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Wenn Teens ohne Eltern verreisen wollen – das müssen Sie wissen!

In den Sommermonaten möchten viele Teens mit Freunden für ein Wochenende wegfahren – ohne Erwachsene. Wie sollten Eltern damit umgehen? Welche rechtlichen Vorgaben gibt es?

Der Wunsch der jungen Leute, allein mit Freunden ein Wochenende zu verbringen, ist absolut nachvollziehbar. Jugendliche wollen unabhängiger werden, Freiheit erleben und die Welt erkunden. Gleichzeitig lösen solche Wünsche bei Eltern aber auch ernstzunehmende Bedenken und Sorgen aus, weil diese Selbstständigkeit manche Gefahren mit sich bringen kann.

Der rechtliche Rahmen

Grundsätzlich können Jugendliche mit Bus, Bahn oder Flugzeug ohne eine erwachsene Begleitperson verreisen. Hierzu gibt es in Deutschland keine gesetzliche Altersvorgabe. Auch die Übernachtung in einer Jugendherberge oder einer Ferienwohnung ohne erwachsene Begleitung ist für Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr möglich, wenn sie die Zustimmung der Eltern haben. Bis zum Alter von 18 Jahren liegt es also ausschließlich im Ermessen der Eltern, ob sie ihre Jugendlichen verreisen lassen oder nicht. Außerdem ist es gut, im Hinterkopf zu haben, dass Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren Kinos, Gaststätten und Discos allein nur bis 24 Uhr besuchen dürfen. Soweit der rechtliche Rahmen.

In der Schweiz sind die rechtlichen Vorgaben ähnlich, allerdings gibt es regional unterschiedliche Regelungen zur Ausgehzeit, sodass man sich hier individuell bei dem jeweiligen Kanton informieren sollte.

Der Trip will gut durchdacht sein

Bevor Sie Ihr Okay zu einem Wochenendtrip geben, ist es unbedingt sinnvoll, vorher abzutasten, welche Pläne mit diesem Wochenende verbunden sind. Wer genau fährt mit? Wo wollen die Jugendlichen das Wochenende verbringen? Ist die Finanzierung geklärt? Ist abgesichert, dass im Notfall Kontaktpersonen erreichbar sind? Schätzen Sie Ihr Kind und die Freunde so ein, dass sie nicht über die Stränge schlagen? Wie verantwortungsvoll gehen die jungen Leute mit Alkohol um? Wie handhaben Sie das Thema Ausgehzeiten grundsätzlich in Ihrem Alltag? Können Sie sich darauf verlassen, dass sich die Gruppe grundlegend an die Regeln des Jugendschutzgesetzes hält? Oder wäre zu befürchten, dass das Nachtleben einer Großstadt über die Maßen ausgekostet wird?

Grundlegend ist es sehr wichtig, dass Jugendliche immer mehr Freiräume bekommen. Je mehr Ihr Kind im Alltag zeigt, dass es verantwortungsvoll mit der Freiheit umgeht, umso größer kann der Rahmen sein, in dem essich bewegt. Wenn Sie bei all diesen Fragen keine großen Bedenken haben, schenken Sie Ihrem Kind und dessen Freundeskreis Ihr Vertrauen und lassen Sie es entspannt fahren. Ist das nicht der Fall, ist es angemessen, ein solches Wochenende nicht zu erlauben oder gemeinsam über eine Alternative nachzudenken. Dann ist es wichtig zu erklären, warum Sie so entschieden haben. Machen Sie an konkreten Beispielen deutlich, wo Ihnen das Verantwortungsbewusstsein fehlt und was Sie sich wünschen. Sicher wird die Enttäuschung erst mal groß sein, aber wenn Eltern gute Begründungen liefern und klar bleiben, respektieren Jugendliche solche Entscheidungen nach einer Weile. Wichtig ist, dass dieses Nein nicht in Stein gemeißelt ist, sondern die Möglichkeit beinhaltet, zu einem Ja zu werden, wenn die notwendige Reife vorhanden ist.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und leitet gemeinsam mit ihrem Mann die Team.F Regionalarbeit im Rheinland. sonja-brocksieper.de

Mutter erkennt: „Die Kinder müssen ihren Weg finden, nicht ich.“

Wenn Kinder erwachsen werden, müssen sie ihre Entscheidungen selbst treffen. Das ist ein Lernprozess für die Kinder und ihre Eltern. Eine Mutter berichtet von ihrem Weg.

Als die Kinder klein waren und unseren täglichen Alltag bestimmten, habe ich immer wieder den Satz gehört: „Die Kinder werden so schnell groß.“ Im Stillen habe ich mich dann müde und erschöpft gefragt: „Wann wird das denn endlich sein?“ Ich fühlte mich Lichtjahre von diesem Zeitpunkt entfernt und spürte gleichzeitig eine gewisse Sehnsucht nach Freiheit. Und dann ging doch alles so schnell. Und ich komme gedanklich und emotional kaum hinterher. Ich weiß, es ist an der Zeit. Wenn ich unsere Kinder so betrachte, dann überragen sie mich längst mit ihrer Körpergröße. Sie sind zu jungen Menschen herangewachsen, von Kindern keine Spur mehr. Meine jüngste Tochter meinte kürzlich: „Mama, wir sind doch beide aus dem Alter raus!“ Ehrlich, deutlich und unmissverständlich.

Steine aus dem Weg räumen

Ein neues Lebenskapitel für uns Eltern und auch für die Kinder beginnt. Sie suchen ihren Lebensweg und ihre berufliche Zukunft. Viele Entscheidungen sind abzuwägen und zu treffen. Welche Ausbildung, welcher Studiengang ist richtig? An welchem Ort kann man eine selbstbestimmte Heimat finden? Das Bildungsangebot ist vielfältig und die Fragen berechtigt. In so manchen Gesprächen versuche ich, eine Antwort zu finden und weiterzuhelfen. Mehr geht nicht, entscheiden müssen die Kinder selbst. So mancher gut gemeinte Ratschlag trifft auf Unverständnis. Ich muss lernen, ruhig zu bleiben. Eigene Erfahrungswerte können wertvolle Lebensbegleiter der Kinder sein. Es fällt mir nicht leicht, ihre Gedanken und Ziele anzunehmen. Zu gern möchte ich auch jetzt mögliche Steine aus dem Weg räumen und mich schützend vor sie stellen. Doch ich kann sie nicht mehr vor allem bewahren.

„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, sagte Søren Kierkegaard. Ich spüre: So manche Entscheidung meiner Lieben könnte in die falsche Richtung gehen. Das kann nicht gut gehen, denke ich. Die gesteckten Ziele und Vorstellungen der Kinder sind nur schwer realisierbar. Mein Herz sagt ziemlich laut „Nein“. Doch dann schreit mein Verstand ein lautes „Ja“. Ich muss es einfach aushalten! Die Kinder müssen ihren Weg finden, nicht ich.

Ohne Groll und Vorhaltungen

In diesen Situationen kommt mir immer meine Lieblingsgeschichte aus der Bibel vom „verlorenen Sohn“ in den Sinn (nachzulesen in Lukas 15). Der Vater lässt seinen Sohn ziehen. Er versorgt ihn finanziell und materiell mit allem, was er benötigt, er ist großzügig im Geben. Ein letztes Mal nimmt er ihn fest in die Arme. Welche Gedanken werden ihm durch den Kopf gegangen sein? Ob er da schon ahnte, dass dieser Weg der falsche ist? Dennoch macht er keine Vorhaltungen, er lässt seinen Sohn ziehen. Lange schaut er ihm nach und schickt seine Liebe und seinen Segen mit auf dessen Lebensreise. Nach vielen Wochen kehrt der Sohn heim, er ist nicht mehr der, der er bei der Abreise war. Abgemagert, am Ende und mit leeren Händen kehrt er zurück. Wie oft wird der Vater nach seinem Sohn bereits Ausschau gehalten haben, vielleicht sogar täglich? Und dann ist der Tag da und er sieht ihn von ferne. Ohne Groll und Vorhaltungen läuft er ihm mit offenen Armen entgegen, so schnell seine alten Beine ihn noch tragen. Der geschundene und gezeichnete Körper seines Sohnes hindert ihn nicht, er drückt ihn fest an sein Herz. Diese tiefe Vaterliebe überstrahlt alle Vorwürfe und Fehler. Der Sohn ist auf- und angenommen. Ein großes Festmahl mit feierlicher Kleidung bringt die Freude des Vaters über diesen verlorenen und wiedergefundenen Sohn zum Ausdruck.

