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Ein Paar, zwei Perspektiven: Trocken werden

KNÖDEL IN DER BADEHOSE

Katharina Hullen versucht, mit dem Töpfchen kleinere und größere Katastrophen zu verhindern.

Katharina: An einem heißen Sommertag waren unser Jüngster und ich eingeladen. Wir wollten im Garten meiner Freundin die Kinder im Pool ein wenig planschen lassen. Jonathan und seine beiden Kindergartenfreunde. Es hätte so nett sein können – drei kaffeeschlürfende Mamas und drei quietschvergnügte Dreijährige – aber es wurde ein wahres „Aa-geddon“!

Es war alles vorbereitet. Das Töpfchen gleich neben dem Pool positioniert, Feuchttücher am Start, die wuselnden Kinder fest im Blick. Doch dann kam alles anders!

Als Erstes flitzte Jonathans Freund mit einer geysirartig ausstoßenden Schwimmwindel über die Wiese. Während zwei Mütter ihre Kinder mühsam auf einem nicht kontaminierten Fleck gefangen nehmen konnten, kärcherte die dritte kurzerhand Kind, Terrasse und betroffene Wiese ab. Wie schön es ist, wenn Freundinnen gemeinsam durch „dick und dünn“ gehen! Gerade hingesetzt kam mein Sohn breitbeinig zu mir, Teile eines breiigen Knödels ebenfalls bereits in der Badehose. Schnell aufs Töpfchen! Zum Glück konnte ich diese Bescherung einigermaßen lokal beseitigen. Noch während ich den Topf im Bad reinigte, hatte draußen mein gerade frisch behostes Kind den nächsten Klops ins Nest gesetzt. Das wiederum konnte ihm ja nun niemand vorwerfen – war ich doch schließlich mit dem benötigten Töpfchen im Haus unterwegs!

Mit desinfizierten Händen setzte ich mich seufzend zu meinen Freundinnen und dem inzwischen kalten Kaffee. Die drei Kleinen saßen spielend um eine Duplokiste und den Topf herum. Im Wechsel wurde er mit Pipi und Poolwasser gefüllt, als plötzlich Jonathan mit aufgerissenen Augen „Aa kommt!“ rief. Und tatsächlich – ein dritter großer Brummer schaffte es klar und eindeutig ins ersehnte Töpfchenziel! Naja, immerhin! Wir Hullens packten unsere Sachen, und auf dem Weg zur Haustür ertönte hinter uns ein Chor von „Och nööö!“-Rufen. Jonis Freund hatte noch mal einen Haufen vor die Rutsche gesetzt.

Für manche Phasen des Elternseins stimmt der Bibelvers aus Prediger 4 „Zwei sind besser dran als einer“ ganz besonders! Zum Beispiel bei Magen-Darm-Erkrankungen in der Familie! Oder wenn deine drei langhaarigen Töchter Läuse haben. Oder eben, wenn Kinder trocken werden. Wohl dem, der auf vier zupackende Hände bauen kann. Denn in unserem Fall war es niemals nur ein Kind allein, die Mädchen haben sich damals zu dritt ans Trockenwerden gemacht. Überall in der Wohnung und im Garten hatten wir Töpfchenfallen aufgestellt, was leider gar nicht verhindert hat, dass sich Pipi-Seen und kleine Aa-Häufchen wie eine Perlenkette durch unser Haus zogen. Nun, in diesem Sommer stehen beide Jungs als Unterhosenprojekt auf unserer Agenda. Denn Hauke und ich haben beide buchstäblich die Nase voll vom Wickeln!

Also müssen wir wohl da durch – ein nicht so blumiges Bild, wie ich finde.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

SPUREN AUF DEM WEG ZUM BAD

Hauke Hullen kämpft gegen Schlammlawinen und desinfiziert Kind und Wohnung.

Hauke: Wir machten in diesem Sommer eine schwierige Zeit der Transformation durch. Das Ziel: Unsere beiden Jüngsten sollten windelfrei werden. Jonathan (3) meistert die Herausforderung bereits ganz gut (siehe Text links), aber bei Konstantin (5) ist die Sache ein buchstäblich etwas größeres Problem.

Dazu muss man wissen: Konstantin ist Autist und motorisch wie geistig ungefähr auf dem Stand eines Zweijährigen. Statur und Verdauung sind jedoch sehr gut entwickelt, sodass schon seit einem Jahr keine normalen Windeln mehr passen. Auch die Spezialwindeln können die Grenzen der Physik nicht dauerhaft überlisten, und wenn Sie, werter Leser, gerade genussvoll frühstücken, sollten Sie erst später hier weiterlesen.

Denn auch Konstantin isst genussvoll und viel, sein ständig unter Anspannung stehender Körper braucht reichlich Treibstoff. Entsprechend sind die Resultate. Und da er es offenbar nicht unangenehm findet, längere Zeit in seinem privaten Moorbad zu verbringen und dabei zu rutschen, zu schaukeln oder auf dem Trampolin zu hüpfen, kommt es an jedem Tag irgendwann zu einer Kackastrophe.

Dann wünsche ich mir zusätzliche Hände, mit denen ich auf der inzwischen zu kleinen Wickelkommode sowohl die Füße meines Sohnes stützen, dabei die überquellende Windel vorsichtig öffnen, mit Tüchern die Schlammlawinen aufhalten und die Wickelunterlage retten kann. Na gut, vergessen wir die Unterlage, aber es wäre schön, wenn wenigstens der Boden sauber bliebe! Sobald das Gröbste beseitigt ist, trage ich ihn in die Dusche, brause ihn ab, ziehe ihn frisch an und beginne dann, die Kleidung mit unserer legendären „Kackbürste“ auszuwaschen.

So ist Konstantin merkwürdigerweise auch das sauberste Kind im Viertel: Jeden Tag 1-2 Duschen, jeden Tag mehrere Klamottenwechsel. Doch das wollten wir in diesem Sommer ändern! Nach zwei Wochen klappt es … so mittel. Stündlich erinnern wir ihn: „Konstantin, du hast eine Unterhose an! Wenn was kommt, renn zum Klo!“ Anfangs klappt nur der 1. Teil: Es kommt was. Ich überlege, im Garten einen Spender für Hundekotbeutel aufzustellen. Nach ein paar Tagen klappt auch der 2. Teil, und wir merken, dass Konstantin nun auch zur Toilette rennt. Woran? Ganz einfach: An den nassen Fußabdrücken, die von den Tropfen in der Garderobe über die große Pfütze im Flur bis zur Lache ins Bad führen. Dort sitzt er dann und verkündet wahrheitsgemäß: „Kommt nichts mehr!“

Neben der Kackbürste schwinge ich jetzt auch den Wischmopp regelmäßig, und so ist nun auch unsere Wohnung merkwürdigerweise die sauberste im Viertel.

Immer wieder setzen wir Konstantin aufs Klo. Doch das große Geschäft will sich nicht einstellen, manchmal kommt es zwei Minuten später, dann ist er aber schon wieder auf dem Trampolin. Wir lesen schlaue Tipps, sprechen mit Erziehern, wir loben, motivieren und verstärken, wenig später zetern, jammern und schimpfen wir auch – fürs Erste, schätze ich, bleibt unser wichtigstes Instrument bei der Sauberkeitserziehung die Kackbürste.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Mut zum Mittelmaß

„Jeder Mensch ist etwas Besonderes“ – diese Botschaft, die wir oft an unsere Kinder vermitteln, kann motivieren. Aber sie kann auch gewaltig nach hinten losgehen. Von Jennifer Zimmermann

Mein Sohn zählt Klavier. Er hat damit kurz nach Beginn des ersten Schuljahres angefangen, als die obligatorischen Einladungen für die Probestunden der Musikschule in der Ranzenpost lagen. Ich würde nie wagen zu schreiben, dass er Klavier lernt. Oder gar spielt. Es wäre einfach nicht wahr. Alle zwei Tage begibt er sich planmäßig an sein Instrument. Dann wanken diese tastenden, manchmal qualvoll schleichenden Töne von „Summ, summ, summ“ durch die Wohnung, die auch ich schon vor 25 Jahren auf meiner Kindergitarre fabriziert habe. Und dazwischen kann man ihn flüstern hören. 1, 2. 1, 2, 3.

Musizieren nach Zahlen

Mein Sohn liebt Musik, denn Musik hat Regeln. Man kann Pausen abzählen und wichtige Worte auswendig lernen. Es gibt einen Takt und einen Notenschlüssel und wirklich viele Zahlen. Man könnte sagen, es ist genau sein Ding. Mein Sohn ist nur wirklich kein leidenschaftlicher Musiker. Es ist ihm relativ egal, wie das Instrument klingt, das er spielt. Wie der Text des Liedes ist. Ob es irgendeine Stimmung mit sich trägt. Irgendein Temperament. Egal. Mein Sohn zählt.

