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Die lieben Großeltern

Ein Gastbeitrag von Anke Bürckner

„Ihr könnt ihr doch nicht ewig Bioessen geben. Sie muss doch auch mal was anderes kriegen.“ „So ein bisschen Vanillesoße kann sie doch schon bekommen, ist doch nicht viel anders als ihre Milch.“ „Wir können ihr ja mal eine rohe Kartoffel geben, zum Draufrumnagen.“ „Das Innere der Krokette kann sie doch schon essen.“ „Wir können ihren Nuckel doch mal in Honig tunken.“

Sie – das ist unsere acht Monate alte Tochter. Die Ratschläge stammen alle von ihren Großeltern und wurden uns mit unzähligen anderen gutgemeinten Tipps in den letzten vier Monaten gegeben. Am Anfang machten mein Mann und ich uns noch die Mühe, genau zu erklären, warum Vanillesoße eben doch anders ist als Muttermilch und sie mit vier Monaten noch nicht bereit ist, etwas anderes zu trinken als ihre Milch. Doch nachdem ich nun gefühlte hundertmal die Vorzüge von Bionahrungsmitteln und selbst gekochten Breien heruntergeleiert habe, habe ich darauf keine Lust mehr. Leider ist mir noch keine Alternative dazu eingefallen, die das Verhältnis zu den Großeltern nicht nachhaltig verschlechtern würde.

Ich habe eigentlich immer gedacht, dass sich Großeltern wahnsinnig freuen müssten, wenn sie wissen, dass ihr Enkelkind altersentsprechend und gesund von seinen informierten Eltern ernährt wird. Oft war ich fassungslos und aufgewühlt nach den Zusammentreffen mit den Großeltern. Mein  Mann brachte dann zumindest für seine Eltern eine schlüssige Erklärung hervor: das schlechte Gewissen. Vor dreißig Jahren galten völlig andere Empfehlungen als heute, und dass diese sich nun als falsch entpuppen, tut den Großeltern weh. Häufig waren die Umstände, unter denen die Kinder damals aufwuchsen, völlig andere. Es war weniger Geld und vielleicht auch weniger Zeit da, denn Kinder bekam man damals früher, man war noch nicht so lange berufstätig und die Hausarbeit war mühsamer, sodass nicht so viel Zeit blieb, um Fachliteratur zu wälzen, Biofleisch und Biogemüse zu delikaten Breien zu kochen oder stundenlang ausgelassen zu spielen. Die Großeltern fühlen sich durch diese Tatsache vielleicht etwas schuldig, besonders wenn sie bei jedem Besuch vorgelebt bekommen, dass wir nun das Geld, das Wissen und die Zeit haben, um für unsere Tochter das Beste zu ermöglichen.

Bei meinen Eltern vermute ich einen etwas anderen Grund. Wir leben 250 km von ihnen entfernt. Wir verbringen die Feiertage und Schulferien bei ihnen, damit sie trotz der Entfernung eine gute Beziehung zu ihrem Enkelkind aufbauen können. Bei ihnen ist wohl der Wunsch, unsere Tochter zu verwöhnen, der Auslöser für den ständigen Vorschlag, ihren Nuckel in selbst geschleuderten Honig zu tunken. Ich weiß nicht, wie oft ich schon versucht habe, über die Risiken von Honig für Kinder unter einem Jahr aufzuklären. Vergeblich. Sie wollen ihrem Enkelkind im Gedächtnis bleiben und die Zeit mit ihnen soll von unserer Tochter als besonders schön wahrgenommen werden, damit sie immer wieder gern ihre Großeltern besucht.

Meine Oma wohnte 40 km von mir entfernt, aber da war es auch so. Die Besuche bei ihr waren immer besonders schön, weil es anders war als zu Hause. Es gab anderes Essen, andere Fernsehsender (meine Eltern hatten nur drei Programme) und andere Aktivitäten. Ich erinnere mich noch, wie meine kleine Schwester vom Besuch unserer Oma mit pinken Strähnen in den Haaren zurückkehrte und meine Eltern das damals unmöglich fanden, weil sie nicht um Erlaubnis gefragt wurden. Ich fand das damals ziemlich cool von meiner Oma, würde heute aber auch sauer sein, wenn meine Eltern oder Schwiegereltern so etwas ohne Absprache machen würden.

