teil von uns, ein sehr wichtiger sogar, deshalb sollten wir uns nicht für sie schämen.

Nur Sex, damit der Mann keine Pornos schaut?

Wenn wir als Frauen unsere eigene Sexualität verneinen, wenn wir uns nicht mal schamlos im Spiegel anschauen und bejahen können, ohne all die tollen, scheinbar perfekten Werbemodels im Kopf zu haben, wie sollen wir dann eine erfüllte Sexualität haben? Kann es sein, dass wir selbst so unzufrieden mit uns sind und uns selbst nur noch so wenig als Frau und so sehr als Mutter fühlen, dass wir uns vernachlässigen und uns nicht mal mehr nette Unterwäsche kaufen? Und kann es sein, dass wir vielleicht so verletzt und sexuell unerfüllt sind, dass wir das nicht mal unseren Männern kommunizieren können und lieber nur mit uns selbst ausmachen? Oder kann es sein, dass wir uns nicht trauen, unsere unerfüllten Sehnsüchte anzusprechen, weil wir – vielleicht auch nur unterbewusst – der Lüge glauben, dass es beim Sex ohnehin nur um die Bedürfnisbefriedigung der Männer geht? Aber sollten Frauen tatsächlich nur Sex haben, damit ihr angetrauter Mann keine Pornos schaut oder ihnen fremd­geht? Frauen sollten doch ebenfalls Freude an Sex haben, und vor allem: Lust dabei empfinden.

Sex braucht Zeit

Nein, mit dem Mann zu schlafen ohne Lust darauf zu haben, ist für keinen Betei­ligten erfüllend. Wie also entfachen wir unsere Lust wieder neu? Veronika Schmidt spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kultur der Verführung“, die wir (wieder) erlernen müssen. Wenn wir nach einem anstrengenden Tag bis 23 Uhr online sind, wenn wir nicht mal am Wochenende, wenn die Kinder schon schlafen, zusammen ins Bett gehen und stattdessen vorm Fernseher auf der Couch versacken, dann werden wir wohl nie Sex haben. Denn Sex braucht Zeit. Freizeit. Wir brauchen eine Kultur des Verführens und ein Einplanen von festen Zeiten, in denen wir diese Kultur ausleben können. Denn wenn man nie Sex hat, ver­liert man auch die Übung darin – und vergisst, wie auf­regend und schön es sein kann. Die meisten Frauen brauchen vor allem zwei Sachen, damit sie Lust entfachen können.

Plant die Zweisamkeit

Erstens: Vorlaufzeit. Frauen können nicht von jetzt auf gleich Sex haben, wenn sie noch die Schulbrote schmieren, die Schuhe putzen und der Freundin eine WhatsApp­Nachricht schreiben wollen. Sie könnten aber Lust ent­wickeln, wenn sie sich schon morgens emotional darauf vorbereiten können. Wir können dann schöne Unter­wäsche anziehen und dem Mann schon tagsüber eine verführerische Nachricht schicken. Später packt er dann selbstverständlich im Haushalt mit an. Er schmiert die Schulbrote und arbeitet Hand in Hand mit seiner Frau, damit sie später nicht halbtot ins Bett fällt und eigentlich nur noch schlafen will.

Entdeckt euch!

Zweitens:  Selbstannahme. Liebt euch selbst. Entdeckt euch. Lernt kennen, was euch guttut, was euch Freude macht. Und kommuniziert das, wenn euer Partner nicht selbst da­rauf kommt. Vergleicht euch nicht. Auch nicht mit den eventuell vorhandenen früheren Sexualpartnerinnen eures Mannes oder mit euren eigenen früheren Se­xualpartnern. Das ist Vergangenheit und gehört nicht ins gemeinsame Bett. Habt Spaß und seid frei. Und bitte, habt Or­gasmen. Sagt nicht „Ist schon okay, ich brauche keinen Orgasmus.“ Es ist nicht okay. Orgasmen sind wichtig, allein schon für die Gesundheit, vor allem aber für eure Lust. Wenn ihr bisher keine Orgasmen hattet, dann ver­sucht mit eurem Partner herauszufinden, wie ihr welche bekommen könnt. Es macht unendlich viel Spaß.

Dieser Artikel ist zuerst in dem Buch „Mama. Frau. Königstochter“ (Gerth Medien) erschienen. Autorin Priska Lachmann ist selbst dreifache Mama, Theologin und freie Redakteurin.

Kein Beziehungsratgeber half diesem Paar. So wurden sie trotzdem ein Team

Früher schrien sich Jennifer Zimmermann und ihr Mann wochenlang abends an. Heute ist ihr Partner gleichzeitig ihr bester Freund.

Man sollte es gleich zu Anfang wissen: Wir sind kein Vorzeigepaar. Ich sehe uns heute noch in unserer ersten Wohnung am Frankfurter Westbahnhof sitzen. Draußen donnerten die Güterzüge und drinnen las ich mit roten Ohren das Kapitel über Sex aus unserem Eheratgeber vor. Zehn von zwanzig Kapiteln lang übten wir uns in größtmöglicher Offenheit und wälzten Vorstellungen über Geld und Rollenbilder. Die letzten zehn Einheiten lasen wir nie. Das einzige Buch, das wir gemeinsam (fast) bis zum Ende gelesen haben, enthielt gesammelten Poetry Slam. Das Ehebuch lag unterdessen auf dem Couchtisch und starrte uns vorwurfsvoll an, weil wir offenbar keinen stabilen Grundstein für unsere Beziehung legen wollten.

Viele Ratschläge

Ich kam mit neuen Büchern und Seminarangeboten nach Hause. Mein Angetrauter verdrehte die Augen. Zurecht. Er konterte mit einer Auswahl von Restaurants, in die er mich für ein Ehedate entführen wollte. Ich seufzte, weil in mir ein kleiner grummeliger Zwerg mit Kontrollzwang wohnte, der es überhaupt nicht leiden konnte, wenn jemand anderes sein Essen kochte. Freunde erzählten mir, wie sie in ihre Beziehung investierten. Welche Rituale sie bewusst in ihren Alltag einflochten. Wie sie das gemeinsame Gebet jeden Abend durch persönliche Probleme trug. Wie dieses oder jenes Kommunikationsseminar die Weichen für ihre gemeinsame Zukunft gestellt hatte. Und ich seufzte wieder und schämte mich ein bisschen.

Bedienungsanleitung falsch verstanden

Zu Beginn unserer Ehe war ich mir sicher: Wir hatten etwas an der Bedienungsanleitung für unsere Ehe falsch verstanden. Wie konnte all das, was uns stark machen sollte, all das, was eine Partnerschaft bereichern sollte, sich so verkehrt anfühlen? So furchtbar verkrampft? Würde unsere Ehe es ohne all die Investitionen und die wohlgepflegten Rituale durch die Abgründe schaffen, die sich im Leben manchmal so plötzlich auftun?

Augenringe bis zum Boden

Der erste Abgrund kam schneller als gedacht. Schwerfällig stapften wir durch den unerwartet tiefen Sumpf frisch gebackener Elternschaft: durchwachte Nächte und völlige Fremdbestimmung. Mein Mann machte sein Examen und startete ins Referendariat. Wir bekamen ein zweites Kind. Tageweise entlud sich all die Anspannung in erbitterten Kämpfen, die wir abends auf dem Sofa ausfochten. Tagsüber waren wir zwei abgeschaffte, zerzauste Menschen mit hängenden Schultern und Augenringen bis zum Boden, die um alles in der Welt versuchten, ihre Kinder nicht anzuschreien.

