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„Ich bin gut“ – Wie wir ein positives Selbstbild entwickeln

Ein positiver Blick auf uns selbst fällt oft schwer. Aber von Kindern können wir lernen, wie das geht.

Mein Sohn Dennis war drei Jahre alt, als er mit einem einzigen Satz mein Weltbild ins Wanken brachte. Wir Eltern saßen auf dem Sofa. Dennis lief strahlend an uns vorbei, hatte den Schalk in den Augen und sprach: „Ich bin gut.“ Er sagte das mit viel Freude, ohne jeden Anflug von Zweifel, mit Selbstvertrauen und Spaß an sich selbst. Es ging ihm nicht darum, unsere Bestätigung zu bekommen. Er wollte uns diese Tatsache einfach nur mitteilen und uns an seiner Freude teilhaben lassen.

Da saßen wir pädagogisch geschulten Eltern nun, sahen uns an, und da war sie, unsere neue Aufgabe für die nächsten 15 Jahre. Wir waren uns einig, dass wir dieses wunderbare Selbstwertgefühl so gut wie möglich beschützen und auf uns selbst aufpassen wollen, damit wir es nicht zerstören.

Nicht rumziehen

Mir war der Begriff „Erziehung“ schon immer suspekt und unangenehm. Er hat für mich etwas von „geradeziehen“ oder „in eine Form ziehen“. Dieses Kind brauchte nicht „erzogen“ werden, es war gut so, wie es war. Ich habe mich also nicht mehr von pädagogischen Konzepten inspirieren lassen, wohl aber davon leiten lassen, dass es in jeder Gruppe, in jedem Zusammenleben Regeln geben muss. Diese Regeln kamen von uns Eltern, zunehmend in Absprache mit unserem Sohn. Und hin und wieder war eine klare Ansage nötig. Wir haben, wie alle Eltern, natürlich auch Fehler gemacht. Aber niemals hatte ich Zweifel an Dennis‘ Aussage „Ich bin gut“, niemals die Vorstellung, ich sollte dieses Kind irgendwie besser machen, an ihm rumziehen. Dennis hat mir mit seinen drei Jahren den Weg gewiesen.

Ich frage mich, ob wir alle so sind in diesem Alter, so eins mit uns selbst, so einverstanden mit uns – und wann es beginnt, dass sich Unsicherheit und Selbstzweifel breitmachen. In frühen Fotos meiner Kindheit habe ich geforscht, ob in meinem Gesicht, meiner Haltung auch so ein spitzbübisches Leuchten zu finden ist. Auf einem Foto habe ich es tatsächlich entdeckt.

Einverstanden mit uns selbst

Warum ändert sich das so schnell? Welchen Einflüssen sind wir ausgesetzt? Ich denke, ein Elend ist die dauernde Bewertung und Benotung, denen Kinder ausgesetzt sind. Davor konnte ich auch Dennis nicht beschützen. Und ich habe den Eindruck, es wird immer schlimmer. Der Einfluss der sozialen Medien kommt in den letzten Jahren noch erschwerend hinzu.

Wäre es nicht großartig, wenn wir auch im Erwachsenenleben fröhlich und selbstbewusst „Ich bin gut“ sagen könnten oder etwas ähnlich Positives? Und wenn wir das auch dürften, würde es uns nicht schwerfallen, wäre es nicht peinlich und es würde von unseren Mitmenschen nicht als großspurig oder arrogant bewertet werden. Es wäre eine schlichte Selbstverständlichkeit und der Ausdruck unseres Einverstandenseins mit uns selbst.

Dennis kann das übrigens als erwachsener Mann immer noch: „Ich bin gut in dem, was ich mache.“ Da muss ich immer lächeln und erinnere mich an die Szene vor vielen Jahren, die mir so deutlich in Erinnerung geblieben ist und mein Denken und Handeln beeinflusst hat.

Renate Schwertel ist als Dozentin für eine Software und in der Erwachsenenbildung tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und einem ihrer Söhne im Taunus.

Wenn ich nochmal erziehen könnte …

Stefanie Diekmann reflektiert, was sie als Mutter gut gemacht hat. Und was sie ändern würde, wenn sie nochmal neu anfangen könnte.