Keine Musik im Blut

So hatte ich mir das mit dem ersten Instrument nicht vorgestellt. Ich persönlich arbeite mehr „nach Gefühl“. Das gilt für alle Lebensbereiche. Als also der obligatorische Zettel mit den Probestunden in der Ranzenpost lag, da dachte ich an leuchtende Musiklehreraugen, an Worte wie „Naturtalent“ und „Überflieger“, an Talentwettbewerbe. Jetzt sitze ich hier im Wohnzimmer, höre „Summ, summ, summ“ im Schneckentempo und fühle mich, als wäre ich im Sport als Letzte in die Völkerballmannschaft gewählt worden. Warum? Weil mein Sohn zwar ein begeisterter Mathe-, aber ein ziemlich durchschnittlicher Musikschüler ist.

Irgendwann zwischen dem letzten Weltkrieg und dem ersten Social-Media-Account sind wir westlichen Gesellschaften auf die Idee gekommen, dass Selbstbewusstsein eine wirklich wichtige Sache für unsere persönliche Entwicklung sein muss. Für unseren Erfolg. Unsere Leistungsfähigkeit. Wir haben uns auferlegt zu denken, dass jeder von uns etwas ganz Besonderes ist. In vielfacher Hinsicht.

Sehnen nach dem „Ah“ und „Oh“ der anderen

Wir wachsen mit der Vorstellung auf, dass sich tief in unserem Inneren ein ganz eigenes Leuchten verbirgt wie die Perle in der Auster. Es braucht vielleicht nur die richtigen Umstände, den richtigen Anreiz, um die Auster zu knacken und dieses Leuchten an die Oberfläche zu bringen, damit es über die ganze Welt strahlt. Wir lechzen nach dem „Ah“ und „Oh“ der anderen, die unser Leuchten in ihren Augen widerspiegeln. Wir sagen es uns selbst, wir sagen es jedem Menschen, der es gerade vergessen hat. Sogar unseren Kindern.

Für jeden Menschen gibt es den richtigen Beruf, in dem seine besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen. Jeder Mensch ist zu Großem berufen. Vielleicht sogar von Gott. Jedes Kind hat ein Talent. Es gibt das richtige Instrument für jeden Erstklässler. All die zu oft gehörten Motivationssätze, sie fangen an, mich gewaltig zu nerven. Denn sie behalten ihre motivierende Wirkung nur so lange, bis wir uns an ihrer Grenze gewaltig die Zehen stoßen. Der Autor und Coach Mark Manson schreibt es laut und geradeheraus: „Die Botschaft schmeckt super, wenn man sie runterschluckt, aber im Grunde sind es leere Kalorien, von denen man nur emotional fett und aufgeblasen wird, der sprichwörtliche BigMac für dein Herz und Hirn.“

Keine Wettkampfbilder

Ich habe meine Gitarre an den Nagel gehängt, als ich feststellte, dass ich zwar viel Rhythmus im Blut, aber wenig Lust zum Üben hatte. Und keinerlei Sinn für Musiktheorie. Ich habe Sozialarbeit studiert, nicht weil meine Fähigkeiten in einer helfenden Tätigkeit am besten zur Geltung kommen, sondern weil ich, um ehrlich zu sein, ein kleines Helfersyndrom in meiner Handtasche versteckt halte. Meine Facebook-Chronik ist ziemlich langweilig. Ich bin in der Elternzeit nicht um die Welt gereist. Es gibt keine Bilder von mir und meinen Kindern im Partnerlook. Keine Wettkampfbilder von meinem so sportlichen Nachwuchs. Keine extrem emotionalen Bekundungen meiner Liebe zu meinem Mann.

Nichts Besonderes

Mein Leben ist ziemlich durchschnittlich. Das meiner Kinder auch. Sie jetten nicht von einem Termin zum nächsten. Sie räumen keine Preise ab. Können sie auch gar nicht, weil sie nämlich ständig krank sind. Irgendwann auf meiner Reise durch das Leben habe ich festgestellt, dass die allermeisten Menschen auf dieser Welt keine Naturtalente sind. Dass die allermeisten Menschen auf der Welt in einem Moment großartig sind und im nächsten wirklich furchtbar. Dass sie glänzen und im Dreck liegen. Dass sie, kurz gesagt, wirklich nichts Besonderes sind. Und dass ich dazugehöre.

Vom Versagen zur Erleichterung

Aber jedes Mal, wenn ich es wage, so ehrlich zu mir zu sein, dann fühlt sich das an wie Sterben. Wie, wenn ich jemandem meine schlaflose Nacht mit dem rotznasigen Kind haarklein darlege, demonstrativ Kaffeedampf inhaliere und lediglich ein „Normal“ zu hören bekomme. Wie, wenn ich auf einer Party den Witz meines Lebens reiße und keiner lacht, manche nur verlegen auf ihre Schuhe gucken. Sich einzugestehen, dass man überwiegend so normal ist wie die allermeisten Menschen auf diesem Planeten, sich seine eigene Großartigkeit abzuerkennen, ist schmerzhaft. Peinlich. Kränkend. Und befreiend. Weil endlich pfeifend die Luft aus dem Ego entweicht, die mir die ganze Zeit aufs Herz gedrückt hat. Es fühlt sich kurz an wie Versagen. Und dann muss man schrecklich über sich selbst lachen.

Geduld statt geniale Pläne

Ich wünsche mir für meine Kinder nicht, dass sie möglichst viel und möglichst großartige Leistung erbringen. Dass sie ihre Berufung finden, auf den Bühnen dieser Welt stehen und dabei ihren unverwechselbaren Stil präsentieren. Was ich mir wirklich wünsche, ist, dass meine Kinder Menschen werden, die sich selbst vergessen können. Dass sie aufgehen können in einer Tätigkeit. Dass sie Zeit haben, unverplante Zeit, in der ihnen etwas wichtig werden kann und seien es Zahlen – auch wenn ich das am wenigsten verstehen kann. Ich wünsche ihnen, dass sie Geduld lernen. Ich wünsche ihnen, dass sie sich unterbrechen lassen in ihren vermeintlich genialen Plänen. Dass sie von ihrer eigenen Großartigkeit absehen, um einem anderen Menschen Platz zu machen, um jemanden ausreden zu lassen, jemanden zu halten, der weint.

Eine Revolution des Weniger

Ich wünsche mir eine Revolution des Weniger. Eine Revolution der Ruhe gegen den Zeitgeist, der mit seinen ständigen Erinnerungen und bimmelnden ach-so-wichtigen Nachrichten an meinem Hosenbein zuppelt und mich und meine Familie zur Hektik ruft. Der uns heiser ins Ohr wispert, dass wir irgendetwas verpassen, irgendetwas falsch machen, irgendeine Chance ungenutzt lassen und versagen, weil wir nur mittelmäßig sind. Dass wir uns einfach noch nicht genug angestrengt haben, unser inneres Leuchten zu finden und die Anerkennung zu kassieren, die uns zusteht.

Es braucht Menschen, die leidenschaftlich lieben

Die Welt braucht nicht unbedingt noch mehr leidenschaftliche Klavierspieler. Aber sie braucht unbedingt noch mehr Menschen, die leidenschaftlich lieben. Mitten im „Normal“ des Alltags. Menschen, die in die Politik gehen, weil sie sich dafür einsetzen wollen, dass die Autos auf der Hauptstraße nicht mehr länger den Gehweg zuparken. Menschen, die sich von ihren pubertierenden Kindern stundenlang alle wichtigen YouTuber zeigen lassen. Menschen, die ehrenamtlich verletzte Fledermäuse aufpäppeln. Menschen, die ein Foto von ihrem Samstagnachmittagsesstisch schießen, von ihren stinkenden verwelkten Blumen und der Plastikverpackung vom Fertigkuchen und damit Instagram unsicher machen.

Leid lässt uns reifen

Es gibt beeindruckende Menschen, wirklich mutige, charakterstarke, tiefvertrauende Menschen, die genau deshalb so besonders sind, weil sie sich kein bisschen dafür interessieren, welches Instrument ihnen am besten steht. Es gibt sie in allen Altersklassen. Oft sind sie durch Leid, Verluste und Fehler hindurchgegangen. Sie haben erlebt, dass das Leben weh tut. Dass es traurig ist. Dass es langweilig ist. Dass es in Hochs und Tiefs verläuft. Dass es konfliktreich ablaufen kann. Und dass das alles nicht nur nicht zu ändern, sondern auch ziemlich okay ist.

Einfach Mensch sein

Wenn unser Leben nicht nur aus Hoch-Zeiten und Highlights, aus wehenden Haaren im Sonnenuntergang und leuchtenden Kinderaugen besteht, dann sind wir so, wie jeder andere Mensch auf dieser Welt. Wir sind Menschen. Wir gehören zu dieser handgemachten, verrückten, grausamen, liebenswerten Truppe, die diese Erde bevölkert. Das ist eine Ehre. Unser Leben wird nicht wertvoller, weil wir den Talentwettbewerb gewonnen haben. Weil wir etwas ganz besonders gut können. Oder ganz besonders große Probleme haben. Wir sind Menschen. Gottes Menschen. Das ist alles.

Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Gerade ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).

Versuch etwas anderes!

Fünf Ideen, eingefahrene Erziehungssituationen zu verändern. Von Debora Güting

Mein Mann und ich haben früh Kinder bekommen und damit auch früh mit der Erziehung von Kindern begonnen. Mit Mitte zwanzig hatten wir bereits zwei kleine Kinder. Einige Freunde haben in dieser Zeit noch nicht an Kinder gedacht. So waren wir einige Jahre voraus in Thema Erziehung, als diese dann ihr erstes und zweites Kind bekamen. Immer mal kam und kommt es vor, dass sie uns fragen, was wir über Erziehung denn gelernt hätten und ob wir ein paar Tipps weitergeben können. Dieser eine Erziehungstipp, schlicht und flexibel, wirkungsvoll und jederzeit anwendbar, hat sich immer wieder bewährt und gefestigt: „Wenn es auf eine Art und Weise nicht funktioniert, dann versuch‘ etwas anderes.“

Jedes Kind ist einzigartig, und jedes Kind reagiert anders auf diverse Erziehungsmethoden. Gibt es also ein unerwünschtes Verhalten des Kindes, das wir als Eltern nicht in den Griff bekommen? Oder soll das Kind etwas lernen, und es klappt nicht? Dann ist es immer wieder notwendig, sich an die Situation anzupassen und kreativ zu werden. Habe ich als Mutter auf eine Situation immer gleich reagiert, zum Beispiel geschimpft, wenn das Kind Schuhe stehen lässt, ist es unwahrscheinlich, dass das Kind bei einer weiteren gleichen Situation sein Verhalten ändert. Daher ist es schlauer, wenn ich selbst mein Verhalten ändere. Damit provoziere ich eher eine andere, neue und hoffentlich bessere Reaktion auf Seiten des Kindes. Wenn wir als Eltern die dafür notwendige Energie investiert haben, und es tut sich was auf der Seite des Kindes, dann macht es Freude, schafft Freiräume und verbessert die Beziehung zum Kind.

Hier einige Beispiele, die es leichter machen sollen, an festen Schemen zu rütteln und auf neue Ideen zu kommen:

1. DEM UNERWÜNSCHTEN VERHALTEN KEINE AUFMERKSAMKEIT SCHENKEN

Unser ältester Sohn, Nino, hat immer gut darauf angesprochen, wenn wir ihm Dinge erklärt haben. Wenn er etwas verstanden hat, dann hielt er sich meist an die damit verbundenen Erwartungen, auch schon als ganz kleiner Junge. Mit etwa vier Jahren fing er an, mit den Zähnen zu knirschen. Ich hatte gehört, dass das nicht gut für die Zähne sei, und zusätzlich war das Geräusch für mich unangenehm. In diesem Fall versagten die uns bekannten Methoden: Kein Erklären half. Kein Schimpfen half. Kein Bitten half. Schließlich beschlossen wir, dem Knirschen für eine Weile einfach keine Aufmerksamkeit zu schenken und zu sehen, was passiert. Das Erstaunliche geschah: Innerhalb von ein paar Tagen hat Nino von allein aufgehört, die Zähne aneinander zu reiben. Durch unser geändertes Verhalten änderte sich auch das Verhalten unseres Sohnes.

2. VORBILD SEIN

Unsere Tochter Lucy rannte als älteres Kindergartenkind immer quer über jede Straße, ohne zu schauen, ob ein Auto kam. Wir warnten sie, wir zeigten die Gefahr, wir erschraken in solchen Situationen und schimpften schließlich. Lucy ließ sich nicht dazu bringen, nach den Autos zu schauen. Was die Situation änderte, war, dass mir bei einem gemeinsamen Spaziergang klar wurde, dass die Art und Weise, wie ich die Straße überquerte, für Lucy genauso aussah, wie das, was sie tat. Dass wir als Erwachsene eine Verkehrssituation schnell überblicken können, war für sie nicht zu erkennen. Für sie sah es so aus, als gingen wir ohne zu gucken über die Straße. Also änderten mein Mann und ich mit Lucy gemeinsam unser Verhalten. Wir blieben aktiv und deutlich stehen, und ich zeigte ihr, wie ich nach rechts und nach links schaue, bevor ich über die Straße gehe. Unser Vorbild machte den Unterschied. Wir zeigten es ihr, und sie machte es dann richtig nach. So lernte sie das Verhalten, was wir uns von ihr wünschten.

3. SCHLECHTES VERHALTEN NACHMACHEN

Unser jüngster Sohn Jakob, der einige Jahre später als zweiter Nachzügler nachkam, hatte sich angewöhnt, Grimassen zu schneiden. Es waren nicht unbedingt provokative Gesichter, wie Zunge rausstrecken, aber es waren unangenehme Grimassen, die so mancher Fremde grundlos zu sehen bekam und die Jakob auch oft in unserer Familie zeigte – manchmal einfach so, manchmal auch als Reaktion auf eine Frage oder Anforderung. Ignorieren, schimpfen, erklären und wettern half nicht. Aus einem spontanen Impuls heraus zog ich ihm als Reaktion auf sein Gesichterziehen auch mal ein Gesicht. Ich rollte die Augen, verzerrte den Mund und versuchte, auch mal grimmig zu sein. Ich war etwas geschockt, als Jakob anfing zu weinen. Es war ihm offenbar sehr unangenehm, selbst eine Grimasse abzubekommen. Ich bin nicht sicher, ob ich danach noch etwas erklärte oder sagte, um seinen Frust pädagogisch zu lenken. Aber seither ist das Grimassenschneiden kein Thema mehr.

Ich ziehe nicht den Schluss daraus, dass es schlau ist, mit dem Kind immer zu machen, was es selbst mit anderen gemacht hat. Aber ich ziehe es als Möglichkeit in Betracht. Im Nachhinein war es so besser, als weitere Wochen nur darum zu kämpfen und nicht weiterzukommen. Immer mal muss man sich klarmachen, dass es weder für die Kinder noch für die Eltern angenehm ist, in einem ungelösten Erziehungs-Kampf zu stecken. Für beide Partien ist es gut, wenn wir Eltern nach einer weiteren und schließlich funktionierenden Lösung suchen, die nicht ständig auf Kosten einer guten Beziehung geht.

4. EIGENVERANTWORTLICHKEIT STÄRKEN

Als unsere beiden Großen Grundschüler waren, hatten wir nach dem Gottesdienst immer wieder den gleichen Reibungspunkt: Jeden Sonntag hingen sie meinem Mann und mir am Ärmel und fragten, ob sie Geld für eine Cola bekommen. Ohne System haben wir manchmal Ja gesagt, manchmal Nein, manchmal mussten sie es selbst bezahlen. Immer wieder wurden dabei Unterhaltungen unterbrochen, und immer wieder mussten wir die gleiche Entscheidung neu treffen. Uns als Eltern hat das angestrengt. Aber das war dann auch das Gute: Dass wir in einer Situation feststeckten und immer wieder genervt waren, musste uns auch erst mal auffallen. Wir mussten uns bewusst machen, wie aufreibend diese ständig wiederkehrende, unangenehme Situation war! Denn erst mit diesem Bewusstsein fingen wir als Eltern an nachzudenken, welche Hebel aus einer aufreibenden Situation herausführen könnten. Wir lösten es damals so, dass wir bei der anstehenden Taschengelderhöhung einen kleinen weiteren Betrag daraufgelegt haben. Damit hatten beide Kinder etwas Geld extra für den Bereich „Trinken nach dem Gottesdienst“ zur Verfügung, und es war die Entscheidung unserer Kinder, ob sie das Geld dafür ausgeben wollten oder nicht. Der Reibungspunkt war für alle überwunden. Klarheit und Eigenverantwortlichkeit haben für uns alle die Lage verbessert.

5. AUCH MAL AUFGEBEN

Ich habe mal in einem Artikel gelesen, dass die Kinder selbst machen sollen, was sie selbst machen können. Das klang gut, und ich wollte es anwenden. Jakob hatte schon gelernt, Schuhe mit Klettverschluss anziehen. Ich fand es daher eine gute Idee, das auch im Alltag von ihm zu verlangen. Aber Jakob nahm es gar nicht an. Es war jedes Mal ein Diskutieren und Schimpfen – schlichtweg nervenzehrend. Auch ein Belohnungssystem zog nicht. Nach einigen Wochen fand ich den Kampf einfach unrentabel. Ich verschwendete meine Energie für null Ergebnis. Diesen Frust wollte ich mir nicht länger aufladen. Ich beschloss, diesen guten Erziehungsrat in diesem Fall nicht weiter umzusetzen und meine Kraft lieber für andere Situationen einzusetzen. Also zog ich unserem Jakob die Schuhe wieder an. Jetzt hatte ich emotional wieder mehr Raum, andere Dinge anzugehen, die vielleicht mehr Erfolg versprachen. Wenige Wochen später war Saisonwechsel. Mit einem Paar neuer Schuhe, die Jakob begeisterten, lief das Schuheanziehen auf einmal von ganz allein. Die Zeit hatte Jakob dann doch noch dazu gebracht, seine Schuhe selbst anzuziehen.

