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Studie zeigt: Wer sich in Beziehungen mächtig fühlt, ist zufriedener damit

Menschen, die das Gefühl haben, Einfluss in ihrer Partnerschaft zu haben, sind zufriedener mit ihrer Beziehung. Das ist das Ergebnis einer Studie von Prof. Astrid Schütz von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und Doktorand Robert Körner von der Universität Halle-Wittenberg.

Macht ist für viele ein negativ besetzter Begriff. Sie stellen einen Zusammenhang zwischen Macht und Beziehungsqualität fest. Wie geht das zusammen?
Astrid Schütz:
Das Image von Macht ist zu Unrecht so negativ, denke ich. Wenn wir von der Möglichkeit sprechen, Einfluss zu nehmen, dann klingt es schon nicht mehr so negativ. Eigentlich wollen wir alle in unserem Leben Kontrolle und Einfluss haben. Das Gegenteil wäre Ohnmacht und das ist ja ganz klar ein negativer Begriff. Es geht nicht darum, jemanden zu unterdrücken, sondern darum, in angemessener Weise die eigenen Ziele zu verfolgen. Dann ist eine zufriedene Beziehung und Macht auch kein Gegensatz.

Sie unterscheiden zwischen objektiver Macht und subjektiv empfundener Macht.
Robert Körner:
 Es geht zum einen um die erlebte Macht. Wie sehr glaubt man selbst, den Partner oder die Partnerin in einer Beziehung beeinflussen zu können? Wie sehr ist man davon überzeugt, in der Beziehung Entscheidungen zu treffen? Die positionelle Macht ist ein objektives Macht-Merkmal. Da geht es um Einkommen, den beruflichen Status, den Bildungsabschluss etc.

Liegen objektive Macht und das Macht-Erleben in der Beziehung denn auch mal weit auseinander?
Robert Körner:
 Da ist schon ein Zusammenhang. Wer objektiv viel Macht hat, der erlebt das auch so, dass er oder sie Entscheidungen treffen kann. Allerdings können die Aspekte im Einzelfall auch losgelöst voneinander sein.

Ist ein Gleichgewicht nicht besser?

Mich hat überrascht, dass Sie keinen positiven Zusammenhang zwischen Beziehungsqualität und Macht-Balance feststellen konnten.
Astrid Schütz:
 Ja, wir waren auch überrascht.
Robert Körner: In früherer Forschung wurde tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Macht-Balance und Beziehungsqualität festgestellt. Allerdings haben wir die Zusammenhänge statistisch differenzierter ausgewertet und aktuellere Methoden verwendet. Es könnte aber auch sein, dass unsere Stichprobe durch Paare charakterisiert war, die sowieso ein Macht-Gleichgewicht hatten. Dann wäre trotzdem denkbar, dass sich ein extremes Macht-Ungleichgewicht negativ auf die Beziehungsqualität auswirkt.
Astrid Schütz: Ich denke, es geht darum, dass beide damit zufrieden sind, wie sie Einfluss ausüben können. Solange die Person, die weniger Macht hat, das Gefühl hat: „Ich kann das, was mir wichtig ist, durchsetzen“, ist die Macht-Balance nicht so entscheidend.

Was ist eine effektive Form der Einflussnahme in Beziehungen?
Astrid Schütz:
 Ich sehe die gewaltfreie Kommunikation, wie sie Rosenberg beschrieben hat, als eine effektive Strategie der Einflussnahme. Sie stößt beim anderen auf weniger Abwehr, als wenn ich versuche, etwas durchzudrücken. So kann ich auf Dauer konstruktiv Einfluss nehmen.

Wie wurde die Studie umgesetzt?

Wie messen Sie Beziehungsqualität?
Robert Körner:
 In dem Fragebogen konnten die Befragten bestimmten Aussagen zustimmen. So lässt sich insgesamt die Beziehungsqualität abbilden. Wir haben uns verschiedene Bereiche angeschaut: Die Bewunderung für den Partner beziehungsweise die Partnerin, daneben das Vertrauen, das man gegenüber der anderen Person hat. Auch Sexualität haben wir uns angeschaut und ob man sich unterdrückt oder eingeschränkt fühlt. Außerdem spielte das Engagement für die Beziehung eine Rolle.

Bei Leuten, die sich nicht als einflussreich in ihrer Beziehung empfunden haben, waren diese Werte niedriger?
Robert Körner:
 Genau. Das Gefühl, Entscheidungen in der Ehe bestimmen zu können, hat entscheidenden Einfluss auf die erlebte Qualität der Beziehung.

Zwei Narzissten sind keine gute Mischung

Kann das gutgehen, wenn zwei Alphatiere zusammenfinden?
Astrid Schütz:
 In einer Studie zur Stressbewältigung in Familien haben wir auch den Selbstwert angeschaut. Wir haben die Partner zu einem konflikthaften Ereignis, auf das man sich vorher verständigt hatte, getrennt befragt. Es gab Personen mit überhöhtem Selbstwert, Narzissmus würden wir sagen, meist waren es Männer. Diese Leute haben den Fehler stets bei der anderen Person und nicht bei sich gesehen. Solch ein überhöhter Selbstwert war in keinem Fall bei beiden vorhanden. Ich denke, so eine Konstellation kann nur sehr kurz gutgehen.
Robert Körner: Wenn beide zum Beispiel hohe positionelle Macht haben, also eine Führungsposition im Beruf, muss sich das nicht negativ auf die Beziehung auswirken. Wenn beide aber ein starkes Bedürfnis haben, Macht in der Beziehung auszuüben, dann kann das negative Folgen für die Beziehung haben – das hat die Forschung gezeigt.
Astrid Schütz: Ja, diese Unterscheidung ist wichtig. Wir alle tragen ja das, was wir im Beruf machen, nicht notwendigerweise mit nach Hause. Es gibt Studien zu Gender-Effekten, die zeigen, dass Frauen, die hohe Leitungspositionen bekleiden, zu Hause sehr zurückhaltend sein können und sich nicht unbedingt durchsetzen.

Zwischenmenschlich starke Personen vergeben leichter

Sie haben auch untersucht, wie Vergebungsbereitschaft und Machtempfinden zusammengehen.
Robert Körner:
 Ja, das haben wir in einer deutschen und einer israelischen Stichprobe untersucht, insgesamt waren es über 300 Paare. Selbstwert und das Empfinden, Einfluss zu haben, geht mit höherer Vergebungsbereitschaft einher. Wir erklären uns das so: Wenn man jemandem vergibt, verlässt man die Opferrolle. Das erfordert zwischenmenschliche Stärke.
Astrid Schütz: Anders gesagt: Ein stabiler Selbstwert ist hier essenziell.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Christof Klenk

„Hilfe, meine Tochter hat ihren ersten Freund!“ – So sprechen Sie über Sex und Verhütung

Die erste Beziehung ist für Jugendliche ein wichtiger Schritt. Therapeutin Melanie Schüer erzählt, welche Fettnäpfchen Eltern jetzt vermeiden sollten.

„Meine Tochter hat ihren ersten Freund. Wie verhalte ich mich als Mutter jetzt am besten?“

Es gibt so manche ersten Male im Leben von heranwachsenden Kindern – und der erste Freund gehört definitiv dazu. Wenn Ihre Tochter Ihnen selbst von der Beziehung erzählt, können Sie schon einmal stolz sein: Offenbar hat sie Vertrauen zu ihnen und sieht sie als wichtiges Gegenüber. Doch auch wenn Ihr Kind die Neuigkeit zunächst geheim hält, sollten Sie das nicht persönlich nehmen. Es hängt sehr vom Charakter ab, wie leicht oder schwer es einem Jugendlichen fällt, seinen Eltern eine solche Nachricht zu übermitteln. Und es gibt weitere Faktoren wie zum Beispiel:

  • Wie offen sprechen die Gleichaltrigen über dieses Thema?
  • Was haben die Jugendlichen darüber schon gehört, zum Beispiel von Freunden und Freundinnen?
  • Ist Ihr Kind das älteste Kind oder hat es schon Geschwister, die diese Erfahrung bereits gemacht haben?

Wenn sie davon erfahren, liegt es an Ihnen, möglichst souverän und vertrauenswürdig zu reagieren. Denn je besser Sie mit der Neuigkeit umgehen, desto höher ist die Chance, dass Sie Ihre Tochter in einer positiven Gestaltung der neuen Lebenssituation begleiten können und Ihr Kind Ihre Unterstützung annimmt.

Gelassen und respektvoll reden

Unterlassen Sie unbedingt herablassende Kommentare, aber auch mit lustig gemeinten Scherzen sollten Sie vorsichtig sein. Denken Sie daran: Ihre Tochter erlebt das alles zum ersten Mal und wird eine gehörige Portion Unsicherheit und vermutlich auch Verlegenheit Ihnen gegenüber verspüren. Ihr Job als Elternteil ist es daher, Gelassenheit und Normalität auszustrahlen. Reden Sie möglichst entspannt und weder besonders aufgeregt noch übertrieben locker oder humorvoll über das Thema. Versuchen Sie, eine ruhige, respektvolle und unaufgeregte Gesprächsstimmung herzustellen. Zeigen Sie Interesse, ohne zu neugierig zu wirken, beispielsweise so: „Super, ich freue mich für dich. Das ist ja eine ziemliche Veränderung, was? Wie heißt er denn und wo habt ihr euch kennengelernt?“

Kennenlernen ohne Einmischen

Natürlich wollen Sie sich als Elternteil ein Bild von dem Auserwählten Ihres Kindes machen und das ist auch gut so! Wichtig ist aber auch hier eine gewisse Zurückhaltung. Geben Sie Ihrer Tochter etwas Zeit. Wenn sie dann selbst kein Kennenlernen vorschlägt, können Sie behutsam nachfragen: „Ich würde Tobias ja gerne mal kennenlernen. Muss nicht lang sein. Vielleicht morgen Nachmittag kurz zum Tee, wenn er dich abholt?“

Beim Treffen selbst stellen Sie ein paar interessierte, aber nicht zu persönliche Fragen zum Beispiel über Hobbys, eventuelle Geschwister, Lieblingsfächer oder berufliche Pläne. Und erzählen Sie ruhig etwas von sich, aber nur kurz und knapp („Ach ja, Mathe hab ich früher auch nicht gemocht. Ich hatte damals die Idee, Polizistin zu werden, aber daraus wurde nichts.“).

Auch wenn Sie keinen guten Eindruck von Ihrem Gegenüber haben, bleiben Sie höflich und respektvoll. Sonst bringen Sie Ihr Kind nur gegen sich auf. Denn die rosarote Brille ist gerade in der Verliebtheitsphase ziemlich machtvoll! Sollte etwas an dem Freund Ihres Kindes oder dem Umgang miteinander Ihnen wirklich Sorgen machen, dann sprechen Sie in einem ruhigen Moment vorsichtig mit Ihrer Tochter. Formulieren Sie Ihre Sorge als Ich-Botschaft und eher als Frage: „Ich merke, dass du gern mit Jonas zusammen bist und das freut mich. Ich fand es auch super, dass ich ihn kennenlernen konnte. Nur irgendwie gibt es da etwas, das mich beschäftigt. Vielleicht übertreibe ich oder verstehe es falsch, aber mein Eindruck ist, dass …“

Verhütung ansprechen

Natürlich ist auch Intimität ein wichtiger Aspekt, wenn Ihre Tochter (oder auch Ihr Sohn) zum ersten Mal in einer Beziehung ist. Auch hier gilt es, mit Bedacht und möglichst gelassen und wertschätzend vorzugehen. Auf keinen Fall sollten Sie hier allzu scherzhaft oder von oben herab auftreten, als hätten Sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ebenso sollten Sie es vermeiden, diesen Aspekt wie ein Tabu-Thema zu behandeln. Bemühen Sie sich auch hier um einen möglichst normalen, unaufgeregten Tonfall. Suchen Sie das Gespräch unter vier Augen zu einem Zeitpunkt, zu dem Ihr Kind entspannt und zugänglich scheint (Das ist in der Pubertät durch das Hormonchaos häufiger mal nicht der Fall … dann lieber etwas abwarten!). Warten Sie aber nicht zu lange, denn im Rausch der Verliebtheit können auch die scheinbar vernünftigsten Jugendlichen manchmal viel schneller im Bett landen, als man das für möglich gehalten hätte.