Zwei Freunde

In dieser Zeit waren wir vor allem eins: Freunde. Zwei Freunde, die sich hin und wieder auf die Schultern klopften. Zwei Freunde, die beschlossen hatten, gemeinsam durch die guten und die schlechten Zeiten zu gehen. Und das taten wir. Ein heimlicher Beobachter hätte vielleicht diagnostiziert, dass wir nebeneinander her lebten, so still, wie wir unserer Wege gingen. Aus unserer Perspektive aber sah alles ganz anders aus. Ausgelaugt und verzweifelt klammerten wir uns wortlos an den einzigen anderen Menschen, der mit im Boot saß. Abends trafen wir uns auf der Couch zu unserer Lieblingskrimiserie. Ich schlief auf der Couch ein. Er weckte mich und schickte mich ins Bett. Und am nächsten Morgen standen wir wieder auf und stellten uns gemeinsam dem Chaos, das unser Leben geworden war. Jeder an seiner Front.

Sonntage in der Notaufnahme

Von allen Seiten schien man uns zuzuschmettern, dass wir um alles in der Welt nicht „nur“ Eltern sein dürften. Wir hörten uns schlotternd die Warnungen an. Was würde mit uns passieren, wenn die Kinder eines Tages auszögen? Das Ende war wohl vorprogrammiert. Wir zitterten. Kurz. Dann wechselten wir wieder Windeln, machten die Nächte durch, gingen arbeiten und verbrachten unzählige Sonntage mit einem fiebernden Kind in der Notaufnahme.

Immer noch ein Team

Und eines Tages blickten wir über die Schultern und stellten fest, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten. Wir blickten an uns herab und stellten fest, dass wir uns immer noch an den Händen hielten. Irgendwann in dieser Zeit kam der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns nicht mehr zu dem Paar entwickeln würden, das in meinem Kopf wohnte. Wir waren anders, als ich gedacht hatte. Wir konnten einander immer noch zum Lachen bringen. Wir bewunderten einander immer noch für den Umgang mit unseren Kindern. Wir arbeiteten immer noch als Team. Und wir lernten zu schätzen, was wir miteinander hatten, statt uns krampfhaft in eine Form zu pressen, in die wir nicht passten.

Nur überleben

Zeiten des Ausnahmezustands sind keine glorreichen Zeiten. Egal, ob wir ein neues Familienmitglied durch die ersten Monate begleiten, ein Elternteil pflegebedürftig wird oder eine Krankheit die Familie durchschüttelt – es gibt Zeiten, in denen wir nur überleben. Es gibt Zeiten, in denen unsere Ehe nur überlebt. Aber zu wissen, dass der Mann an meiner Seite versprochen hat, mich auch noch morgen zu lieben, egal, wie müde und elend ich heute durch die Wohnung geschlurft bin – das ist eins der größten Geschenke in meinem Leben.

Trotz allem

Es sind Zeiten wie diese, in denen ich den Wert von Treue schätzen gelernt habe. Von Zuverlässigkeit. Und Freundschaft. Es sind Zeiten wie diese, in denen ich gelernt habe, dass Liebe etwas anderes ist als die Summe der schönen gemeinsamen Stunden. Denn wie mein Mann in dieser Zeit zu seiner müden Frau gehalten hat, das erklärt meinem Herz etwas darüber, wie treu auch Gott ist. Wie zuverlässig. In einer Zeit, in der auch mein Glaube nur knapp überlebte, gab es keine deutlichere Botschaft, als jeden Morgen aufzuwachen und meinen Mann neben mir zu finden. Immer noch. Trotz allem.

Alle suchen den idealen Partner

In dem Buch „Ehe“, das der US-amerikanische Pastor Timothy Keller 2011 gemeinsam mit seiner Frau Kathy veröffentlichte, beschreibt er einen Wandel im Verständnis von Ehe. „Früher ging es in der Ehe um uns, jetzt geht es um mich.“ Vergangene Jahrhunderte haben die Ehe als ökonomische und soziale Institution begriffen. Heute tritt der verständliche Wunsch nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund, wenn es um die Erwartungen an eine Beziehung geht. In einer von Keller zitierten Studie suchen die befragten Singles vor allem nach Partnern, für die sie sich nicht ändern müssen. Sie suchen „den idealen Partner, einen Menschen, der glücklich, gesund, interessant und mit dem Leben zufrieden ist. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es eine Gesellschaft gegeben, die so voller Menschen war, die alle den idealen Partner suchten.“

Der Prinz auf dem weißen Pferd

In einer Zeit, in der die Geschichte vom Prinzen auf seinem weißen Pferd in allen Schattierungen von Hollywood ausgeschlachtet worden ist, drängt sich die Überlegung auf, ob das Warten auf den idealen Partner, den „Seelenverwandten“, nicht alles leichter gemacht hätte. Meist kann ich diese Frage nach einigem Gedankenwälzen unter „Selbstoptimierung“ verstauen. In meinem Leben nimmt sie einen ähnlichen Stellenwert ein wie die Frage, ob regenbogenfarbene Haare mein Leben besser – weil bunter – machen würden. Etwa fünf Minuten lang erscheint sie wirklich dringend. Dann rastet mein Fünfjähriger aus, weil die Nudeln alle sind und ich blicke in das tiefenentspannte Gesicht meines Mannes und weiß wieder, dass ich hier richtig bin. Aber die Frage nach dem idealen Partner ist nicht für jeden so eindeutig zu lösen wie für mich. Und manchmal scheint es so, als ob wir, wenn wir an der Optimierung unserer Partnerwahl scheitern – und das tun wir immer, egal wie gründlich wir suchen – mit der Optimierung unserer Beziehungen weitermachen.

Gegen den Optimierungswahn

Wie wir mit Ehe umgehen, erinnert mich manchmal an meinen Pinterest-Account. Ständig werden mir Bilder von perfekten Lösungen für meine Wohnprobleme vorgeschlagen. Aber Paare lassen sich viel schwerer optimieren als Wohnzimmer. Paare sind zwei komplexe Menschen mit vielen Jahren Leben im Gepäck und jeder hat einen Reisekoffer voller rumpelnder Gedanken, den er hinter sich herzieht.

Ich durfte zu der liebevollen Erkenntnis kommen, dass es ok ist, nicht das Paar zu sein, das ständig investiert und optimiert. Dass es sogar ok ist, ein paar Wochen lang das Paar zu sein, das sich abends anschreit, wenn uns das am Ende einen Schritt weiterbringt. Es kann sich vollkommen richtig anfühlen, Eheratgeber zu lesen und gemeinsam Seminare zu besuchen. Aber es gibt tausend andere Möglichkeiten, eine Ehe zu einem guten Ort für beide Partner zu machen. Für uns ist es tausendundein Gespräch, das wir den Tag über zwischen Tür und Angel führen. Es sind die Insider, die nur wir verstehen. Der gelegentliche kinderfreie Nachmittag mit einem heimlichen Eis. Und dann gibt es die schlechten Zeiten. Die, in denen wir auf dem Zahnfleisch gehen. Manchmal reicht es dann, wenn der andere über deinen schrägen Witz lacht. Wenn einer weiß, wie du deinen Kaffee trinkst. Wenn du mit deinem besten Freund unter einem Dach wohnst und irgendwie versuchst, das Lebenschaos zu managen. Ja, wirklich, es gibt Zeiten, da reicht Freundschaft voll und ganz. Vergiss nur nicht, ab und zu auf die starke Schulter neben dir zu klopfen.

Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Vor einigen Monaten ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).

Freundschaft in Wüstenzeiten

Jennifer Zimmermann hatte immer mit einem Idealbild von der christlichen Ehe zu kämpfen. Mittlerweile hat sie gemerkt: Eine Ehe lässt sich nicht so leicht optimieren und die Freundschaft zu ihrem Mann trägt auch durch Wüstenzeiten.

