Unterschiedliche Wünsche beim Sex? So finden Sie eine gemeinsame Lösung!
Unser ganzes Leben prägt, was für Vorstellungen wir von Sex haben. Aber: Wir müssen nicht so bleiben, wie wir sind, sagt Sexualberaterin Dr. Ute Buth.
Tom und Lena (Namen verändert und Fall verfremdet) sind noch nicht so lange verheiratet. Für Tom ist es die zweite Ehe. Seine erste Frau ist vor wenigen Jahren gestorben. Seit der Hochzeit kreisen beide um die Frage: Wie leben wir unsere Sexualität so, dass sie für beide zufriedenstellend ist? Tom hat Sex in seiner ersten Ehe als besonders erfüllend erlebt, wenn sie dabei eine bestimmte Position einnahmen. Lena jedoch mag diese überhaupt nicht.
Anfangs traute sie sich kaum, dies zu sagen, schließlich war er doch der Erfahrenere von beiden. Auch wollte sie den Beginn ihrer gemeinsamen Sexualität nicht verkomplizieren und gleich zu Anfang rummeckern. Sie hoffte, dass sich dies mit der Zeit geben würde, spätestens wenn sie ihre Sexualität miteinander erst einmal richtig entdeckt hatten. Nach und nach jedoch wurde ihr klar, dass Tom jedes Mal darauf hinwirkte, dass er in genau jener Position zum Höhepunkt kam. Schließlich kommen sie in die Beratung: Über die sexuellen Begegnungen berichten sie von häufigen „Abstürzen“ und regelrechtem Streit. Lena fühlt sich für seinen Höhepunkt benutzt und dadurch fremdgesteuert.
Was ist die sexuelle Lerngeschichte?
Die Entstehung der sexuellen Lerngeschichte lässt sich am Beispiel einer zunächst leeren Computerfestplatte verdeutlichen. Jeder Mensch hat sie zu Beginn des Lebens mitbekommen. Tom und Lena mögen ein besonders anschaulicher Fall sein, aber man muss nicht zum zweiten Mal verheiratet sein oder Erfahrungen mit vorherigen Partnern gemacht haben, um auf die Platte zu schreiben. Jeder Mensch hat seine ganz einzigartige und persönliche sexuelle Lerngeschichte. Sie beginnt bereits, wenn wir als Babys im Mutterleib heranwachsen und setzt sich über die Kindheit und Teenager-Zeit bis ins Erwachsenenalter fort. Sie endet erst mit unserem Tod, auch wenn die aktive Sexualität für manche Menschen eventuell schon früher keine Rolle mehr spielt. Und sie besteht auch bei Menschen, die Sex gar nicht aktiv ausleben.
Sexualität ist eine besonders intensive Form der Kommunikation, die nonverbal und verbal stattfinden kann. Und die größtmögliche Nähe, die man zu einer anderen Person haben kann. Lebenslang wirken sich unzählige Faktoren auf die sexuelle Lerngeschichte aus. Alles, was nur im Entferntesten mit Sexualität oder auch Beziehungen zu tun hat, speichern wir ab und setzen es in Relation zu Vor- und Folgeerfahrungen. Wir bilden uns unsere Meinung. Wir weben gleichsam lebenslang einen hochkomplizierten individuellen Orientteppich rund um dieses Thema. Bereits im Mutterleib nehmen wir Mutter, Vater, andere Menschen und auch deren Beziehung zueinander wahr.
Als Kleinkind lernen wir, in Beziehung zu anderen Menschen zu stehen. Wir entdecken unsere Geschlechtlichkeit und die anderer Menschen. Wir erleben, wie offen oder verschlossen das Gespräch über Sexualität geführt wird. In Menschen, die uns begegnen, haben wir unfreiwillige und unbewusste Lernobjekte und Lebensmodelle. Wie wir uns im Laufe unseres Lebens positionieren, ist komplex und höchst individuell.
Mentale Festplatte lässt sich nicht löschen
Selbstverständlich gehört die Sexualaufklärung mit in dieses Webmuster unseres ureigensten Teppichs. Sogar dann, wenn sie scheinbar nicht stattgefunden hat. Denn auch das konsequente Schweigen zum Thema Sexualität spricht Kindern gegenüber eine laute und deutliche Sprache: „Darüber spricht man nicht!“ Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der Werbung und anderer visueller Reize wie Fotos und Filme.
Im Laufe der eigenen Entwicklung wird die Festplatte mit Wissenswertem, Erfahrungen und Entscheidungen beschrieben. Oder anders gesagt: Unser Gehirn speichert all dies ab und verwebt es in unzähligen neuronalen Verschaltungen. In der IT ist es gar nicht so einfach, gespeicherte Daten komplett zu löschen oder zu überschreiben. Das Formatieren der Festplatte reicht nicht. Häufig können Fachleute selbst nach einem unvorhergesehenen Crash vieles wiederherstellen. Ungleich komplexer verhält es sich mit unserer mentalen „Festplatte“. Wir können ja keine Bereiche dieses internen Speichers markieren und aus unserem Blickfeld verbannen oder gar löschen, zum Beispiel, wenn sie nicht mehr zu den eigenen Wertvorstellungen passen. Wir können nur umlernen, neue Erfahrungen abspeichern oder im Bild des Webteppichs neue Fäden einweben. Auch deshalb ist es unerlässlich, die eigene sexuelle Lerngeschichte verantwortungsvoll zu gestalten.
Neue Lerngeschichte schreiben
Tom ist frustriert. Er hat zunehmend den Eindruck, dass Lena nicht auf seine Wünsche eingehen möchte. Inzwischen funktioniert es anders aber gar nicht mehr. Besonders ist die Situation des Witwers: Für Tom ist es wichtig, die Trauer über den Tod seiner Frau und die damit erloschene Sexualität zu verarbeiten.