LOS GEHT’S!

Es gibt natürlich Themen, da sind wir als Eltern jahrelang gefordert, dran zu bleiben, und es wird immer ein Auf und Ab geben. Es wird nicht den einen Trick geben, mit dem wir unseren Kindern zum Beispiel Höflichkeit beibringen. Aber gerade, wenn bestimmte Situationen immer wieder auftauchen und uns Kraft und vielleicht sogar eine gute Beziehung zum Kind kosten, lohnt es sich, einen extra Gedanken zu investieren.

Wir sollten möglichst nicht so weit kommen, über unsere Kinder die Augen zu rollen und zu ihnen zu sagen „Wie oft soll ich dir noch sagen, du sollst …!“ Damit vermitteln wir unseren Kindern, wie hoffnungslos die ganze Erziehung ist. Das tut uns und dem Kind weh. Die Kinder lassen sich davon auch wenig beeindrucken und haben kaum Mitleid mit uns Eltern, auch wenn wir in einer Sackgasse stecken. Zudem kommen die Kinder nach einem solchen Satz auch in den seltensten Fällen auf die Idee, ihr unerwünschtes Verhalten zu ändern, um uns Eltern zu entlasten. Also: Wir sind die Eltern, und wir sind am Zug!

Debora Güting ist Referentin und Teil des Patoralteams der Kirche des Nazareners in Seligenstadt, verheiratet mit Johannes und hat vier Kinder.

UND BEI EUCH?

Habt ihr ähnliche Erfahrungen im Erziehungsalltag gemacht? Was hat euch geholfen, wenn ein Verhalten keine Wirkung gezeigt hat? Und welche Tipps von Debora Güting findet ihr hilfreich? Schreibt uns an redaktion@family.de, Stichwort „Versuch etwas anderes“.

Zahlen und Buchstaben

„Mein Sohn ist nun ein Vorschulkind, zeigt jedoch keinerlei Interesse an Zahlen, Buchstaben und am Malen. Wie kann ich ihn begeistern?“

Am besten funktioniert es spielerisch, indem der „Lernstoff “ an die Interessen der Kinder angepasst wird. Vielleicht starten Sie mit den Helden aus dem TV? Oft gibt es im Merchandising der Serien und Filme einiges an Fördermaterial, wie Spiele, Bilder- oder Malbücher.

ENTSPANNTE STIFTHALTUNG

Besonders in der ersten Klasse und im Kindergarten wird noch viel gemalt. Wichtig hierbei ist die entspannte Stifthaltung. Das Kind soll sich nicht verkrampfen, denn dadurch verliert es zum einen die Kraft in den Fingern und zum anderen schnell die Lust, da der Arm oder sogar Kopf und Nacken schmerzen. Durch das Malen am Tisch wird eine von vielen Schulsituationen geübt und darüber hinaus die Fähigkeit zur Konzentration, Genauigkeit, Hand-Auge-Koordination und Ausdauer. Kinder, die nicht gern malen, lassen sich eher motivieren, wenn es um Ihre Helden geht: Suchen sie gemeinsam am PC nach Ausmalbildern. Zu Beginn sollten Sie sich mit Ihrem Kind an den Tisch setzen. Malen Sie beide zusammen das Bild an. Wenn es fertig ist, darf Ihr Kind es aufhängen. Bald schon hat Ihr Kind kein Problem damit, ruhig am Tisch zu sitzen und ein Bild allein auszumalen. Das Gleiche gilt für Arbeitsblätter. Je nach Thema findet man jedoch kaum Vorlagen im Internet – da ist Kreativität gefragt.

SPIEL-IDEEN:

  • Heldenmemory: Sie brauchen für das Memory die Zahlen 1-5 (je nach Alter auch der Zahlenraum bis 10) auf einem Stück Pappkarton und kleine Bildchen der Helden Ihres Kindes. Sie basteln jeweils ein Pärchen mit zwei Karten; auf dem einen ist die Zahl zu sehen, auf dem anderen die entsprechende Anzahl an Figuren. Zum Beispiel: die Zahl 3 und 3 Feuerwehrmänner. Ziel ist es, immer die passenden Paare zu finden.
  • Heldenlotto: Für das Spiel brauchen Sie Bilder der Helden mit deren Namen und einzelne Buchstabenkärtchen. Die Buchstabenkärtchen werden gemischt und auf dem Tisch ausgebreitet. Nacheinander suchen die Spieler sich die Buchstaben, die zu ihrem Helden passen. Sie können hierfür auch Buchstabenwürfel basteln. Somit muss der Name des Helden erwürfelt werden.
  • Musik-Stopp-Spiel: Falls Sie einen zusammensetzbaren Schaumstoffteppich zum Thema Zahlen und Buchstaben haben, lösen Sie die Buchstaben/Zahlen heraus und verteilen sie im Raum/im Garten. Die Kinder müssen auf einen Buchstaben springen, wenn die Musik stoppt. Sie können die Buchstaben/Zahlen auch auf ein Blatt Papier schreiben. Zu Beginn suchen die Kinder sich die Buchstaben/Zahlen selbst aus und benennen diese, wenn sie das schon können. Wenn nicht, benennen Sie diese und die Kinder sprechen Ihnen nach. Später geben Sie die Buchstaben/Zahlen vor.
  • Nachtisch-Spiel: Sie nehmen zu Beginn drei Gummibärchen in die Hand und schließen diese zur Faust. Wenn das Kind bereit ist, öffnen Sie die Hand für ca. 2 Sekunden und schließen sie wieder. Das Kind sagt, wie viele Gummibärchen es gesehen hat. Stimmt die Anzahl, darf es diese essen. Ansonsten darf es noch mal raten. Danach wird gewechselt und Sie müssen genau hinschauen. Später können Sie die Anzahl erhöhen.

Anika Sohn ist Erzieherin aus Eggenstein (bei Karlsruhe) und Autorin des Buches „Kleine Räume – großer Spaß“.

 

Ausnahmezustand

Der Film „Elternschule“ hat für heftige Diskussionen gesorgt. Bei Eltern und Fachleuten gibt es sehr viel Kritik – zum einen am Film selbst, zum anderen an der dort gezeigten Therapie in einer Gelsenkirchener Klinik. Der Versuch einer Einschätzung von Bettina Wendland

Es fängt schon mit dem Titel an: „Elternschule“ suggeriert, es gehe hier um Anregungen für Eltern, wie sie den Familienalltag und die Beziehung zu den Kindern gut auf die Reihe bekommen. Aber um den normalen Familienalltag geht es nicht in diesem Film. Hier werden Eltern gezeigt, die sich in einer Ausnahmesituation befinden. Die mit dem Rücken zur Wand stehen. Die das Kind in ein Heim geben wollen, „wenn es hier nicht klappt“. Es geht um Kinder, die 14 Stunden am Tag schreien. Die nichts oder fast nichts essen. Die äußerst aggressiv sind. Mit einer normalen, durchaus stressigen Familiensituation hat das kaum etwas gemein. Und Tipps für eine gute Erziehung sollte man lieber woanders suchen.

Momentaufnahmen

Das einzig Gute an dem Titel des Films ist, dass er klar macht, dass es in dieser Klinik wohl nicht darum geht, nur die Kinder zu therapieren. Aber was konkret an Interaktion mit den Eltern gezeigt wird, beschränkt sich auf Lehrstunden über pädagogische und psychologische Zusammenhänge (die durchaus gute Informationen bieten) und kurze Gespräche mit Psychologen. Wie vieles andere auch bleibt in diesem Film im Dunkeln, wie genau die Therapie für die Eltern aussieht. Der Film erweckt den Eindruck, dass vor allem die Kinder lernen müssen: essen, schlafen, sich von den Eltern trennen.

Dieses Lernen geschieht in Trainings, bei denen wohl alle im Kino an irgendeiner Stelle schlucken müssen. Zum Beispiel beim Schlaflernprogramm auf die harte Tour: Nicht mal die Eltern dürfen rein, um das Kind zu trösten, sondern nur die Schwester. Es mag vielleicht Gründe für diese Art des Trainings geben (siehe das Interview mit Prof. Dr. Silvia Schneider weiter unten), sie werden aber unzureichend erklärt.

Und das ist meine Hauptkritik an diesem Film. Er bietet zu wenig Hintergrundinfos. Er zeigt Momentaufnahmen, erklärt aber nicht, wie genau die Therapie denn nun abläuft. Ich vermute, dass die Therapie viel individueller und in deutlich mehr kleinen Schritten verläuft, als dies im Film deutlich wird. Dass die Eltern stärker im Fokus stehen. Dass die Bindung und die Nähe von Eltern und Kindern eine größere Rolle einnehmen. Zumindest hoffe ich das.