Offene Arme und Türen

Von dieser bedingungslosen Annahme und Liebe will ich lernen, auch wenn alles „schiefgelaufen“ ist und die Befürchtungen des Vaters sich bewahrheitet haben. Und auch wenn unsere Kinder Wege einschlagen, die wir als Eltern nicht befürworten oder bei denen wir Zweifel haben, will ich sie fürsorglich verabschieden, sie ziehen lassen. Ich bete für sie, halte Ausschau nach ihnen und erkundige mich. Und egal, wie sich ihr Weg und ihre Entscheidung gestalten, möchte ich sie stets aufnehmen. Ohne ein „Ich habe es doch gewusst …“ stets die Türen offenhalten und meine Arme entgegenstrecken.

Dieses Bild aus der Geschichte vom verlorenen Sohn will ich mir immer wieder vor Augen halten. Auch wenn mein Herz anders denkt und fühlt, möchte ich ebenso wie der Vater den Weg frei machen. Und egal, wie sich die Kinder entscheiden und welche Erfahrungen sie auf ihrem Lebensweg machen: Die Türen und Arme sind immer geöffnet.

Birgit Ortmüller ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Buchenau. Sie ist als Dozentin an der Hochschule und in der Erwachsenenbildung tätig.

Meine Tochter hängt an mir

„Meine Tochter (3) folgt mir auf Schritt und Tritt und mag sich nicht allein beschäftigen. Da sie keine Geschwister hat, gibt es niemanden, mit dem sie zu Hause spielen könnte. Ich versuche, sie in meine Aufgaben einzubinden und mich mit ihr zu beschäftigen, habe aber nicht immer Lust dazu und will endlich mal wieder allein aufs Klo! Ist es von einer Dreijährigen zu viel verlangt, auch mal allein zu spielen?“

Grundsätzlich können sich die meisten Dreijährigen entwicklungsbedingt gut allein beschäftigen, in der Gewissheit, dass eine vertraute Person in ihrer Nähe ist. In einem normalen Alltag lernen sie das „nebenbei“. Wenn Ihr Kind immer noch auf Schritt und Tritt in Ihrer Nähe bleibt, hat es dafür vermutlich seine „guten Gründe“.

Muss das Kind einen Verlust verarbeiten?

Um das besser zu verstehen, ist es hilfreich, die Lebensgeschichte Ihres Kindes näher anzuschauen: Waren oder sind Sie und Ihr Kind mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, wie etwa dem Verlust einer nahestehenden Person durch Trennung oder Tod, Krankheit, einer traumatischen Geburt, Klinikaufenthalten oder einer unangemessenen Eingewöhnung? Solche und andere „stressende“ Erfahrungen können dazu beitragen, dass Kinder mehr Zeit und elterliche Zuwendung brauchen, um (wieder) die nötige Sicherheit und Vertrauen ins Leben zu gewinnen und ihre Selbstständigkeit zu entfalten.

Es ist gut, dass Sie als wichtigste Bezugsperson – soweit möglich – ganz für Ihre Kleine da waren, um das Urvertrauen (wieder) zu festigen, sich mit ihr beschäftigen, wenn keine anderen Kinder da sind, und sie in Ihren Alltag einbinden. Genauso richtig und wichtig ist es aber auch, dass Sie Ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen, wie zum Beispiel, etwas für sich allein zu machen oder sich auszuruhen. Indem Sie dies ausdrücken und umsetzen, erfährt Ihr Kind: „Andere Menschen haben auch Bedürfnisse, die beachtet werden müssen“ – eine wichtige Voraussetzung für soziales Verhalten.

Eine Sanduhr schafft Freiräume

Um mehr Freiraum für Sie als Mutter zu schaffen und gleichzeitig die Entwicklung kindlicher Selbstständigkeit zu fördern, können regelmäßige Zeiten mit anderen Bezugspersonen wie Papa, Oma oder anderen Kindern sehr hilfreich sein. Wenn Sie und Ihre Tochter allein sind, könnten Sie zum Beispiel mit einer Sanduhr oder Uhr (mit Zeiger) kleine Auszeiten einführen: Nachdem Sie zusammen eine gute Zeit hatten, erklären Sie Ihrer Tochter klar und kurz: „Ich gehe jetzt … (Ort) und mache … (Handlung). Du kannst so lange … (Spielvorschlag). Wenn die Zeit um ist (siehe Uhr), komme ich wieder.“ Wichtig: Handeln Sie genau so wie angekündigt.

Aufgrund der vorangehenden Erfahrungen: „Mama ist immer für mich da, so wie ich es möchte“, wäre es verständlich, wenn Ihre Tochter erst mal „protestiert“. Das darf sie! Und Mama darf sich trotzdem um ihre eigene Angelegenheit kümmern. Sie ist ja in der Nähe (wenn auch im anderen Raum) und kommt zurück, wie versprochen. Danach geht es wieder gemeinsam weiter. Sie als Mama fühlen sich freier und Ihr Kind hat gelernt: Auf Mama ist Verlass! Und Sie bleiben mit Ihrem Kind verbunden in einer guten Balance von Zeiten der Gemeinsamkeit und des „Für-sich-Seins“.

Beate Döbel ist systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin (therapiepraxis-doebel.de). 

„Ich habe mein Kind verkorkst!“

Dass Eltern Fehler machen, ist ganz normal. Aber manchmal rutschen Eltern und Kinder in einen unguten Kreislauf, der sich über die Jahre verstärkt. Da herauszukommen, kann mühsam sein. Stefanie Diekmann berichtet von einer Beratungserfahrung.

Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Als Claudia diesen Satz ausgesprochen hat, schaut sie mich erschrocken an. Schnell schiebt sie hinterher: „Eigentlich ist mein Mann schuld. Puh, das klingt auch so hart. Er hatte bei unseren Kindern viel Angst und ich habe unter seinem Druck dafür gesorgt, dass kein Weg zum Volleyballtraining oder Musikunterricht ohne meine Begleitung passiert. Und dass sie nur mit ausgewählten Kindern spielen. Die ständigen Diskussionen mit ihm über die möglichen Gefahren haben mich mürbe gemacht. Das sehe ich jetzt. Und jetzt ist es zu spät. Rahel ist nun 17 Jahre alt – und irgendwie verkorkst.“ Claudia ringt um Worte. Sie tastet sich an dieses fast unaussprechliche Gefühl heran.

Rahel wirkt auf Außenstehende sanft und klug. Zu Hause nehmen ihre Eltern sie aber als unausgeglichen und missgelaunt wahr. Schon immer haben ihre Hände besonders besitzergreifend nach Claudia gegriffen und sie gefordert. Ganz anders als die Kleinkinder ihrer Bekannten hatte sie viele Probleme: Schlafen nur auf dem Bauch der Eltern, Essensverweigerung, wenig Sprachentwicklung. Wenn Claudia von einer schweren Nacht mit ihr berichtete, kommentierten die anderen im Spielkreis nicht selten: „Na, was hat Rahel denn diesmal?“ Eigentlich nichts, und doch ließ Claudia sie immer wieder vom Kinderarzt durchchecken: Sie war und ist kerngesund. Vielleicht gibt es so etwas wie „alltagskompliziert“?