Man sollte es gleich zu Anfang wissen: Wir sind kein Vorzeigepaar. Ich sehe uns heute noch in unserer ersten Wohnung am Frankfurter Westbahnhof sitzen. Draußen donnerten die Güterzüge und drinnen las ich mit roten Ohren das Kapitel über Sex aus unserem Eheandachtsbuch vor. Zehn von zwanzig Kapiteln lang übten wir uns in größtmöglicher Offenheit, wälzten Vorstellungen über Geld und Rollenbilder, endeten in abwechselndem Gebetsgestotter. Die letzten zehn Andachten lasen wir nie. Das einzige Buch, das wir gemeinsam (fast) bis zum Ende gelesen haben, enthielt gesammelten Poetry Slam. Ohne Gebetsaufforderungen. Das Andachtsbuch lag unterdessen auf dem Couchtisch und starrte uns vorwurfsvoll an, weil wir offenbar keinen stabilen Grundstein für unsere Ehe legen wollten.

Ich kam mit neuen Büchern und Seminarangeboten nach Hause. Mein Angetrauter verdrehte die Augen. Zurecht. Er konterte mit einer Auswahl von Restaurants, in die er mich für ein Ehedate entführen wollte. Ich seufzte, weil in mir ein kleiner grummeliger Zwerg mit Kontrollzwang wohnte, der es überhaupt nicht leiden konnte, wenn jemand anderes sein Essen kochte. Freunde erzählten mir, wie sie in ihre Beziehung investierten. Welche Rituale sie bewusst in ihren Alltag einflochten. Wie sie das gemeinsame Gebet jeden Abend durch persönliche Probleme trug. Wie dieses oder jenes Kommunikationsseminar die Weichen für ihre gemeinsame Zukunft gestellt hatte. Und ich seufzte wieder und schämte mich ein bisschen.

BEDIENUNGSANLEITUNG FALSCH VERSTANDEN

Zu Beginn unserer Ehe war ich mir sicher: Wir hatten etwas an der Bedienungsanleitung für unsere Ehe falsch verstanden. Wie konnte all das, was uns stark machen sollte, all das, was eine Partnerschaft bereichern sollte, sich so verkehrt anfühlen? So furchtbar verkrampft? Würde unsere Ehe es ohne all die Investitionen, die wohlgepflegten Rituale und die gemeinsamen Gebete durch die Abgründe schaffen, die sich im Leben manchmal so plötzlich auftun?

Der erste Abgrund kam schneller als gedacht. Schwerfällig stapften wir durch den unerwartet tiefen Sumpf frisch gebackener Elternschaft: durchwachte Nächte und völlige Fremdbestimmung. Mein Mann machte sein Examen und startete ins Referendariat. Wir bekamen ein zweites Kind. Tageweise entlud sich all die Anspannung in erbitterten Kämpfen, die wir abends auf dem Sofa ausfochten. Tagsüber waren wir zwei abgeschaffte, zerzauste Menschen mit hängenden Schultern und Augenringen bis zum Boden, die um alles in der Welt versuchten, ihre Kinder nicht anzuschreien.

In dieser Zeit waren wir vor allem eins: Freunde. Zwei Freunde, die sich hin und wieder auf die Schultern klopften. Zwei Freunde, die beschlossen hatten, gemeinsam durch die guten und die schlechten Zeiten zu gehen. Und das taten wir. Ein heimlicher Beobachter hätte vielleicht diagnostiziert, dass wir nebeneinander her lebten, so still, wie wir unserer Wege gingen. Aus unserer Perspektive aber sah alles ganz anders aus. Ausgelaugt und verzweifelt klammerten wir uns wortlos an den einzigen anderen Menschen, der mit im Boot saß. Abends trafen wir uns auf der Couch zu unserer Lieblingskrimiserie. Ich schlief auf der Couch ein. Er weckte mich und schickte mich ins Bett. Und am nächsten Morgen standen wir wieder auf und stellten uns gemeinsam dem Chaos, das unser Leben geworden war. Jeder an seiner Front.

Von allen Seiten schien man uns zuzuschmettern, dass wir um alles in der Welt nicht „nur“ Eltern sein dürften. Wir hörten uns schlotternd die Warnungen an. Was würde mit uns passieren, wenn die Kinder eines Tages auszögen? Das Ende war wohl vorprogrammiert. Wir zitterten. Kurz. Dann wechselten wir wieder Windeln, machten die Nächte durch, gingen arbeiten und verbrachten unzählige Sonntage mit einem fiebernden Kind in der Notaufnahme.

IMMER NOCH EIN TEAM

Und eines Tages blickten wir über die Schultern und stellten fest, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten. Wir blickten an uns herab und stellten fest, dass wir uns immer noch an den Händen hielten. Irgendwann in dieser Zeit kam der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns nicht mehr zu dem „guten christlichen Paar“ entwickeln würden, das in meinem Kopf wohnte. Wir waren anders, als ich gedacht hatte. Wir konnten einander immer noch zum Lachen bringen. Wir bewunderten einander immer noch für den Umgang mit unseren Kindern. Wir arbeiteten immer noch als Team. Und wir lernten zu schätzen, was wir miteinander hatten, statt uns krampfhaft in eine Form zu pressen, in die wir nicht passten.

Zeiten des Ausnahmezustands sind keine glorreichen Zeiten. Egal, ob wir ein neues Familienmitglied durch die ersten Monate begleiten, ein Elternteil pflegebedürftig wird oder eine Krankheit die Familie durchschüttelt – es gibt Zeiten, in denen wir nur überleben. Es gibt Zeiten, in denen unsere Ehe nur überlebt. Aber zu wissen, dass der Mann an meiner Seite versprochen hat, mich auch noch morgen zu lieben, egal, wie müde und elend ich heute durch die Wohnung geschlurft bin – das ist eins der größten Geschenke in meinem Leben.

Es sind Zeiten wie diese, in denen ich den Wert von Treue schätzen gelernt habe. Von Zuverlässigkeit. Und Freundschaft. Es sind Zeiten wie diese, in denen ich gelernt habe, dass Liebe etwas anderes ist als die Summe der schönen gemeinsamen Stunden. Denn wie mein Mann in dieser Zeit zu seiner müden Frau gehalten hat, das erklärt meinem Herz etwas darüber, wie treu auch Gott ist. Wie zuverlässig. In einer Zeit, in der auch mein Glaube nur knapp überlebte, gab es keine deutlichere Botschaft, als jeden Morgen aufzuwachen und meinen Mann neben mir zu finden. Immer noch. Trotz allem.

DER PRINZ AUF DEM WEISSEN PFERD

In dem Buch „Ehe“, das der US-amerikanische Pastor Timothy Keller 2011 gemeinsam mit seiner Frau Kathy veröffentlichte, beschreibt er einen Wandel im Verständnis von Ehe. „Früher ging es in der Ehe um uns, jetzt geht es um mich.“ Vergangene Jahrhunderte haben die Ehe als ökonomische und soziale Institution begriffen. Heute tritt der verständliche Wunsch nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund, wenn es um die Erwartungen an eine Beziehung geht. In einer von Keller zitierten Studie suchen die befragten Singles vor allem nach Partnern, für die sie sich nicht ändern müssen. Sie suchen „den idealen Partner, einen Menschen, der glücklich, gesund, interessant und mit dem Leben zufrieden ist. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es eine Gesellschaft gegeben, die so voller Menschen war, die alle den idealen Partner suchten.“

In einer Zeit, in der die Geschichte vom Prinzen auf seinem weißen Pferd in allen Schattierungen von Hollywood ausgeschlachtet worden ist, drängt sich die Überlegung auf, ob das Warten auf den idealen Partner, den „Seelenverwandten“, nicht alles leichter gemacht hätte. Meist kann ich diese Frage nach einigem Gedankenwälzen unter „Selbstoptimierung“ verstauen. In meinem Leben nimmt sie einen ähnlichen Stellenwert ein wie die Frage, ob regenbogenfarbene Haare mein Leben besser – weil bunter – machen würden. Etwa fünf Minuten lang erscheint sie wirklich dringend. Dann rastet mein Fünfjähriger aus, weil die Nudeln alle sind und ich blicke in das tiefenentspannte Gesicht meines Mannes und weiß wieder, dass ich hier richtig bin. Aber die Frage nach dem idealen Partner ist nicht für jeden so eindeutig zu lösen wie für mich. Und manchmal scheint es so, als ob wir, wenn wir an der Optimierung unserer Partnerwahl scheitern – und das tun wir immer, egal wie gründlich wir suchen – mit der Optimierung unserer Beziehungen weitermachen.