Eine mögliche, beispielhafte Einstiegsformulierung wäre: „Hast du gerade etwas Zeit? Ich wollte gerne noch mit dir über etwas sprechen. Du bist ja jetzt ein paar Wochen mit Marcel zusammen. Ich weiß nicht genau, ob ihr beide schon über Verhütung gesprochen habt. Wir hatten das Thema ja noch nicht so ausführlich. Ich wollte dich mal fragen, wie gut du dich da informiert fühlst oder ob du Fragen hast?“ Warten Sie dann erst einmal ab, was Ihr Kind schon weiß, und beschränken Sie sich auf die wichtigsten Informationen, zum Beispiel:

  • Nur Kondome schützen vor Geschlechtskrankheiten;
  • Es gibt weitere Möglichkeiten wie die Pille;
  • Manchmal wirkt die Pille nicht (Durchfall, Erbrechen, verschiedene Medikamente wie Antibiotika).

Bedeutung der Intimität hervorheben

Sie können Ihrer Tochter auch einen gemeinsamen Besuch bei der Gynäkologin vorschlagen. Weiten Sie das Thema nicht zu sehr aus, aber versuchen Sie, zumindest kurz auf die Bedeutung von Intimität einzugehen: „Du allein entscheidest, wie weit du mit Marius gehen willst. Ich traue dir zu, gute Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist, dass du immer nur das tust, womit du dich wirklich wohlfühlst. Überlege einfach gut, was wann dran ist und lass dir Zeit. Manchmal lässt man sich zu Dingen hinreißen, die man später bereut. Gerade am Anfang einer Beziehung, da hat man quasi eine rosarote Brille auf. Oft sieht man erst nach einem halben bis einem Jahr klarer und kennt auch die Schwächen des anderen und sieht, ob es wirklich passt.“

Und, was manchmal vergessen wird: „Kein Verhütungsmittel ist 100 Prozent sicher. Etwa 5 von 100 Frauen, die mit Kondom verhüten, werden innerhalb eines Jahres schwanger. Deshalb ist es immer sinnvoll, sich genau zu überlegen: Würde dieser Junge im Ernstfall, wenn was schiefgeht, zu dir stehen? Willst du das gewisse Risiko eingehen, kannst du ihm vertrauen? Ich denke, dass man keine Nacktfotos verschicken sollte, ist dir sicher klar. Da sind echt schon schlimme Dinge passiert …“

Überlegen Sie sich vorher, welche Botschaften Sie vermitteln wollen und finden Sie dann Ihre eigenen Worte. Die obigen sind nur als Inspiration gedacht.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin. Sie bietet (Online-)Beratung für Eltern von Babys und Kleinkindern mit Schrei- und Schlafproblemen an (neuewege.me).

Nervige Gewohnheiten

Kleine Schwächen können große Konflikte auslösen. Doch erstreiten lässt sich Veränderung nicht. Jörg Berger hat einen ungewöhnlichen Tipp: Erst mal entspannen!

Meine Frau schaut, wie sie wohl manchmal ihre Schüler ansieht: etwas amüsiert, mitfühlend, aber mit einer Strenge, die kein Verhandeln duldet. Sie hat mich ertappt. „Moment“, denke ich, „ich bin hier zu Hause. Warum soll ich nicht in der Nase bohren, wenn es niemand sieht? Wo, wenn nicht zu Hause, darf ich mich mal gehen lassen? Was hat das außerdem mit dir zu tun? Ich sitze hier doch nur und lese. Schau einfach weg.“ Was eben noch gedankenlos war, kommt mir nun wie der tiefste Ausdruck meiner Freiheit vor: Dem mäandernden Jucken folgen, wohin es mich führt. Mich einer Stimulation hingeben, die das Lesen konzentrierter macht und mich in den geistigen Flow hebt. „Das willst du mir nehmen? Mit welchem Recht?“

Nervige Gewohnheiten lassen keinen Bereich des gemeinsamen Lebens aus: Warum hängt Matthias an seinen ärmellosen Strickjacken, die jede Anziehung ersticken? Warum erledigt Lisa immer noch schnell etwas, obwohl sie wissen müsste, dass sie dann zu spät kommt? Weshalb nur kaut Markus mit offenem Mund? Und aus welchem Grund shoppt und surft Katrin, statt ins Bett zu gehen, auch wenn sie am nächsten Tag so unausgeglichen ist? Manche Gewohnheiten nerven. Andere enttäuschen oder sie stoßen sogar ab. In aller Regel wissen wir, was den anderen stört. Doch trotz Liebe halten wir an unseren Gewohnheiten fest. Woran liegt das? Zunächst daran, dass Gewohnheiten zu Beginn der Beziehung anders wirken.

Was anfangs anzieht, stört später besonders

Im Verliebtsein erscheinen Gewohnheiten in einem anderen Licht. Lisa zum Beispiel war nie pünktlich. Doch Niklas hat gerne auf sie gewartet. Er kommt aus einem Elternhaus, in dem Regeln und Prinzipien alles waren. Lisas Lebensgefühl war Freiheit. Fast immer hat sie etwas Spontanes erlebt, was sie aufgehalten hat. Sie erzählte dann lachend darüber. „Verhängnisvolle Anziehung“, nennt die Paarpsychologie dieses Phänomen: Was anfangs anzieht, stört später besonders.

Außerdem lernt man den Partner in der Öffentlichkeit kennen oder empfängt ihn als Gast bei sich zu Hause. Gehen lässt man sich, wenn man wieder allein ist. Das ändert sich mit dem gemeinsamen Haushalt. Angelika war enttäuscht, als sie mit Markus auf seiner Betriebsweihnachtsfeier war – er zeigte tadellose Tischmanieren. „Warum muss er dann zu Hause mit offenem Mund kauen?“, hat sich Angelika gefragt. „Bin ich ihm weniger wichtig als die Kollegen?“

Manches zeigt sich erst mit der Zeit

Es gibt noch einen dritten Grund, warum Gewohnheiten irgendwann anders wirken. Ihre Folgen werden oft erst im Lauf der Jahre sichtbar. Justus zum Beispiel ist ein Gerechtigkeitsfanatiker. Sonja war schon immer etwas unbehaglich, wenn er Freunde entlarvt oder mit ihren Schwächen konfrontiert hat. Gleichzeitig hat sie seine Geradlinigkeit bewundert. Sonja und Justus haben sich im Studium kennengelernt. Ihr Freundeskreis war groß. Das ist heute anders, Freunde haben sich zurückgezogen. Richtig gute Freunde gewinnen Sonja und Justus immer seltener hinzu. Sonja erschrickt heute, wenn Justus mit seinem Gerechtigkeitsfimmel eine Freundschaft aufs Spiel setzt. Auch bei anderen Gewohnheiten gilt das Gesetz von Saat und Ernte: Mit der Zeit ziehen sie Folgen nach sich. Doch spätestens, wenn sie Folgen hat, müsste man eine Gewohnheit doch ändern?

Bei unseren eigenen Gewohnheiten ist uns bewusst, wie viel Aufmerksamkeit und Kraft uns eine Veränderung kosten würde. Bei den Gewohnheiten unseres Partners dagegen erscheint uns die Veränderung nur als Frage des guten Willens. Die Sozialpsychologie nennt das Akteur-Beobachter-Effekt (actor-observer-bias): Der Handelnde führt sein Verhalten eher auf die Umstände zurück. Er spürt die Einflüsse, die auf ihn wirken. Ein Beobachter jedoch sieht dessen Verhalten als Ausdruck seiner Absichten und seines Charakters.

Alte Wunden werden aufgerissen

Wenn wir uns also von unserer Partnerin oder unserem Partner eine Veränderung wünschen, heißt das zugleich, dass wir ein Stück der begrenzten Aufmerksamkeit und Willenskraft des anderen beanspruchen. Wir schicken unser Gegenüber in einen Kampf gegen den inneren Schweinehund, der viel lieber träge am Gewohnten festhält. Wir aktivieren außerdem emotionale Schemata, die mit der Gewohnheit verknüpft sind. Emotionale Schemata sind wunde Punkte, an denen wir empfindlich reagieren. Der eingangs erwähnte Widerstand meiner Frau hat bei mir sofort ein Kopfkino erzeugt: „Da kommt wieder jemand, dem jede Einfühlung und jedes Wohlwollen für mich fehlt.“ Dieser Film passt zwar nicht zu meiner Frau, er hat sich aber in meiner Kindheit so abgespielt. Mir reicht schon die Anmutung einer Rücksichtslosigkeit, um mein Kopfkino zu starten. Entsprechend abwehrend sind dann meine Reaktionen.

Der Wunsch nach Veränderung kann auch andere emotionale Schemata aktivieren: einen emotionalen Mangel (der vielleicht sogar von der Gewohnheit gelindert wird), Selbstwertverletzungen, die Erfahrung von Überforderung und viele mehr. Als Therapeut freue ich mich, wenn kleine Verhaltensänderungen ein emotionales Schema aktivieren: „Super, dann schlagen wir jetzt zwei Fliegen mit einer Klappe! Sie verbessern an diesem Punkt Ihr Leben und gleichzeitig lindern wir eine Wunde von früher.“ Aber in einer Therapie kommt der Wunsch nach Veränderung nicht von außen und man ist nicht allein in der Herausforderung.

Gewohnheiten aus Liebe annehmen

Was kann man der Person raten, die sich vom anderen eine Veränderung wünscht? Zuallererst: Einen Streit um eine Veränderung, der lange vergeblich war, kann man sich sparen – einfach, weil er nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Das klingt nicht nach einer Weisheit, die große Lebenserfahrung erfordert. Doch die Entscheidung, vergebliche Kämpfe aufzugeben, hat schon Ehen gerettet. Auch in weniger kritischen Situationen würde ich raten: „Versuche erst mal, innerlich dahin zu kommen, dass du die nervige Gewohnheit aus Liebe annehmen kannst.“ Wer glaubt, kann das auch zu einer Übung seines Glaubens machen – beten, bis sich die partnerschaftliche Liebe für eine göttliche Liebe öffnet, die alles verzeiht und alles trägt, die einlädt, die aber niemanden zwingt.

Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Partnern, die aus Liebe ihren Wunsch nach Veränderung opfern, und Partnern, die sich zum Opfer machen. Vor den Folgen einer schlechten Gewohnheit darf und sollte man sich schützen. Dann finden die Dinge, die ein Partner im Wohnzimmer verstreut, ihren Platz in einer Box in dessen Arbeitszimmer. Dort entdeckt er, was er im nun ordentlichen Wohnzimmer nicht mehr findet. Dann muss eine Partnerin ertragen, wenn ihr Mann ein offenes Wort an Freunde richtet: „Ich liebe Sybille und ihr Herz für Tiere. Aber wenn sie so ausufernd über Tierschutz spricht, dürft ihr sie ruhig mal stoppen. Das mache ich zu Hause auch. Das soll unsere Freundschaft nicht belasten.“

Mit etwas Positivem beginnen

Wer entspannt ist und eine annehmende innere Haltung gewonnen hat, kann kaum etwas falsch machen, wenn er oder sie den Wunsch nach Veränderung ausspricht. Wenn es überhaupt einen Tipp braucht, dann: Beginnen Sie mit einem positiven Satz. Rechnen Sie mit einer Stressreaktion Ihres Partners und lassen Sie sich von dieser nicht ablenken. Bleiben Sie bei dem, was die Gewohnheit Ihres Partners für Sie bedeutet, und bei Ihrem Wunsch nach Veränderung. Lassen Sie den anderen frei darin, ob er Ihrem Wunsch folgt oder nicht.

Das könnte dann so klingen: Ihr Wunsch: „Markus, ich mag es sehr, dass du so locker und entspannt bist. Es gibt gerade nur eine Ausnahme, wo das nicht so ist: Wenn du den Mund beim Kauen offen hast. Irgendwie ist das eklig für mich.“ Die Stressreaktion: „So esse ich doch immer. Warum stört dich das plötzlich? Es hat sich noch niemand darüber beschwert.“ Ihre gelassene Fortsetzung: „Ist auch kein Drama. Vielleicht habe ich meine Gefühle da selbst nicht ernst genommen. Vielleicht wollte ich dir auch keine Vorschriften machen. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich so einen Ekelschauer bekomme, wenn ich dich ansehe und dir dabei in den Mund gucke …“

Selbst etwas ändern

Warum nicht eine Schwäche abstellen? Unser „Ich liebe dich!“ und „Du bist mir wichtig!“ behalten nur dann ihre Kraft, wenn wir gelegentlich einen Liebesbeweis bringen. Vielleicht ist unsere nervige Gewohnheit eine gute Gelegenheit dazu. Am besten beginnt die Veränderung dann mit Selbstannahme: „Auch mit meiner Gewohnheit bin ich okay. Ich muss nicht perfekt sein. Ich lebe – wie jedes Menschenkind – davon, dass meine Eigenarten ertragen und meine Fehler vergeben werden. Meine Motivation für meine Veränderung ist einfach: mehr zu lieben.“

Am herausforderndsten bei der Veränderung ist vielleicht die Erfahrung des Kontrollverlustes: „Ich will zwar, aber ich kann manchmal nicht. Ich versuche es, aber ich schaffe es nicht immer. “ Das kann verunsichern, entmutigen, enttäuschen oder beschämen. Aber warum sollten wir dieser grundlegenden Erfahrung des Menschseins ausweichen? Dann heißt es: dranbleiben. Billiger als durch diese Erfahrung hindurch ist Veränderung oft nicht zu bekommen. Aber es lohnt sich – als Liebesbeweis und als Charakterschule.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis.