Vor mir turnt ein kleiner Mensch im Kinderwagen herum. Gleich wird er sich aus den Gurten herausgewunden haben. Der Kassenbereich eines Drogeriemarktes ist leider kein Ort für diese Expeditionen. Der Vater greift beherzt und auch entnervt zu. Seufzend fährt er sich durch die Haare. Diese Bewegung kenne ich von mir. Und auch das Seufzen. Am liebsten würde ich distanzlos ein paar ermutigende Worte hinüberrufen.

ZUCKER UND MONSTERPUPPEN

Unsere Kinder sind groß. Ich war gern mit ihnen unterwegs. Ein zusammengeliebtes Expeditionsteam. Jeder Tag war für mich voller intensiver Momente: turnende Kinder im Kinderwagen, Zahn-Putz-Kämpfe, Haare raufen wegen einer schier endlosen To-do-Liste. Mit vollem Eifer haben mein Mann und ich unsere Kinder erzogen. Angefeuert von Büchern, Magazinen, Elternkursen, einem Schwung handfester Tipps zur Beherrschung des Chaos und Hinweisen, wie Kinder zu prägen und zu handhaben sind. Während ich in der Schlange im Drogeriemarkt stehe, realisiere ich: Die Bedürfnisse unserer Kinder haben in den Regeln, die auf diesen Grundlagen entstanden sind, nicht immer Platz gefunden. Auch wenn mehr als offensichtlich war, dass unsere Kinder ganz unterschiedlich auf Ansprache oder Körperkontakt reagierten. Ich wollte alles so richtig machen. Und das war so anstrengend. Wie oft ich am Tag gedacht habe: „Wehret den Anfängen! Das darf nicht, das auch nicht und am besten gleich für alle drei.“ Mir fallen Debatten um Zucker, dubiose Hörspiele oder Monsterpuppen ein, bei denen ich immer noch motiviert meinen Weg gehen würde. Mir fallen auch Kraftfresser ein, die ich heute leichter nehmen würde: Schwimmkurs, Kleid-Drama am Sonntag, schnell durch den Tag kommen, eincremen. Das Chaos zähmen und beherrschen – muss das wirklich sein?

LANGSAMER LEBEN

Ich denke an ein Zitat von Søren Kierkegaard: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.“ Was würde ich anders machen? Den Eifer würde ich behalten wollen, aber meinen Tag langsamer leben. Mich mehr im Moment verorten. Den Geruch meines gerade aufgestandenen tapsigen Kleinkindes aufsaugen, das Plappern des Kindergarten-Mädchens oder die Sport-Reportagen des Teen-Boys … Ich war so schnell unterwegs und oft getrieben von dem Wunsch, so viel zu wuppen wie die anderen Familienteams.

Unsere Kinder waren sehr laut und wild. Der Esstisch war ein Boot in Seenot, das schwere Sofa wurde durch das Wohnzimmer geschoben und diente als erdachtes Tierheim. Das fiel mir nicht schwer und ich habe es sehr genossen: Trubel, Kreativität und ihr eigenständiges und versunkenes Spiel. Was ich nicht gut konnte: meine Erschöpfung bemerken und rechtzeitig Grenzen ziehen durch Aufräumen, ruhigere Spielphasen oder Mahlzeiten. Mein Agieren im „Ich kann nicht mehr“-Modus hat meinen Kindern wenig Vorbild ermöglicht, um eigene Kraftphasen abzugrenzen. Heute sehe ich bei meinen erwachsenen Kindern, wie sie einer Sache über Gebühr Kraft schenken. Ich habe die Chance verpasst, ihnen vorzuleben, leidenschaftlich zu sein und Grenzen zu setzen.

DIE KRAFT DES KINDES STRAHLEN LASSEN

Schwer zu tragen waren Gedanken wie: Mein Kind ist nicht ganz einfach, unpassend, fordernd. Die ersten Begegnungen damit haben mich umgehauen. Bewertungen zu unseren Kindern habe ich geschluckt. Angenommen, dass ich diese Rückmeldungen verarbeiten muss. Dass ich dafür zuständig bin, dass mein Kind vermeintlich normaler, lieber und angepasster wird.

Wenn ich heute mit Eltern arbeite, versuche ich, die Kraft des Kindes strahlen zu lassen. Ich erinnere mich, wie Menschen mit solchen positiven Rückmeldungen mir als Mutter gutgetan haben und meine Offenheit für einen Prozess der Reflexion viel größer war als nach einem schroffen, negativen Kommentar über mein Kind. Mit dem Vertrauen, dass mein Kind Entwicklungsmöglichkeiten hat, können wir zusammen besser Themen ansehen, die Aufmerksamkeit brauchen. Eine Zurechtweisung, eine Festlegung durch Fremde, Familie oder Schule würde ich heute weniger zulassen.