Immer unsicherer

Als Grundschülerin war Rahel in vielen alltäglichen Dingen hilflos. Kleinigkeiten wie das Einlegen der CD in den Kinder-CD-Spieler wurden zu einem Problem. Ihre jüngere Schwester hatte diese Hürde bereits genommen, aber Rahel stand immer noch jammernd neben der Mutter und brauchte Hilfe. Auch die Hausaufgaben waren während der kompletten Schulzeit ein Bereich voller Emotionen und Kämpfe. Claudia hat unzählige Stunden mit ihr am Esstisch verbracht. „Keine Idee meiner Freundinnen half, um sie zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. Sie jammerte und brauchte ständig meine Hilfe.“

Aber immer, wenn Claudia eine Idee für eine Loslösung hatte und umsetzen wollte, kam ihr Mann mit seinen Sorgen und Bedenken dazwischen. Rahel allein auf die Klassenfahrt schicken? Niemals! Also fuhr sie als Betreuerin mit. Rahel allein in den Schwimmverein lassen? Niemals. Also schwamm sie neben dem Trainingsbecken im Kinderbecken herum. Je älter Rahel wurde, desto unsicherer und unselbstständiger wurde die Jugendliche. Sie begann, leise und undeutlich zu sprechen und ihre Schultern nach vorn zu ziehen. Mit dieser angespannten Grundhaltung gelang es ihr nicht, Freundinnen zu finden.

Immer genervter

Natürlich hat Claudia sich Gedanken gemacht über ihr Verhalten. Sie hatte wohltuende Gespräche mit dem Kirchenseelsorger. Sie spürte aber, dass eine wirkliche Veränderung Kraft kosten würde. Claudia erinnert sich, dass sie sich von ihrem Alltag zwischen Kindern, Minijob und Kirchenmitarbeit so eingespannt fühlte, dass sie für das Thema „Rahel“ ganz kraftlos war. Sie zog sich immer mehr zurück. Sie half Senioren und anderen Familien mit praktischer Unterstützung, aber Rahel und den möglichen Lösungsideen für ihre Situation ging sie aus dem Weg.

Stattdessen wurde sie immer sensibler und genervter in Bezug auf ihre Tochter. Sie konnte schon an Rahels Seufzen erkennen, dass diese keinen einzigen Waffelteig im ganzen Internet finden konnte. „Um diese Alltagshürden nicht miterleben zu müssen, habe ich fix den Waffelteig selbst gemacht. Das Drama darum hat mich so genervt.“ Die Aggressionen in Claudia wachsen, je älter Rahel wird. Eine Jugendliche, deren Alltag scheinbar nur aus Hürden besteht und die ständig jammert, kostet Kraft. Dieser Kreislauf der Kraftlosigkeit hat Rahel in einen Kokon aus Überregulierung eingesponnen. Beide Eltern haben ihr immer weniger zugetraut und zugemutet.

Wendepunkt

Mit etwas Abstand und zunehmender Kraftlosigkeit wuchs bei Claudia das Gefühl, „falsch“ zu sein: als Mutter, als Familie, als Lebensraum für Rahel. „Ich spüre mein Versagen. Dass ich mich der Verantwortung entziehe. Wir brauchen einen Wendepunkt.“ Im Nachdenken erinnert sie sich an die Gespräche mit dem Seelsorger: Der Wert eines Menschen bleibt in Gottes Augen hoch – unabhängig von seinem Verhalten. Was sich für die Eltern als „verkorkst“ anfühlt, kann zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung werden. Das will Claudia angehen. Ab heute. Für jeden aus der Familie.

Während Rahel zu einem Personal Trainer geht, um ihre Körperpräsenz zu verbessern und an ihrem Stimmvolumen zu arbeiten, stehen auch Claudia und ihr Mann vor Entwicklungsaufgaben. Seinen Ängsten will Claudias Mann mit der Hilfe eines Facharztes die Stirn bieten. Warum er erst jetzt den Mut dazu hat, ist Claudia nicht klar. Vielleicht, weil sie sich bewusster positioniert und ihrem Mann zumutet, die Last seiner Ängste allein zu tragen. Sie will nicht mehr Sprachrohr seiner Sorgen sein. Claudia sucht ihren eigenen Standpunkt und wird in diesen ersten Schritten durch eine Kleingruppe der Kirche bestärkt. Täglich formuliert sie ein Gebet, um die Verantwortung für ihre Familie an Gott zurückzugeben. „Ich bin dadurch eher bereit, hinzusehen und mich nicht wegzuducken“, erklärt sie. Freundinnen haben Claudia immer wieder ermutigt, Rahel mehr zuzutrauen. Wahrzunehmen, was Rahel gelingt. Claudia beginnt zu strahlen, als sie von Rahels erstem kleinen Job erzählt. Ein Mutlächeln erleuchtet ihr Gesicht. Sie wird ihre Tochter begleiten und ihr ins Leben helfen. Auch wenn das gesamte Internet wieder mal leer ist, wenn Rahel Waffeln backen will.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

„Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Welche Erziehungsfehler Sabine heute bedauert

Sabines* Tochter ist viel zu unselbstständig. Die Schuld sieht Sabine bei sich und ihrem Mann. Dann entscheidet sie: Es muss sich etwas ändern.

„Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Als Sabine diesen Satz ausgesprochen hat, schaut sie mich erschrocken an. Schnell schiebt sie hinterher: „Eigentlich ist mein Mann schuld. Puh, das klingt auch so hart. Er hatte bei unseren Kindern viel Angst und ich habe unter seinem Druck dafür gesorgt, dass kein Weg zum Volleyballtraining oder Musikunterricht ohne meine Begleitung passiert. Und dass sie nur mit ausgewählten Kindern spielen. Die ständigen Diskussionen mit ihm über die möglichen Gefahren haben mich mürbe gemacht. Das sehe ich jetzt. Und jetzt ist es zu spät. Hannah* ist nun 17 Jahre alt – und irgendwie verkorkst.“ Sabine ringt um Worte. Sie tastet sich an dieses fast unaussprechliche Gefühl heran.

Hannah wirkt auf Außenstehende sanft und klug. Zu Hause nehmen ihre Eltern sie aber als unausgeglichen und missgelaunt wahr. Schon immer haben ihre Hände besonders besitzergreifend nach Sabine gegriffen und sie gefordert. Ganz anders als die Kleinkinder ihrer Bekannten hatte sie viele Probleme: Schlafen nur auf dem Bauch der Eltern, Essensverweigerung, wenig Sprachentwicklung. Wenn Sabine von einer schweren Nacht mit ihr berichtete, kommentierten die anderen im Spielkreis nicht selten: „Na, was hat Hannah denn diesmal?“ Eigentlich nichts, und doch ließ Sabine sie immer wieder vom Kinderarzt durchchecken: Sie war und ist kerngesund. Vielleicht gibt es so etwas wie „alltagskompliziert“?