GEGEN DEN OPTIMIERUNGSWAHN

Wie wir mit Ehe umgehen, erinnert mich manchmal an meinen Pinterest-Account. Ständig werden mir Bilder von perfekten Lösungen für meine Wohnprobleme vorgeschlagen. Aber Paare lassen sich viel schwerer optimieren als Wohnzimmer. Paare sind zwei komplexe Gotteskinder mit vielen Jahren Leben im Gepäck und jeder hat einen Reisekoffer voller rumpelnder Gedanken, den er hinter sich herzieht. Wenn irgendwer vor Selbstoptimierung Halt machen sollte – sei sie körperlicher, psychischer oder geistiger Natur – dann sollten wir Christen es sein, die wir an einen Gott glauben, der die Machtverhältnisse der Welt einfach auf den Kopf stellt und die Letzten zu Ersten erklärt. Es gibt niemanden auf dieser Welt, der mit mir so geduldig ist wie er. Und wenn es Ecken und Kanten in unserer Beziehung gibt, dann hat er Zeit genug, sie rund zu lieben. Oder uns beizubringen, wie wir sie lieben lernen.

Ich durfte zu der liebevollen Erkenntnis kommen, dass es ok ist, nicht das Paar zu sein, das ständig investiert und optimiert. Dass es sogar ok ist, ein paar Wochen lang das Paar zu sein, das sich abends anschreit, wenn uns das am Ende einen Schritt weiterbringt. Es kann sich vollkommen richtig anfühlen, Andachtsbücher zu lesen und gemeinsam Seminare zu besuchen. Aber es gibt tausend andere Möglichkeiten, eine Ehe zu einem guten Ort für beide Partner zu machen. Für uns ist es tausendundein Gespräch, das wir den Tag über zwischen Tür und Angel führen. Es sind die Insider, die nur wir verstehen. Der gelegentliche kinderfreie Nachmittag mit einem heimlichen Eis. Und dann gibt es die schlechten Zeiten. Die, in denen wir auf dem Zahnfleisch gehen. Manchmal reicht es dann, wenn der andere über deinen schrägen Witz lacht. Wenn einer weiß, wie du deinen Kaffee trinkst. Wenn du mit deinem besten Freund unter einem Dach wohnst und irgendwie versuchst, das Lebenschaos zu managen. Ja, wirklich, es gibt Zeiten, da reicht Freundschaft voll und ganz. Vergiss nur nicht, ab und zu auf die starke Schulter neben dir zu klopfen.

Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Vor einigen Monaten ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).

Mit der Checkliste zur Traumfrau

Nach dem Tod seiner Frau sucht Franz nach einer neuen Partnerin anhand einer Liste mit 30 Punkten und findet Andrea.

Die Lebensgeschichte der Lermers liest sich wie ein Roman, bei dem der Autor arg dick aufgetragen hat. Das passt doch alles gar nicht in zwei Leben! Nach dem plötzlichen Tod seiner Ehefrau sucht Franz in einer besonders trüben Stunde nach einer neuen Partnerin anhand einer Liste mit 30 Punkten – Eigenschaften, die seine Traumfrau erfüllen soll. Und er findet Andrea auf einer Internetplattform. Auch sie ist schwer vom Leben gebeutelt. Sie hat eine katastrophale Ehe hinter sich, in der sie Missbrauch und Gewalt erlebt hat. Die Verbindung endete mit dem Selbstmord des Ehemannes.

Heute leben Andrea und Franz Lermer zusammen mit ihren vier Kindern als Patchworkfamilie in Sachsen und betreiben eine Landwirtschaft mit Westernflair. Ihre Seminare auf der Ranch sind immer ausgebucht, obwohl sie keine Werbung dafür machen und obwohl man dort weder Reiten noch Lassowerfen lernen kann. Denn eigentlich wollen sie vor allem von Jesus erzählen – mitten im säkularisierten Osten, wo sich drei Viertel der Bevölkerung keiner Religion zugehörig fühlen.

Christof Klenk hat die Lermers in Hainichen besucht.

Leute öffnen sich

Sie sind beide verwitwet, haben heftige Schicksalsschläge erlebt und bieten Seminare mit dem Titel „Heil und gesund“ an. Inwiefern helfen Ihre Erfahrungen da?

Franz: Das ist unser Kapital. Viele fühlen sich völlig unverstanden in ihrer Situation, kommen zu uns und merken: Hier versteht mich doch jemand. Vielleicht haben sie Missbrauch erlebt wie Andrea. Vielleicht finden sie sich in den wirtschaftlichen Geschichten wieder, die ich erlebt habe.

Andrea: Wir erleben, dass sich Leute öffnen können, weil sie sagen: Ich habe fast die gleiche Geschichte. Manchmal erzählen sie uns Dinge, die sie nicht mal ihren Psychiatern erzählen. Manchmal wissen sie auch gar nicht, warum sie solche Schwierigkeiten im Leben haben.

Und was bieten Sie ihnen an?

Franz: Viele Leute suchen Heilung. Wir sind keine Therapeuten, keine Seelsorger, sondern für die Leute da. Wir raten niemandem ab, zum Arzt oder Therapeuten zu gehen. Unsere Seminare dauern eineinhalb bis drei Tage, in denen wir als Christen von uns erzählen und was wir mit Gott erlebt haben. Wir beten auch für die Menschen – und erleben, dass Gott handelt.

Andrea: Ich war am Anfang total hilflos, wenn die Leute anfingen, ihre Geschichte zu erzählen. Ich hatte keine Lösung für ihre Situation und habe gemerkt: Das kann ich gar nicht tragen. Dann haben wir angefangen, für die Menschen zu beten – und für Gott gab es eine Lösung.

In jedem steckt ein Cowboy

Welche Rolle spielen die Pferde und eure Ranch in dem Prozess?

Franz: Das gehört zu unserer Geschichte. Wir züchten Pferde und verkaufen sie; das ist unser Hobby. Wir haben eine Landwirtschaft, wo wir Black Angus-Rinder züchten. Das ist unser Flair, und die Leute finden es toll. Die Atmosphäre wirkt entspannend. Am Anfang haben wir versucht, die Pferde mit einer therapeutischen Rolle einzubeziehen. Das lenkt aber eher ab von dem, was uns wichtig ist.

Andrea: Bei den Seminaren haben wir den Stall immer geöffnet. Man kann die Pferde streicheln, wir bieten aber kein Reiten an.

Franz: Über dem Stall haben wir einen Saloon. Das ist unser Veranstaltungsaal, in den 100 Leute reinpassen. Dort machen wir unsere Seminare. Diese Umgebung holt die Leute ab. Wir dachten am Anfang, dass sie das möglicherweise doof finden, aber scheinbar steckt ein Cowboy in jedem.

Andrea: Uns gefällt das. Wenn wir irgendwo ohne Hut hinkommen, dann sagen die Leute manchmal: „Habt ihr den Hut nicht dabei?“

Als ihr euch kennengelernt habt, hattet ihr beide eine schwere Geschichte hinter euch. Hat euch das verbunden?

Andrea: Am Anfang hat es uns schon verbunden, dass wir beide unsere Partner verloren hatten und in einer ähnlichen Situation steckten. Man fühlte sich verstanden. Wir konnten uns über Vieles austauschen.