Mit der Geburt unserer Tochter haben sich die Generationen verschoben und damit auch die Wünsche und Erwartungen. Für die nun zu Großeltern gewordenen bedeutet das: Sie wollen weiterhin ihre Erfahrungen weitergeben und mitbestimmen, werden aber nun von den Neu-Eltern in ihre Schranken gewiesen und müssen erkennen, dass sie – aus heutiger Perspektive betrachtet – vielleicht sogar Fehler in der Erziehung gemacht haben. Das tut weh und sollte von der Elterngeneration aufgefangen werden, auch wenn das bedeutet, dass man zum hundertundersten Mal noch ruhig erklärt, warum der Brei aus Biozutaten bestehen sollte und warum Honig gefährlich sein kann.

Das Problem ist nur, dass man sich als Neu-Eltern nicht respektiert fühlt, wenn immer wieder der gleiche, in den eigenen Augen völlig unsinnige Vorschlag gemacht wird. Und dieses Gefühl verletzt dann wiederum die jungen Eltern.

Der Idealzustand wäre natürlich, wenn die Eltern und die Großeltern sich in ihrer jeweiligen neuen Rolle wertgeschätzt fühlen. Dies lässt sich vielleicht mit Teilhabe erreichen. Die Eltern sollten den Großeltern Aufgaben übertragen und sie dafür loben, wenn sie diese Aufgaben toll bewerkstelligen. Dann fällt es den Omas und Opas auch leichter, Grenzen zu akzeptieren, wenn sie einen Bereich haben, auf dem sie „Experten“ sind. Wir haben sie unsere Tochter mit dem von uns gekochten Brei füttern lassen. Dann ließen die Nachfragen bezüglich der Zubereitung etwas nach. Natürlich gibt es auch weiterhin Reibungspunkte, aber diese gibt es schließlich überall, wo unterschiedliche Generationen und Ansichten aufeinander treffen und ohne die das Leben um einiges langweiliger wäre.

Anke Bürckner

 

Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht?

Wie regelt ihr solche Meinungsverschiedenheiten mit den Großeltern?

Wie reden wir über unsere Kinder?

Gestern habe ich wieder so eine Situation erlebt, die mich aufmerken ließ. Und mir den Spiegel vorgehalten hat. Ein Vater beschwert sich über seine Tochter: Sie habe ihren Schlüssel verloren. Und dazu noch aus Ungeschicklichkeit großes Chaos angerichtet. „Töchter sind furchtbar!“, entfährt es ihm genervt. Und die Tochter steht daneben …

Mir hat es einen Stich versetzt. Ja, wir Eltern haben oft genug Grund zu klagen. Kinder sind anstrengend, bringen unser Leben durcheinander, machen uns Sorgen und oft nicht das, was wir von ihnen erwarten. Aber erstens sind die meisten Erwachsenen nicht viel anders. Und zweitens gehört es eben zum Leben dazu, dass nicht immer alles so läuft, wie ich mir das vorstelle.

Aber vielleicht gefallen wir Eltern uns ja auch manchmal darin, uns im Klagen gegenseitig zu übertrumpfen? Ich habe mich jedenfalls schon mal dabei erwischt. „Ja, kenne ich auch. Stell dir vor, mein Kind hat sogar …“

Aber es ist so wichtig, wirklich sorgsam damit zu sein, wie wir über unsere Kinder reden. Natürlich können wir auch mal Dinge benennen, die nicht gut gelaufen sind. Aber der Ton macht die Musik. Wie geht es einem Kind, das von seinem Papa hört, es sei „furchtbar“? Bleibt das nicht viel stärker hängen als ein fünfmal nebenbei gesagtes „Ich hab dich lieb“?

Aber auch wenn die Kinder nicht dabei sind und mithören, sollten wir gut überlegen, wie wir über sie reden. Denn wie wir über sie reden, prägt, wie wir über sie denken und fühlen. Und es prägt letztlich unsere Beziehung zu ihnen.

Mein Vorschlag: Wir schaukeln uns nicht mehr gegenseitig hoch mit Negativ-Geschichten über unsere Kinder. Sich mal ehrlich beim Partner oder der Freundin ausheulen, weil man eine Situation grad schwierig findet – natürlich ist das okay. Aber vieles ist einfach so daher gesagt. Weil wir Aufmerksamkeit möchten. Weil es manchmal so schön ist, zu jammern und zu klagen.