VORWÄRTS LEBEN

Das Zitat von Søren Kierkegaard besteht aus einem weiteren Satz, der mich aus meiner Erinnerungsreise ins Heute zurückholt: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts.“ Vorwärts … Aber ist nicht das Prägen längst beendet?

Wir sind mit unseren drei erwachsenen Kindern in der Phase, wo sie Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen, die ich ganz anders bewertet habe. Manchmal finde ich es wunderschön, manchmal erschreckt mich ihre Wahrnehmung. Nicht selten haben wir als Eltern unsere Kinder schon gefragt: Haben wir zu streng gehandelt? Was hättest du dir gewünscht, als du nicht zum Zahnarzt wolltest? War es okay für dich, mit zehn Jahren allein durch Deutschland mit dem Zug zu fahren? In diesen Runden haben wir uns immer wieder auch auf den Weg der Vergebung gemacht. Wir leben davon, dass Gott Neuanfänge liebt, und konnten den anderen dabei aus der Last eines Fehlers entlassen. So bleibt in vielen Themen zwar eine „Retroliebe“, wie Wehmut auch heißen könnte. Der Schmerz über Fehler darf durch Vergebung weniger werden.

Vorwärts leben heißt für mich, aus den Beobachtungen des Gestern zu lernen. Heute kann ich achtsamer meine Begegnungen leben und meinen Kindern zuhören, wenn sie ihre Weltsicht teilen. Das Expeditionsteam Familie ist nicht vorbei, es hat nur eine andere Art, die Welt zu entdecken. Wir leben derzeit an drei Standorten, bald vier. Manches wird mir Kraft rauben und mich explodieren lassen, manches kann ich gut füllen. Wir haben uns verletzt, ermutigt, gesegnet und gestärkt. Und wir werden es auch für die nächste Etappe tun. Anders und neu.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.

Fragen für eine Austauschrunde mit den großen Kindern

 

  • Was war/ist an unserer Familie besonders?
  • Was hat dir gutgetan?
  • Welchen Moment erinnerst du als Geborgenheit?
  • Welchen als Herausforderung?
  • Das würde ich heute in eurer Erziehung anders machen …

Ohne Helm?

In vielen Erziehungsfragen können Eltern unterschiedlicher Meinung sein. Und diese auch sehr laut vertreten. Wie können wir einen guten, eigenen Weg finden? Anregungen von Sandra Geissler

Vor einigen Monaten, an einem dieser wunderbar warmen Spätsommerabende, gingen der Gatte und ich aus. Die Winzer in unserem kleinen Städtchen hatten ihre Höfe geöffnet, Musik spielte und Fröhlichkeit lag in der Luft. Wir kamen um 19 Uhr, saßen in geselliger Runde mit alten Freunden zusammen, genossen den Wein, die Gespräche und das quirlige Leben um uns herum. Pünktlich um 22.15 Uhr klingelte mein Handy, und ich wusste sofort, wer dran sein würde.

Fünf Kinder waren allein zu Hause geblieben, hatten sich selbst mit Pizzabrötchen versorgt, die Chips gerecht verteilt und gemeinsam einen Film geschaut. Sie hatten es sich nett gemacht, und nun hatte einer genug. Der Gatte und ich verstanden das Signal zum Aufbruch und machten uns umgehend an das Verabschieden. Am Tisch blickten wir in entgeisterte Gesichter. „Wieso geht ihr denn jetzt schon?“

„Warum bringen sich die Kinder nicht einfach allein ins Bett, die sind doch alt genug?“ „Es ist doch gerade mal kurz nach zehn. Nur weil einer will, dass ihr zurückkommt, rennt ihr gleich los?“ „Schade, wirklich sehr schade.“

Ich bin mir sehr sicher, dass ich nur zwei Tische weiter auf ähnliches Unverständnis gestoßen wäre – nur in die andere Richtung. „Wie, ihr lasst die Kinder allein? Sind die Jüngsten nicht erst sieben? Und dann geht ihr gleich für mehrere Stunden? Das ist leichtsinnig, selbstbezogen und fahrlässig, vor allem, wenn ein Backofen dabei genutzt wird!“ Das ist das ewige Dilemma von Eltern. Welcher Weg unter tausend möglichen ist der richtige? Der, den die meisten gehen, der, der am lautesten angepriesen wird, oder doch der Trampelpfad, den kaum einer nutzt?