Franz: Trotzdem hätte auch alles schief gehen können, gerade mit den Kindern. Wir kennen so viele Geschichten, die so sind wie unsere, bei denen es überhaupt nicht funktioniert hat. Patchwork – das ist für viele die Hölle.

Und könnt ihr erklären, warum es bei euch funktioniert?

Franz: Die einzige Erklärung, die ich abgeben könnte, wäre unsere Kennenlerngeschichte. Ich habe meinen Kindern ein Bild von Andrea gezeigt und die waren überzeugt, dass sie sie bereits kennen. Bei Andreas Eltern und Kindern war’s genauso, als sie ein Bild von mir sahen. Da sind wir in eine offene Tür reingefallen. Unsere Kinder waren damals 9, 12, 13 und 16.

Andrea: Die Kinder von Franz haben mich sehr schnell gefragt: „Kann ich zu dir Mama sagen?“ Da bin ich fast vom Stuhl gefallen.

Franz: Und wir haben über die Jahre in dem Bewusstsein gelebt, dass sich das auch noch mal ändern kann; aber jetzt sind es mehr als zehn Jahre.

Unerträglicher Schmerz

Konntet ihr euch in dem Trauerprozess helfen?

Andrea: Als wir uns kennengelernt haben, war der Trauerprozess noch nicht abgeschlossen.

Franz: Wir haben uns vier Monate nach dem Tod unserer Ehepartner kennengelernt.

Andrea: Wir haben viel gesprochen, gefragt: „Wie geht es dir?“ und haben das ausgewertet. Es war übernatürliche Heilung, das kann ich nicht anders sagen.

Franz: Ich hatte nach dem Tod meiner Frau das Gefühl, dass ich auf der Brust eine blutende Wunde habe, ein unerträglicher Schmerz. In einem Bild: Wie ein riesiger Haufen Sand vor der Tür, der wegmuss. Du kannst das Ding ignorieren und auf 50 Jahre verteilt wegschaufeln, aber so lange klebst du auch daran fest. Ich habe mich schnell da durchgewühlt, geschaufelt wie ein Kaputter und bin durch den Trauerprozess gegangen.

Und was bedeutet das Schaufeln …?

Franz: Sich damit konfrontieren, auseinandersetzen, drüber nachdenken, das zulassen.

Andrea: Es ist so: Der Partner ist plötzlich weg. Die Welt dreht sich aber weiter. Du hast alles noch an der Backe. Das Leben hört nicht auf deswegen. Und dann ist die Frage: Wie machst du jetzt weiter?

Franz: Wir raten den Leuten davon ab, das Gedenken an den Verstorbenen ständig am Leben zu erhalten. Der Tod geht knallhart mit dir um. Wir empfehlen den Leuten darum: „Entferne dich bewusst davon, lass los, geh in dein neues Leben!“ Du kannst auch entscheiden, daran festzuhalten. Aber dann wird es dich immer begleiten. Und wenn du eine neue Beziehung hast, dann hat der alte Partner dort nichts mehr zu suchen. Das tut nicht gut.

Andrea: Ich musste immer wieder dagegen ankämpfen, dass ich mir keine Selbstvorwürfe mache. Wenn sich der Partner umgebracht hat, dann fängt man an, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Da musste ich loslassen und mir klar machen, dass das nicht meine Verantwortung war.

Der eigene Mann am Strick

Bevor Ihr Mann sich umbrachte, waren Sie mit den Kindern zu Ihren Eltern geflüchtet, weil Ihr Partner Sie geschlagen hatte. Kann man da überhaupt trauern?

Andrea: Am Anfang schon. Ich hatte mir zwar immer wieder gewünscht, dass ich aus dieser Beziehung rauskomme, aber wenn man dann den Partner am Strick hängen sieht, dann ist es nochmal was ganz Anderes.

Franz: Man könnte sagen: Du hast, egal was vorher war, eine „Best of“-Sammlung von Erinnerungen.

Andrea: Das fängt automatisch an. Man versucht sich an die wenigen schönen Situationen zu erinnern. Da gibt es schon einen massiven Trauerprozess. Später hat sich das umgewandelt in Wut und Anklage; das musste ich Stück für Stück bearbeiten.

Viele tun sich schwer damit, sich nochmals auf eine neue Beziehung und ein neues Umfeld einzulassen. Was war für euch ausschlaggebend für diesen Schritt?

Andrea: Ich glaube, das war Gottes Reden damals. Das, was wir gemacht haben, war ganz schön waghalsig. Ich habe meinen Job aufgegeben, meine Wohnung gekündigt, bin mit zwei Kindern hierhergezogen. Das hätte alles super schiefgehen können.

Franz: Wir haben gemerkt, dass wir uns nach einer dauerhaften, langfristigen Beziehung sehnen. Das ist eine Grundsehnsucht. Die Frage ist nur, welche Erfahrungen man gemacht hat. Das ist völlig unterschiedlich. Wir haben eine Menge Paare in unseren Seminaren, die richtig um ihre Ehe kämpfen. In einem Seminar war das besonders krass: Da kamen sechs Ehepaare – die Partner sind zum Teil getrennt angereist – und alle sechs Paare haben erzählt, dass sie sich auf diesem Seminar versöhnt haben. Sie haben sogar Scheidungstermine abgesagt … unglaublich, was da passiert ist!

Uns beiden hilft unsere „Bubble-Time“. Wir erzählen davon in unseren Seminaren: Seit fünf, sechs Jahren setzen wir beide uns jeden Tag in der Früh zusammen und tauschen uns aus: „Wie geht es dir emotional, geistlich, wie geht’s dir körperlich und mit deiner Sexualität?“ Und versuchen dadurch immer wieder eine Einheit als Paar zu finden.

So eine „Bubble-Time“ hat vier Fragen, habe ich gelernt …

Franz:  Ja. Wir stehen so früh auf, wie es notwendig ist. Und dann sagen wir uns etwa: „Ich fühle mich geliebt“, das heißt: Es ist alles gut. Meine Liebestanks sind voll. Das miteinander abzuchecken, halten wir für hilfreich.

Andrea: Ich bin der Umarmungstyp. Er schenkt mir den ganzen Tag Aufmerksamkeit, aber …

Franz: … Ich mag das schon, denke aber nicht immer dran. Für mich ist es viel wichtiger, dass du da bist.

Andrea: Ich habe dann erwähnt, dass ich mir eine Umarmung wünsche. Er hat darauf gesagt: „Mensch, das habe ich gar nicht auf dem Schirm.“ Wir haben uns kleine Hilfestellungen gegeben. Er hat beispielsweise gesagt: „Pass auf, dann umarme ich dich jetzt dreimal.“ Das hört sich jetzt dumm an, daraus ist aber was Tolles entstanden.

Franz: Bubble kommt von Seifenblase. Die Einheit, um die es da geht, ist so empfindlich wie eine Seifenblase. Ein doofer Blick kann unsere Einheit zerstören.

Die Liste

Frau Lermer, wie haben Sie es geschafft nach den Erfahrungen, die Sie gemacht haben, wieder einem Mann zu vertrauen?

Andrea: Wir haben viel miteinander gesprochen. Das ist der Schlüssel gewesen. Natürlich hat mir auch die Liste geholfen, die der Franz geschrieben hat.

Was ist das Besondere an dieser Liste?

Franz: Die Liste beschreibt eine Frau, wie ich sie gesucht habe. Ich hatte nach dem Tod meiner ersten Frau den Eindruck, Gott sagt mir, ich solle eine solche Liste erstellen. Nach 28 Punkten war ich fertig, hatte dann aber noch die Eingebung, zwei Punkte dazu zu schreiben: Pferd und Bauernhof … Dabei hatte ich damals mit beidem gar nichts am Hut! Und nun sitzt die Frau, die ich in der Liste beschrieben habe, eins zu eins hier! Es stimmt alles. Größe, Gewicht, Haarfarbe … Alles passt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Im Sturm der Traurigkeit

Der Mann unserer Autorin kämpft immer wieder mit Depressionen. Wie kommt sie damit klar?