Selbst das Einlegen der CD machte Probleme

Als Grundschülerin war Hannah in vielen alltäglichen Dingen hilflos. Kleinigkeiten wie das Einlegen der CD in den Kinder-CD-Spieler wurden zu einem Problem. Ihre jüngere Schwester hatte diese Hürde bereits genommen, aber Hannah stand immer noch jammernd neben der Mutter und brauchte Hilfe. Auch die Hausaufgaben waren während der kompletten Schulzeit ein Bereich voller Emotionen und Kämpfe. Sabine hat unzählige Stunden mit ihr am Esstisch verbracht. „Keine Idee meiner Freundinnen half, um sie zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. Sie jammerte und brauchte ständig meine Hilfe.“

Aber immer, wenn Sabine eine Idee für eine Loslösung hatte und umsetzen wollte, kam ihr Mann mit seinen Sorgen und Bedenken dazwischen. Hannah allein auf die Klassenfahrt schicken? Niemals! Also fuhr sie als Betreuerin mit. Hannah allein in den Schwimmverein lassen? Niemals. Also schwamm sie neben dem Trainingsbecken im Kinderbecken herum. Je älter Hannah wurde, desto unsicherer und unselbstständiger wurde die Jugendliche. Sie begann, leise und undeutlich zu sprechen und ihre Schultern nach vorn zu ziehen. Mit dieser angespannten Grundhaltung gelang es ihr nicht, Freundinnen zu finden.

Immer genervter auf ihre Tochter

Natürlich hat Sabine sich Gedanken gemacht über ihr Verhalten. Sie hatte wohltuende Gespräche mit dem Kirchenseelsorger. Sie spürte aber, dass eine wirkliche Veränderung Kraft kosten würde. Sabine erinnert sich, dass sie sich von ihrem Alltag zwischen Kindern, Minijob und Kirchenmitarbeit so eingespannt fühlte, dass sie für das Thema „Hannah“ ganz kraftlos war. Sie zog sich immer mehr zurück. Sie half Senioren und anderen Familien mit praktischer Unterstützung, aber Hannah und den möglichen Lösungsideen für ihre Situation ging sie aus dem Weg.

Stattdessen wurde sie immer sensibler und genervter in Bezug auf ihre Tochter. Sie konnte schon an Hannahs Seufzen erkennen, dass diese keinen einzigen Waffelteig im ganzen Internet finden konnte. „Um diese Alltagshürden nicht miterleben zu müssen, habe ich fix den Waffelteig selbst gemacht. Das Drama darum hat mich so genervt.“ Die Aggressionen in Sabine wachsen, je älter Hannah wird. Eine Jugendliche, deren Alltag scheinbar nur aus Hürden besteht und die ständig jammert, kostet Kraft. Dieser Kreislauf der Kraftlosigkeit hat Hannah in einen Kokon aus Überregulierung eingesponnen. Beide Eltern haben ihr immer weniger zugetraut und zugemutet.

Der Wendepunkt ist ein Satz des Seelsorgers

Mit etwas Abstand und zunehmender Kraftlosigkeit wuchs bei Sabine das Gefühl, „falsch“ zu sein: als Mutter, als Familie, als Lebensraum für Hannah. „Ich spüre mein Versagen. Dass ich mich der Verantwortung entziehe. Wir brauchen einen Wendepunkt.“ Im Nachdenken erinnert sie sich an die Gespräche mit dem Seelsorger: Der Wert eines Menschen bleibt in Gottes Augen hoch – unabhängig von seinem Verhalten, so verspricht es der christliche Glaube. Was sich für die Eltern als „verkorkst“ anfühlt, kann zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung werden. Das will Sabine angehen. Ab heute. Für jeden aus der Familie.

Während Hannah zu einem Personal Trainer geht, um ihre Körperpräsenz zu verbessern und an ihrem Stimmvolumen zu arbeiten, stehen auch Sabine und ihr Mann vor Entwicklungsaufgaben. Seinen Ängsten will Sabines Mann mit der Hilfe eines Facharztes die Stirn bieten. Warum er erst jetzt den Mut dazu hat, ist Sabine nicht klar. Vielleicht, weil sie sich bewusster positioniert und ihrem Mann zumutet, die Last seiner Ängste allein zu tragen. Sie will nicht mehr Sprachrohr seiner Sorgen sein. Sabine sucht ihren eigenen Standpunkt und wird in diesen ersten Schritten durch eine Kleingruppe der Kirche bestärkt. Täglich formuliert sie ein Gebet, um die Verantwortung für ihre Familie an Gott zurückzugeben. „Ich bin dadurch eher bereit, hinzusehen und mich nicht wegzuducken“, erklärt sie. Freundinnen haben Sabine immer wieder ermutigt, Hannah mehr zuzutrauen. Wahrzunehmen, was Hannah gelingt. Sabine beginnt zu strahlen, als sie von Hannahs erstem kleinen Job erzählt. Ein Mutlächeln erleuchtet ihr Gesicht. Sie wird ihre Tochter begleiten und ihr ins Leben helfen. Auch wenn das gesamte Internet wieder mal leer ist, wenn Hannah Waffeln backen will.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert. 

Erstgeborene, Sandwichkinder, Nesthäkchen: Das sagt die Geburtsfolge über Ihr Kind aus

Kinder werden stark dadurch geprägt, ob sie erstes, zweites oder drittes Kind sind. Ein Coach verrät: So können Eltern verhindern, dass sich diese Prägungen zu stark auswirken.

Erstgeborene: Schwäche zeigen

Älteste Kinder sind häufig perfektionistisch, es fällt ihnen schwer, Dinge aus der Hand zu geben. Ihnen sind Regeln und Vorschriften meist sehr wichtig. Sie müssen lernen, dass selbst der beste vorher zurechtgelegte Plan scheitern kann. Manches lässt sich nicht erzwingen. Seien Sie daher geduldig und nehmen Sie sich Zeit, die Fragen ihres Kindes von Anfang bis Ende genau durchzugehen. Sprechen Sie verschiedene Lösungswege für ein Problem durch. Überlegen Sie gemeinsam mit ihrem Kind, wie ein Plan B, C oder D aussehen könnte.

Für Erstgeborene ist es typisch, Dinge, die sie sich vorgenommen haben, unbedingt erreichen zu wollen. Erstgeborene fassen ihr Leben häufig als einen Kampf auf, in dem es ums Gewinnen geht. Zeigen Sie ihrem Kind daher, wann immer es Ihnen möglich ist, dass es nicht vollkommen sein muss, um Ihre Anerkennung und Liebe zu bekommen. Eltern können hier ein gutes Vorbild sein und sich menschlich zeigen, indem sie eigene Fehler und Schwächen zugeben und Ihrem Kind so vorleben, dass Fehler zum Leben dazugehören, dass auch ihnen nicht alles direkt gelingt und dass das kein Weltuntergang ist. Denken Sie daran, Sie sind das Vorbild für Ihr Kind. Es hat keinen Bruder oder keine Schwester, an dem es sich orientieren kann. Es schaut zu Ihnen auf.

Wenn Sie darauf achten, können Sie wirkungsvoll dazu beitragen, dass sich Ihr ältestes Kind etwas besser von Erwartungen und Ansprüchen anderer abgrenzen kann. Nehmen Sie sich Zeit, um als Eltern mit Ihrem ältesten Kind auch mal etwas allein zu machen. Erstgeborene brauchen das ungeteilte Zusammensein mit ihren Eltern. Achten Sie darauf, Ihrem älter werdenden Erstgeborenen nicht immer mehr Verantwortlichkeiten aufzuladen. Nehmen Sie ihm eher welche ab und übertragen sie den Jüngeren.

Sandwichkinder: Bewusst wahrnehmen

Mittlere Kinder fühlen sich häufig unter Druck. Sie können sich eingezwängt fühlen in ihrer Rolle. Es gibt nicht nur die Eltern, die Autorität ausstrahlen und Lebenserfahrung haben, sondern auch ein älteres Geschwisterkind. Und dann gibt es da noch das süße kleine Nesthäkchen. Das mittlere Kind ist also zu jung für Privilegien und zu alt für Streiche und Späße. Dieser Druck führt dazu, dass sich mittlere Kinder oft überflüssig und unpassend fühlen.