Blutrauschmodus deaktiviert

Mit der Geburt eines Kindes beginnt ein nicht enden wollendes Quiz an Rätselfragen, verwirrender und verworrener als das Wegenetz im deutschen Wald. Sie drehen sich um richtige Ernährung, richtige Kleidung, um Schlafgewohnheiten und Mediennutzung, um inhäusige und aushäusige Betreuung, um das richtige Maß an Zuwendung und die Art, wie wir miteinander sprechen, essen, lieben und streiten. Was den einen zu viel ist, ist den anderen zu wenig. Während die einen fröhlich Fruchtquetschies und Kekse unters Kindervolk bringen, halten die anderen einen Muffin in der Brotbox für potenzielle Kindesmisshandlung.

In manchen Familien gilt Peppa Wutz als ausgezeichnete Babysitterin, die immer willig einspringt, wenn Not an Mann oder Frau ist. Zwei Häuser weiter wird ihr der Zutritt strengstens verwehrt, denn das Parken vor Fernseher oder Tablet grenzt an Verwahrlosung und schädigt nachhaltig Kinderseelen und -gehirne. Ich kenne Kinder, die nur mit Helm auf dem Kopf im eigenen Wohnzimmer Bobby-Car fahren und andere, die sich notdürftig geschützt mit Laufrädern steile Rampen herunterstürzen. Während die einen klare Ansagen bevorzugen, halten andere strenge Worte für einen Akt von verbaler Gewalt. Schneller, als man gucken kann, wird in Erziehungs- und Familienfragen mit aller Schärfe ausgefochten, was eigentlich nicht auszufechten geht, weil es eben immer mehrere Wege gibt.

Vor einigen Jahren schenkten wir unserem Sohn ein Computerspiel zu Weihnachten, das er sich sehnlichst gewünscht hatte. Zwei Tage später las ich, dass genau dieses Spiel ein absolutes No-Go für Teenager sei, und natürlich fuhr mir der Schreck in alle Glieder. Wer will schon einen potenziellen Axtmörder großziehen? Dabei hatten wir schon längst selbst überlegt, abgewogen und gute Lösungen gefunden. Das Spiel durfte nur am Wochenende gespielt werden, zeitlich begrenzt und mit väterlicher Unterstützung. Der Blutrauschmodus war direkt deaktiviert worden. Was blieb, war ein Historienspektakel für den Geschichtsfreak. Und doch geriet ich für einen Moment schwer ins Wanken. War unser Weg denn der richtige? Was, wenn wir irrten und irreparable Schäden an der Kinderseele anrichteten?

Lösungen finden – ohne Unterlass

Die allermeisten Eltern geben sich unwahrscheinlich Mühe, auf die unzähligen Fragen des Familienlebens eine gute Antwort zu finden. Sie informieren sich auf allen gängigen Wegen, sie gleichen mit ihren persönlichen Werten ab, manche Antworten bringen sie aus ihrer eigenen Kinder- und Jugendzeit mit. Jeder Familienmensch weiß, wie mühselig dieses Geschäft mitunter sein kann und wie viel es zu berücksichtigen gilt. Nicht nur, dass wir als Eltern ohne Unterlass Antworten und Lösungen finden müssen, wir hören auch beständig die Antworten und Lösungen unserer Mitmenschen: aus berufenen Großelternmündern, in Ratgebern und auf dem Spielplatz, von Kitaerzieherinnen und dem ganzen Internet. Teilweise widersprechen sie sich, teilweise widersprechen sie unserem eigenen Wesen oder dem Wesen unseres Kindes.

Manche Zeitgenossen vertreten ihre Antworten und Lösungen mit einer Vehemenz und einem Wahrheitsanspruch, dass es einem ganz schwindelig werden kann. Schwindelig, weil man für das eigene Kind und die eigene Familie selbstredend das Beste möchte, den richtigen Weg und die einzig richtige Lösung. Schwindelig aber auch, weil bei aller Mühe die angepriesenen Wege manchmal nicht gangbar scheinen und man nur noch stolpert und klettert. Es muss doch irgendwie zu schaffen sein, was für alle anderen scheinbar mühelos machbar ist.