Wissenschaftlich vertretbar?

Die Frage bleibt, ob die Therapie, wie sie in dieser Klinik stattfindet, gut und angemessen ist. Ob hier nicht Gewalt ausgeübt wird gegen Kinder – sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das NRW-Gesundheitsministerium prüfen das gerade. Ob die Therapie den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht. Hier scheiden sich die Experten. So distanziert sich die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie deutlich nicht nur von dem Film selbst, sondern auch von der angewandten Therapie: „Die in dem Film dargestellten Behandlungsmethoden zum Üben von Trennungssituationen und zur Schlafanbahnung (…) sind so hingegen weder wissenschaftlich evaluiert noch vertretbar.“ Dagegen stellt sich die Interessengruppe Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie hinter die Klinik und betont: „Das Behandlungskonzept der Klinik folgt den aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).“

Als Laie frage ich mich: Wer hat Recht? Deshalb habe ich zwei Fachleute um ihre Einschätzung gebeten. Auch diese Einschätzung fällt sehr unterschiedlich aus – nachzulesen in den beiden Interviews mit Daniela Albert und Silvia Schneider weiter unten.

Was den Film selbst angeht, ist für mich klar: Er wird dem Thema nicht gerecht. Nicht dem Thema „Erziehung“ und auch nicht dem Thema „Therapie“. Es ist für mich auch ein No-Go, die Kinder in diesen Therapiesituationen öffentlich zu zeigen. Sicher hat man die Eltern um Erlaubnis gefragt. Aber können Eltern, die in solch einer Ausnahmesituation stecken, das wirklich fundiert entscheiden? Sind sie sich bewusst, welche Folgen das für sie und ihre Kinder haben kann?

Sanftere Therapieformen

Was die Bewertung der Therapie angeht, bin ich unsicher. Ja, es sieht furchtbar aus. Aber ich kann es nicht abtun, wenn mir eine erfahrene Erziehungsberaterin erklärt, dass es nicht ohne eine solche oder ähnliche Therapie gehe, wenn die Situation so eskaliert ist. Bei körperlichen Erkrankungen gebe es ja auch Eingriffe, die man als Gewalt empfinden kann – man denke nur ans Blutabnehmen …

Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es keine anderen, besseren, sanfteren Therapieformen gibt. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk betont Karl Heinz Brisch, der eine Kinderklinik in München leitet: „Es gibt genügend bindungsorientierte, feinfühlige Methoden, Kinder mit solchen auch chronischen Störungen sehr erfolgreich zu behandeln.“

Eine Schlüsselszene in dem Film ist für mich, als eine Psychologin einer Mutter erklärt, sie habe ja wohl bisher den Grundsatz befolgt: „Wenn es dem Kind gut geht, geht es den Eltern gut.“ Nun müsse sie lernen, dass es genau umgekehrt ist: „Wenn es den Eltern gut geht, geht es dem Kind gut.“ Ich kenne diese beiden Sätze auch aus meinem Umfeld. Beide werden gern zitiert. Und beide sind wahr. Aber nur in einer gesunden Balance. Wenn ich nur einen dieser Grundsätze befolge, bin ich schnell in einer Falle. In der Falle der Überforderung. Oder in der Falle des Egoismus, der Vernachlässigung.

Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, die Bedürfnisse von Kindern und Eltern ernst zu nehmen und in eine Balance zu bekommen. Und sich Hilfe zu holen, wenn das nicht gelingt. Das ist es, was man Eltern zeigen sollte. Gern auch in einem gut gemachten Film.

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT. Sie lebt mit ihrer Familie in Bochum.

 

„Den Kreislauf durchbrechen“

Prof. Dr. Silvia Schneider befürwortet die Therapie, die im Film „Elternschule“ dokumentiert wird.

Was finden Sie gut und hilfreich an dem Film?

Ich finde wichtig, dass das Thema der Regulationsstörungen – also frühes, starkes Schreien, Schlafprobleme, Fütterprobleme – in die Öffentlichkeit gerät. Es ist kaum bekannt, dass diese Störungen ein Schrittmacher für psychische Störungen im späteren Leben sind. Natürlich provoziert der Film im Hinblick auf Fragen wie: Was heißt Erziehung? Was heißt Grenzsetzung in der Erziehung? Aber wir merken im klinischen Alltag, dass sich Eltern mit diesem Thema sehr schwer tun: Wie viel Grenzen darf ich setzen? Da sind viele Eltern sehr verunsichert. Allerdings überfordert der Film hier auch die Eltern, weil nicht klar gemacht wird, wann wo welche Grenze zu setzen ist. Außerdem kommt in dem Film vermutlich zu kurz, dass Grenzen setzen nur die eine Seite einer guten Erziehung ist. Die andere Seite ist die emotionale Zuwendung, dass dem Kind Wertschätzung und Liebe gezeigt werden. Es wird nicht deutlich, dass es ein wichtiger Bestandteil des Behandlungskonzeptes ist, dafür zu sorgen, dass wieder positive Interaktionen zwischen Eltern und Kind stattfinden. Man hätte das Konzept und den Kontext mehr ausarbeiten und klarer machen können, um welche Störungsbilder es sich handelt, was typischerweise das Problem bei diesen Störungsbildern ist und warum man jetzt das tut, was getan werden muss.

Entspricht die Therapie, wie sie in Gelsenkirchen durchgeführt wird, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen?

Was dort gezeigt wird, sind Therapien, die evidenzbasiert, also überprüft sind. Letztendlich geht es darum, den Kreislauf, der bisher etabliert war – bei dem Schreikind oder bei dem Kind, das sich nicht trennen kann – zu durchbrechen. Mutter und Kind haben über lange Zeit gelernt, dass der einzige Weg, mit Trennung umzugehen, der ist, sich nicht zu trennen. Das Kind ist zum Beispiel nicht in der Lage, den Kindergarten aufzusuchen oder abends allein einzuschlafen. Es wird eine Spirale in Gang gesetzt, wo die Mutter und auch das Kind nur noch Misserfolgserlebnisse haben. Sie gehen der Situation aus dem Weg, indem zum Beispiel in der Schlafsituation die Mutter oder der Vater beim Kind bleiben, bis es eingeschlafen ist. Hierdurch wird das Kind jedoch behindert, Selbstregulation zu erlernen, also von einem erregten Zustand sich alleine wieder herunter zu regulieren. In der Klinik wird versucht, diesen Teufelskreis aufzulösen, indem Mutter und Kind diesen Schritt erlernen. Es ist nicht nur das Kind, das lernt, sondern auch die Mutter, die lernen soll, dass es möglich ist, dass das Kind das allein macht.

Warum muss sich denn ein zweijähriges Kind unbedingt von der Mutter trennen? Warum muss es im eigenen Bett schlafen?

Von den Kompetenzen her ist ein Kind mit zwei Jahren in der Lage, allein zu schlafen. Das heißt nicht, dass es das auch tun muss. Das ist letztendlich eine Entscheidung der Eltern. Aber in  Familien, in denen Schlafsituationen oder Füttersituationen so eskalieren und es zu Regulationsstörungen beim Kind kommt, müssen wir helfen. Wir wissen, dass es in diesen Familien auch zu Gewaltanwendungen kommen kann, weil alle im System völlig erschöpft sind und keinen Weg raus aus der Eskalation wissen. Da müssen wir eingreifen.

Aber muss das mit so einer „rabiaten“ Therapie geschehen?

Ja, kurzfristig ist die Behandlung für Eltern und Kind anstrengend und herausfordernd, mittelfristig und vor allem langfristig führt sie jedoch dazu, dass wieder Ruhe in das Familiensystem kommt und Eltern und Kind wieder positiv miteinander agieren. In der Regel versucht man zunächst ambulant, mit den Eltern Strategien zu entwickeln, wie sie das Kind schrittweise an eine Trennungssituation heranführen können. Das hat bei diesen Familien vermutlich nicht funktioniert, sonst wären sie nicht in dieser Station angekommen. Natürlich ist die hautnahe Beobachtung dieser Behandlungsschritte belastend – Babyschreien, Weinen von Kleinkindern ist ein enormer Stressor. Aber Selbstregulation zu erlernen, ist einer der wichtigen ersten Entwicklungsschritte für Kinder. Es ist auch ein erster Schritt in Richtung Autonomie. Manche Kinder lernen das relativ leicht. Aber andere Kinder tun sich da sehr schwer. Und wenn die Mutter selbst sehr unsicher ist und immer wieder die Schritte zurücknimmt, die sie vielleicht schon erreicht hat, entsteht eine ungünstige Konstellation für Mutter und Kind. Dann braucht es manchmal diese Trainings.

Besteht nicht die Gefahr, dass durch ein solches Training die Eltern-Kind-Bindung leidet? Oder dass das Kind „gebrochen“ wird?