Bemühen Sie sich daher verstärkt darum, ihm ein Gefühl von Besonderheit zu vermitteln. Sorgen Sie dafür, dass es in Ihrem Fotoalbum auch Bilder von Ihrem mittleren Kind gibt. Machen Sie auch mal Aufnahmen, auf denen Ihr Kind ohne seine Geschwister zu sehen ist. Räumen Sie ihm ab und zu kleine Privilegien ein. Nehmen Sie zum Beispiel bei einer Erledigung einmal nur Ihr mittleres Kind mit und nutzen Sie die Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Hören Sie genau zu, wenn Ihr Kind Ihnen etwas erzählt und erklärt. Es hat häufig den Wunsch, Konflikte zu verdrängen und zu vermeiden, weil es kein Aufsehen erregen will. Fragen Sie Ihr mittleres Kind nach seiner Meinung. Binden Sie es in Entscheidungen mit ein. Bieten Sie ihrem Kind viele Gelegenheiten, seine Gefühle und Empfindungen mitzuteilen. Machen Sie ihrem Kind Mut, auch kontroverse und heikle Themen und Gedanken auszusprechen.

Belassen Sie es nicht mit einem „Wie geht es dir?“ zwischen Tür und Angel. Nehmen Sie sich Zeit. Fragen Sie nach und bleiben Sie dran. Verabreden Sie sich mit Ihrem mittleren Kind. Führen Sie Gespräche unter vier Augen. Für mittlere Kinder sind Freundschaften ganz besonders wichtig. Da es sein kann, dass es sich zu Hause überflüssig vorkommt, nehmen Freunde einen großen Stellenwert ein. Fördern und unterstützen Sie diese Freundschaften, laden Sie seine Freunde zu sich nach Hause ein. Auch das ist eine gute Möglichkeit, Ihrem mittleren Kind zu zeigen, dass es in Ihrer Familie willkommen ist und dazugehört.

Nesthäkchen: Selbstständigkeit fördern

Jüngste Kinder erleben oft Eltern, die nachgiebiger sind als bei ihren älteren Geschwistern. Sie drücken eher mal ein Auge zu als bei den Großen. Eltern haben den Wunsch, bei ihrem Nesthäkchen den Lebensweg ganz besonders zu ebnen, schließlich ist es ja „das Kleine“. Das führt schnell dazu, dass Eltern ihrem jüngsten Kind Dinge abnehmen und Aufgaben für ihr Kind übernehmen, die es schon selber könnte. Die Annahme, ihrem Kind damit zu helfen, ist jedoch ein Trugschluss. So kann schnell der Eindruck entstehen: „Die Welt dreht sich nur um mich.“

Besonders letztgeborene Kinder müssen lernen, eigenständig und selbstständig zu werden und sich nicht nur auf Eltern oder ältere Geschwister zu verlassen. Machen Sie es Ihrem Kind daher nicht zu leicht. Übertragen Sie ihm Verantwortung für das, was es bereits selbst schaffen kann. Sorgen Sie dafür, dass es kleine Pflichten im Haushalt übernimmt und nicht andere für sich arbeiten lässt, weil es ja noch so klein und „hilflos“ ist. Achten Sie darauf, dass auch Ihr jüngstes Kind sich an Familienregeln hält.

Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass ihr Kind nicht zwischen den „Großen“ untergeht. Jüngste Kinder können manchmal den Eindruck haben: „Ich bin gar nicht wichtig“. Alles, was Ihr jüngstes Kind tut, haben die anderen schon vorher geschafft. Entwicklungsschritte werden eher am Rande zur Kenntnis genommen und nicht mehr so stark gefeiert. Stellen Sie die Leistungen Ihres jüngsten Kindes daher immer mal wieder heraus. Hängen Sie die „Kunstwerke“ Ihres Kindes sichtbar für alle auf, sodass es gleichberechtigt mit den großen Geschwistern vertreten ist.

Jedes Kind im Blick haben

Grundsätzlich ist es also wichtig, aufmerksam zu sein, jedes einzelne Kind gut im Blick zu haben und immer wieder das eigene Erziehungsverhalten zu reflektieren. Das Wissen um die Geschwisterkonstellation kann hierbei eine gute Hilfe sein. Jedoch ist dies nur ein Puzzleteil vom Gesamtbild eines Menschen. Genauso spielt natürlich das Erziehungsverhalten der Eltern, die Art und Weise, wie jede Familie ihren Familienalltag lebt und die ganz individuelle Persönlichkeit jedes Kindes eine Rolle. Jedes Kind ist anders und einzigartig.

Susanne Büscher arbeitet in ihrer Praxis für Lebensberatung, Paarberatung und Coaching im oberbergischen Waldbröl.

„Bedrängt mich nicht, aber bietet Unterstützung an!“

Wie erleben junge Erwachsene die Abnabelung von den Eltern? Was wünschen sie sich von ihnen? Borika Lea Luft (22) hat sich umgehört.

„Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust du, was ich sage!“ Wie oft haben wir als Kinder diesen Satz gehört – nicht unbedingt in dieser Formulierung, aber doch in allen möglichen Variationen. Manchmal haben wir uns wirklich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich auszuziehen und zu machen, was wir wollen. Nicht von Mama und Papa abhängig zu sein, selbst bestimmen zu dürfen und einfach frei zu sein. Und auf einmal beginnt diese Zeit des Loslassens, Abnabelns, Ausziehens, Unabhängigwerdens, ob aufgrund des Studiums, der Arbeit, eines Auslandsjahres oder einer Beziehung. Gründe wie auch Zeitpunkte sind unterschiedlich, aber irgendwann kommen alle Eltern und ihre Kinder an den Punkt, an dem sie einander auf irgendeine Weise loslassen müssen. Manche fürchten sich davor, andere sehnen es herbei.

AN DEN GEDANKEN GEWÖHNEN

Auch meine Eltern und ich stecken in diesem Prozess. Ein erstes Loslassen gab es, als ich mit 19 für ein halbes Jahr auf eine Bibelschule ging. Das erste Mal richtig weg von Mama und Papa, weitgehend auf mich allein gestellt. Die sechs Monate haben mich sehr geprägt – in meinem Glaubensleben und meiner Beziehung zu Jesus und auch in Hinblick auf die Nähe zu meinen Eltern. Der Weg dahin war für mich sehr schwer, da ich schon immer sehr an meinen Eltern hing und es für mich kaum etwas Schlimmeres gab, als von ihnen getrennt zu sein. Doch diese Zeit ist für uns zum Segen geworden.

Nach der Bibelschule zog ich aufgrund meiner beruflichen Situation wieder daheim ein. Jetzt, mit 22, wohne ich immer noch beziehungsweise schon wieder im Elternhaus und komme nicht umhin, mich tagtäglich mit dem Thema „Loslassen“ und allen zugehörigen Fragen zu beschäftigen. Vor allem meinem Vater ist es schon immer sehr wichtig gewesen, dass meine zwei jüngeren Brüder und ich uns an den Gedanken gewöhnen, irgendwann auf uns allein gestellt zu sein, eigene Entscheidungen treffen und für uns selbst Verantwortung zu übernehmen. Unsere Eltern betonten aber stets, dass sie immer für uns da seien, wenn wir Hilfe oder Unterstützung bräuchten. Und das waren und sind sie auch.

ZWEI TERMINKALENDER

Im Gespräch mit Freunden und Freundinnen zwischen 18 und 23 Jahren habe ich festgestellt, dass Loslassen ein sehr individueller und subjektiver Prozess ist. Jede und jeder versteht ein bisschen etwas anderes darunter. Manchen fällt es leichter, andere tun sich schwer damit, sich zu lösen. Deshalb fand ich es spannend zu erfahren, was andere junge Erwachsene denken und habe sechs Freunde und Freundinnen befragt. Vier von ihnen sind Studierende oder gehen noch zur Schule, zwei stehen an der Schwelle zum Eintritt in das Arbeitsleben. Drei sind schon ausgezogen, die anderen leben noch im Elternhaus. Als Gründe für den Auszug von daheim wurden die Entfernung zur Uni oder Schule, die Heirat oder ein angespanntes Verhältnis zu einem Elternteil genannt. Ob schon ausgezogen oder noch zu Hause lebend – fast alle bewerteten das aktuelle Verhältnis zu den Eltern als gut bis sehr gut. Bei allen Befragten fiel auf, dass sie die Beziehung zu den Eltern in der Pubertät als angespannt und weniger gut beschrieben und der Wunsch nach Freiheit von den Eltern in dieser Zeit groß war.