Und gerade weil man nichts verkehrt machen will und heilfroh ist, endlich die richtige Antwort gefunden zu haben, gerät man manches Mal selbst in Versuchung. Dann sollen es die anderen bitte schön ganz genauso machen, denn unser Weg ist der richtige. Sonst würden wir ihn doch wohl gar nicht gehen! Ehe man sich versieht, beharrt, verurteilt und überrumpelt man fröhlich drauflos, ohne zu bemerken, wie übergriffig das für andere Mütter und Väter sein kann.

Verhärtung der Fronten

Ganz egal, um welche Frage des Lebens es sich handelt, ob um Smartphone-Nutzung, Kinderbetreuung, Schlafgewohnheiten oder Fragen der Ernährung und des guten Umgangs, alle gefundenen Antworten müssen sich zuallererst an ihrer Umsetzbarkeit im eigenen Familienleben messen lassen. Keine Familie gibt es zweimal, jede für sich ist ein bunter Haufen von Individuen. Was also für die eine Sippe hervorragend funktioniert, kann die andere an den Rand der Verzweiflung bringen. Keiner kennt Sie, Ihre Werte, Ihre Eigenheiten und Besonderheiten so gut wie Sie selbst. Auf diese unschlagbaren Kenntnisse kann man durchaus vertrauen. Meiner Erfahrung nach empfiehlt sich dennoch ein großes Maß an Flexibilität, denn eine einmal gefundene Antwort kann unter Umständen ein sehr kurzes Haltbarkeitsdatum haben.

Sie halten vielleicht flammende Plädoyers gegen Smartphones für Kinder unter vierzehn, genau so lange, bis Sie Ihrem Fünftklässler beim Einsamsein zuschauen, weil keiner eingeladen wird, der nicht in der Klassen-Whats-App-Gruppe auftaucht. Sie schwören heilige Eide, dass Plastikspielzeug niemals ins Haus kommt, und dann ist der einzige Wunsch Ihres Kindes eine Plastikbabypuppe oder ein blinkendes Lichtschwert. Da können Sie weiter auf Ihrer Wahrheit beharren, oder es müssen neue Lösungen her, die für alle tragbar sind. Manche Wahrheit hat eine sehr kurze Halbwertszeit. Es ist wertvoll, von anderen Familien, anderen Werten, anderen Herangehensweisen zu hören, sich auszutauschen und neue Perspektiven einzunehmen. Vielleicht ist etwas dabei, was auch für Sie eine großartige Lösung wäre.

Wenn nicht, lassen Sie sich nicht verunsichern, verbuchen Sie es unter „interessante Information“ und verwerfen Sie getrost, was für Sie nicht passt. Beharrt Ihr Gegenüber vehement auf seiner Lösung, dann können Sie ihn freundlich darauf hinweisen, wie wunderbar es ist, dass sie diesen Weg für sich gefunden haben, und dass Sie sich auf Ihrem wohler fühlt. Damit leisten Sie einen wertvollen Beitrag für Ihren eigenen Seelenfrieden und gegen die Verhärtung der Fronten im Elterngefecht der Meinungen.

Nicht die Wahrheit für alle

Das gilt im Übrigen auch im umgekehrten Falle. Stell Sie sich vor, Sie haben recht. Sie sind von Ihrer Antwort und Ihrem Weg zutiefst überzeugt, und Ihr Gegenüber will es einfach nicht einsehen. Das kann einen schon fuchsig machen, nicht wahr? Gerade wenn es um Kinder, Familie und alle damit zusammenhängenden Weltanschauungsfragen geht. Ehe Sie sich versehen, liegt auch in Ihrer Stimme ein fieser Ton von Vehemenz und Schärfe. Schlucken Sie es runter, ich weiß, wie schwer das manchmal fällt. Ich finde es in solchen Situationen ausgesprochen hilfreich, mir für einen kurzen Moment diese Frage zu stellen: „Was ist, wenn der andere recht hat?“ Damit ziehe ich für einen Augenblick die Notbremse und mir fällt wieder ein, dass meine Wahrheit nicht die Wahrheit aller sein muss und ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie eine andere Familie tatsächlich funktioniert und was für sie gut ist.