Ich will das nicht. Ich möchte, dass meine Kinder meine Liebe und Wertschätzung spüren. Und dass sie Kritik als konstruktiv erleben.

Bettina Wendland

Family-Redakteurin

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Wie Schüler mit Druck umgehen können

Die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Welche Entwicklungen treffen dabei aufeinander? Diese Frage beantwortet die Diplom-Psychologin Prof. Dr. Heidrun Bründel, Autorin des Buches „Schülersein heute“.

 

Wenn man sich den Alltag von Schülerinnen und Schülern anschaut, dann stellt man häufig fest, dass er so eng getaktet ist wie der Arbeitstag eines Erwachsenen. War das früher auch so?

Nein, nicht in dieser Ausprägung. Es gab natürlich schon immer Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihrer Interessen nach der Schule einen engen Terminkalender hatten, doch das hatte individuelle Gründe, keine strukturellen. Familien insgesamt leiden heute im Vergleich zu früheren Generationen verstärkt unter Zeitknappheit. Das Thema Zeit beherrscht das Familienleben sehr stark und wirkt sich auch auf den Kinderwunsch aus.

Inwiefern?

Der Aspekt Zeit spielt eine große Rolle bei der Entscheidung für oder gegen Kinder. Männer und Frauen haben allerdings sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Zeit sie gewillt wären, zu reduzieren, wenn Kinder da sind: ihre Freizeit oder ihre Arbeitszeit. Männer befürchten, ihre Freizeit reduzieren zu müssen. Frauen dagegen denken an eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit. Gleichzeitig erschrecken die hohen Erwartungen und Anforderungen, die heute an Eltern gestellt werden. Eltern sollen ja alles richtig machen.

Das hört sich – überspitzt – an, als würden Kinder heute in Beziehungen hineingeboren, die von Befürchtungen geprägt sind.

Überspitzt, ja. Aber es ist richtig, dass Kinder in Beziehungen hineingeboren werden, in denen ein großer Druck herrscht, alles richtig machen zu müssen. Eltern sollen liebevoll und fürsorglich sein; sie sollen ihre Kinder fördern und bei der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben unterstützen, sie gut durch die Schule bringen, mit dafür sorgen, dass sie gute Schulabschlüsse erreichen und sich natürlich für die Belange der Kinder engagieren, sich in Kita und Schule einbringen usw.

Geben Eltern den Druck, den sie spüren, an ihre Kinder weiter?

Häufig ist es so. Da viele Eltern hohe Erwartungen an ihre Kinder haben, heißt Schülersein heute vor allem, von Anfang an mit Druck umgehen zu können.

Diesen Druck spürt auch die Schule, etwa wenn statt der Kinder die Eltern bei einer Note um jede Ziffer hinter dem Komma kämpfen. Welche Herausforderungen sehen Sie für Lehrerinnen und Lehrer?

Eltern sind anspruchsvoll geworden und erkennen die Kompetenzen der Lehrkräfte nicht mehr ganz selbstverständlich an. Das ist ungewohnt und anstrengend für beide Seiten. Die aktuell wohl größte Herausforderung liegt für Lehrkräfte jedoch darin, sich von einem Schulsystem zu trennen, dass bisher auf Segregation gesetzt hat. Alle Neuerungen sind mit Ängsten verbunden und viele Pädagogen fragen sich, ob sie die Balance zwischen Flexibilität und Stabilität halten können. Eine weitere Herausforderung stellt die Debatte um die Abschaffung der Schulnoten, des Sitzenbleibens und der Hausaufgaben dar. Auch dies verunsichert.

Schülersein heute heißt demnach, Schulen zu besuchen, wo Lehrkräfte möglicherweise um Souveränität ringen, und in Familien zu leben, wo sich Eltern im besten Fall um Druckausgleich bemühen und wo Zeitmanagement eine wichtige Kompetenz ist. Kann in dieser Gemengelage die Ganztagsschule entlasten?