Auf die Frage, was „Loslassen“ in Bezug auf Eltern und Elternhaus für sie bedeute, wurden folgende Antworten gegeben: „Ausziehen und allein leben“, meint Eduard (18). Bennet (19) nennt die Stichworte „Verantwortung annehmen“ und „selbstständig werden“. „Nicht mehr abhängig sein, eigene Entscheidungen treffen, versuchen, alles selbstständig zu erledigen, wie kochen oder waschen“, lautet die Antwort von Jon (20). Für Melli (20) stehen „Selbstständigkeit, zwei Terminkalender haben, nach eigenen Lösungen suchen“ im Vordergrund. Und Sara (21) antwortet: „Loslassen bedeutet für mich, meine gewohnte Routine mit meinen Eltern loszulassen und eine neue, eigene Routine zu finden. Loslassen bedeutet für mich nicht, seine Eltern nur noch selten zu sehen und sich ganz von ihnen abzuschotten.“

Diese Aussage finde ich sehr bezeichnend. Loslassen heißt nicht, seine Eltern in die Wüste zu schicken, sondern sich ein eigenes, selbstbestimmtes Leben aufzubauen, welches die Eltern zwar enthält, aber nicht durch sie vorgegeben wird.

Rebekka (23) ergänzt diesen Gedanken. Loslassen bedeute für sie, sich selbst zuzutrauen, im Leben klarzukommen. Sie müsse nicht ständig wissen, was ihre Eltern machen und diese nicht, was Rebekka mache. Gleichzeitig finde sie, dass Loslassen auch die Freiheit beinhalte, sich diese Dinge gegenseitig freiwillig zu erzählen. Es bedeute, sich gegenseitig Freiheit zu geben.

Fast allen der Befragten ist oder wäre es wichtig, mit ihren Eltern in Kontakt zu bleiben, ob über Handy, Mail oder durch regelmäßige Besuche.

VERTRAUENSBEWEIS

Letztens kam mir ein Bild für das Loslassen in den Kopf: Ein Vater steht mit seinem Kind an einem Fußgängerüberweg und nimmt es an die Hand. Das Kind möchte sich losreißen und über die Straße zum Park rennen. Es realisiert nicht, dass Autos angerast kommen, die es umfahren könnten. Der Vater erkennt die Gefahr, hält das Kind fester und erklärt ihm: „Es ist gefährlich, einfach so über die Straße zu rennen. Ich möchte, dass du an meiner Hand bleibst, bis wir auf der anderen Straßenseite sind. Ich werde dich sicher nach drüben bringen.“ Das leuchtet dem Kind ein und es geht an der Hand des Vaters über die Straße. Je näher sie der anderen Straßenseite kommen, desto unruhiger wird das Kind. Es möchte allein laufen. Der Vater würde es lieber weiterhin an der Hand halten. Aber er sieht ein, dass das Kind nur noch stärker an seinem Arm ziehen und sich vielleicht einfach losreißen wird, wenn er es nicht loslässt. Also gibt er das Kind frei und es kann allein laufen. Der Vater setzt sich auf eine Bank und beobachtet es aus einer Distanz. Das Kind kann sich frei bewegen, aber es sieht, dass er doch noch irgendwie da ist. Sollte also etwas passieren, hätte es die Möglichkeit, zum Vater laufen.

Dieses Bild bedeutet für mich, dass wir die Führung unserer Eltern bis zu einem gewissen Punkt brauchen. Sie haben mehr Erfahrung, oft mehr Überblick und wissen wirklich manches besser – auch wenn wir das als Teenager oft bezweifeln. Je näher wir dem Erwachsenesein kommen, desto mehr Freiheit wünschen wir uns. Wir zerren an der Hand, wollen allein laufen. Jetzt liegt es an unseren Eltern: Lassen sie uns freiwillig los und unterstützen uns bei unserem Erkundungsdrang? Oder halten sie uns weiter fest und riskieren damit, dass wir uns weiterhin an ihnen festklammern oder dass wir uns losreißen und wegrennen? Loslassen hat viel mit Vertrauen zu tun. Es ist es ein echter Vertrauensbeweis, wenn die Eltern ihre Kinder fliegen lassen. Wenn sie ihnen zutrauen, sich selbstständig im Leben zurechtzufinden und klarzukommen.

KEINE ROMANE ERWARTEN

Zum Schluss habe ich meine Freunde und Freundinnen gefragt, wie sich Eltern nach dem Auszug der Kinder verhalten sollten. Sara hat sich von ihren Eltern gewünscht, „mich zu unterstützen und die Trauer nicht so sehr zu zeigen und verständnisvoll zu sein.“ Jon ist es wichtig, dass seine Eltern ihn „auf Anfrage hin unterstützen, sonst mich meinen Aufgaben selbst überlassen.“ „Lauft mir nicht nach, sonst komme ich nicht wieder“, würde Eduard seinen Eltern raten. Und Melli meint, ihre Eltern sollten nicht enttäuscht sein, wenn sie ohne sie auskommt. „Erwartet keine Romane von meinem Leben“, formuliert Bennet, während Rebekka betont: „Bedrängt mich nicht, aber bietet Unterstützung an!“ Liebe Eltern, wir möchten einerseits unabhängig sein, aber andererseits mit dem Wissen in die Welt gehen, dass ihr für uns da seid, wenn wir euch von uns aus um Hilfe oder Unterstützung bitten. Lasst uns frei, aber seid erreichbar. Bevormundet uns nicht, aber gebt uns Rat, wenn wir ihn erbeten. Und vor allem, betet für uns um Segen, Bewahrung und Weisheit. Das ist nämlich das größte Geschenk, das ihr uns mit auf den Weg ins Erwachsenenleben geben könnt.

Borika Lea Luft (22) lebt in Pforzheim, studiert Soziale Arbeit und absolviert zurzeit ihr Praxissemester bei pro familia. In ihrer Freizeit engagiert sie sich in ihrer Gemeinde.

 

Borika Lea Luft hat für diesen Artikel einen Fragebogen entwickelt, um junge Erwachsene zum Thema Abnabelung und Loslassen zu befragen. Die Befragten haben ihn als sehr hilfreich empfunden. Deshalb haben wir ihn zum Herunterladen online gestellt.

Die Rollen nicht zementieren

Kinder werden stark dadurch geprägt, ob sie erstes, zweites oder drittes Kind sind. Wie Eltern verhindern können, dass sich diese Prägungen zu stark auswirken, erklärt Susanne Büscher.