Es gibt Langzeitstudien, die untersucht haben, ob diese Trainings zu einer unsicheren Bindung des Kindes führen. Das ist nicht der Fall. Und was heißt das, dass ein Kind gebrochen wird? Ist ein gebrochenes Kind ein Kind, das keinen Selbstwert und keine Autonomie entwickelt und daraufhin mehr psychische Störungen entwickelt? Das ist hier definitiv nicht der Fall. Im Gegenteil: Wenn diese Regulationsstörungen nicht behandelt werden, haben diese Kinder ein erhöhtes Risiko, schon früh ADHS oder Angststörungen zu entwickeln. Sich gesund zu entwickeln, heißt, dass Kinder auch durch Phasen von Frustration oder durch schwierige Situationen durchgehen müssen. Wenn ich als Elternteil zu viel Regulation übernehme, ist das zwar gut gemeint, aber wir wissen, dass das nicht nur gut ist. Das Ganze setzt aber immer voraus, dass neben der Seite der Grenzsetzung auch die Zuwendungsseite funktioniert: positive Spielzeiten, gemeinsam lachen, was Schönes tun, kuscheln.

Prof. Dr. Silvia Schneider leitet den Lehrstuhl Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum und ist Direktorin des Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ). Interview: Bettina Wendland

 

„Alleinsein bedeutet Gefahr“

Die Erziehungswissenschaftlerin und Familienberaterin Daniela Albert kritisiert die „radikalen verhaltenstherapeutischen Methoden“ der Gelsenkirchener Klinik.

Was ist Ihre Hauptkritik an dem Film?

Ich ärgere mich besonders darüber, dass dieser Film am Anfang als Film über Erziehung vermarktet wurde. Dies geschah unter anderem durch ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung, der das Filmplakat ziert: „Für jeden, der selbst Kinder hat, ist der Film ein Muss.“ Auch die Filmemacher schreiben auf ihrer Seite, dass es ein Film über die Frage sei, wie man richtig mit Kindern umgehen könne. In Kombination mit dem eher negativen Bild von Kindern, das im Film immer wieder transportiert wird, finde ich es sehr besorgniserregend, so etwas zu suggerieren.

Sie sprechen in Ihrer Rezension des Films von „sehr radikalen verhaltenstherapeutischen Methoden“. Würden Sie Verhaltenstherapie in diesem Setting grundsätzlich ablehnen oder müsste nur die Umsetzung eine andere sein?

Nein, es geht nicht darum, die Verhaltenstherapie grundsätzlich zu kritisieren. Sie ist oft Teil von ambulanter und klinischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – wobei man bei verhaltenstherapeutischen Maßnahmen auch immer das Alter der Kinder im Blick haben muss. Gerade im Fall von Klein- und Kindergartenkindern muss es aber primär um die Eltern gehen, weniger um die Kinder selbst.

In einem Interview mit der ZEIT erklärt Dietmar Langer, leitender Therapeut der Gelsenkirchener Klinik, der Film zeige nicht „die therapeutische Arbeit mit den Eltern, die intensive psychologische Arbeit an den Ursachen und traumatischen Erfahrungen“. Wenn man das berücksichtigt, erscheint für Sie die im Film dargestellte Therapie dann in einem anderen Licht?

Nein! Schlaftraining, Trennungstraining und auch Essenstraining, wie es im Film gezeigt wurde, werden zu Recht stark kritisiert. Nehmen wir als Beispiel das Schlaftraining: Die Vorstellungen von kindlichem Schlaf und die Erwartung, dass ein Baby durchschläft, entsprechen nicht dem „normalen“ Babyschlaf. Auch wir Erwachsene schlafen nachts nicht durch, wir bemerken es nur meist gar nicht. Bei Babys oder Kleinkindern meldet sich jedoch dann ein inneres Alarmsystem. Für sie bedeutet das Alleinsein in einem dunklen Raum und die Trennung von ihrer primären Bindungsperson Gefahr. Deshalb senden sie beispielsweise durch Weinen ein Signal. Wenn sie das nach einem Schlaftraining nicht mehr tun, liegt es nicht daran, dass sie plötzlich verstanden haben, dass sie in Sicherheit sind. Viel mehr merken sie, dass ihre Hilfeschreie nicht beantwortet werden und äußern ihre Not nicht mehr.

Was wäre Ihrer Meinung nach eine bessere Therapie oder Hilfsmöglichkeit für die Familien, die in dem Film dargestellt werden?

Wichtiger als die theoretischen Ansätze finde ich die Haltung der im therapeutischen Setting tätigen Personen. Diese sollten einen liebevollen und wertschätzenden Blick auf die Familien und speziell auf die Kinder haben. Daneben sollte es immer um die Stärkung der Eltern-Kind-Bindung gehen. Gute Ansätze auch für bindungsorientierte Therapie im klinischen Bereich gibt es in Deutschland vor allem durch Karl Heinz Brisch in München. Für den ambulanten beratenden Sektor stehen unter anderem Katia Saalfrank mit ihrem Ausbildungsgang in bindungs- und beziehungsorientierter Eltern- und Familienberatung, aber mittlerweile auch viele andere Berater und Therapeuten.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kaufungen bei Kassel, Kontakt: familienberatung-albert.de. Ihre Film-Rezension findet man auf ihrem Blog www.eltern-familie.de. Interview: Bettina Wendland

 

Mein unsichtbarer Freund

„Unser Sohn (4) hat seit kurzem einen unsichtbaren Spielgefährten. Wenn wir ihm seinen unsichtbaren Freund ausreden wollen, wird er wütend. Müssen wir uns Sorgen machen?“

Internationale Studien sagen, dass 37 Prozent der Kinder zwischen drei und sieben Jahren eine Weile mit einem imaginären Freund zusammenleben. Ihre Freunde entstehen in der Fantasie, sie sind mal bärenstark und schlau, mal keck und klein, aber immer unsichtbar. Andere Kinder beseelen zusätzlich ihre Stofftiere oder Gegenstände, mit denen sie reden und streiten, die sie ständig begleiten und schützen. Ein Ball im Wasser kann ein Delfin sein, ein Stock ein Pferd. Kommt ein Erwachsener hinzu, ist es sofort wieder der Stoffhase, Stock oder Ball. Das Kind wechselt blitzschnell zwischen seiner Fantasiewelt und der Realität. Insgesamt leben, laut Studien, 67 Prozent der Vorschulkinder in ihrer eigenen Vorstellungswelt.

FANTASIEVOLL UND INTELLIGENT

Ihr Kind „spinnt“ also nicht, es ist vielmehr eine ganz normale Entwicklung, es zeugt sogar von Intelligenz in diesem Alter zwischen Vorstellung und realer Welt umdenken zu können. Ihr Kind erfindet einen Fantasiefreund, der nicht immer ein Mensch sein muss. Diese Figuren entstehen entweder ganz in der blühenden Einbildungskraft oder werden durch Geschichten angeregt.
Der eingebildete Freund begleitet Ihr Kind nun Tag und Nacht, er muss sich nicht an Regeln halten, tut Dinge, die man niemals mit Mama oder Papa machen kann (zum Beispiel mit einem Einhorn durch den Wald reiten), er schützt das Kind oder ermutigt es. Gerade Einzelkinder suchen sich häufig einen Freund, der immer bei ihnen ist.

NEHMEN SIE IHR KIND ERNST

Wir Erwachsene leben ständig in einer realen Welt, es fällt uns häufig schwer, uns auf die „verrückten“ Ideen unserer Kleinen einzulassen. Gehen Sie auf den unsichtbaren Freund ein und lassen Sie ihn erzählen. So können Sie erfahren, was Ihr Kind bewegt, wovor es Angst hat, was es sich nicht zutraut oder wie es gerne wäre. Eher schüchterne Kinder werden sich einen starken Freund aussuchen. Großstadtkinder mit wenig Platz zum Toben suchen manchmal in ihrer Vorstellungskraft ein freieres Leben. Dieses unsichtbare Wesen begleitet Ihr Kind durch dick und dünn und hilft ihm die Welt, außerhalb des Elternhauses, mit all den Gefahren, Verboten und Geboten zu bewältigen. Manche Kinder entwickeln sogar ihre eigene Fantasiestadt, mit einer eigenen Sprache oder eigenem Geld. In der Kindertherapie werden schüchternen, ängstlichen oder auch auffallend aggressiven Kindern diese Fantasiewesen manchmal auch als Helfer und Beschützer zur Seite gestellt.
Mit Eintritt in die Schule wird ihr Kind immer mehr reale Freunde finden. Meist brauchen Kinder dann keine unsichtbaren Freunde mehr. Die kognitive Weiterentwicklung führt bei Grundschulkindern zu kritischem Denken, sie lernen ihre Gefühle besser auszudrücken und sind motorisch geschickter. Diese erweiterten Fähigkeiten helfen Ihrem Kind, die reale Welt immer besser zu meistern.