An jenem warmen Sommerabend überhörten der Gatte und ich die vorwurfsvollen Abschiedsworte unserer Freunde mit einem freundlichen Lächeln, denn wir hatten nicht die leiseste Lust auf ein Gefecht über Erziehungsfragen. Wir zogen zufrieden in die Nacht hinaus, denn wir hatten ein paar schöne Stunden erlebt. Jetzt freuten wir uns darauf, nach Hause zu kommen, wo fünf Kinder es nett gehabt hatten und nun gern ins Bett gebracht werden wollten. Für diesen Abend war unsere Familie hochzufrieden mit dem Weg, den wir für uns gefunden hatten. Und das ist schließlich das Einzige, was wirklich zählt.

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.

Buchtipp
Gerade ist Sandra Geisslers Buch „Dieses kleine Stück Himmel. Mit allen Sinnen Familie leben“ bei SCM Hänssler erschienen. Anhand der fünf klassischen Sinne und des sechsten, des Herzenssinns, gibt sie Eltern Ideen und Anregungen an die Hand, das Familienleben zu gestalten und zu genießen.

„Fühle mich fast schizophren“ – Erfolgreiche Erzieherin scheitert oft als Mutter. Dann greift sie endlich durch

Als Anika Schunke Mama wird, muss sie feststellen: Ihre Erziehungstipps kann sie bei sich selbst nicht umsetzen. Doch dann macht es Klick.

Mehr als die Hälfte meines Lebens bin ich Erzieherin, oder, um dem Ganzen den Qualitätsstempel zu verleihen, den es verdient: pädagogische Fachkraft im Elementarbereich. Zehn Jahre lang war ich in derselben Einrichtung tätig, welche zum Großteil dazu beigetragen hat, dass ich heute beruflich so gefestigt bin. Ich stand mit beiden Beinen im Leben, war etwa sieben Jahre lang stellvertretende Leitung, war von Kolleginnen und Eltern geschätzt und machte mich sogar nebenberuflich selbstständig. Ich habe pädagogische Prinzipien, Überzeugungen und Wertvorstellung, die sich in dieser Zeit fest verankert haben. Mir war immer bewusst, dass es etwas anderes sein würde, Mutter zu sein, spielen hier ganz andere Faktoren eine Rolle. Doch was da kommen sollte, wäre mir im Traum nicht eingefallen.

Die erste Zeit mit Baby ist für alle frisch gebackenen Eltern emotional. Daher war es für mich erst mal nicht dramatisch, dass ich nicht so entspannt und ausgeglichen war, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Da sich die Erziehung zu Beginn noch im Rahmen hielt, beruhigte ich mich mit Sätzen wie „Das wird schon noch“, „Ist halt am Anfang so“ etc. Doch mit den Monaten merkte ich, das ich Dinge tat und dachte, die ich als Erzieherin nie tun oder denken würde und von denen ich sogar schon vielfach abgeraten hatte. Und obwohl es mir bewusst war, war es mir nicht möglich, anders zu handeln oder zu denken. Ich fühlte mich schon fast schizophren.

Schock im Bällebad

Zu Beginn waren es Kleinigkeiten. Zum Beispiel saß ich mit meiner etwa fünf Monate alten Tochter in einem öffentlichen Bällebad. Mit jeder Minute, die ich drin saß, mit jedem Ball, den sie anfasste und ablutschte, schrie es lauter in mir. Eine Stimme in mir rief: „Gefahr! Gefahr! Es ist ein Bazillenbad, getarnt als Bällebad.“ Doch ich hielt tapfer durch und lies meine Tochter und ihr Immunsystem lernen und wachsen. Denn die Erzieherin in mir winkte entspannt ab nach dem Motto: „Das ist nicht so wild, im Gegenteil. Und du weißt es.“

Mittlerweile ist meine Tochter fast drei Jahre alt. Wir können uns wirklich nicht beschweren, sie ist ein tolles Kind. Wir haben selten Schwierigkeiten mit ihr und wenn wir es für anstrengend und stressig halten, ist es im Vergleich zu manch anderen Familien harmlos. Aber die Konflikte häufen sich. Sie probiert mehr aus, diskutiert, bekommt kleine Wut- und Trotzanfälle, was eben alles zum Großwerden dazu gehört. Und hierbei macht sich nun die Schizophrenie zwischen Erzieherin und Mutter deutlich bemerkbar.