In der Family 3/19 habe ich einen Artikel zum Thema Geschwisterkonstellation in der Partnerschaft geschrieben. Es ging darum, wie stark unser Verhalten davon geprägt ist, ob wir die Erstgeborenen sind, mittlere Kinder oder das „Nesthäkchen“. Dabei wurde herausgestellt, welche Stärken und Herausforderungen jede Position mit sich bringt und wie sich das auf eine Partnerschaft auswirkt. Angeregt durch einen Leserbrief greife ich in diesem Artikel das Thema noch einmal auf, diesmal jedoch von einem eher pädagogischen Blickwinkel. Dabei soll es um die Frage gehen, wie man in der Erziehung Einfluss nehmen kann, damit sich die typischen Eigenschaften und Muster der jeweiligen Geschwisterposition nicht zu stark einfahren. Schauen wir uns dazu die einzelnen Positionen noch einmal genauer an:

ERSTGEBORENE: SCHWÄCHE ZEIGEN

Älteste Kinder sind häufig perfektionistisch, es fällt ihnen schwer, Dinge aus der Hand zu geben. Ihnen sind Regeln und Vorschriften meist sehr wichtig. Sie müssen lernen, dass selbst der beste vorher zurechtgelegte Plan scheitern kann. Manches lässt sich nicht erzwingen. Seien Sie daher geduldig und nehmen Sie sich Zeit, die Fragen ihres Kindes von Anfang bis Ende genau durchzugehen. Sprechen Sie verschiedene Lösungswege für ein Problem durch. Überlegen Sie gemeinsam mit ihrem Kind, wie ein Plan B, C oder D aussehen könnte.

Für Erstgeborene ist es typisch, Dinge, die sie sich vorgenommen haben, unbedingt erreichen zu wollen. Erstgeborene fassen ihr Leben häufig als einen Kampf auf, in dem es ums Gewinnen geht. Zeigen Sie ihrem Kind daher, wann immer es Ihnen möglich ist, dass es nicht vollkommen sein muss, um Ihre Anerkennung und Liebe zu bekommen. Eltern können hier ein gutes Vorbild sein und sich menschlich zeigen, indem sie eigene Fehler und Schwächen zugeben und Ihrem Kind so vorleben, dass Fehler zum Leben dazugehören, dass auch ihnen nicht alles direkt gelingt und dass das kein Weltuntergang ist. Denken Sie daran, Sie sind das Vorbild für Ihr Kind. Es hat keinen Bruder oder keine Schwester, an dem es sich orientieren kann. Es schaut zu Ihnen auf.

Wenn Sie darauf achten, können Sie wirkungsvoll dazu beitragen, dass sich Ihr ältestes Kind etwas besser von Erwartungen und Ansprüchen anderer abgrenzen kann. Nehmen Sie sich Zeit, um als Eltern mit Ihrem ältesten Kind auch mal etwas allein zu machen. Erstgeborene brauchen das ungeteilte Zusammensein mit ihren Eltern. Achten Sie darauf, Ihrem älter werdenden Erstgeborenen nicht immer mehr Verantwortlichkeiten aufzuladen. Nehmen Sie ihm eher welche ab und übertragen sie den Jüngeren.

SANDWICHKINDER: BEWUSST WAHRNEHMEN

Mittlere Kinder fühlen sich häufig unter Druck. Sie können sich eingezwängt fühlen in ihrer Rolle. Es gibt nicht nur die Eltern, die Autorität ausstrahlen und Lebenserfahrung haben, sondern auch ein älteres Geschwisterkind. Und dann gibt es da noch das süße kleine Nesthäkchen. Das mittlere Kind ist also zu jung für Privilegien und zu alt für Streiche und Späße. Dieser Druck führt dazu, dass sich mittlere Kinder oft überflüssig und unpassend fühlen.

Bemühen Sie sich daher verstärkt darum, ihm ein Gefühl von Besonderheit zu vermitteln. Sorgen Sie dafür, dass es in Ihrem Fotoalbum auch Bilder von Ihrem mittleren Kind gibt. Machen Sie auch mal Aufnahmen, auf denen Ihr Kind ohne seine Geschwister zu sehen ist. Räumen Sie ihm ab und zu kleine Privilegien ein. Nehmen Sie zum Beispiel bei einer Erledigung einmal nur Ihr mittleres Kind mit und nutzen Sie die Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Hören Sie genau zu, wenn Ihr Kind Ihnen etwas erzählt und erklärt. Es hat häufig den Wunsch, Konflikte zu verdrängen und zu vermeiden, weil es kein Aufsehen erregen will. Fragen Sie Ihr mittleres Kind nach seiner Meinung. Binden Sie es in Entscheidungen mit ein. Bieten Sie ihrem Kind viele Gelegenheiten, seine Gefühle und Empfindungen mitzuteilen. Machen Sie ihrem Kind Mut, auch kontroverse und heikle Themen und Gedanken auszusprechen.

Belassen Sie es nicht mit einem „Wie geht es dir?“ zwischen Tür und Angel. Nehmen Sie sich Zeit. Fragen Sie nach und bleiben Sie dran. Verabreden Sie sich mit Ihrem mittleren Kind. Führen Sie Gespräche unter vier Augen. Für mittlere Kinder sind Freundschaften ganz besonders wichtig. Da es sein kann, dass es sich zu Hause überflüssig vorkommt, nehmen Freunde einen großen Stellenwert ein. Fördern und unterstützen Sie diese Freundschaften, laden Sie seine Freunde zu sich nach Hause ein. Auch das ist eine gute Möglichkeit, Ihrem mittleren Kind zu zeigen, dass es in Ihrer Familie willkommen ist und dazugehört.

NESTHÄKCHEN: SELBSTSTÄNDIGKEIT FÖRDERN

Jüngste Kinder erleben oft Eltern, die nachgiebiger sind als bei ihren älteren Geschwistern. Sie drücken eher mal ein Auge zu als bei den Großen. Eltern haben den Wunsch, bei ihrem Nesthäkchen den Lebensweg ganz besonders zu ebnen, schließlich ist es ja „das Kleine“. Das führt schnell dazu, dass Eltern ihrem jüngsten Kind Dinge abnehmen und Aufgaben für ihr Kind übernehmen, die es schon selber könnte. Die Annahme, ihrem Kind damit zu helfen, ist jedoch ein Trugschluss. So kann schnell der Eindruck entstehen: „Die Welt dreht sich nur um mich.“

Besonders letztgeborene Kinder müssen lernen, eigenständig und selbstständig zu werden und sich nicht nur auf Eltern oder ältere Geschwister zu verlassen. Machen Sie es Ihrem Kind daher nicht zu leicht. Übertragen Sie ihm Verantwortung für das, was es bereits selbst schaffen kann. Sorgen Sie dafür, dass es kleine Pflichten im Haushalt übernimmt und nicht andere für sich arbeiten lässt, weil es ja noch so klein und „hilflos“ ist. Achten Sie darauf, dass auch Ihr jüngstes Kind sich an Familienregeln hält.

Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass ihr Kind nicht zwischen den „Großen“ untergeht. Jüngste Kinder können manchmal den Eindruck haben: „Ich bin gar nicht wichtig“. Alles, was Ihr jüngstes Kind tut, haben die anderen schon vorher geschafft. Entwicklungsschritte werden eher am Rande zur Kenntnis genommen und nicht mehr so stark gefeiert. Stellen Sie die Leistungen Ihres jüngsten Kindes daher immer mal wieder heraus. Hängen Sie die „Kunstwerke“ Ihres Kindes sichtbar für alle auf, sodass es gleichberechtigt mit den großen Geschwistern vertreten ist.

JEDES KIND IM BLICK HABEN

Grundsätzlich ist es also wichtig, aufmerksam zu sein, jedes einzelne Kind gut im Blick zu haben und immer wieder das eigene Erziehungsverhalten zu reflektieren. Das Wissen um die Geschwisterkonstellation kann hierbei eine gute Hilfe sein. Jedoch ist dies nur ein Puzzleteil vom Gesamtbild eines Menschen. Genauso spielt natürlich das Erziehungsverhalten der Eltern, die Art und Weise, wie jede Familie ihren Familienalltag lebt und die ganz individuelle Persönlichkeit jedes Kindes eine Rolle. Jedes Kind ist anders und einzigartig. Jedes Kind ist ein Geschenk, das Gott uns anvertraut hat. Wie gut, dass wir in allem Bemühen darum, unsere Kinder gut ins Leben zu begleiten, darauf vertrauen können, dass Gott seine Hand über uns hält.