Vor ein paar Jahren, ich war gerade im Auto unterwegs, hörte ich das Lied „Flames“ von Boy. Darin heißt es (frei übersetzt): „Die beständige Angst und Traurigkeit liegt schwer auf deiner aufgewühlten Seele. Ich rufe deinen Namen, aber ich kann nicht zu dir durchdringen. Es tut mir weh, dich so leiden zu sehen. Wenn ich doch nur einen Weg finden könnte, um dich zu beruhigen und zu heilen.“ Als ich so zuhörte, stiegen mir die Tränen in die Augen. Es war, als hätte jemand das in Worte gefasst, was ich gefühlt habe, als ich meinen Mann durch seine Depression begleitete.

Ich wusste von Anfang an, dass er psychische Probleme hat. Als wir uns ineinander verliebten, erzählte er mir, dass er sich gerade von einer Depression erholt habe, die vor ein paar Monaten, während einer Prüfungszeit, aufgetreten sei. Er konnte nichts mehr essen, nicht mehr schlafen und hatte irgendwann einen totalen Blackout. Nichts funktionierte mehr. Er wollte nichts vor mir verheimlichen und mir klar machen, dass ein Ja zu ihm auch ein Ja zu seiner Depression sein würde. Ich wusste also, was mich erwartete und gleichzeitig wusste ich überhaupt nicht, was mich erwartete.

Ein halbes Jahr nachdem wir zusammen waren, war sie wieder da. Eine Depression mit einer Angststörung. Er befürchtete ständig, durch seine Prüfungen zu fallen und sein Studium nicht zu schaffen und lernte Tag und Nacht. Und obwohl die Klausuren immer „sehr gut“ ausfielen, konnte er seinen Erfolg nicht genießen. Er war nicht in der Lage, so etwas wie Freude, Zufriedenheit oder Gelassenheit zu empfinden – und wenn, dann nur für einen kurzen Moment. Es war ein Leben ohne Graustufen. Alles, was ich sagte, schob er, wie es für Depressive typisch ist, entweder in die weiße (gute) oder schwarze (schlechte) Kategorie. Das machte unsere Kommunikation unglaublich schwierig. Gab es etwas, was mir an unserer Beziehung nicht gefiel und ich sagte es ihm, fühlte er sich sehr verletzt. Er zweifelte oft an sich selbst, und, nicht selten, auch an mir. Immer wieder stellte er mich und unsere Beziehung in Frage. Das verletzte mich am allermeisten. Zwei Mal trennten wir uns in den ersten Jahren voneinander. Bis wir ein wirkliches Ja zueinander gefunden hatten, sollten viele Jahre vergehen.

Nicht alle davon waren schlecht. War er medikamentös gut eingestellt und wir in „ruhigen Fahrwassern“ ging es uns sogar sehr gut. Wir reisten zusammen, suchten nach gemeinsamen Hobbys und machten Pläne für die Zukunft. Wir lernten, uns immer mehr so zu lieben, wie wir sind. Wir lernten auch voneinander: Ich lernte von ihm, mehr Ehrgeiz an den Tag zu legen und fing an, mich für Sport zu begeistern. Er lernte von mir, gelassener zu sein und den Moment zu genießen.

Es gab aber auch viele herausfordernde Momente. Als er ins Berufsleben einstieg, war es besonders schwierig. Der Stress und der Erwartungsdruck, der auf ihm lastete, machten ihm so sehr zu schaffen, dass ich befürchtete, er würde nun vollends zusammenbrechen und den Beruf, auf den er so lange hingearbeitet hatte, aufgeben müssen. In Phasen, in denen er psychisch stabil war, versuchte er immer wieder mit Begleitung eines Psychiaters das Antidepressivum, das er inzwischen mehrere Jahre zu sich nahm, auszuschleichen. Doch jeder Versuch scheiterte und warf ihn und uns jedes Mal zurück.

„Wie kommst du da durch?“

Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Wir sind verheiratet und haben eine Familie. Mein Mann ist in seinem Beruf inzwischen zufrieden und sehr erfolgreich. Er hat seine Depression und seine Ängste dank der Psychopharmaka und Menschen, die ihn und uns begleiten, im Griff. Die Stürme kommen jetzt seltener, aber es gibt sie noch.

Was hilft mir in stürmischen Zeiten? Diese Frage konnte ich selbst lange nicht beantworten. Fragte man mich, wie ich da durchgekommen sei, gab ich häufig „Mit Gottes Hilfe“ zur Antwort. Und es stimmt: Hätte ich mich in all meiner Verzweiflung, Hilflosigkeit und mit all meinem Schmerz nicht an Gott wenden können, hätte es für uns keine Zukunft gegeben. Aber es sollte nicht nur der Glaube sein, der Angehörige von Depressiven durchträgt. Es sind auch die Freunde, die nachfragen, mitbeten oder, wenn nötig, auch mal ablenken. Es ist wichtig, sich über das, was man an der Seite eines Depressiven erlebt, auszutauschen – und zwar nicht nur mit dem Partner. Je nachdem, wie schwerwiegend seine Depression ist, kann es für ihn sogar zusätzlich belastend und deshalb kontraproduktiv sein. Wenn die Situation so belastend ist, dass ich sie selbst nicht aushalten kann, wende ich mich an meine Eltern, zu denen ich ein sehr gutes Verhältnis habe, und gute, vertrauensvolle Freunde – meistens solche, mit denen ich auch ins Gebet gehen kann. Eine von ihnen ist Psychologin und kann mir auch fachliche Tipps geben.

Überhaupt ist es wichtig, sich mit dem Thema Depression fachlich auseinanderzusetzen. Als ausgebildete Pädagogin dachte ich lange, ich wüsste bereits genug darüber. Ich hatte jedoch nie längere Zeit mit Depressiven zu tun gehabt und wusste schon gar nicht wie es ist, als Angehörige davon betroffen zu sein. Auch ich brauchte Hilfe und Begleitung. Das Internet bietet auf vielen Seiten, wie etwa der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, die Möglichkeit, sich zu dem Thema zu informieren. Aber auch ein Gespräch mit einer Person vom Fach, wie etwa einem Psychotherapeuten oder Psychiater, der man direkt Rückfragen stellen kann, ist hilfreich. In vielen Städten gibt es außerdem Selbsthilfegruppen für Angehörige von Depressiven, in denen man sich mit anderen austauschen kann. Je mehr man über Depressionen weiß, desto besser kann man das Verhalten des Partners verstehen und einordnen.

Gleichzeitig ist es wichtig, nicht alle Zweifel und Ängste, die der Partner hat, als übertrieben oder psychisch bedingt abzutun. Es ist nicht die Person selbst, sondern die Depression, die dazu führt, dass diese Gefühle für sie so unerträglich und für uns so unnachvollziehbar werden. Viele verstehen das nicht. „Das ist Quatsch“ oder „Du spinnst ja“ sind Sätze, die mein Mann während einer depressiven Phase manchmal zu hören bekommen hat. Auch Sätze wie „Du bist halt krank“ oder „extrem empfindlich“ sind in so einer Episode wenig hilfreich. Deshalb überlegen wir uns sehr genau, wen wir in dieses Thema einweihen. Mein Mann ist nicht „der Depressive“ oder „der Verrückte“, als den ihn manche abstempeln, weil es ihnen zu anstrengend und unangenehm ist, sich in ihn und seine Gefühlswelt hineinzudenken. Er ist der Mann, den ich liebe und der ab und zu jemanden braucht, der ihn sanft zurück auf die Beine stellt, ohne über seine Gefühle und Gedanken zu urteilen! Das steht niemandem zu – egal, ob gesund oder krank.