Ich weiß genau, dass dieses Verhalten völlig normal ist, sogar sein muss, um eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln. Ich weiß auch, dass es richtig ist, wenn wir konsequent sind. Und trotzdem sitze ich heulend da und frage mich, was hier los ist. Warum kann ich nicht mit meiner gewohnten Professionalität darauf reagieren? Warum stellt sich die emotionale Mutter in mir so sehr gegen die souveräne Erzieherin? Und das, obwohl sie weiß, dass es uns allen besser ginge, wenn sie mehr mitreden könnte.

Erzieherin und Mutter im Dauerstreit

Da gibt es beispielsweise die „Situation Schnuller“. Dieser ist Fluch und Segen. Als Säugling wollte meine Tochter den Schnuller nicht, was ich prinzipiell gut finde. Jedoch hätte sie sonst den ganzen Tag an der Brust gehangen, um sich zu beruhigen, und das wollte und konnte ich nicht zulassen. Also musste der Schnuller Abhilfe schaffen. Mittlerweile ist es so, dass sie ihn ziemlich oft im Mund hat. Und das stört mich. Denn sie ist jetzt fast drei Jahre alt und ich finde, der Schnuller ist nach wie vor zur Beruhigung gedacht, also zu Ausruh- und Schlafenszeiten.

Am meisten stört mich, wenn sie ihn draußen beim Spazierengehen oder beim Radfahren im Mund hat. Ich finde es schrecklich! Denn das Bild ist so kontrovers. Auch wenn die Erzieherin in mir täglich mehrere Elterngespräche mit der Mutter in mir führt, schaffe ich es einfach nicht, ihr den Schnuller nur für die oben genannten Zeiten zu erlauben. Es ist wie eine Blockade.

Streit ums Thema Essen

Genauso ist es mit der „Situation Essen“. Wir legen beide großen Wert darauf, dass sie um gute Tischmanieren weiß. In meinem Erzieheralltag habe ich vielen Kindern unter drei Jahren das selbstständige Essen mit Löffel und Gabel beigebracht. Meine Tochter benutzt immer noch oft die Finger, obwohl es mich stört und ich es anders möchte. Ich habe oft gepredigt, dass Konsequenz das A und O ist, und ich weiß es auch ganz genau. Doch auch hier scheint diese Funktion mit dem Mutterinstinkt nicht kompatibel zu sein. Nach fast einem Jahr Theater, Gemotze und Tränen am Tisch hat die Erzieherin in mir sich doch mal energisch der Mutter gegenüber gezeigt und eine Lösung gefunden.

Die sieht so aus: Wir haben uns dafür entschieden, ihr eine positive Konsequenz anzubieten, wenn sie ordentlich isst. Auf dem Tisch liegen vier Gummibärchen. Wenn wir schimpfen müssen, weil sie ihr Essen rumschmiert, mit der Gabel rumfuchtelt etc. nehmen wir, nach einer Vorwarnung, ein Gummibärchen weg. Das vierte Gummibärchen bekommt sie, wenn sie den Teller leer gegessen hat. Was ihr nicht schmeckt, muss sie allerdings nicht essen.

Die Erzieherin erwacht

So langsam scheint die Erzieherin in mir den Ernst der Lage erfasst zu haben und mischt sich öfter ein. Ich habe das Gefühl, die Mutter in mir ist sehr erleichtert, war sie doch so oft hilflos und verzweifelt, weil sie das nötige Wissen nicht abrufen konnte. Vielleicht hat die Erzieherin in mir einfach ein bisschen Urlaub genommen oder auf Teilzeit gewechselt und das ganze Wissen mitgenommen. Nun beginnen die beiden endlich, als Team zusammenzuarbeiten. Ich merke das daran, dass ich Fachwissen wieder abrufen kann. Ich kann schwierige Situationen und ihren Ursprung besser deuten und angemessen reagieren.

Zum Beispiel in der „Situation Selbstständigkeit“. Mir ist es sehr wichtig, dass meine Tochter sich auch mal selbst beschäftigen kann. Bisher spielte das jedoch keine große Rolle, denn ich habe es als Mutter sehr genossen, viel Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Ich wollte sehen, was sie spielt. Somit war ich oft dabei, wenn sie in ihrem Zimmer gespielt hat. Dies hat aber zur Folge, dass sie es nicht gewohnt ist, sich alleine zu beschäftigen. Also stand wieder ein internes Elterngespräch an, in dem sich Erzieherin und Mutter schnell einig wurden, dass dies geübt werden muss. Die Erzieherin zaubert einige gute Ideen aus ihrem kompetenten, pädagogischen Hut und das Problem wird nun einfach angegangen. Im konkreten Fall heißt das beispielsweise: Während ich sauge, gebe ich ihr eine Aufgabe, welche sie in der Zeit erledigt. Das kann ein Puzzle sein oder etwas zum Nachbauen. So hat sie konkret ein Bild davon, was sie tun soll. Und falls das Saugen länger dauert als die Aufgabe, findet sie eher in ein selbstständiges Spiel.