Zur Vertiefung
Unter psychotherapie-berger.de/gewohnheiten findet sich ein Onlinekurs zum Thema.

Vergiftete Liebe

Zuerst hing der Himmel voller Geigen, doch dann entpuppte sich die große Liebe als Albtraum. Wie Leonie Hoffmann nach einer furchtbaren Erfahrung innere Freiheit gefunden hat, beschreibt sie hier.

Nicht alles, was sich richtig anfühlt, ist auch das Richtige! Das musste ich auf die harte Tour erfahren. Das, was Menschen Liebe nennen, kann die schönste, aber auch die zerstörerischste Macht des Universums sein. Gerade hatte ich mein Abitur abgeschlossen und war beflügelt von einem nie da gewesenen Freiheitsgefühl. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ihn, der mir diese große Freiheit mit all ihren Möglichkeiten innerhalb weniger Monate wieder nahm – und beinahe mein junges Leben.

Ich traf ihn auf einer Sommerparty in meiner Heimatstadt: Alex. Dieser Mann gab mir alles, wonach sich mein junges Herz gesehnt hatte. Tiefe Liebe – und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Die ersten Monate mit ihm schwebte ich im siebten Himmel. Ich glaubte, in ihm tatsächlich den Richtigen gefunden zu haben.

Rasend vor Eifersucht

Seine „abgöttische Liebe“ zu mir hatte jedoch eine unangenehme Begleiterscheinung. Was ich anfangs als schmeichelhaftes Nähebedürfnis interpretierte, entwickelte sich zunehmend zu einer besitzergreifenden Eifersucht. Wenn mein Blick zufällig den eines anderen Mannes streifte, konnte dieses „Vergehen“ ausreichen, um einen schönen Abend in hitzigen und tränenreichen Diskussionen enden zu lassen. Irgendwann waren es nicht nur andere Männer, auf die er eifersüchtig war, sondern auch Gott. Tatsächlich war seine Eifersucht auf Gott die einzige berechtigte. Denn ja, ich liebte Jesus – sehr sogar! Schon als Teenagerin hatte ich ihm mein Leben gegeben.

Mit der Zeit rutschte ich, ohne es zu merken, immer tiefer in eine emotionale Abhängigkeit von Alex. Denn er schaffte beides: meine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung zu stillen und gleichzeitig durch subtile Kritik meine Selbstzweifel zu nähren. So wurde ich süchtig nach dem guten Gefühl, das scheinbar nur er mir geben konnte. Ich gab nach und nach alles für ihn auf – sogar meinen Glauben an Gott, von dem Alex mich durch seine Manipulation und esoterischen Lügenkonstrukte bewusst immer weiter entfernte. Er selbst drängelte sich an die Stelle Gottes und ich wurde ihm hörig.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion zog ich nach nur drei Monaten Beziehung in seine spärlich eingerichtete Wohnung. Er sagte, es sei die einzige Chance, unsere Beziehung zu retten, nachdem ich mit einer Lappalie „sein Vertrauen endgültig zerstört“ hatte. Um mir wieder vertrauen zu können, wollte er mich eine Zeit lang kontrollieren – und ich ließ mich darauf ein. Denn der Gedanke, ihn sonst zu verlieren, versetzte mich in blanke Panik.

Vom Traummann zum Monster

Ein paar Tage später eskalierte die Situation zum ersten Mal bei einem seiner nun täglichen Verhöre. Er war der festen Überzeugung, ich hätte in meinem gerade begonnenen Studium einen anderen Mann kennengelernt. „Sag mir endlich die Wahrheit!“, schrie Alex mich immer wieder an. Seine Augen waren weit aufgerissen, eisblau und eiskalt. Dieselben Augen, in denen ich früher so viel bedingungslose Liebe gesehen hatte. Zunächst packte er mich nur fest an den Schultern und drückte mich gegen die Wand. Dann schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch mal. Und noch mal. Immer fester. Schließlich ballte er seine Hand zur Faust. In meinem Kopf begann es zu hämmern.

Irgendwann ließ er von mir ab und brach in Tränen aus – scheinbar entsetzt über sich selbst. Nach wenigen Augenblicken kehrte jedoch die Anklage zurück: „Du hast dieses Monster aus mir gemacht! Das gerade wäre niemals passiert, wenn du ehrlich zu mir gewesen wärst! Ich bin zu so etwas nur fähig, weil ich dich unendlich liebe.“ Damit hatte er mich. Vielleicht habe ich es ja verdient, so behandelt zu werden?, fragte ich mich. Vielleicht liebt er mich tatsächlich mehr als ich ihn – wenn ich ihn so zum Ausrasten bringen kann?
Heute weiß ich, dass nichts davon wahr ist. Nichts, gar nichts rechtfertigt Gewalt in einer Beziehung. Damals zog ich es dennoch ernsthaft in Erwägung. Eine Tatsache, die mich im Nachhinein schockiert – genauso wie der Umstand, dass sich meine Gefühle für diesen Mann offensichtlich nicht totschlagen ließen. So traf ich die größte Fehlentscheidung meines Lebens: Ich blieb. Monate später sagte mir meine Therapeutin: „Wenn man nach dem ersten Schlag nicht geht, geht man auch nicht nach dem zweiten oder dritten.“ Das ist die traurige Wahrheit.

Zwischen Küssen und Schlägen

Die sechs Monate zwischen dem ersten und dem letzten Schlag vermischen sich in meiner Erinnerung zu einer zähen grauen Masse. Meine beängstigende Erkenntnis aus dieser Zeit: Man gewöhnt sich an alles. Erschreckenderweise gab es zwischendurch sogar Momente, in denen es mir gelang, mich so in den Augenblick zu versenken und alles andere auszublenden, sodass unsere „Liebe“ die einzige Realität war. Der ganze Horror schien dann unwirklich. Es waren jene Momente, in denen ich sein wahres Ich wiederzuerkennen glaubte, den Mann, der „die Liebe meines Lebens“ war. Immer noch. In diesen Momenten fühlte ich mich darin bestätigt, dass er „eigentlich ja ganz anders“ war. Doch die Hände, die mich eben noch so zärtlich streichelten, konnten sich jederzeit wieder zu Fäusten ballen und brutal auf mich einschlagen. Es passierte. Immer wieder. In immer kürzeren Abständen.

Im Gefängnis seiner Liebe

Das alles ist zwölf Jahre her. Wie oft habe ich seitdem an diese Zeit zurückgedacht und mir immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Wie konntest du nur? Wie konntest du nur – so dumm, so verblendet, so schwach sein, dass du dir von einem Mann alles hast nehmen lassen: deine Freiheit, deine Familie, deine Träume, deine Freunde, deinen Glauben und beinahe dein Leben?“

Mittlerweile habe ich meine Antwort gefunden. Ich konnte mir alles nehmen lassen, weil ich eigentlich alles hatte – außer einem gesunden Selbstvertrauen. Ich sehnte mich nach einem Partner, der mir genau das geben könnte – der mich sehen und erkennen würde, wie ich wirklich war, und mich genauso lieben würde. Und dann traf ich ihn und hielt viel zu lange daran fest, dass er tatsächlich „mein wahrer Seelenverwandter“ war.
Das Ende dieser Schreckenszeit kam dann wie ein Wunder: Es war Karfreitag. Alex hatte mir erlaubt, den Fernseher anzuschalten, und es lief „Ben Hur“ mit der Kreuzigungsszene Jesu. Die Karfreitags-Tradition meiner Familie! Seit Monaten hielt Alex mich inzwischen in seiner Wohnung gefangen und hatte mir alle Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt genommen. Ich ging ins Bad und schaute durch das kleine Dachfenster in den strahlenden Frühlingshimmel. Er wirkte friedlich und gleichzeitig erschreckend leer. Ich wagte seit Langem wieder ein Gebet an den Gott der Bibel: „Gott, wenn du mich mittlerweile nicht ganz abgeschrieben hast, dann bitte hole mich hier raus, und ich will dir mein Leben lang dienen!“ Wenig später klingelte es. Nach allen gescheiterten Rettungsversuchen standen sie noch einmal vor unserer Wohnungstür: meine Eltern. Ich weiß nicht warum, aber an diesem Tag stand die Haustür sperrangelweit offen, sodass sie bis zur Wohnungstür kommen konnten. Alex drohte mir mit einem Besenstil und befahl mir, leise zu sein. Sie sollten denken, niemand sei zu Hause. Dann schubste er mich ins Schlafzimmer und schlug auf mich ein. Meine Eltern hörten, dass wir da waren. „Wir wollen euch nur zu einem Eis einladen und reden“, sagte mein Vater in unfassbarer Sanftmut. Da platzte Alex der Kragen. Er ließ von mir ab, riss die Wohnungstür auf und ging auf meine Mutter los. Ich rannte ihm hinterher.
Mein Vater gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich diesen kurzen Augenblick, in dem die Tür offen war, nutzen sollte. Während er zwischen Alex und meine Mutter ging, drängelte ich mich an ihnen vorbei. In die Freiheit. Meine Eltern eilten hinterher. „Wenn du jetzt gehst, siehst du mich nie wieder!“, rief Alex mir nach. Was früher seine schlimmste Drohung war, wurde nun zur Befreiung. Ostern verbrachte ich mit meiner Familie. Die Sonne schien. Die Welt blühte. Und wir feierten nicht nur Jesu Auferstehung von den Toten.
Nun war ich zwar körperlich wieder frei, aber der Weg in die innere Freiheit sollte noch ein langer werden. Viele Therapie- und Seelsorgegespräche, Gebete und die fürsorgliche Liebe meiner Familie und meiner Freunde halfen mir Schritt für Schritt beim Wiederaufbau meines Lebens.

Was mich mein dunkelstes Kapitel gelehrt hat

Ich habe erlebt, dass es wirklich nichts gibt, was Gott nicht wiederherstellen könnte – egal, ob es ein noch so geschundenes Herz oder eine abgebrochene Beziehung zu ihm ist. Es hat sich für mich bestätigt, was Jesus über die Freiheit sagt: nämlich, dass es die Wahrheit ist, die frei macht (vgl. Johannes 8,32). Konkret: die Wahrheit über uns selbst. Die Wahrheit über unsere Beziehung und die Wahrheit über den (Ex-)Partner, der sich allen wilden Hoffnungen und Versprechungen zum Trotz nicht einfach ändert und der genauso wenig einfach aufhören wird, gewalttätig zu sein, wenn die Abwärtsspirale der Gewalt erst einmal begonnen hat. Ich will nicht ausschließen, dass Gott dieses Wunder vollbringen kann, aber in diesem Fall würde ich tatsächlich davon abraten, fest mit einem solchen zu kalkulieren!

Aber vor allem ist es die Wahrheit über meinen gottgegebenen Wert und meine Würde, die mich freigemacht hat – auch von der Angst, noch einmal in so eine zerstörerische Abhängigkeit geraten zu können.
Heute ist mein Leben schöner, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Gott hat mich zurück ins Leben und in die Freiheit geführt – eine Freiheit, die nirgendwo sonst zu finden ist. So habe ich die befreiende Kraft der Vergebung erfahren und inzwischen nicht nur mir selbst, sondern auch Alex von ganzem Herzen vergeben können, auch wenn ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm möchte. Ich kann wieder unbeschwert leben – sogar lieben und vertrauen, was ich niemals für möglich gehalten hätte.
Mein Tipp an Betroffene ist so simpel wie schwer: Bitte brecht das Schweigen und holt euch Hilfe, solange es noch möglich ist! Kämpft euch zurück in die Freiheit, die euch zusteht und für die ihr geboren wurdet, erinnert euch an euren gottgegebenen Wert und eure unantastbare Würde, die euch nichts und niemand nehmen darf, und glaubt den Worten Gottes, der sagt: „Bei mir gibt es keine hoffnungslosen Fälle!“
Und allen Angehörigen möchte ich ans Herz legen: Egal, wie fremd die Tochter, Mutter, Freundin, Schwester auch erscheint, gebt niemals auf und versucht unbedingt, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Haltet ihr keine belehrenden Vorträge und macht ihr keine Vorwürfe, denn das tut sie selbst ohnehin schon genug. Zeigt ihr vielmehr, dass es wirklich bedingungslose Liebe gibt – und dass offene Arme auf sie warten, wenn sie es wagt, sich aus den zerstörerischen Armen zu lösen.