Susanne Büscher arbeitet in ihrer Praxis für Lebensberatung, Paarberatung und Coaching im oberbergischen Waldbröl (www.susanne-buescher.com).

Allein nach Berlin?

„Meine 15-jährige Tochter will mit ihrer gleichaltrigen Freundin für ein Wochenende nach Berlin fahren. Sollen wir das erlauben?“

Der Wunsch Ihrer Tochter, allein eine interessante Großstadt zu erkunden, ist absolut nachvollziehbar. Jugendliche wollen unabhängiger werden und die Welt erkunden, was wünschenswert und in Ordnung ist. Gleichzeitig lösen solche Wünsche bei Eltern Ängste und Sorgen aus. Auf einmal wollen die Kinder eine Freiheit erleben, die auch manche Gefahren mit sich bringt. Deswegen sind Ihre Zweifel durchaus berechtigt. Nun gilt es, abzuwägen und altersangemessen auf das Bedürfnis Ihrer Tochter einzugehen.

VERANTWORTUNGSVOLL GENUG?

Ob Sie diese Aktion erlauben sollten, ist allerdings gar nicht so pauschal zu beantworten, sondern hängt von verschiedenen Bedingungen ab. Grundsätzlich können Jugendliche mit Bus, Bahn oder Flugzeug ohne eine erwachsene Begleitperson verreisen. Übernachten die beiden Mädchen bei Freunden oder Familie, ist eine Reise sicherlich unbedenklich, da die Aufsichtspflicht gewährt ist. Etwas komplizierter wird es, wenn sie ohne erwachsene Begleitung in einer Jugendherberge oder einer Ferienwohnung übernachten möchten. Rechtlich ist das für Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr möglich, wenn sie die Zustimmung der Eltern haben.

Offen bleibt die Frage, wie verantwortungsvoll und selbstständig die beiden 15-Jährigen sind und wie sie die Zeit in Berlin gestalten wollen. Bedenken sollten Sie, dass Jugendliche unter 16 Jahren Kinos allein nur bis 22 Uhr und Discos nur mit Sorgeberechtigten besuchen dürfen. Der rechtliche Rahmen ist für öffentliche Veranstaltungen also klar vorgegeben, alles andere liegt im Ermessen der Eltern.

Wie handhaben Sie das Thema „Ausgehzeiten“ grundsätzlich in Ihrem Alltag? Können Sie sich darauf verlassen, dass Ihre Tochter zu abgesprochenen Zeiten zu Hause ist? Werden sich die beiden Mädchen an sicheren Orten aufhalten, wenn sie in der interessanten Stadt Berlin unterwegs sind? Ist das ihre erste Großstadterfahrung? Kann Ihre Tochter gut mit Freiheit umgehen oder überspannt sie gern den Bogen? Wie schätzen Sie diesbezüglich ihre Freundin ein?

ENTSCHEIDUNG ERKLÄREN

Sie merken, ich kann Ihre Frage nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Meine Tendenz ist, eine solche Aktion auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Im Alter von 15 Jahren können die meisten Jugendlichen solche Situationen noch nicht umfassend einschätzen. Wenn Sie es nicht erlauben, sollten sie aber unbedingt erklären, warum Sie so entschieden haben und dass es Ihnen nicht darum geht, den beiden den Spaß zu verderben, sondern um ihre Sicherheit. In zwei Jahren kann ein solches Wochenende vielleicht schon umsetzbar sein. Sicher wird die Enttäuschung erst einmal groß sein, aber wenn Eltern gute Begründungen liefern und klar bleiben, respektieren Jugendliche solche Entscheidungen auch. Noch besser wäre es natürlich, wenn es Kompromisse geben könnte: zum Beispiel eine Tagestour nach Berlin oder das Wochenende mit Papa oder Mama im Hintergrund. Im gemeinsamen Gespräch können Sie bestimmt gute Lösungen finden.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F. www.sonja-brocksieper.de Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Machtkämpfe mit dem Sohn

„Mein Sohn (7) und ich rasseln in Alltagssituationen immer wieder so heftig aneinander, dass sofort Streit und eine übermäßig aggressive Reaktion meines Sohnes folgen. Was kann ich tun, um Stellung zu beziehen, ohne in einen Machtkampf zu schlittern?“

Ich finde es prima, dass Sie aus dieser Streitspirale herauswollen und sich fragen, was Sie tun können. Dadurch zeigen Sie sich in Ihrer Rolle als Eltern handlungsfähig.

KURZE VERSCHNAUFPAUSE

Reagieren Sie ruhig, besonnen und klar. Bleiben Sie sich Ihrer Rolle als Mutter oder Vater bewusst. Suchen Sie erst nach einer kurzen Verschnaufpause das Gespräch mit Ihrem Sohn über seine Reaktion auf die erlebte Situation. Das ist effektiver als eine Klärung während des Streites. Erklären Sie Ihrem Kind, wo Ihre Grenzen sind und was es tun kann, um besser zu reagieren. Fragen Sie ihn auch, was ihn so aufgeregt hat, und nach hilfreichen Ideen für die nächste Situation.

Es könnte auch hilfreich sein, die Situation mit Abstand zu betrachten und sich zu fragen: Wie würde ich in Ruhe und Gelassenheit reagieren? Auf welche Lösungsideen würde ich kommen? Spannend könnte auch sein, ein Verhaltenstagebuch zu führen. Notieren Sie für einige Zeit nach den Konfliktsituationen: Wann traten sie auf und wie liefen sie ab? Was war vorher? Gibt es ein sich wiederholendes Muster? Was könnte das Ursprungsproblem sein? Wie habe ich reagiert? Mit Hilfe dieser Beobachtung sind häufig konstruktive Lösungen des Problems in Sichtweite.

FREIRAUM ZUGESTEHEN

Kinder müssen im Laufe ihrer Entwicklung folgende Grundfertigkeiten erlernen, die sie auf ein eigenständiges Leben vorbereiten:

– Miteinander reden: So lernen Kinder, eigene Bedürfnisse, Meinungen oder Ideen mit Sprache und Gestik zum Ausdruck zu bringen. Ebenso lernen sie, auf Anweisungen von Erwachsenen zu hören und diese zu befolgen. Hierzu gehört auch, dass sie erlernen, durch ihr Handeln Situationen zu beeinflussen und somit Selbstwirksamkeit zu erfahren.

– Selbstständigkeit erwerben: Mit zunehmendem Alter wollen Kinder ihren Lebensraum erweitern, selbstständiger und unabhängiger von den Eltern werden. Es fordert uns heraus, unseren Kindern den Freiraum zur Eigenständigkeit auch in wachsendem Maße zuzugestehen.

– Aufgaben und Probleme selbst lösen: Kinder brauchen den Freiraum, Fragen zu stellen, eigene Ideen und Lösungen zu entwickeln und diese auch auszuprobieren. Auch wenn wir Eltern manches für unmöglich halten, ist es dennoch wichtig, auch die Teillösungen zu feiern oder Scheitern zu akzeptieren.

– Den Umgang mit Gefühlen lernen: Eigene Gefühle wahrzunehmen und sie angemessen zum Ausdruck zu bringen, ist für Kinder nicht immer leicht – insbesondere, wenn die Gefühle intensiv erlebt werden. Diese Lernfelder fordern uns Eltern manchmal ganz schön heraus. Auftretende Schwierigkeiten mit dieser Brille zu sehen, kann uns aber dabei helfen, die Frustration unserer Kinder zu verstehen und sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Unsere Kinder brauchen Zeit und Raum, um sich zu entwickeln.

Sandra Schreiber ist Beraterin und Systemischer Elterncoach im „LebensRaum Gießen“.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com