Die Ganztagsschule ist ein weiterer entscheidender Unterschied des Schülerseins heute im Vergleich zur vorherigen Generation. Ob sie entlastend wirkt, hängt entscheidend von der Qualität der Schule und hier von den Beziehungen ab, sowohl der Schülerinnen und Schüler untereinander und des Miteinanders im Kollegium als auch des Verhältnisses zwischen Lehrkräften und Schülerschaft. Das gemeinsame Mittagessen und gepflegte Rituale können die Beziehungen untereinander stärken und zu einem Wohlgefühl beitragen, dass der psychischen Gesundheit dient.

Wenn man sich moderne Formen der leistungsbezogenen Feedback-Kultur wie Logbücher und Lerntagebücher anschaut, die wöchentlich von den Eltern abgezeichnet werden müssen: Stehen Schüler nicht auch mehr unter Beobachtung als früher? Da „schneite“ eher unvermittelt ein „5“ ins Haus, und von den Eltern hieß es dann „Streng dich mehr an“!

Die Jugendlichen holen sich über die neuen Medien einen Teil unbeobachtete Zeit zurück. Ich denke, dass Zusammenarbeit und Kommunikation im Verhältnis Schule-Elternhaus sehr wichtig sind. Allerdings sind Schule und Elternhaus konträr strukturierte soziale Räume, die in einem spannungsreichen Verhältnis zu einander stehen. Ein Beispiel: Der längere Aufenthalt in der Ganztagsschule entlastet zwar, wie alle Studien zeigen, das Familienleben. Gleichzeitig führt er bei Eltern zu der Befürchtung, weniger von ihren Kindern mitzubekommen.

Das klingt insgesamt nach einem Drahtseilakt …

Sagen wir es so: Eltern sowie Schülerinnen und Schüler haben heute deutlich mehr Verantwortung, weil sie zu Reflexion und Partizipation angehalten werden. Darin liegt für Kinder und Jugendliche zwar die Gefahr der Überforderung, aber ebenso eine große Chance für ein selbstbestimmtes Leben.

Dr. Heidrun Bründel ist Diplom-Psychologin, EurpPsy (BdP). Sie war langjährig in der Bildungs- und Schulberatung tätig und lehrte an der Universität Bielefeld. Bekannt geworden ist sie u. a. mit der ‚Trainingsraum-Methode’ und ihren Forschungen zu Suizid unter Schülern. Heidrun Bründel arbeitet freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung von Psychologen, Schulleitern und Lehrkräften. Interview: Inge Michels, Klett-Themendienst

„Alle lieb, keine blieb.“

Erst hieß sie Maria, dann hieß sie Monica, dann Christina oder war es Karina? Sophie, Gabi, Katharina, Eva, Anne-Marie, Irina, Birgit, Ramona, Renate … Manche blieben kurz, manche länger, manche sprachen deutsch, manche nicht, manche waren jung, manche älter, manche blond, manche braunhaarig … Nein, es geht nicht um die Liebhaberinnen eines jungen Mannes. Es sind die Bezugspersonen unserer Kinder in einer Münchner KiTa. Die Namen sind selbstverständlich erfunden. Die Zahlen und die Fakten leider nicht.

Die Münchner KiTa, die die kleine Lilly (auch dieser Name ist erfunden) aufgenommen hat, eröffnete im April 2014. Mit viel Hoffnung und zwölf neuen Kindern, die zum ersten Mal die Wärme und Geborgenheit ihrer Familie verließen. Zwölf zarte Kinder, die erst zehn Minuten, dann 30 Minuten, dann zwei Stunden, dann fünf, acht oder gar neun Stunden ganz allein ohne Mama und ohne Papa den halben Tag bei zwei für sie „fremden Wesen“ blieben. Liebevoll haben diese „Wesen“ die zwölf Kinder „eingewöhnt“, aufgenommen, gewickelt, gekitzelt, ihnen Butterbrötchen geschmiert und das Schnitzel kleingeschnitten, haben mit ihnen gekuschelt, gespielt, ihnen vorgesungen, vorgelesen, ihre Hand gehalten, damit sie einschlafen, ihre Stirn gekühlt, jedes Mal wenn sie gestürzt sind. Noch dazu haben sie ihren Eltern täglich ganz Tolles über ihre süßen Krümelchen berichtet und ihnen Tipps und Anregungen gegeben. Diese leistungsstarken, verantwortungsvollen, geborgenheitsschenkenden, wunderbaren Wesen heißen auf Deutsch „Erzieherinnen“ und „Kinderpflegerinnen“. Und die Geschichte klingt märchenhaft schön.