Doris Heueck-Mauß ist Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin und lebt in München

„Die können ja nicht mit Geld umgehen“

Neulich beim Friseur. Ein Mann Ende 30 unterhält sich mit der Friseurin über seine 12-jährige Tochter. Sie kommen aufs Thema Taschengeld. „Nein, Taschengeld bekommt sie nicht. Sie kriegt ja von uns alles, was sie möchte“, erklärt der Vater. „Aber ich habe ein Sparkonto für sie angelegt“, fügt er fast entschuldigend hinzu. Vielleicht hat er Sorge, sonst als Rabenvater dazustehen? Die Friseurin fragt nach: „Und wann bekommt sie das Geld?“ Der Vater erklärt: „Wenn sie mit der Schule fertig ist. Die jungen Leute können ja nicht mit Geld umgehen. Und wenn sie dann eine eigene Wohnung hat und ein Auto, dann kann sie das bestimmt gut gebrauchen …“

Mir fällt fast die Brigitte aus der Hand. Habe ich richtig gehört? Wie soll denn das Mädchen lernen, mit Geld umzugehen, wenn sie immer alles bekommt? Wenn sie kein eigenes Geld hat, mit dem sie üben kann? Und wie geht es weiter, wenn das Geld von Papas Sparkonto aufgebraucht ist? Wie sollen unsere Kinder zu selbstständigen Erwachsenen werden, wenn wir Eltern ihnen alles abnehmen? Wenn wir ihnen nichts zutrauen?

Das ist nicht nur beim Umgang mit Geld so. Das gilt auch fürs Kochen, fürs Taschepacken, fürs An-Sachen-Denken, fürs Termine-Planen. Da ist bei mir sicher auch noch Luft nach oben. Von daher war dieses mitgehörte Gespräch beim Friseur ein guter Impuls für mich. Und vielleicht ja auch für euch!

Bettina Wendland

Redakteurin Family/FamilyNEXT

„Ich rede mit dir!“

„Unserer Tochter (5) reagiert häufig nicht, wenn wir sie um etwas bitten. Oft wissen wir uns nicht anders zu helfen, als bis drei zu zählen, damit sie reagiert. Was können wir tun?“

Wenn Eltern das Gefühl haben, dass ihr Kind auf akustische Aufforderungen nicht reagiert, sollte zunächst beim Arzt abgeklärt werden, ob eine medizinische Ursache dahintersteckt. Eine akute Mittelohrentzündung oder vergrößerte Rachenmandeln können bei Kindern zu einer vorübergehenden Schwerhörigkeit führen. Die meisten Kinder sind jedoch topfit und hören trotzdem nicht. Zunächst sollten Eltern genauer hinschauen, in welchen Situationen das Kind nicht hört. Wenn Kinder ins Spiel vertieft sind oder ihren Gedanken nachhängen, ist es schwer, zu ihnen durchzudringen. Manchmal passiert es auch, dass sie einfach nur vergessen zu antworten. Auf die Frage „Bist du satt?“ registriert das Kind für sich „Ja, ich bin satt“, sagt es aber nicht laut.

NÄHE UND PRÄSENZ
Je kleiner das Kind ist, desto weniger bringt es, ihm aus der Entfernung etwas zuzurufen. Versuchen Sie stattdessen eine Verbindung herzustellen. Konkret bedeutet das: Körperkontakt. Gehen Sie zum Kind und knien Sie sich auf den Boden, wenn es dort spielt. Legen Sie eine Hand auf seine Schulter und nehmen Sie Augenkontakt auf. Erst, wenn Sie merken, dass das Kind Sie wahrnimmt, wird die Bitte ausgesprochen. Auf diese Weise wird die Spirale durchbrochen, dass Eltern Aufforderungen immer wiederholen und Kinder sich daran gewöhnen, nicht auf das Gesagte zu achten. Eltern können üben, ihre Kinder immer mit Namen anzusprechen und möglichst konkrete Anweisungen zu geben. Statt „Setz dich ordentlich hin“ ist es besser „Lass bitte die Beine unter dem Tisch und leg die Hand neben den Teller“ zu sagen. Positive Formulierungen helfen, denn unser Gehirn kann Verneinungen nur über Umwege verarbeiten. Das Beispiel „Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten!“ zeigt, dass im Kopf keine negativen Bilder entstehen. Zunächst wird an das Verbotene gedacht. Im Alltag heißt das, den Kindern z u s agen, w as s ie tun s ollen, a nstatt e twas z u verbieten: „Bleib bei mir auf dem Bürgersteig“ und nicht „Lauf nicht auf die Straße!“.

STRUKTUREN UND RITUALE
Festgelegte Strukturen und Rituale helfen, Abläufe nicht immer neu diskutieren zu müssen – jedoch braucht es einen langen Atem und vor allem unser Vorbild, bis Kinder diese verinnerlicht haben. Trotzdem bewirkt es, dass wir auf lange Sicht weniger ermahnen müssen. Beim Thema Aufräumen ist es außerdem hilfreich, wenn alle Dinge einen festen Platz haben, den die Kinder kennen. Nennen Sie konkret den Ort, wohin das Kind seine Dinge aufräumen soll.

KONSEQUENZEN
Manchmal erscheinen Drohungen uns als letzter Ausweg. Es ist verführerisch zu sagen: „Wenn du jetzt nicht kommst, dann gehe ich ohne dich!“ Kinder sollten jedoch nie aus Angst gehorchen. Gleichzeitig spüren sie, ob Eltern nur leere Drohungen aussprechen, weil sie sich hilflos fühlen. Wenn Sie öfter in solche Situationen geraten, überlegen Sie in einer ruhigen Minute: Wann passiert das? Was regt mich auf? Gibt es statt einer Bestrafung natürliche Konsequenzen, die folgen können? Das könnte zum Beispiel sein: Wir haben keine Zeit mehr, bei Oma vorbeizufahren.

 

Elisa Hofmann hat Publizistik, Psychologie und Linguistik studiert, ist verheiratet und wohnt mit ihrem Mann und drei Kindern in Heidesheim am Rhein.

Dürfen Profis Schwächen zeigen?

Ab und zu wird die perfekte Fassade im Leistungssport durchlässig: Wenn Per Mertesacker sagt, dass der Druck bei der WM 2006 so groß war, dass er froh über das Ausscheiden gegen Italien gewesen ist; oder wenn Andre Agassi in seiner Biografie über Schmerzen, Drogen und Einsamkeit schreibt; oder wenn ein Schiedsrichter durch einen falschen Abseitspfiff eine Mannschaft um den bestimmt sicheren Sieg gebracht hat. Dann gibt es regelmäßig einen Aufschrei. Denn eigentlich sind wir überzeugt, dass Sportler Maschinen sein müssen, die perfekt funktionieren. Kriegen sie nicht eine Unmenge Geld dafür? Den Menschen hinter der makellosen Außendarstellung möchten wir lieber nicht sehen, denn das würde unser Bild zerstören.

Doch mal Hand aufs Herz: Würden Sie Ihren Job als Eltern tausendfach besser machen, wenn man Ihnen Millionen dafür zahlte? Ich nicht. Wenn doch, dann müsste ich mich fragen lassen, warum da noch so viel Luft nach oben ist.

Kann man nicht vergleichen? Das sind ja Profis? Nun, mein Eindruck ist, dass die Leistungssportler die Helden unserer Gesellschaft sind. Kinder vergleichen sich permanent mit ihnen. Und die Kommentare von Müttern und Vätern am Fußballplatz lassen nur den Schluss zu, dass sie das auch tun. Gleichzeitig scheinen sich die Werte und Ideale unseres Miteinanders in der Bundesliga und anderen Wettbewerben zu verdichten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir in unseren Familien eine andere Fehlerkultur dagegen setzen. Wer keine Fehler machen darf, wird vieles lieber gar nicht erst anpacken. Ganz einfach ausgedrückt: Wenn die Vierjährige beim Eingießen die Milch verschüttet, darf sie es wieder probieren. Dazu sind Familien da.

Klingt banal? Kinder bringen in unserem durchgetakteten Alltag immer wieder Sand ins Getriebe. Alles, was länger dauert, kann unglaublich stören. Doch wenn Fehler Teil des Lernprozesses sind, dann ist es eigentlich absurd, sich darüber aufzuregen. Dass ich gut darauf reagiere, ist wichtiger, als dass alles reibungslos funktioniert. Ich muss mir das immer wieder bewusst machen.

Christof Klenk ist Redakteur bei Family.

Als Eltern versagt?