Doch Tom und Lena müssen nicht bei alten Erfahrungen stehen bleiben. Sie haben die Chance, eine neue gemeinsame Lerngeschichte zu schreiben. Die partnerschaftliche Sexualität trägt das Potenzial in sich, dass sie im Laufe der Zeit erfüllender wird. Doch nur wenn es beiden ein Anliegen ist und sie bereit sind, auf ihr Gegenüber einzugehen.
Wenn verlassene Trassen zuwachsen
Sobald Frauen und Männer die Grundprinzipien der sexuellen Lerngeschichte verstanden haben, können sich Türen in neue Lebens- und Lernbereiche hinein öffnen. Das Paar ist dem Erlebten nicht mehr hilflos ausgeliefert. Dabei ist es ratsam, nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen. Auf Basis dieser Erkenntnisse können die Partner schauen, welches Verhalten sie langsam und schrittweise neu prägen möchten.
Vielleicht könnte Lena dann feststellen, dass sie es gerne hat, wenn sie an bestimmten Stellen sanft von Tom berührt wird. Vielleicht würde dann Tom spüren, dass es ihn selbst erregt, wenn er merkt, dass Lena Gefallen an seinen Berührungen findet. Wenn Tom nicht darauf fixiert bleibt, auf eine bestimmte Weise Sex zu erleben, dann können Bereiche, die nicht mehr bedient werden, im Laufe der Zeit gleich einer verlassenen Bahntrasse mitunter zuwachsen. Die Prägung an sich aber bleibt im Gehirn angelegt. Wichtig ist, nicht frustriert aufzustecken, falls sich manche Prägungen als stark oder unveränderbar herausstellen. Stattdessen gilt es, den eigenen Handlungsspielraum wahrzunehmen und in dem Bereich gestalterisch voran zu gehen, wo eine Entwicklung möglich ist.
Neue Strecken anlegen
Vielleicht gibt es in einer bestimmten Lebensphase gute Gründe, nicht mehr so viel Zeit aufs Vorspiel zu verwenden, weil jederzeit ein Kind um die Ecke biegen könnte. Die vormals gebahnte Trasse beginnt schmaler zu werden. Irgendwann besteht die Gefahr aber nicht mehr, doch wenn das Paar die neuen Freiräume nicht auszuloten beginnt, wird es noch auf der eingefahrenen bisherigen Trasse unterwegs sein.
Neue Strecken wollen und können angelegt werden. Das gilt für Paare, die noch wenig Erfahrungen miteinander gemacht haben, aber genauso auch für Paare, die schon lange miteinander unterwegs sind. Tom lernt in der Beratung, seine Trauergefühle zu verarbeiten. Für Lena ist es hilfreich, die vorhandenen Muster zu durchschauen. Beide sammeln jetzt neue Erfahrungen miteinander. Tom erfährt, dass auch andere Berührungen lustvolle Gefühle in ihm hervorrufen. Lena lernt, dass sie nicht für Toms Gefühle verantwortlich ist. Sie darf sich an ihren eigenen lustvollen Gefühlen freuen und diese erstmals bewusst beachten und ausloten. Tom wiederum lernt, sich ein wenig zurückzunehmen und sich an Lenas neuen Impulsen zu erfreuen, die auch für ihn frischen Wind in die gemeinsame Intimität bringen.
Lena muss sich nicht länger anstrengen, um Tom aus der Reserve zu locken und sie muss keine Angst mehr haben, dass ihre Grenzen überschritten werden. Sie sind auf einem guten Weg, ihre gemeinsame sexuelle Lerngeschichte positiv weiterzuschreiben.
Keine Scheu vor Hilfe!
In dem Verstehen der eigenen geprägten Geschichte, können wir ab heute neue Weichen stellen, hin zu einer sinnerfüllten Sexualität. Es sollte uns nicht belasten oder beschämen, wenn wir Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter aufsuchen, die uns in diesem Prozess helfen. Große Schiffe brauchen auch mitunter einen Lotsen. Wer sein Ziel nicht kennt, erreicht es nicht. Wer sein Ziel kennt, es aber nicht erreicht, steht letztlich vor dem gleichen Ergebnis.
Daher sollten wir die Scheu ablegen und uns aufmachen, das gute Land einzunehmen, das uns mit der Sexualität gegeben ist.
5 Fragen für Paare, die ihre Sexualität weiterentwickeln möchten:
- Sprechen Sie über eure individuellen Lerngeschichten. Wie wurde über Sex in Ihrer jeweiligen Herkunftsfamilie (nicht) gesprochen? Welche Schlüsse haben Sie als Kind und Jugendliche daraus gezogen?
- An welches Mal miteinander können Sie sich noch besonders gut erinnern? Warum ist Ihnen gerade dieses Mal in Erinnerung geblieben?
- Was empfinden Sie nach wie vor als besonders schön? Wo würden Sie sich gerne von Gewohntem trennen oder entfernen?
- Was würden Sie gerne (erneut) ausprobieren? Wo könnten Sie neue Bahntrassen anlegen, wo alte reaktivieren?
- Gibt es negative oder schwierige sexuelle Erfahrungen aus der Vergangenheit, die Ihre Partnerschaft belasten? Bleiben Sie nicht allein damit, sondern suchen Sie sich qualifizierte Hilfe.
Dr. med. Ute Buth ist Fachärztin für Frauenheilkunde, zertifizierte Sexualberaterin und Weißes Kreuz Fachberaterin. Die Buchautorin u. a. von „Frau sein – Sexualität mit Leib und Seele“ leitet die Beratungsstelle „herzenskunst“ in Bochum.