Auch die kleine Lilly hatte zwei liebe Bezugspersonen: eine Erzieherin und eine Kinderpflegerin. Und dann zwei neue. Von ihnen blieb nur eine. Sie wurden wieder zwei. Dann blieb wieder nur eine. Dann keine. Doch wieder zwei. Elf wurden sie insgesamt. Elf unterschiedliche „Ersatzmamis“ hatte die kleine Lilly — und dies innerhalb von eineinhalb Jahren.

In dieser KiTa geht es bei den Fachkräften merkwürdigerweise zu wie im Vogelschlag. Alle paar Monate entdecken die Kinder in der KiTa neue Gesichter. Mit neuen Liedern, neuen Spielen, neuem Geruch, neuen Armen zum Kuscheln, neuen Stimmen zum Vorlesen, neuen Bastelideen, neuen Persönlichkeiten … Alle lieb, aber keine blieb. Es stimmt nicht so ganz: Einigen wurde gekündigt, andere kündigten, aber fünf blieben doch in der KiTa, wurden einfach in die neu eröffneten Gruppen versetzt. Nach dem Motto „rechte Tasche, linke Tasche, vielleicht wird das Geld dadurch mehr“. Personalmangel? Unverträglichkeiten zwischen Kollegen? Konflikte mit Eltern? Unruhige Kinder? Oder irgendwelche anderen Schwierigkeiten? Alles lässt sich mit Versetzung oder Kündigung blitzschnell lösen! Zeit und Geduld, Dialog, Beratung, Supervision: Das ist doch alles passé!

„Bin ich schuld?“, denkt sich die kleine Lilly. Kinder beziehen eben alles auf sich.

Wer ist schuld? Die Erzieherin, die einen besseren Job gefunden hat? Nein. Die KiTa-Leitung, die noch unerfahren ist? Nein. Vielleicht der Träger? Nein, denn er findet kein Personal. Die Stadt München? Nein, denn „das Problem ist auf den in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel zurückzuführen“. Das bayerische Staatsministerium? Frau Merkel? Die Europäische Kommission? Niemand fühlt sich verantwortlich. Jeder denkt an seine eigenen Interessen. Und keiner denkt an die kleine Lilly.

Sprachförderung, mathematische Früherziehung, naturwissenschaftliche Früherziehung, Vorbereitung auf Lesen und Schreiben, Singen und Musizieren, musikalische Früherziehung, bildnerisches Gestalten, sportliche Früherziehung — all das sollen unsere Kinder bis zum Schuleintritt können. Und freies Spiel. Mit so genannten Entwicklungsfragebögen wird geprüft, ob sie alles rechtzeitig geschafft haben. Somit ist eine leistungsfähige Jugend für die Zukunft des Landes gesichert. Sie müssen uns ja immerhin bei der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf unterstützen und unsere Renten zahlen. Wenn man früh genug anfängt, kann man mehr erreichen.

Nur die emotionelle Früherziehung steht nicht auf der Liste des Bundesministeriums: Bindung und Geborgenheit, Vertrauen aufbauen, zwischenmenschliche Probleme durchstehen können, Konflikte lösen, aufeinander achten, anderen zuhören, sich trauen, eine eigene Meinung zu haben, die eigenen Gefühle verständlich ausdrücken, tiefe langfristige Beziehungen bauen. Das müsste man auch üben und trainieren, genauso wie 1+1 und Hände waschen. Dafür sind die Ersatzmamis gezwungen, auf ihre eigene Erfahrung zurückzugreifen und ihrem eigenen Instinkt zu folgen. Denn es gibt keine entsprechende PDF-Datei zum Download auf der Seite des Bundesministeriums für Bildung. Emotionelle Entwicklung ist selbstverständlich und sie muss zwischendurch erfolgen, weil das pädagogische Programm schon voll ist.