Nicht immer die Stärkere

Hilfreich war für mich auch, einzusehen, dass ich als „Gesündere“ von uns, nicht gleichzeitig auch immer die Stärkere sein muss. Natürlich versuche ich für ihn da zu sein, ihn zu trösten und aufzumuntern, wenn es ihm schlecht geht. Aber auch ich habe meine Grenzen, die ich lernen musste anzuerkennen, um nicht selbst krank zu werden. Manchmal bedeutet das auch, ihm vorzuschlagen, mal mit jemand anderem darüber zu sprechen und mich selbst ein bisschen zurückzuziehen. Ja, man darf sein Leben trotzdem genießen und sich selbst etwas Gutes gönnen – auch, wenn es dem Partner gerade nicht gut geht. Für mich bedeutet das, mich mit Freundinnen zu treffen, mir eine Massage zu gönnen oder ausführlich Sport zu machen. Aber auch als Paar darf man sich in solchen Zeiten schöne Abende gönnen und das Leben trotz allem feiern, indem man zum Beispiel einen Babysitter engagiert und ausgeht oder aber sich das Essen nach Hause liefern lässt und einen schönen Film zusammen guckt oder ein Spiel spielt. Umgekehrt gab es übrigens auch schon zahlreiche Situationen, in denen er der Stärkere von uns war, obwohl er der „Kränkere“ ist.

Es wäre falsch zu behaupten, dass wir inzwischen so sturmfest wären, dass uns die Stürme nichts mehr ausmachen würden. Wenn Ängste und Zweifel herumwirbeln und unser Schiff zum Schwanken bringen, erfordert es immer noch viel Kraft und Glauben, Jesus auf dem schwankenden Wasser zu erkennen und darauf zu vertrauen, dass er uns nicht untergehen lässt.

Die Autorin ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.

Mettwurst oder Spitzenwäsche: So zeigen Sie Ihrem Partner, dass Sie ihn wirklich lieben

Romantische Fünf-Sterne-Dinner mit Sonnenuntergang sind super, ohne Frage. Aber es sind ganz andere Aufmerksamkeiten, die eine Beziehung ausmachen.

Um der Liebe unseres Lebens zu beweisen, wie wunderbar und einzigartig sie ist, geben wir uns viel Mühe, vor allem, wenn wir frisch verliebt sind. Die Verliebtheit aktiviert unsere Hirnwindungen in der rechten Großhirnrinde und treibt uns an. Wir schreiben Gedichte, basteln Karten, sparen für ein Vier-Gänge-Menü, stricken Schals, üben den Kniefall oder eine sinnliche Geste, schnuppern uns durch die Parfumabteilung und holen die Sterne vom Himmel.

Das Beziehungs-Gen

Woher kommt die Sehnsucht, der Liebe einen Ausdruck zu geben? Wir sind Beziehungswesen. Keiner lebt für sich allein. Wir brauchen das Gegenüber, um uns selbst zu erkennen, Bedürfnisse wahrzunehmen und uns weiterentwickeln zu können. Eremiten sind die absolute Ausnahme, aber selbst sie suchen ein Gegenüber. Eine mystische Begegnung. Eine Erkenntnis. Gott. Es scheint eine genetische Struktur in uns zu geben, die sich nach Begegnungen sehnt.

Einmal geklärt. Fertig.

Der Ausspruch: „Ich liebe“ ist nur sinnvoll, wenn es einen Adressaten gibt. Ich liebe Kunst, Sport, Essen – dich! Auch, wenn es praktisch zu sein scheint, ein einmaliges Bekenntnis der Liebe genügt nicht, denn „lieben“ ist ein aktives Verb. Es verlangt die Aktivität von kleinen und großen Liebesbeweisen, um nicht zu verkümmern. In der ersten Phase der Verliebtheit fällt es uns leicht, Aufmerksamkeiten zu ersinnen und zu verschenken. Doch irgendwann kommt unsere Liebesbeziehung im Alltag an, findet sich zwischen Routine und Gewöhnlichem wieder und wir gehen davon aus, dass der/die andere schon weiß, dass wir ihn/sie lieben. Wenn wir wollen, dass unsere Liebe Spuren hinterlässt, muss sie erlebbar sein, zum Anfassen und Spüren, zum Erinnern und Träumen. Doch wie sieht der perfekte Liebesbeweis überhaupt aus?

Hände weg von Hollywood

Hollywood und romantische Romane liefern Ideen, doch die scheinen sich nur umsetzen zu lassen, wenn man viel Geld, einen Adoniskörper, unbegrenzte Risikobereitschaft oder am besten alles zusammen hätte. Die Ansprüche an einen perfekten Liebesbeweis lassen uns erschöpft und überfordert zurück. Wir sind weder Romanheldin noch Prince Charming und dennoch sehnen wir uns danach, unserem Partner auf ganz besondere Weise zu zeigen, wie sehr wie ihn/sie lieben.

Im Kleinen wie im Großen

Aber vielleicht muss es auch nicht immer der ganz große Wurf sein. Wenn man sich nicht an Kleinigkeiten freuen kann, kann man sich auch nicht an den großen Überraschungen freuen. Kann man ein Sternemenü zelebrieren, wenn man die schlichte Mahlzeit verachtet? Kann man den Wellness-Urlaub genießen, wenn man sich nicht im Alltag entspannen kann? Was nützen die spektakulären Liebesbeweise, wenn man sich nicht an den kleinen Gesten der Zuneigung erfreuen kann? Eine Umarmung. Ein Post-it mit Herzchen. Eine gepflückte Blume vom Wegrand. Eine SMS mit: „Du fehlst!“. Die aufgehaltene Tür. Ein Streicheln über den Handrücken. Eine Süßigkeit auf dem Schreibtisch.

Unsere Liebe verdichtet für einen Augenblick in eine liebevolle Geste. Wenn ein Augenblick die Zeit zwischen zwei Lidschlägen ist und wir zwischen 11 und 19 Mal in der Minute blinzeln, dann sind das bis zu 16.200 Augenblicke am Tag. Wird da nicht ein Moment dabei sein, den wir unserem Partner schenken können?

Individuelle Vorlieben

Es mag Frauen geben, die empfinden Handlungen wie Tür aufhalten, in den Mantel helfen oder eine Rechnung zu übernehmen als Bevormundung. Übereifriger Feminismus und Gender Mainstreaming haben der Höflichkeit so manche Kerbe geschlagen. Ich finde es angenehm, wenn mir jemand in die Jacke hilft, damit ich mich nicht mit den verknuddelten Ärmeln plage. Sobald wir die Motivation einer freundlichen Geste entdecken, tut sie einfach nur gut.

Wir kennen doch unseren Partner und wissen, worüber er oder sie sich besonders freut. Ist es ein kleines Geschenk oder eine gemeinsame Unternehmung oder ermutigende Worte?

Wer mag die runde Brötchenhälfte?

Wenn wir nicht wissen, was unserem Partner gefällt, dann müssen wir darüber sprechen und unser Gegenüber muss ehrlich antworten. Wie oft hat man schon ein vermeintliches Lieblingsessen zubereitet und dabei denkt der Mann: „Jetzt hat sie schon wieder gefüllte Paprika gekocht. Ich konnte das Gericht schon als Kind nicht leiden.“ Es wäre doch schade, wenn wir aus Liebe auf die runde Brötchenhälfte verzichten, in der Annahme, dass unser Partner sie mag, und dabei ist es ihm schnurzpiepegal.