Leonie Hoffmann ist ein Pseudonym. Die vollständige Geschichte und ausführliche und konkrete Tipps für Betroffene und Angehörige sind im Buch „ÜberWunden“ aufgeschrieben, das im Verlag Gerth Medien erschienen ist.

Gegensätze in der Ehe – Kraft oder Sprengstoff?

„Warum siehst du das so ganz anders, als ich mir das vorstelle?“ „Warum bist du so weit weg?“ Dr. Michael Hübner erzählt von einem Paar, das sich neu finden musste.

Das gibt’s doch einfach nicht! Ohne sich mit mir abzusprechen, hat mein Mann einen Urlaub in Norwegen gebucht. Einfach alles: Häuschen am See, Überfahrt mit der Fähre und vieles mehr. Ich bin so enttäuscht! Bin ich denn eine Marionette, dass ich da überhaupt nicht mitreden kann? Er ruft auch einfach den Lehrer von unserem Sohn an wegen der Rechtschreibschwierigkeiten, oder er leitet den Neukauf eines Elektroautos ein. Wie oft habe ich ihm schon gesagt, dass ich da auch mitentscheiden möchte?“

Verstehe ich den Kummer von Marina (Person, Situation und Name verändert) recht? Ihr Ehemann Mark entscheidet über wichtige Dinge wie den Familienurlaub und den Autokauf einfach, ohne seine Frau einzubeziehen? Ich kenne seine Ziele, Zwecke und Motivationen nicht. Ist er denn so ein gemeiner, rücksichtsloser Mensch? Hat er so wenig Kooperationsbereitschaft und Gemeinsinn? Bei der Ehefrau macht sich Feindseligkeit ihm gegenüber breit.

Häufig entwickeln Paare an diesem Punkt automatisch Wut, Ärger und Aggressionen, ohne sich bewusst zu machen, was sie da tun. Manchmal „knallt es“, die Gegensätzlichkeit von beiden ist zum Sprengstoff geworden. Sie verstehen einander nicht mehr und wenden sich deshalb vom Partner ab, gehen in den Rückzug, schmollen und sind verletzt. Gedanken an Trennung schleichen sich ein.
Ich kann schon nachvollziehen, dass man hier sauer reagiert. Gleichzeit gebe ich dem bedeutenden Individualpsychologen Rudolf Dreikurs recht, wenn er meint: „Brauchen wir feindliche Gefühle, um Konflikte zu lösen? Die meisten Menschen sind geneigt, das zu glauben. Wie unrecht haben sie doch! Konstruktive Veränderungen bedürfen keiner Feindseligkeit, im Gegenteil …“ (Die Ehe – eine Herausforderung, S. 112) Sicherlich werden viele Paare diesem Gedanken etwas abgewinnen können. Wenn sie als Christen ihre Beziehung an Jesus ausrichten möchten, dann ist das ein guter Ansatzpunkt: Jesus ging es nie um Feindseligkeit, um Konflikte zu lösen.
Es ergibt für mich wenig Sinn, dass ich nur Marina höre. Ich kann das Denken ihres Partners Mark ja nur erahnen. Also vereinbaren wir einen Termin zu dritt und treffen uns etwa eine Woche später. Sie berichtet alles noch einmal. Dann kommt ihr erstaunter Mann zu Wort: „Liebling, zu Beginn unserer Ehe hat es dir doch so gefallen, wenn ich unseren Urlaub geplant habe. Kannst du dich noch an meine Überraschung damals mit Korsika erinnern? Was hast du mich damals gelobt, wenn ich die Dinge in die Hand genommen habe! Da habe ich mir gesagt, das mache ich ab jetzt weiter für dich und unsere Familie. Du hast doch genug mit den Kindern um die Ohren, und wer macht’s denn, wenn nicht ich …?“
Fast verschämt schaut sie zu Boden. Das ist eine ganz andere Perspektive. Für mich ist sie wichtig, um das gemeinsame Problem verstehen zu können.

Unsere gewollte und doch ungewollte Unterschiedlichkeit

Die Ursache für offene und versteckte Ehekonflikte liegt oft in der Unterschiedlichkeit der Partner: Es gibt schnell zupackende Menschen und eher langsame. Es gibt die „Peacemaker“ und kritisch „eckige“ Menschen. Die lauten „Vielredner“ mit einem eher zurückhaltenden stillen Partner. Die mehr gefühlsbetonten und die „trockenen“, nüchternen. Einer ist ein Nähemensch und der Partner der Distanztyp. Der eine sieht schon wieder die nächste drohende Pandemiewelle über sich zusammenschlagen, und der andere …?

Und hier ist längst nicht Schluss. Selbst in Glaubensdingen kann sich das zeigen: Ein eher innig gläubiger Mensch zieht einen in der Gottesbeziehung skeptischen oder sogar ungläubigen Menschen an. Beziehungen beruhen also auf Wechselwirkungen. Beide Partner spielen unbewusst einander fortwährend in die Hände. Aus der Eheberatung wissen wir: Selbst „Tyrannei in der Ehe kann ohne nachgiebige Unterwürfigkeit des anderen Teils nicht aufrechterhalten werden“ (Dreikurs, S. 114).
Ein Lehrsatz aus der Eheberatung mag dabei aufschlussreich sein: „Der Punkt der Anziehung wird in der Partnerschaft leicht zum Punkt des Konfliktes.“ Fazit: Es ist das Phänomen jedes Verliebtseins, dass wir zu Beginn unbewusst wählten, was wir von unserer eigenen Persönlichkeit nicht kannten. Ohne uns dessen bewusst zu sein, war die fremde Andersartigkeit das, was uns reizte. Das kann später zum Konflikt werden.
Der bereits erwähnte Rudolf Dreikurs bringt es so auf den Punkt: „Wir fühlen uns angezogen, wenn wir jemandem begegnen, der uns durch seine Persönlichkeit die Möglichkeit bietet, unsere persönliche Eigenart zu verwirklichen, […] der uns erlaubt, Pläne, die wir seit der Kindheit mit uns getragen haben, fortzusetzen oder wiederzubeleben.“ (S. 114) Dieses unbewusste Verhalten geht noch weiter. Wir können sogar mit Sicherheit sagen: Unser Verhalten beeinflusst den Partner positiv und sogar negativ, weil wir irgendetwas davon haben, was uns selbst meist völlig unklar ist. Fazit: Wir spielen einander unbewusst fortwährend in die Hände und schaffen die Voraussetzung für das, was wir beim anderen erleben.

Beziehung braucht Zeit zur Reflexion

Zurück zu Marina und ihrem Mann Mark: Sie stellen zunächst einmal fest, dass sie sich bisher wenig Zeit genommen haben, ihre Beziehung miteinander zu reflektieren. In vielerlei Richtung sind sie engagiert: Mark ist rastlos in gehobener Stellung als Geschäftsführer tätig. Marina hat durch eine Fortbildung alle Hände voll zu tun. Hinzu kommt aktuell der Hausbau, der durch den Familienzuwachs notwendig wurde, und vieles mehr. Paare, die sich zu wenig Zeit nehmen, um anhand ihrer gemeinsamen Erlebnisse ihre Beziehung zu reflektieren, kommen zweifellos leichter in Konflikte. Meist verlieren sie ihr anfangs gemeinsames Ziel, das Leben miteinander liebevoll zu teilen, aus den Augen. Manche denken, das Motto „Dass ich dich liebe, habe ich dir ja bei unserer Hochzeit schon gesagt!“ sei zielführend.

Verbreitet unter uns ist auch der Glaube, Ehe müsse in einem fast mechanischen Sinne „funktionieren“. Wenn es funktioniert, bedeutet das: „Dann passen wir zueinander.“ Wenn es nicht klappt, heißt das umgekehrt, dass die Rädchen nicht ineinandergreifen. Also passen A und B nicht zueinander. Das ist ein Trugschluss. Eheleute „machen sich passend“. Indem sie sich teils bewusst, teils unbewusst an den Partner und die neuen Gegebenheiten anpassen, verlieren sie nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Sie gewinnen und genießen eine immer mehr gelingende Beziehung. Dieses „Anpassen“ bedeutet nicht, dass sie in allem immer nachgeben, sich selbst aus dem Auge verlieren oder gar unterwerfen. Weil der Mensch keine „Maschine“ ist, die „passt“ oder „funktioniert“, ist auch die Ehe dynamisch und nicht als „Mechanismus“ zu verstehen. Der Mensch ist also ständig veränderbar und nicht festgelegt.
Darum sollten Eheleute immer wieder über ihr „Projekt Ehe“ reden, das sie einmal in eigener Verantwortung gegründet haben. Jede/r sollte zur Sprache bringen, wo sie oder er sich benachteiligt fühlt. Paare werden dann vor allem die Bereiche ansprechen, in denen sie ein gewisses Ungleichgewicht, eine Benachteiligung empfinden. Uns ist meist nicht klar, dass wir schon bald nach unserem ersten Kennenlernen nach diesem Gleichgewicht in unserer Beziehung suchen, eine gewisse Ausgewogenheit, eine ausbalancierte „Waage“. Wird sie nicht empfunden, entsteht Unzufriedenheit.
Es kann beispielsweise sein, dass einer von beiden, der sowieso dazu neigte, weniger zu reden, jetzt noch stiller wird, weil der andere meist eher das Wort ergreift. Oder jemand anderes entwickelt noch mehr Zurückhaltung und zieht sich eher zurück, weil der andere als Person der Öffentlichkeit überall bekannt ist. Wenn zwei Leute ähnlich ordentlich sind, werden sie sich nach meiner Erfahrung unbewusst anders ergänzen wollen. Bei einem Paar wurde die geradezu zwanghafte Ordnungsliebe so stark, dass sich einer nur noch „genervt“ sah.
Dieses ergänzende Gleichgewicht darf sein. Sobald allerdings einer von ihnen ein Verhalten als einseitig oder gar störend empfindet, sollte es angesprochen werden. Wo dies nicht geschieht, entwickeln sie sich je länger, desto mehr auseinander, ohne dass es ihnen klar ist.
Bei Marina und Mark lag der erste Korsika-Urlaub bereits fünfzehn Jahre zurück. Muss man sich da nicht ganz nüchtern betrachtet die Frage stellen: Sollten die beiden sich seitdem so wenig in ihrer Persönlichkeit entwickelt haben? Und plötzlich empfindet Mark schmerzhaft, dass er, wie er sagte, sich an einem Ort wiederfindet, wo er gar nicht alleine hinwollte. Er schaut sich um und die Partnerin scheint sehr weit weg vom eigenen Denken, Fühlen und Wollen. Das Gegenüber ist im wörtlichen Sinne „ver-rückt“. Dieses Empfinden hatte auch Marina aufgeschreckt. Deshalb hat sie die Eheberatung aufgesucht. Erst das Reflektieren macht klarer: „Der Partner tickt doch ganz anders als ich. Das muss ich immer wieder neu verstehen. Und ich bin es, die sich auf ihn einstellen, ihn abholen soll, mit ihm das Leben zusammen gestalten will. Das soll fester Entschluss sein.“

Die Frage nach dem Warum

Marina hatte angefangen, Fragen zu stellen. Es waren Fragen wie: „Warum machst du das?“ „Warum übergehst du mich?“ „Warum fühle ich mich nur noch als Anhängsel deiner bereits getroffenen Entschlüsse?“ „Ich fühle mich, als ob ich hinter dir herlaufe und du nur noch den Ton angibst.“

Hilflosigkeit kann wütend, aggressiv, arglistig und hart machen. Hoffnungsvoll und hilfreich kann es dagegen durchaus sein, dass Marina nach dem Warum fragt, wenn es tatsächlich darum geht, den anderen zu verstehen. Solche Fragen können Reibung erzeugen, doch einen Konflikt zur Sprache zu bringen, ist viel besser, als in einem unzufriedenen Nebeneinanderher weiterzumachen.
Marina und Mark sind ins Gespräch gekommen. Sie versuchen, ihre Motive zu klären und sich besser verstehen zu lernen. Ihnen wird langsam klar, warum sie da gelandet sind, wo sie sich jetzt befinden. Gleichzeitig wird ihnen bewusst, dass sie in diesem Zustand nicht verharren möchten und das auch nicht müssen. Es gibt Veränderungsmöglichkeiten und die wollen sie in Angriff nehmen. Dabei hilft ihnen ein weiterer Schritt zurück: Paare können einander besser verstehen, wenn beide ihre Rolle in ihrer Biografie verstehen. Wenn sie sich klarmachen, woher sie kommen und was sie aus ihrer Ursprungsfamilie bewusst und unbewusst einbringen.
Wie Marina und Mark in diesem Prozess weitergekommen sind und was ihre Herkunftsfamilien und Biografien für ihre Ehe bedeuten, darum soll es in der nächsten Ausgabe gehen.