Nun wollte die kleine Lilly einfach mit ihren Freunden spielen, während die nette Ersatzmami im gleichen Raum das Obst klein schneidet und den Tisch deckt. Es ist ja so gemütlich … Das wurde ihr aber nicht gegönnt. Fast wie das Kinderlied, dass Lilly gerade in der KiTa lernt: „Meine Ersatzmami ist verschwuuunden, ich habe keine Ersatzmami meeehr. Ach, da ist eine neue wieder, trala lala lala laaa …“

Warum versuchen wir, den Kindern mühevoll alles beizubringen? Am Ende werden sie sowieso das tun, was sie von uns sehen. Was lernt die kleine Lilly aus so einer Erfahrung? Sich nicht auf Mitmenschen zu verlassen; keine Versprechen zu halten; nur an sich selber denken; Probleme zu umgehen, anstatt sie anzusprechen und zu lösen; sich anpassen und bloß nicht zu viel Persönlichkeit zeigen; gute Leistung bringen, um beliebt zu werden. Diese erworbenen Eigenschaften, zusammen mit dem „pädagogischen Angebot“, werden unsere Ellenbogengesellschaft bestimmt bereichern.

Marina Varouta, Mama einer 2,5-Jährigen und Lehrerin für musikalische Früherziehung und Klavier

 

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Pfeffermühle rettet Familien

Ist es bei euch auch so: Mama ruft zum Essen, aber keiner reagiert, weil alle auf einen Bildschirm starren? Und wenn sie sich dann zum Esstisch bequemen, kommt das Smartphone natürlich mit. Linda könnte ja ein Foto ihrer neuen Hotpants auf Instagram posten. Papa könnte eine wichtige dienstliche Mail bekommen. Und Jannis muss online sein, falls in der Fußballgruppe der Treffpunkt für das morgige Turnier mitgeteilt wird. Und so stopfen sich alle wortlos ihre Spaghetti in den Mund, während sie mit Facebook, Whatsapp oder Chefkoch-App beschäftigt sind …

Einen schönen Werbegag dazu hat sich der Pasta-Saucen-Hersteller Dolmio überlegt: Sie haben eine Pfeffermühle entwickelt, die nicht nur Pfeffer mahlen kann (das wäre ja auch keine Meldung wert), sondern die auch elektronische Geräte wie Smartphones, Tablets oder Fernseher ausschaltet. Ziel ist es, dass Familien beim gemeinsamen Essen wieder miteinander reden und nicht nur auf Bildschirme starren.

Die Prototypen wurden von australischen Familien getestet. Dazu gibt es auch ein eindrucksvolles Video: www.youtube.com/watch?v=HUgv5MDF0cQ.

Zu kaufen gibt es die originellen Pfeffermühlen allerdings noch nicht und ich bezweifle, dass es sie geben wird. Wahrscheinlich wollte Dolmio mit diesem Video vor allem den Markennamen ins Gespräch bringen – und das ist ihnen ja auch gelungen.

Aber würdet ihr so eine Mühle kaufen? Fändet ihr sie hilfreich? Könnte sie euer Familienleben retten?

Was ich mich allerdings noch viel mehr frage: Ist es schon so weit mit uns gekommen, dass wir solche Tricks nötig haben? Können wir das Problem, dass beim Essen alle auf Bildschirme starren – wenn es denn so ist –, nicht anders lösen?

Wie wäre es zum Beispiel mit der guten alten Familienkonferenz? Ach nein, funktioniert ja nicht, weil alle mit dem Smartphone beschäftigt sind …

Dann müssen vielleicht die Eltern ran und ihr Phone während des Essens weglegen. Oh, ich fürchte, das ist zu viel verlangt. Schließlich bekommen sie ja wirklich wichtige Nachrichten – im Gegensatz zu den Kids und Teens, die nur sinnfreie Posts verschicken …

Aber auf uns Eltern kommt es eben an! Und wenn wir wollen, dass beim gemeinsamen Essen über Klassenarbeiten, Wochenendgestaltung und Fußballergebnisse geredet wird, müssen wir auch die Voraussetzungen schaffen. Also Fernseher aus und Handy weg! Und mit den Kids und Teens sollte man das am besten von vornherein abklären. Bevor sie ein Smartphone oder Tablet bekommen, wird ein „Vertrag“ aufgesetzt mit Regeln, über die man sich gemeinsam verständigt. Dazu gehört auch die Regel „Kein Bildschirm beim Essen.“ Die Pfeffermühle kommt trotzdem auf den Tisch. Vielleicht muss Mamas Chefkoch-Rezept ja noch nachgewürzt werden!

Bettina Wendland

Family-Redakteurin