Mettwurst und Spitzenwäsche

Mein Mann ist als Außendienstmitarbeiter in verschiedenen Städten unterwegs. Er hat die Möglichkeit, zwischen zwei Terminen in ein Geschäft zu gehen und bringt mir dann Dinge, von denen ich mal gesagt habe, dass ich sie gebrauchen könnte, wie einen Topfkratzer oder eine Tasche für meine Ordner, mit. Manchmal bringt er mir auch Dinge mit, die ich nicht dringend brauche, zum Beispiel ein Spitzenbustier. In meinem Alltag komme ich höchstens beim Bäcker und Metzger vorbei. Dann kaufe ich ihm seine Lieblingsmettwurst, die er mit rohen Zwiebeln isst. Er freut sich, auch wenn er anschließend keine Küsse mehr bekommt. Blumen bringt er mir nie mit und das ist gut so, ich kaufe sie mir selbst, denn sie müssen zu den Vasen, Sofakissen und Tischdecken passen.

Sagt was!

Unter Frauen höre ich solche Klagen: „Mein Mann kennt nicht einmal meine Kleidergröße und bringt mir nie etwas mit.“ „Andere Männer sind viel aufmerksamer als meiner.“ „Nie kocht er für mich.“

An Valentinstag drängeln sich die Männer ins Blumengeschäft und zum Hochzeitstag schleppen sie sich schweratmend durch die Parfumabteilung. Lasst uns die Männer von diesen Vorstellungen an Aufmerksamkeiten befreien! Lasst uns direkt sagen, was uns gefällt und nicht nur hoffen, dass der Partner die indirekten Andeutungen decodieren kann. Wie die kleinen Gesten aussehen, entscheidet jedes Paar für sich. Wir dürfen nicht vergleichen. Der einen Frau sind ihre von ihrem Mann frisch gebügelten Blusen ein Liebesbeweis, dem anderen, dass man zusammengekuschelt einschläft und bei meinem ist es die Zwiebelmettwurst.

Kleine Gesten im Alltag

Eine kleine Geste ist ein lebendig gewordener Gedanke der Zuneigung im Alltag. Ohne großen Aufwand kann ich etwas für den anderen erledigen, was er nur ungern tut, zum Beispiel zur Post gehen, die Flaschen wegbringen, die Betten machen, staubsaugen, die Blumen gießen.

Kleine Gesten haben die Kraft, Missverständnisse zu entwaffnen. Sie schützen uns vor Empfindlichkeiten und zu hohen Ansprüchen. Sobald sich eine Geste mit Dankbarkeit paart, hat sie die Fähigkeit, uns durch Alltagsstürme zu tragen.

Ein Butterbrot voll Liebe

Jeden Morgen richte ich für meine Kinder und meinen Mann eine Brotdose her. Ja, es ist gesünder und kostengünstiger als ein gekaufter Snack, aber es ist auch eine Tupperdose voller Zuneigung. Ein Zettel mit „Du schaffst das“ oder „Ich denke an dich“ oder mit Herzchen signalisiert, dass wir auch während des Arbeitstages miteinander verbunden sind und er lässt mich wissen, dass es ihm gefällt. Wieso sonst sollte ich mir die Brotschmiererei im schlaftrunkenen Zustand antun?

Bleibt authentisch!

Wenn ich mich ständig verbiegen muss, damit mein Partner sich wertgeschätzt weiß, wird die Ehe zur Last. Die kleinen Gesten müssen nicht eingeübt und trainiert werden, sie schlummern in uns, vielleicht müssen sie nur wachgerüttelt werden. Aufmerksamkeiten lassen sich leicht in den Alltag integrieren, wenn sie authentisch sind.

Es fällt mir leicht, meinem Mann körperliche Zuneigung zu schenken, aber es würde mir schwerfallen, mich für Fußball und Stadionbesuche zu begeistern. Der andere wird es sowieso spüren, wenn man etwas ungern tut. Als ich ein Kind war, sagte meine Oma: „Wenn du nicht gern teilst, brauchst du überhaupt nicht zu teilen.“ Ich habe mir dann immer überlegt, wie ich trotz des Teilens freudig aussehen kann. Es geht nicht! Ein Geschenk muss von Herzen kommen, damit es sich im Gesicht widerspiegelt. Ja, und manchmal gibt es die Momente, die man für sich alleine haben möchte. Für diesen Fall hat mein Mann ein kleines Snacklager in seinem Kleiderschrank und ich trockne meine Fruchtgummiteile in meinem Bücherregal, bis sie hart wie Bonbons sind. (Das muss man im Verborgenen tun, sonst futtern die Kinder alles weg.)

Das Aufzählmonster

Kleine Aufmerksamkeiten entfalten sich durch Dankbarkeit und verkümmern durch Vorhaltungen: Es gibt Zeiten, da ist man nicht so aufmerksam, vielleicht weil Stress bei der Arbeit herrscht oder weil man Ärger mit den Nachbarn hat oder weil man körperlich erschöpft ist. In diesen Phasen investiert einer von beiden mehr in die Beziehung. Wenn man jetzt anfängt aufzuzählen, was man schon alles getan hat und wie viel man für den anderen opfert, dann entfesselt man das Aufzählmonster. Es hat die Macht, aus Kleinigkeiten Konflikte zu erschaffen. Plötzlich nervt alles! Zu lautes Einatmen. Zu lautes Ausatmen. Der Schlüssel wird nicht an den gewohnten Platz abgelegt, im Auto rieseln Krümel über die Sitze oder die Spülmaschine wird nicht effektiv eingeräumt. Im gleichen Maß, wie uns Kleinigkeiten erfreuen, können sie uns ärgern. In diesen Momenten müssen wir innehalten, durchatmen und uns dem Aufzählmonster in den Weg stellen. Wir werden kaum die Energie und Kreativität haben, uns etwas Außergewöhnliches für den Partner zu überlegen. Umso besser, wenn wir auf ein Repertoire aus Aufmerksamkeiten zurückgreifen können.

Der Partner ist genervt? Ich gebe ihm Möglichkeiten, sich zurückzuziehen.

Der Partner ist gehetzt? Ich umarme ihn ganz fest.

Der Partner ist entmutigt? Ich bete mit ihm.

Vom Sekundengeizhals zum Zeitschenker

Viele Unglücke passieren, weil man denkt, man hätte nicht genug Zeit. Man hastet durch den Alltag, drängelt sich durch den Verkehr und verbrennt sich am heißen Kaffee den Mund in dem Glauben, dadurch ein paar Sekunden zu sparen. Aus den gleichen Gründen verlieren wir unsere Aufmerksamkeit. Keine Zeit für den Abschiedskuss, weil ein Termin ansteht? Keine Zeit, dem Partner einen gesegneten Tag zu wünschen, weil das Kind quengelt? Die kleinen Aufmerksamkeiten kosten uns nur einen Augenblick und jeder Tag besteht aus wenigstens 16.000 Augenblicken. Wir dürfen nicht zum Sekundengeizhals mutieren. Lasst uns am Tag zehn Minuten Zeit nehmen, die wir in überlegten Portionen an unseren Partner verschenken. Vier Augenblicke, um sich zu umarmen. Zehn Augenblicke, um zwei Cappuccinos zu kochen. Zwei Augenblicke für den Gute-Nacht-Kuss.

Alles, was wir als wichtig erachten, wurde uns geschenkt: Leben, Zeit, Liebe, Beziehungen, Familie, Talente, Hoffnung. Wir sind Beschenkte. Wir dürfen großzügig sein mit unserer Aufmerksamkeit, mit Dank und Lob. Ja, und manchmal schlüpft aus unseren Hirnwindungen eine außergewöhnliche Idee, wie wir unseren Partner auf ganz besondere Weise mit unserer Liebe überraschen können.

Susanne Ospelkaus lebt mit ihrer Familie in Zorneding bei München, bloggt unter susanne-ospelkaus.com und arbeitet als Ergotherapeutin.