Dr. (theol.) Michael Hübner ist verheiratet und hat fünf erwachsene Kinder. Er ist Gründer und Dozent der Stiftung Therapeutische Seelsorge und Leiter einer Beratungs- und Psychotherapiepraxis in Neuendettelsau. Sein neues Buch: „Der Kick für die Partnerschaft – Vitaminkur für das Ehegespräch“ (Concepcion SEIDEL)

Einfache Regeln fürs komplizierte Leben

Paare brauchen bewährte Grundsätze, mit denen sie gut durchs Leben kommen, wenn es unübersichtlich wird. Von Jörg Berger

Beziehungen und Menschen waren schon immer kompliziert. Die Gesellschaft aber wird vielfältiger und vernetzter, das Tempo gesellschaftlicher Veränderungen zieht an. Deshalb widmet die Wissenschaft ihre Aufmerksamkeit zunehmend der Frage, wie Menschen in komplizierten Situationen entscheiden. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann hat auf faszinierende Weise entlarvt, welche Denkfehler uns unterlaufen, wenn wir Entscheidungen treffen. Sein Bestseller dazu heißt: „Schnelles Denken, langsames Denken.“ Der Cambridge-Professor für Management Donald Sull und die Stanford-Professorin für Ingenieurwissenschaften Kathleen Eisenhardt haben ihre Forschungsergebnisse in dem Bestseller „Simple Rules“ zusammengefasst: Erfolgreiche Menschen und Unternehmen orientieren ihre Entscheidungen an einfachen Regeln. Bewährte Regeln schützen uns vor Fehlern, besonders wenn Situationen emotional und unübersichtlich werden. Ihre Einfachheit hilft, dass wir sie auch wirklich anwenden.

Das hat mich inspiriert, auch einmal für Paarbeziehungen zu fragen: Wie finden wir einfache Regeln, die das gemeinsame Leben gelingen lassen? Längst hat sich unsere Lebenserfahrung zu Regeln verdichtet, an denen wir unsere Entscheidungen orientieren. Es ist spannend, sich das einmal bewusst zu machen. So können wir unsere Regeln überprüfen und auch neue Regeln finden.

Einfache Regeln sind konkret

Wenn ich bei uns als Paar und Familie beginne, dann ist mein erster Gedanke: „Als Christen wollen wir uns in jeder Entscheidung an Jesus orientieren. Das ist unsere einfache Regel.“ Doch in dieser Verallgemeinerung sagt eine Regel alles und nichts. Was heißt es denn konkret, dass wir uns an Jesus orientieren? Zwingen wir zum Beispiel unsere Kinder früh zum Teilen, weil Jesus auch geteilt hat? Oder wäre das lieblos und überfordernd? Wir haben aber auch konkrete Regeln gefunden. Eine ist: „Lebensentscheidungen treffen wir nicht aufgrund von finanziellen Kriterien. Wir vertrauen, dass Gott uns materiell versorgt.“ So haben wir in manchen Jahren Ersparnisse aufgebraucht, statt Vermögen zu bilden und uns um die gebotene Altersvorsorge zu kümmern. In anstrengenden Zeiten hatten wir beide unsere Stellen reduziert. Dadurch blieb für unser Familienleben und unsere Ehe so viel Zeit, wie es uns gut und richtig erschien. Wir könnten heute vielleicht wohlhabender sein, wenn wir nach einer anderen Regel entschieden hätten. Aber gefehlt hat uns bisher nichts.

Einfache Regeln sind individuell

Wir haben uns auch eine Priorisierungsregel gegeben: „Erst die persönliche Gottesbeziehung von jedem von uns beiden, dann Ehe und Familie, dann der Beruf und dann das übrige Engagement, zum Beispiel in der Kirche.“ Meine Frau hat mich auch in der Kleinkindphase zu Schweigetagen im Kloster freigesetzt, obwohl das für sie anstrengend war. Meine Tätigkeit als Psychotherapeut in einer Klinik dagegen hat zeitweise nicht zu unserer Priorisierungsregel gepasst. Durch die Überstunden und die hohe emotionale Beanspruchung hat sich der Beruf dann gegen meinen Willen an die erste Stelle geschoben. Meine verbleibende Kraft hat sich auf die anderen Bereiche aufgeteilt. Erst die Tätigkeit in meiner eigenen Praxis hat das geändert. Ich erwähne das auch, weil deutlich wird: Das darf nicht jeder so machen. Wer würde seine Erfahrung an junge Kollegen weitergeben, wenn jeder in die Freiheit einer eigenen Praxis fliehen würde? Wo stünden wir, wenn nicht manche Paare das Wagnis eingingen, für eine berufliche Schlüsselposition eines Partners die Familie hinten anzustellen und zu vertrauen, dass es trotzdem gutgeht? Unsere Priorisierungsregel passt zu uns. Wir sind überzeugt, dass wir mit ihr unser Bestes geben können. Die gleiche Regel könnte aber das Leben eines anderen Paares in die Irre führen.

1. Gesprächsimpuls: Regeln für unsere Prioritäten

Macht euch doch einmal eine Liste mit den zehn Dingen, die euch im Leben am wichtigsten sind. Versucht eine Reihenfolge zu finden, die euch als Orientierung dienen kann. An dieser geordneten Liste könnt ihr eure Priorisierungsregeln ablesen: „Wenn … und … nicht beide gut zu schaffen sind, dann muss … zurückstehen.“

Einfache Regeln verändern sich durch Erfahrungen

Manche Regeln stellen sich mit der Zeit als unpassend oder zu idealistisch heraus. Eine Regel, die uns selbstverständlich erschien, könnte man vielleicht so formulieren: „Wir begegnen jedem Menschen offen, ehrlich, konfliktbereit und unterstützend.“ Diese Regel hat uns aber auch in Auseinandersetzungen geführt, die uns viel Kraft gekostet haben, ohne dass dadurch etwas Gutes entstanden wäre. Wir haben uns auch an Unvollkommenheiten unserer Arbeitsstellen und unserer Kirchengemeinde gerieben und oft vergeblich mit Verantwortlichen nach besseren Wegen gesucht. Heute würden wir die Regel ergänzen: „Aber wir lassen los, bevor wir zum Opfer unguter Verhaltensweisen oder Strukturen werden.“ Man kann immer Nischen finden, man kann sich immer diplomatisch und unauffällig zurückziehen und sich so auf die Beziehungen und Einsatzfelder konzentrieren, in denen wirklich etwas Gutes entsteht. Umgekehrt würden wir ja auch nicht wollen, dass sich jemand lange und vergeblich an unseren Schwächen aufreibt. Unsere Lebenserfahrung stellt daher Regeln auf den Prüfstand. Wer sich an Regeln orientiert hat, die für andere passen mögen, sich aber für das eigene Leben nicht bewähren, der braucht den Mut zu eigenen Regeln. Und wer sich an überfordernden Grundsätzen abgearbeitet hat, darf sie bescheidener fassen.

Einfache Regeln für schwierige Zeiten

Seit über zwanzig Jahren begleite ich Menschen. Ich bin vielfach Zeuge von Gelingen und Scheitern geworden. Warum halten die einen Belastungen und Versuchungen stand? Warum zerbricht anderen, was sie sich aufgebaut haben? Ein Grund für das Scheitern hat mit unserem Thema zu tun. Menschen haben sich für vorhersehbare Schwierigkeiten keine Regel gegeben. Zum Beispiel ist es wahrscheinlich, dass sich im Lauf einer Ehe einer einmal fremdverliebt. Wer dann erst nach einer Regel sucht, ist vielleicht verloren. Auf dem Boden starker Gefühle gedeihen exotische Grundsätze, die nichts mit den bisherigen Überzeugungen eines Menschen zu tun haben, zum Beispiel ein Grundsatz wie dieser: „Seinen Gefühlen muss man folgen, wenn man sich treu bleiben will.“ Es hat aber noch einen weiteren Nachteil, wenn Menschen erst in Krisen nach einer guten Regel suchen. Denn eine junge Überzeugung kann sich nicht tief genug in der Persönlichkeit verwurzeln. Sie hat vielleicht die Kraft, ein schlechtes Gewissen zu wecken, doch Entscheidungen bestimmt sie nicht. Partner dagegen, die eine Fremdverliebtheit gut bewältigt haben, hatten Regeln wie: „Wenn mir das einmal passieren sollte, offenbare ich mich sofort meinem besten Freund/meiner besten Freundin und unternehme nichts, ohne dort Rechenschaft abzulegen.“

2. Gesprächsimpuls: Unsere Regeln für schwierige Zeiten

Habt ihr schon eine Regel für die Fremdverliebtheit? Und habt ihr einfache Regeln für andere Lebensereignisse, die euch vermutlich einmal treffen werden: ein Partner muss durch eine Krankheit gehen und verliert in dieser Zeit seine Leistungsfähigkeit und Ausgeglichenheit; in eurer Ehe entsteht ein Problem, das ihr trotz vieler Gespräche nicht lösen könnt; einer erlebt in seiner Gottesbeziehung eine längere Funkstille und wird von Glaubenszweifeln heimgesucht; einer gerät in eine berufliche Situation, die so schwer ist, dass sie auch das gemeinsame Leben belastet; eines der Kinder trifft eine Lebensentscheidung, die Leid nach sich ziehen wird. Vielleicht entdeckt ihr auch Regeln, die grundsätzlich für schwierige Zeiten passen.

Mit einfachen Regeln das Leben aufbauen

Einfache Regeln bauen unser Leben also in dreifacher Weise auf. Sie helfen uns erstens dabei, das Wichtige auch wirklich wichtig zu nehmen und unsere alltäglichen Entscheidungen daran zu orientieren. Eine einfache Regel, die uns als Familie gut durch die Jahre gebracht hat, lautet: „Was immer auch passiert, wir nehmen uns Zeit für schöne Momente und gute Gespräche miteinander.“ Das hat auch seinen Preis gehabt, denn in der Zeit, in der wir dieser Regel gefolgt sind, haben wir uns für anderes keine Zeit genommen. Zweitens helfen uns Regeln, Dinge auf Anhieb richtig zu machen. Eine How-to-Regel zum Beispiel, die ich gerne früher entdeckt hätte, lautet: „Versuche ein Kind erst zu erziehen, nachdem du eine einfühlsame innere Haltung gefunden hast und diese auch in deiner Körpersprache und deinen Worten ausdrücken kannst.“ Und drittens helfen uns einfache Regeln, in schwierigen Situation Fehler zu vermeiden. Ab und zu erziele ich in der Paartherapie schnelle Erfolge. Wenn das gelingt, dann nur aus einem Grund: Ich habe ein Paar dafür gewonnen, sich einfachen Regeln zu unterwerfen. Meist sind es die Regeln wie diese, die ich beiden Partnern an die Hand gebe: „Konzentriere dich auf das, was du selbst beeinflussen kannst. Wenn etwas nicht hilft, dann überlege dir etwas anderes. Wo du alleine überfordert bist, warte auf Hilfe.“

3. Gesprächsimpuls: Unsere How-to-Regeln

Im Alltag folgt ihr längst Regeln. Versucht doch einmal, von eurem Verhalten auf die Regeln zu schließen, denen ihr folgt: zum Beispiel in der Kindererziehung, bei der Haushaltsorganisation oder bei der Pflege eurer Beziehungen. Gäbe es hier vielleicht einfache Regeln, die euren Alltag noch leichter und erfolgreicher machen? Welchen Regeln folgen Paare, die euch in einem bestimmten Bereich ein Vorbild sind?

Langjährige Beziehung: Drei Tipps helfen, wenn im Bett die Luft raus ist

Je länger man verheiratet ist, umso unwichtiger wird Sex? Das ist kein Muss, sagt Sexualtherapeutin Cordula Kehlenbach.

Die Aussicht auf ein dauerhaft aufregendes Sexleben ist verlockend. Es soll vor allem lebendig sein, es soll sich etwas regen in Körper und Herz, die Beziehung soll in Bewegung bleiben. Mit Nervenkitzel, bitteschön. Wir haben glücklicherweise eine Ahnung, wie es sein könnte. Der Weg dorthin führt aber nicht über optimierte Techniken, Dessous oder Schönheitsoperationen. Sondern über …

1. Einzigartigkeit

Wir können heute viel lesen und hören über scheinbare Normalität in Sachen Sexualität. Dauernd Lust auf Sex zu spüren, fünf Stellungswechsel bei einer sexuellen Begegnung zu absolvieren (wozu eigentlich?) oder Spaß an Fesselspielen zu haben. Das Bild ist stark geprägt vom Internet mit seinen Fake News. Und macht vielen Menschen Stress. Aus „So kann man das machen“ ist ein „So muss man das machen“ geworden. Vor allem Männer stehen in der Gefahr, die Norm erfüllen zu wollen oder sogar einen Leistungssport aus dem Liebesspiel zu machen. Aus Spiel wird dann eine ernste, schlimmstenfalls abtörnende Sache. Welche Angst treibt einen in solchen Momenten? Den anderen zu enttäuschen? Vor der imaginären Konkurrenz schlecht dazustehen? Verlassen zu werden?