Eltern wollen gern alles richtig machen, um ihren Kindern keine Steine für ihr späteres Leben in den Weg zu legen. Doch ohne Fehler geht es nicht. Von Debora Güting

Ich habe als Vater versagt.“ Daniel* sitzt vor mir und weint. Ich bin erschüttert. Er ist ein Vater wie aus dem Bilderbuch. Wir kennen uns seit etwa 15 Jahren, in denen seine beiden Söhne geboren sind. Ich weiß, wie wichtig es ihm ist, ein guter Vater zu sein. Denn sein eigener Vater war abwesend bis abweisend. Daniel unternimmt viel mit seinen Jungen. Er ist ein Abenteurer, und seine beiden Kinder erleben viel mit ihm. Linus, der Ältere, war gerade in einer schweren Phase in der Schule, hörte nicht auf seine Eltern und sortierte sich als Teenager neu. Da passierte es: Linus wollte auf ein Wochenende mit Freunden. Kurz vorher gab es einen Konflikt, und Daniel nahm ihm als Konsequenz das Handy weg. So wie das Wochenende geplant war, würde Linus es nicht wirklich brauchen und sich hoffentlich mal mehr offline beschäftigen. Aber das Wochenende verlief anders. Linus geriet in eine traumatisierende Notlage, die über das ganze Wochenende anhielt. Er konnte sich nicht mit seinen Eltern in Verbindung setzen, weil ihm das Handy fehlte. „Ich habe ihn im Stich gelassen“, sagt Daniel gebrochen. „Als er mich brauchte, konnte ich ihn nicht schützen. Ich bin schuld an dem, was er erlebt hat.“ Als ich mit Daniel rede, ist der Vorfall schon ein Vierteljahr her. Sie waren zusammen in einer Beratungsstelle, Linus hatte psychologische Betreuung, und die Situation in der Schule ist noch schwerer als vorher. Zu Hause ist der Umgang mit Linus so unerträglich und voller ungelöster Konflikte, dass Daniel überlegt, ihn in einem Heim unterzubringen. Er und seine Frau Petra sind mit ihrer Erziehung am Ende. Daniel weint. So hat er sich das Vatersein nicht vorgestellt. Ich leide mit, als ich seine Geschichte höre. Ich habe Daniel noch nie weinen gesehen. Was würde ich in einer Situation machen, in der mein Kind, teilweise durch mein Zutun, in eine solche Notlage gerät? Wie würde ich mit so einer Schuld umgehen?

DAS LEBEN VERMASSELT?
Das Wort „Schuld“ erinnert mich schmerzlich an einen Artikel, den ich von einer Freundin empfohlen bekam. Darin ging es um „sechs wahre Ursachen von Süchten“ Erwachsener, die alle auf die Erziehung ihrer Eltern zurückzuführen seien. Ursache könne sowohl sein, dass der Erwachsene als Kind überbehütet wurde, als auch dass er allein gelassen und seine Bedürfnisse nicht befriedigt wurden. Nach dem Lesen dieses Artikels hatte ich Schuldgefühle und sah meine vier Kinder als verkorkste Erwachsene vor mir, die mir vorwerfen, ich habe ihr ganzes Leben vermasselt. Nach Aussage dieses Artikels hatte ich schon alles Mögliche falsch gemacht. Ich fühlte mich fast schuldig, dass ich meinen Kindern angetan hatte, meine Kinder zu sein. Mit etwas Abstand fragte ich mich: Wie vielen Eltern, die diese Auflistung lesen, hilft dieser Artikel, gute Eltern zu sein? Sind wir alle von Schuldgefühlen getrieben? Bemüht, nur nichts falsch zu machen? Sind wir Eltern wirklich an allem schuld, was unsere Kinder in ihrem Erwachsenenleben tun oder nicht tun? Ich bin gern Mutter von meinen vier Kindern. Ich freue mich, wenn meine Kinder etwas erobern, wenn sie aus ihren Fehlern lernen, wenn sie Freude aneinander haben, wenn sie einander trösten oder mit sich selbst ringen. Ich freue mich, wenn wir Zeit miteinander verbringen, lesen, spielen, die Sonne genießen. Ich finde, Elternsein sollte Freude machen – und nicht ständig von möglichen Mängeln oder falschen Entscheidungen beherrscht sein.

ZEHN ERZIEHUNGSFEHLER
Vor ein paar Jahren war ich bei einem Vortrag zum Thema Erziehung. Ich erinnere mich, dass der Referent sagte, dass wir als Eltern auch Fehler machen dürfen – und dass selbst kleine Kinder Erziehungsfehler verzeihen würden. Sein Argument war, dass Kinder merken, wie wir es grundsätzlich mit ihnen meinen, selbst wenn wir mal anders handeln oder überreagieren. Wenn wir unsere Kinder im Allgemeinen mit ihren Bedürfnissen wertschätzen und annehmen, wird aus einem Mal, an dem wir sie übergehen, keine Problematik entstehen. Bis zu zehn Erziehungsfehler am Tag seien völlig normal. Erst ab über zwanzig Fehlern pro Tag verliere ein Kind die Orientierung in der Erziehung. Was für eine Befreiung! Ich darf als Mama auch noch Mensch sein! Meine Kinder sind robust und können mich als Otto-Normal-Mutter aushalten und einordnen – auch wenn ich nicht immer alles richtig mache. Ein wunderbarer Ratschlag kommt von Christof und Hedwig Matthias von der christlichen Beratungsorganisation Team.F. Sie wissen um die Problematik, dass wir als Eltern unseren Kindern nicht alles sein und alles geben können. Sie geben diese Sorge um ihre Kinder in Gottes Hand, indem sie beten und ihn bitten, die Lücken zu füllen. Das Gebet könnte so aussehen: „Herr, hilf uns, die guten Eltern zu sein, die du dir in uns vorgestellt hast. Fülle du die Lücken und gib unserem Kind die Dinge, die es braucht, die wir aber nicht geben können.“ Gott ist mit im Spiel. Er ist der Schöpfer von Eltern und Kindern. Er hat uns als Familie zusammengestellt. Gott findet offenbar, dass ich meinem Kind eine gute Mutter sein kann. Und das will ich, so gut ich kann, erfüllen. Gott weiß, dass ich menschlich bin, Fehler habe und meinem Kind nicht alles vermitteln kann. Aber Gott hat noch mehr Möglichkeiten. Ich will ihm zutrauen, mein Kind in der Hand zu halten und sich um mein Kind zu kümmern – besser und umfangreicher, als ich es kann.

LAST ABGEBEN
Aber was ist, wenn etwas kolossal schiefläuft wie bei Daniel und Linus? Hier gibt es natürlich keine universalen Antworten. In Daniels und Linus‘ Fall hat Daniel es grundsätzlich gut gemeint, aber im entscheidenden Moment tatsächlich das Unglück mit provoziert. Was passiert ist, ist aber nicht Daniels Schuld. Das Leben auf diesem Planeten läuft nicht reibungslos oder gar schmerzlos ab – für niemanden. Nicht für Daniel, nicht für Linus, nicht für mich oder für Sie. Dafür immer nach dem Schuldigen zu suchen, führt niemanden in die richtige Richtung: weder „Opfer“ noch „Täter“. Natürlich sollte sich Daniel bei Linus entschuldigen und seinen Anteil an dem Vorfall besprechen – aber die Schuld an dem, was andere Linus angetan haben, trägt er nicht. Er konnte nicht wissen, wie sich sein Handeln auswirken würde. Jesus hat die Schuld der Welt am Kreuz getragen. Er hat auch unsere Schuld getragen, egal, ob wir etwas absichtlich oder aus Versehen falsch gemacht haben. Er kann diese Last tragen. Wir können es nicht. Es macht uns kaputt. Wir dürfen diese Last an Jesus abgeben – immer wenn sie uns drückt oder erdrückt.

SEGEN GESCHENKT
Ich denke da gern an Josef aus der Bibel: Josef hat einen Weg gefunden, mit einem „Vorfall“ fertig zu werden. Seine Brüder hatten ihn aus Neid als Sklaven in ein fremdes Land verkauft. Sicherlich grollte Josef ihnen. Aber als er den Brüdern viele Jahre später begegnete, war er nicht ein verbittertes Opfer. Josef hatte unterwegs gelernt, seinen Lebensweg anzunehmen und Schritte von da aus zu gehen, wo er war – so deplatziert das auch schien und so gern er seine Schritte woanders gegangen wäre. Gott gab Josef eine Schlüsselposition, um später seine ganze Familie zu retten. Josef vergab seinen Brüdern. Er ließ das geschehene Unrecht in Gottes Hand – und Gott konnte Schritte mit Josef gehen. Er konnte Josefs Leben lenken und einen Segen schenken, der ohne das Leid in Josefs Leben nicht so enorm groß und faszinierend ausgefallen wäre. Trauen wir Gott zu, dass er das Leben unserer Kinder heute in seiner Hand hält, auch wenn sie – wie wir ja auch – Leid erleben und ertragen müssen. Gott hat die Kontrolle – nicht wir Eltern. Was für ein Befreiungsschlag!

 

Debora Güting ist Referentin und Teil des Pastoralteams der Kirche des Nazareners in Seligenstadt, verheiratet mit Johannes und hat vier Kinder.