In Wirklichkeit sind andere Dinge „normal“: Dass man beim Sex auch abgelenkt ist, dass manchmal etwas wehtut, dass Erregung nachlässt, dass Highlights die Ausnahme sind.
Wahr ist auch, dass jeder einmalig ist mit seinen Vorlieben, Bedürfnissen und Ideen. Und dass jedes Paar einzigartig und wunderbar ist in seiner Kombination. Das ist spannend – und aufregend. Da steckt Potenz(ial) drin. Vergesst die Norm. „Die anderen“ sind nicht hilfreich. Findet heraus, was euch gefällt, was ihr wollt und genießen könnt. Es wird nicht mit einem Fingerschnippen die große Erkenntnis kommen. Sondern man kann – wenn auch etwas aufgeregt – zulassen, sich bei jeder Begegnung ein Stückchen besser zu verstehen und zu akzeptieren.

2. Forschergeist und Mut

Ins Reich der Märchen gehört, dass ein guter Liebhaber der Geliebten alle Wünsche erfüllt – und vor allem die unausgesprochenen. Tatsache ist, dass man doch gar nicht wissen kann, was für den anderen gerade jetzt angenehm ist. Es sei denn, man beherrscht das Gedankenlesen. Möchte mein Partner heute erst geküsst werden oder zart gestreichelt? Erst an den Armen oder lieber gleich an der Brust? Je mehr man es richtig machen möchte, um so verkrampfter wird es. Ja, wir haben Erfahrungen und können empathisch sein. Dennoch gibt es reichlich Spielraum für Fehlinterpretationen. Bedeutet das Schweigen jetzt Genuss oder Langeweile? Manche Missverständnisse werden jahrelang nicht aufgeklärt. Dabei liegt der Experte für die Lust des Partners doch direkt neben einem. Sie könnte mich entlasten, indem sie mich wissen lässt, was jetzt guttut. Mit Worten oder indem sie zum Beispiel meine Hand nimmt und sie an die richtige Stelle legt.

Reden erscheint unerotisch? Da erscheint mir den Mund zu halten, Unangenehmes zu ertragen und viel Unsicherheit aber wesentlich unerotischer. Vor allem bringt es keine Erregung in die Sexualität, sondern Erstarrung.

Den anderen neugierig zu erforschen oder sich immer wieder erforschen zu lassen, braucht Mut. Ich weiß nicht, ob der Partner mir diesen Wunsch auch erfüllen möchte. Oder ist sie geschockt, empfindet er das als unangenehm oder lehnt es ab? Nichts zu brauchen oder zu sagen ist da viel ungefährlicher. Aber führt nicht zum besagten „aufregenden“ Sex.

3. Improvisation

Aufregende Lebendigkeit in der Sexualität kann sich nur entwickeln, wenn man nicht nach einem festen Plan Liebe macht, sondern improvisiert. Also nicht einem angeblich vorgegebenen Plan zu folgen (Küssen, Fummeln, Ausziehen…), sondern sich gemeinsam treiben zu lassen und das Schöne auszukosten. Vielleicht beginnt es einmal mit einer Hand- oder Augenmassage. Sich treiben und fallen lassen kann nur, wer vertraut, dass es schön wird und dass er jederzeit auch abbrechen kann. Dieses Kontrollbedürfnis ist hier sinnvoll. Denn nur wer eingreifen kann, wenn etwas schiefläuft, kann sich genießend dem hingeben, was schön ist.

Damit kann man den anderen natürlich enttäuschen. Aber wenn er sich getäuscht hat (dass eine Berührung oder Stellung angenehm sei), ist es doch nur liebevoll, ihn – freundlich – darauf hinzuweisen. Diese positive Art von Kontrolle kann man auch als notwendige Eigenverantwortung bezeichnen. Hinderliche Kontrolle ist dort nötig, wo man sich nicht traut, seine Bedürfnisse klar zu äußern. Oder wo man sich nicht drauf verlassen kann, dass der Partner die gewünschten Grenzen respektiert. Das kann an beiden Seiten liegen. Eines ist klar: Lust kann nur aus Sicherheit entstehen.

Improvisation schließt nicht aus, dass man sich dafür im Bett verabredet, dass man den Zeitraum für möglichen Sex plant. Die Lust muss nicht am Anfang stehen! Freude auf eine Zeit mit entspannter, liebevoller Körperlichkeit (mit Open End!) reicht aus und ist außerdem verlockender als ein Pflichtprogramm. Wie bei musikalischen Improvisationen ist es auch wichtig, dass jeder sein Instrument, also seinen Körper kennt und auf ihm spielen kann. Nicht perfekt, aber gut genug für das Zusammenspiel. So kann aufregende Musik entstehen.

Je mehr Mut, Ehrlichkeit und Vertrauen in euch beiden über die Jahre wachsen – nicht nur im Liebesleben –, umso mehr wird sexuelle Kreativität Raum bekommen. Fühlt euch frei von der Norm. Bleibt Forschende. Und macht, was ihr wollt! So kann euer Sexleben aufregend bleiben.

Dr. med. Cordula Kehlenbach ist Sexualtherapeutin in eigener Praxis in Krefeld. Einige Gedanken hat die Autorin dem Buch „Guter Sex geht anders“ von Berit Brockhausen entnommen.

„Ballte seine Hand zur Faust“: Leonies Traummann wird ihr Albtraum

Schläge, Verbote und Misstrauen bestimmen ein halbes Jahr lang die Beziehung von Buchautorin Leonie Hoffmann*. Dann kann sie wie durch ein Wunder fliehen.

Gerade hatte ich mein Abitur abgeschlossen und war beflügelt von einem nie da gewesenen Freiheitsgefühl. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ihn, der mir diese große Freiheit mit all ihren Möglichkeiten innerhalb weniger Monate wieder nahm – und beinahe mein junges Leben.

Ich traf ihn auf einer Sommerparty in meiner Heimatstadt: Alex. Dieser Mann gab mir alles, wonach sich mein junges Herz gesehnt hatte: tiefe Liebe und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Die ersten Monate mit ihm schwebte ich im siebten Himmel. Ich glaubte, in ihm tatsächlich den Richtigen gefunden zu haben.

Alex wird rasend vor Eifersucht

Seine „abgöttische Liebe“ zu mir hatte jedoch eine unangenehme Begleiterscheinung. Was ich anfangs als schmeichelhaftes Nähebedürfnis interpretierte, entwickelte sich zunehmend zu einer besitzergreifenden Eifersucht. Wenn mein Blick zufällig den eines anderen Mannes streifte, konnte dieses „Vergehen“ ausreichen, um einen schönen Abend in hitzigen und tränenreichen Diskussionen enden zu lassen.

Doch diese zunehmenden kleinen Dramen änderten nichts an meinen großen Gefühlen für Alex. Ich war diesem Mann einfach hoffnungslos verfallen und ohne es zu merken, rutschte ich immer mehr in eine emotionale Abhängigkeit von ihm. Denn Alex schaffte beides: meine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung zu stillen und gleichzeitig durch subtile Kritik meine ohnehin schon großen Selbstzweifel zu nähren. So wurde ich buchstäblich süchtig nach diesem guten Gefühl, das scheinbar nur er mir geben konnte.

Ein Umzug aus Panik

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion zog ich nach nur drei Monaten Beziehung in seine spärlich eingerichtete Wohnung. Alex sagte, dies sei die einzige Chance, unsere Beziehung zu retten, nachdem ich mit einer Lappalie „sein Vertrauen endgültig zerstört habe“. Um mir wieder vertrauen zu können, wollte er mich eine Zeit lang kontrollieren – und ich ließ mich darauf ein. Denn der Gedanke, ihn sonst zu verlieren, versetzte mich in blanke Panik. Außerdem wusste ich ja, dass ich ihm treu war, und hoffte, endlich wieder zu unserem Anfangsglück zurückkehren zu können, wenn er sich auf diese Weise selbst davon überzeugen könnte.

Ein paar Tage später eskalierte die Situation zum ersten Mal bei einem seiner nun täglichen Verhöre. So war Alex der festen Überzeugung, ich hätte in meinem gerade begonnenen Studium einen anderen Mann kennengelernt. „Sag mir endlich die Wahrheit!“, schrie er mich immer wieder an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Eisblau und eiskalt. Dieselben Augen, in denen ich früher so viel bedingungslose Liebe gesehen hatte. Zunächst packte er mich nur fest an den Schultern und drückte mich gegen die Wand. Dann schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch mal. Und noch mal. Immer fester. Schließlich ballte er seine Hand zur Faust. In meinem Kopf begann es zu hämmern.

„Du hast dieses Monster aus mir gemacht“

Irgendwann ließ er von mir ab und brach in Tränen aus – scheinbar entsetzt über sich selbst. Nach wenigen Augenblicken kehrte jedoch die Anklage zurück: „Du hast dieses Monster aus mir gemacht! Das gerade wäre niemals passiert, wenn du einfach immer ehrlich zu mir gewesen wärst. Ich bin zu so etwas doch nur fähig, weil ich dich so unendlich liebe.“ Damit hatte er mich. „Vielleicht habe ich es ja verdient, so behandelt zu werden?“, fragte ich mich: „Vielleicht liebt er mich tatsächlich mehr als ich ihn – wenn ich ihn so zum Ausrasten bringe?“

Heute weiß ich, dass nichts davon wahr ist. Nichts, rein gar nichts rechtfertigt Gewalt in einer Beziehung. Damals zog ich es dennoch ernsthaft in Erwägung. Eine Tatsache, die mich im Nachhinein schockiert. Genauso wie der Umstand, dass sich meine Gefühle für diesen Mann offensichtlich nicht totschlagen ließen. So traf ich die größte Fehlentscheidung meines Lebens: Ich blieb. Monate später sagte mir meine Therapeutin: „Wenn man nach dem ersten Schlag nicht geht, geht man auch nicht nach dem zweiten oder dritten.“ Das ist die traurige Wahrheit. Umso wichtiger ist es deshalb, eindeutige Grenzüberschreitungen in einer Beziehung als solche wahrzunehmen und sich vor Augen zu halten: Auch die scheinbar grenzenloseste Liebe muss Grenzen haben, die niemals überschritten werden dürfen. Denn ist dies erst einmal passiert, gibt es kaum noch einen Weg zurück.

Zwischen Küssen und Schlägen

Die sechs Monate zwischen dem ersten und dem letzten Schlag vermischen sich in meiner Erinnerung zu einer zähen grauen Masse. Meine beängstigende Erkenntnis aus dieser Zeit: Man gewöhnt sich an alles. Erschreckenderweise gab es zwischendurch sogar immer noch Momente, in denen es mir gelang, mich so in den Augenblick zu versenken und alles andere auszublenden, dass unsere „Liebe“ die einzige Realität war. Der ganze Horror schien dann unwirklich. Es waren jene Momente, in denen ich sein „wahres Ich“ wieder zu erkennen glaubte. In diesen Momenten fühlte ich mich darin bestätigt, dass er „ja eigentlich ganz anders“ war.

Ja, noch immer konnte Alex mir das Gefühl geben, ihm alles zu bedeuten, die schönste und tollste Frau der Welt zu sein. In solchen Momenten war es unvorstellbar, dass sich der Schalter jemals wieder umlegen würde. Dass sich die Hände, die mich eben noch so zärtlich streichelten, irgendwann wieder zu Fäusten ballen und brutal auf mich einschlagen würden. Dass mich derselbe Mund, der mich eben noch anstrahlte und liebevoll küsste, irgendwann wieder anschreien, bespucken oder so bestialisch beißen würde, dass Muskeln dabei durchtrennt wurden. Aber es passierte. Immer wieder. In immer kürzeren Abständen. Denn genauso funktioniert die Abwärtsspirale der Gewalt.

„Ich hatte alles – außer Selbstvertrauen“

Ich log meine Eltern und Freunde mehrfach an, ignorierte etliche Nachrichten und Anrufe. Kümmerte mich von heute auf morgen nicht mehr um mein Pflegepferd und gab die Leitung meines Jugendkreises ab. Ich erschien zu einem lange geplanten Konzert meiner Band einfach nicht. Und das alles, weil ich nicht durfte. Ich hatte mehrfach buchstäblich Todesangst in Alex‘ Nähe, aber log lieber zwei Polizisten an, anstatt mit ihnen zu gehen und den ganzen Wahnsinn endlich zu stoppen.

Das alles ist nun zwölf Jahre her. Wie oft habe ich seitdem an diese Zeit zurückgedacht und mir immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Wie konntest du nur?“ Mittlerweile habe ich meine Antwort gefunden: Ich konnte mir alles nehmen lassen, weil ich als 19-jährige Abiturientin eigentlich alles hatte – außer einem gesunden Selbstvertrauen. Ich sehnte mich nach einem Partner, der mir genau das geben könnte – der mich sehen und erkennen würde, wie ich wirklich war, und mich genauso lieben würde. Und dann traf ich ihn, der mir nur all das nehmen konnte, weil er mir vorher alles gab. Heute wage ich zu behaupten, dass ausnahmslos jeder in so eine Abhängigkeit geraten kann, der nicht in seiner wahren Identität gefestigt ist und weiß, wer er ist und wie unglaublich viel wert er ist, vor allem in den Augen Gottes.

Der Wendepunkt

Das Ende dieser Schreckenszeit kam dann wie ein Wunder: Es war Karfreitag. Alex hatte mir erlaubt, den Fernseher anzuschalten, und es lief „Ben Hur“. Die Karfreitag-Tradition meiner Familie! Der Gedanke durchbohrte mich, ob ich jemals wieder Ostern mit ihnen feiern würde, ob ich sie überhaupt noch einmal sehen würde. Seit Monaten hielt Alex mich inzwischen in seiner Wohnung gefangen und hatte mir alle Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt genommen. Und endlich hatten die immer mehr eskalierende Gewalt und die immer selteneren schönen Momente die Hoffnung in mir totgeschlagen, dass sich jemals nochmal etwas ändern würde. Ich wollte nur noch weg, doch hatte inzwischen jede Hoffnung auf eine Befreiung aufgegeben. Alle Rettungsversuche meiner Angehörigen waren ins Leere gelaufen, und ich befürchtete, dass sie mittlerweile wirklich glaubten, dass ich den Kontakt nicht mehr wolle – wie Alex es sie durch Nachrichten in meinem Namen immer wieder wissen ließ.

Plötzlich stehen die Eltern vor der Tür

Ich ging ins Bad und schaute durch das kleine Dachfenster in den strahlenden Frühlingshimmel. Er wirkte friedlich und gleichzeitig erschreckend leer. Ich wagte seit Langem wieder ein Gebet zu Gott, dem ich in der Beziehung mit Alex ebenfalls den Rücken gekehrt hatte: „Gott, wenn du mich mittlerweile nicht ganz abgeschrieben hast, dann bitte hole mich hier raus, und ich will dir mein Leben lang dienen!“ Wenig später klingelte es. Nach allen gescheiterten Rettungsversuchen standen sie noch einmal vor unserer Wohnungstür: meine Eltern. Denn warum auch immer stand an diesem Tag die Haustür sperrangelweit offen. Alex drohte mir mit einem Besenstil und befahl mir, leise zu sein. Sie sollten denken, niemand sei zu Hause. Dann schubste er mich ins Schlafzimmer und schlug auf mich ein. Meine Eltern hörten, dass wir da waren. „Wir wollen euch nur zu einem Eis einladen und reden“, sagte mein Vater in unfassbarer Sanftmut. Da platzte Alex der Kragen. Er ließ von mir ab, riss die Wohnungstür auf und ging auf meine Mutter los. Ich rannte ihm hinterher.

Mein Vater gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich diesen kurzen Augenblick, in dem die Tür offen war, nutzen sollte. Während er zwischen Alex und meine Mutter ging, drängelte ich mich an ihnen vorbei. In die Freiheit. Meine Eltern eilten hinterher. „Wenn du jetzt gehst, siehst du mich nie wieder!“, rief Alex mir nach. Was früher seine schlimmste Drohung war, wurde nun zur Befreiung. Ostern verbrachte ich mit meiner Familie. Die Sonne schien. Die Welt blühte. Und wir feierten nicht nur Jesu Auferstehung von den Toten.

Bis zur Anzeige vergehen Jahre

Nun war ich zwar körperlich wieder frei, aber der Weg in die innere Freiheit sollte noch ein langer werden. Natürlich gab Alex nicht sofort auf. Erst nachdem ich alle Nachrichten von ihm ignorierte und dann mit einer Anzeige drohte, ließ er mich in Ruhe. Aufgrund von Alex‘ massiven Morddrohungen zeigte ich ihn nicht sofort an. Nach Monaten in permanenter Angst hatte ich einfach keine Kraft mehr.

Doch als ich eineinhalb Jahre später erfuhr, dass eine andere Frau in der Beziehung mit Alex ebenfalls Opfer von Gewalt wurde, wagten wir gemeinsam diesen Schritt. Er wurde verurteilt und saß jahrelang in einer geschlossenen forensischen Klinik ein.

Brecht das Schweigen!

Heute ist mein Leben schöner, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Gott hat mich zurück ins Leben und in die Freiheit geführt – eine Freiheit, die nirgendwo sonst zu finden ist. So habe ich die befreiende Kraft der Vergebung erfahren und inzwischen nicht nur mir selbst, sondern auch Alex von ganzem Herzen vergeben können, auch wenn ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm möchte. Ich kann wieder unbeschwert leben – sogar lieben und vertrauen, was ich niemals für möglich gehalten hätte.

Mein Tipp an Betroffene ist so simple wie schwer: Bitte brecht das Schweigen und holt euch Hilfe, solange es noch möglich ist! Kämpft euch zurück in die Freiheit, die euch zusteht und für die ihr geboren wurdet, erinnert euch an euren Wert und eure unantastbare Würde, die euch nichts und niemand nehmen darf.

*Leonie Hoffmann ist ein Pseudonym. Die vollständige Geschichte ist im Buch „ÜberWunden“ (Gerth Medien) aufgeschrieben. Teile des Artikels erschienen zuerst in der Zeitschrift LYDIA 2/19.

„Habt Orgasmen!“ Mutter fordert von Frauen mehr Selbstbewusstsein beim Sex

Nur 44 Prozent aller Frauen erkennen auf Fotos ihre eigene Vagina. Das muss sich ändern, findet Priska Lachmann. 

„Ich bräuchte eigentlich gar keinen Sex mehr. Ich bin abends viel zu müde dafür“, „Er fasst mich die ganze Zeit an, wenn er mehr von mir will, das setzt mich unter Druck“, „Ich vermisse Sex furchtbar, ich habe das Gefühl, mein Mann sieht mich gar nicht mehr als Frau“, „Jedes Mal, wenn wir Sex haben, habe ich eigentlich gar keine wirkliche Lust dazu“, „Seit der Geburt meines Kindes möchte ich nicht mehr berührt werden“, „Ich fühle mich so unwohl in meinem Körper, dass ich überhaupt nicht in Stimmung komme“ – diese Liste könnte man ewig fort­setzten. Habt ihr euch in einer der Aussagen wiederfinden können?

Sex nach Schwangerschaft ist kompliziert

Das Thema Sex ist in den meisten Fällen kein unbelastetes und nicht selten mit seelischen Schmerzen verbunden. Oftmals reden wir deshalb entweder gar nicht darüber oder aber viel zu viel, jedoch ohne dabei wirklich in die Tiefe zu gehen. Den Fall, dass wir unser Sexleben als unkompliziert empfinden, es frei genießen und völlig zufrieden damit sind, gibt es zwar, aber leider nur selten. Nach einer Geburt fühlt sich das erste Mal Sex wie beim allerersten Mal an. Gerade, wenn es Geburtsverletzungen gab, fühlt man sich verwundet. „Hoffentlich tut es nicht zu sehr weh!“, denkt man dann und ist viel zu vorsichtig und ängstlich, um es genießen zu können. Vielleicht muss man nach einer längeren Pause, bedingt durch die Schwanger­schaft, die Intimität mit dem Partner tatsächlich erst wieder neu erlernen. Wenn alter, seelischer Schmerz zu diesem Thema hin­zukommt, seien es Verletzungen aus der Vergangenheit, zu hohe Erwartungen an den Partner oder unerfüllte Wünsche, die nicht ausgesprochen wurden und dann über Jahre hinweg zu einer emotionalen Distanz geführt haben, wird es zusätzlich schwierig. Vor allem, wenn man nicht gemeinsam daran arbeitet.

Lust ist erlernbar

Vielleicht fühlt ihr euch auch nicht (mehr) wohl in eurem Körper nach eurer Schwangerschaft, schämt euch und habt das Gefühl, nicht mehr begehrenswert zu sein. Oder vielleicht gehört ihr zu den Frauen, die das Gefühl haben, dass ihr Mann sie nicht mehr wirklich als Frau sieht, und ihr sehnt euch nach Wertschätzung, Aufmerk­samkeit und liebevollen Komplimenten, aber euer Mann scheint innerlich meilenweit von euch entfernt zu sein? Die Sexualtherapeutin Veronika Schmidt spricht auf ihrem Blog „liebesbegehren“ und in ihren Büchern „Alltags­lust“ und „Liebeslust“ genau über dieses Thema. Sie ist der Überzeugung, dass fehlende Lust zwar manchmal hormonell bedingt sein kann, doch viel häufiger sei fehlende Lust etwas, wogegen man aktiv etwas tun könne – denn Lust sei erlernbar!

Frauen verneinen oft ihre Sexualität

Sex bedeutet nicht nur Stressabbau, ausgelöst durch Or­gasmen, und dadurch die Förderung unserer körperlichen und mentalen Gesundheit, sondern vor allem eben auch: Nähe. Zärtlichkeit. Wärme. Aufmerksamkeit. Sex erschafft das Gefühl von Einheit und Verbundenheit und ist deshalb essentiell für eine Liebesbeziehung. Ich komme aus einem konservativ christlichen Eltern­haus und habe es geschafft, nicht mal zu wissen, wohin ich meinen Tampon stecken musste, als ich 14 Jahre alt war. Frauen neigen oft dazu, die eigene Sexualität zu ver­neinen. Es gibt eine Studie, bei der 1.000 Frauen Fotos von ihrer Vagina gezeigt wurden. Nur 44 Prozent konnten ihre eigene Vagina erkennen und nur 60 Prozent die Vulva identifizieren. Habt ihr euch eure Vagina schon mal mit einem Spiegel an­geschaut? Sie ist ein Teil von uns, ein sehr wichtiger sogar, deshalb sollten wir uns nicht für sie schämen.

Nur Sex, damit der Mann keine Pornos schaut?

Wenn wir als Frauen unsere eigene Sexualität verneinen, wenn wir uns nicht mal schamlos im Spiegel anschauen und bejahen können, ohne all die tollen, scheinbar perfekten Werbemodels im Kopf zu haben, wie sollen wir dann eine erfüllte Sexualität haben? Kann es sein, dass wir selbst so unzufrieden mit uns sind und uns selbst nur noch so wenig als Frau und so sehr als Mutter fühlen, dass wir uns vernachlässigen und uns nicht mal mehr nette Unterwäsche kaufen? Und kann es sein, dass wir vielleicht so verletzt und sexuell unerfüllt sind, dass wir das nicht mal unseren Männern kommunizieren können und lieber nur mit uns selbst ausmachen? Oder kann es sein, dass wir uns nicht trauen, unsere unerfüllten Sehnsüchte anzusprechen, weil wir – vielleicht auch nur unterbewusst – der Lüge glauben, dass es beim Sex ohnehin nur um die Bedürfnisbefriedigung der Männer geht? Aber sollten Frauen tatsächlich nur Sex haben, damit ihr angetrauter Mann keine Pornos schaut oder ihnen fremd­geht? Frauen sollten doch ebenfalls Freude an Sex haben, und vor allem: Lust dabei empfinden.

Sex braucht Zeit

Nein, mit dem Mann zu schlafen ohne Lust darauf zu haben, ist für keinen Betei­ligten erfüllend. Wie also entfachen wir unsere Lust wieder neu? Veronika Schmidt spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kultur der Verführung“, die wir (wieder) erlernen müssen. Wenn wir nach einem anstrengenden Tag bis 23 Uhr online sind, wenn wir nicht mal am Wochenende, wenn die Kinder schon schlafen, zusammen ins Bett gehen und stattdessen vorm Fernseher auf der Couch versacken, dann werden wir wohl nie Sex haben. Denn Sex braucht Zeit. Freizeit. Wir brauchen eine Kultur des Verführens und ein Einplanen von festen Zeiten, in denen wir diese Kultur ausleben können. Denn wenn man nie Sex hat, ver­liert man auch die Übung darin – und vergisst, wie auf­regend und schön es sein kann. Die meisten Frauen brauchen vor allem zwei Sachen, damit sie Lust entfachen können.

Plant die Zweisamkeit

Erstens: Vorlaufzeit. Frauen können nicht von jetzt auf gleich Sex haben, wenn sie noch die Schulbrote schmieren, die Schuhe putzen und der Freundin eine WhatsApp­Nachricht schreiben wollen. Sie könnten aber Lust ent­wickeln, wenn sie sich schon morgens emotional darauf vorbereiten können. Wir können dann schöne Unter­wäsche anziehen und dem Mann schon tagsüber eine verführerische Nachricht schicken. Später packt er dann selbstverständlich im Haushalt mit an. Er schmiert die Schulbrote und arbeitet Hand in Hand mit seiner Frau, damit sie später nicht halbtot ins Bett fällt und eigentlich nur noch schlafen will.

Entdeckt euch!

Zweitens:  Selbstannahme. Liebt euch selbst. Entdeckt euch. Lernt kennen, was euch guttut, was euch Freude macht. Und kommuniziert das, wenn euer Partner nicht selbst da­rauf kommt. Vergleicht euch nicht. Auch nicht mit den eventuell vorhandenen früheren Sexualpartnerinnen eures Mannes oder mit euren eigenen früheren Se­xualpartnern. Das ist Vergangenheit und gehört nicht ins gemeinsame Bett. Habt Spaß und seid frei. Und bitte, habt Or­gasmen. Sagt nicht „Ist schon okay, ich brauche keinen Orgasmus.“ Es ist nicht okay. Orgasmen sind wichtig, allein schon für die Gesundheit, vor allem aber für eure Lust. Wenn ihr bisher keine Orgasmen hattet, dann ver­sucht mit eurem Partner herauszufinden, wie ihr welche bekommen könnt. Es macht unendlich viel Spaß.

Dieser Artikel ist zuerst in dem Buch „Mama. Frau. Königstochter“ (Gerth Medien) erschienen. Autorin Priska Lachmann ist selbst dreifache Mama, Theologin und freie Redakteurin.

Kein Beziehungsratgeber half diesem Paar. So wurden sie trotzdem ein Team

Früher schrien sich Jennifer Zimmermann und ihr Mann wochenlang abends an. Heute ist ihr Partner gleichzeitig ihr bester Freund.

Man sollte es gleich zu Anfang wissen: Wir sind kein Vorzeigepaar. Ich sehe uns heute noch in unserer ersten Wohnung am Frankfurter Westbahnhof sitzen. Draußen donnerten die Güterzüge und drinnen las ich mit roten Ohren das Kapitel über Sex aus unserem Eheratgeber vor. Zehn von zwanzig Kapiteln lang übten wir uns in größtmöglicher Offenheit und wälzten Vorstellungen über Geld und Rollenbilder. Die letzten zehn Einheiten lasen wir nie. Das einzige Buch, das wir gemeinsam (fast) bis zum Ende gelesen haben, enthielt gesammelten Poetry Slam. Das Ehebuch lag unterdessen auf dem Couchtisch und starrte uns vorwurfsvoll an, weil wir offenbar keinen stabilen Grundstein für unsere Beziehung legen wollten.

Viele Ratschläge

Ich kam mit neuen Büchern und Seminarangeboten nach Hause. Mein Angetrauter verdrehte die Augen. Zurecht. Er konterte mit einer Auswahl von Restaurants, in die er mich für ein Ehedate entführen wollte. Ich seufzte, weil in mir ein kleiner grummeliger Zwerg mit Kontrollzwang wohnte, der es überhaupt nicht leiden konnte, wenn jemand anderes sein Essen kochte. Freunde erzählten mir, wie sie in ihre Beziehung investierten. Welche Rituale sie bewusst in ihren Alltag einflochten. Wie sie das gemeinsame Gebet jeden Abend durch persönliche Probleme trug. Wie dieses oder jenes Kommunikationsseminar die Weichen für ihre gemeinsame Zukunft gestellt hatte. Und ich seufzte wieder und schämte mich ein bisschen.

Bedienungsanleitung falsch verstanden

Zu Beginn unserer Ehe war ich mir sicher: Wir hatten etwas an der Bedienungsanleitung für unsere Ehe falsch verstanden. Wie konnte all das, was uns stark machen sollte, all das, was eine Partnerschaft bereichern sollte, sich so verkehrt anfühlen? So furchtbar verkrampft? Würde unsere Ehe es ohne all die Investitionen und die wohlgepflegten Rituale durch die Abgründe schaffen, die sich im Leben manchmal so plötzlich auftun?

Augenringe bis zum Boden

Der erste Abgrund kam schneller als gedacht. Schwerfällig stapften wir durch den unerwartet tiefen Sumpf frisch gebackener Elternschaft: durchwachte Nächte und völlige Fremdbestimmung. Mein Mann machte sein Examen und startete ins Referendariat. Wir bekamen ein zweites Kind. Tageweise entlud sich all die Anspannung in erbitterten Kämpfen, die wir abends auf dem Sofa ausfochten. Tagsüber waren wir zwei abgeschaffte, zerzauste Menschen mit hängenden Schultern und Augenringen bis zum Boden, die um alles in der Welt versuchten, ihre Kinder nicht anzuschreien.

Zwei Freunde

In dieser Zeit waren wir vor allem eins: Freunde. Zwei Freunde, die sich hin und wieder auf die Schultern klopften. Zwei Freunde, die beschlossen hatten, gemeinsam durch die guten und die schlechten Zeiten zu gehen. Und das taten wir. Ein heimlicher Beobachter hätte vielleicht diagnostiziert, dass wir nebeneinander her lebten, so still, wie wir unserer Wege gingen. Aus unserer Perspektive aber sah alles ganz anders aus. Ausgelaugt und verzweifelt klammerten wir uns wortlos an den einzigen anderen Menschen, der mit im Boot saß. Abends trafen wir uns auf der Couch zu unserer Lieblingskrimiserie. Ich schlief auf der Couch ein. Er weckte mich und schickte mich ins Bett. Und am nächsten Morgen standen wir wieder auf und stellten uns gemeinsam dem Chaos, das unser Leben geworden war. Jeder an seiner Front.

Sonntage in der Notaufnahme

Von allen Seiten schien man uns zuzuschmettern, dass wir um alles in der Welt nicht „nur“ Eltern sein dürften. Wir hörten uns schlotternd die Warnungen an. Was würde mit uns passieren, wenn die Kinder eines Tages auszögen? Das Ende war wohl vorprogrammiert. Wir zitterten. Kurz. Dann wechselten wir wieder Windeln, machten die Nächte durch, gingen arbeiten und verbrachten unzählige Sonntage mit einem fiebernden Kind in der Notaufnahme.

Immer noch ein Team

Und eines Tages blickten wir über die Schultern und stellten fest, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten. Wir blickten an uns herab und stellten fest, dass wir uns immer noch an den Händen hielten. Irgendwann in dieser Zeit kam der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns nicht mehr zu dem Paar entwickeln würden, das in meinem Kopf wohnte. Wir waren anders, als ich gedacht hatte. Wir konnten einander immer noch zum Lachen bringen. Wir bewunderten einander immer noch für den Umgang mit unseren Kindern. Wir arbeiteten immer noch als Team. Und wir lernten zu schätzen, was wir miteinander hatten, statt uns krampfhaft in eine Form zu pressen, in die wir nicht passten.

Nur überleben

Zeiten des Ausnahmezustands sind keine glorreichen Zeiten. Egal, ob wir ein neues Familienmitglied durch die ersten Monate begleiten, ein Elternteil pflegebedürftig wird oder eine Krankheit die Familie durchschüttelt – es gibt Zeiten, in denen wir nur überleben. Es gibt Zeiten, in denen unsere Ehe nur überlebt. Aber zu wissen, dass der Mann an meiner Seite versprochen hat, mich auch noch morgen zu lieben, egal, wie müde und elend ich heute durch die Wohnung geschlurft bin – das ist eins der größten Geschenke in meinem Leben.

Trotz allem

Es sind Zeiten wie diese, in denen ich den Wert von Treue schätzen gelernt habe. Von Zuverlässigkeit. Und Freundschaft. Es sind Zeiten wie diese, in denen ich gelernt habe, dass Liebe etwas anderes ist als die Summe der schönen gemeinsamen Stunden. Denn wie mein Mann in dieser Zeit zu seiner müden Frau gehalten hat, das erklärt meinem Herz etwas darüber, wie treu auch Gott ist. Wie zuverlässig. In einer Zeit, in der auch mein Glaube nur knapp überlebte, gab es keine deutlichere Botschaft, als jeden Morgen aufzuwachen und meinen Mann neben mir zu finden. Immer noch. Trotz allem.

Alle suchen den idealen Partner

In dem Buch „Ehe“, das der US-amerikanische Pastor Timothy Keller 2011 gemeinsam mit seiner Frau Kathy veröffentlichte, beschreibt er einen Wandel im Verständnis von Ehe. „Früher ging es in der Ehe um uns, jetzt geht es um mich.“ Vergangene Jahrhunderte haben die Ehe als ökonomische und soziale Institution begriffen. Heute tritt der verständliche Wunsch nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund, wenn es um die Erwartungen an eine Beziehung geht. In einer von Keller zitierten Studie suchen die befragten Singles vor allem nach Partnern, für die sie sich nicht ändern müssen. Sie suchen „den idealen Partner, einen Menschen, der glücklich, gesund, interessant und mit dem Leben zufrieden ist. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es eine Gesellschaft gegeben, die so voller Menschen war, die alle den idealen Partner suchten.“

Der Prinz auf dem weißen Pferd

In einer Zeit, in der die Geschichte vom Prinzen auf seinem weißen Pferd in allen Schattierungen von Hollywood ausgeschlachtet worden ist, drängt sich die Überlegung auf, ob das Warten auf den idealen Partner, den „Seelenverwandten“, nicht alles leichter gemacht hätte. Meist kann ich diese Frage nach einigem Gedankenwälzen unter „Selbstoptimierung“ verstauen. In meinem Leben nimmt sie einen ähnlichen Stellenwert ein wie die Frage, ob regenbogenfarbene Haare mein Leben besser – weil bunter – machen würden. Etwa fünf Minuten lang erscheint sie wirklich dringend. Dann rastet mein Fünfjähriger aus, weil die Nudeln alle sind und ich blicke in das tiefenentspannte Gesicht meines Mannes und weiß wieder, dass ich hier richtig bin. Aber die Frage nach dem idealen Partner ist nicht für jeden so eindeutig zu lösen wie für mich. Und manchmal scheint es so, als ob wir, wenn wir an der Optimierung unserer Partnerwahl scheitern – und das tun wir immer, egal wie gründlich wir suchen – mit der Optimierung unserer Beziehungen weitermachen.

Gegen den Optimierungswahn

Wie wir mit Ehe umgehen, erinnert mich manchmal an meinen Pinterest-Account. Ständig werden mir Bilder von perfekten Lösungen für meine Wohnprobleme vorgeschlagen. Aber Paare lassen sich viel schwerer optimieren als Wohnzimmer. Paare sind zwei komplexe Menschen mit vielen Jahren Leben im Gepäck und jeder hat einen Reisekoffer voller rumpelnder Gedanken, den er hinter sich herzieht.

Ich durfte zu der liebevollen Erkenntnis kommen, dass es ok ist, nicht das Paar zu sein, das ständig investiert und optimiert. Dass es sogar ok ist, ein paar Wochen lang das Paar zu sein, das sich abends anschreit, wenn uns das am Ende einen Schritt weiterbringt. Es kann sich vollkommen richtig anfühlen, Eheratgeber zu lesen und gemeinsam Seminare zu besuchen. Aber es gibt tausend andere Möglichkeiten, eine Ehe zu einem guten Ort für beide Partner zu machen. Für uns ist es tausendundein Gespräch, das wir den Tag über zwischen Tür und Angel führen. Es sind die Insider, die nur wir verstehen. Der gelegentliche kinderfreie Nachmittag mit einem heimlichen Eis. Und dann gibt es die schlechten Zeiten. Die, in denen wir auf dem Zahnfleisch gehen. Manchmal reicht es dann, wenn der andere über deinen schrägen Witz lacht. Wenn einer weiß, wie du deinen Kaffee trinkst. Wenn du mit deinem besten Freund unter einem Dach wohnst und irgendwie versuchst, das Lebenschaos zu managen. Ja, wirklich, es gibt Zeiten, da reicht Freundschaft voll und ganz. Vergiss nur nicht, ab und zu auf die starke Schulter neben dir zu klopfen.

Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Vor einigen Monaten ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).