Ich hoffe sehr, dass sich die nun beginnende, gute Zusammenarbeit nicht mit der Geburt des zweiten Kindes wieder auflöst. Zum Wohle aller.

Anika Schunke lebt in der Nähe von Karlsruhe und ist Erzieherin. Aktuell ist sie in Mutterschutz, arbeitete davor jedoch in einer Kita. Außerdem ist sie Autorin des Buchs „Kleine Räume, großer Spaß“. 

Alles falsch gemacht?

Wenn das Verhalten eines Kindes Fragen aufwirft, stellen sich Eltern schnell die Frage, ob es ihre Schuld ist. Stefanie Böhmann ist überzeugt, dass diese Frage nicht weiterhilft.

Unser Sohn kam in die erste Klasse. Nach einigen Wochen war er nachmittags nach Schule und Hort so empfindlich, dass er ganz schnell die Beherrschung verlor. Es ging so weit, dass er teilweise wie ein Löwe brüllte und mit seinem Kopf gegen die Wand donnerte. Schnell kam in mir die Frage auf: Was habe ich falsch gemacht? Ist es richtig, dass ich wieder angefangen habe zu arbeiten? Was hat unseren Sohn so verunsichert, dass er nur noch die Möglichkeit sieht, mit dem Kopf wortwörtlich durch die Wand zu rennen? Hilft es, sich die Frage zu stellen, ob man etwas falsch gemacht hat? Eins ist klar: Die Symptome sind ein Schrei des Kindes, dass es ihm nicht gut geht und es Hilfe braucht.

JEDER MACHT FEHLER

Als Lehrerin erlebe ich in der Schule oft, dass Kinder, wenn sie Auffälligkeiten zeigen, noch mehr Stress zu Hause bekommen, weil sich die Eltern mit der Lage überfordert fühlen. Statt Liebe entsteht Abneigung. Dabei braucht es ein Aufeinanderzugehen und ein neues Miteinander, das nach Lösungen ringt. Cathy und Daniel Zindel fassen das in ihrem Buch „Man erzieht nur mit dem Herzen gut“ so zusammen: „Jeder von uns macht Fehler, und wir brauchen Korrektur und Ergänzung. In einer Familie geht es nicht primär um Erziehung, sondern um Beziehung.“ Suche ich selbst die ganze Zeit danach, was ich falsch gemacht habe, bin ich gefangen in einem Gedankenkarussell, das mich in die Isolation und nicht in die Beziehung führt. Ich darf und muss mir als Mutter und Vater bewusst sein, dass ich Fehler mache und gemacht habe. Aber wenn ich sie zur Sprache bringe und um Vergebung bitte, führt dieser Prozess in die Freiheit und in den Austausch. Und: Meine Kinder lernen von mir, wie man mit Fehlern umgehen kann.

INS GESPRÄCH KOMMEN

Als Eltern sind wir Vorbilder für unsere Kinder. Sie lernen und schauen von uns ab. Und das passiert bei jedem Kind mit seiner eigenen Wahrnehmung. Unser Sohn rülpste neulich ziemlich laut, und ich ermahnte ihn. Da grinste er: „Mama, das machst du auch. Und in der Öffentlichkeit weiß ich, wie man sich verhält.“ Im Vertrauen darauf habe ich mich geschlagen gegeben. Er hatte Recht. Wie gut, dass wir gesprochen haben. So lernen auch unsere Kinder, dass sie Fehler machen dürfen und es wichtig ist, darüber zu sprechen. Das nimmt viel Druck aus Beziehungen und bringt uns ins Gespräch. Ich freue mich immer wieder über unsere sechzehnjährige Tochter. Wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie richtig gehandelt hat, fragt sie nach. Im Gespräch konnten wir schon manchen für sie gefühlten Elefanten als kleines Mäuschen entlarven und dem schlechten Gewissen den Wind aus den Segeln nehmen.

VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN

Kinder sollen in Verantwortung mit hineingenommen werden und das Gefühl bekommen, dass sie gehört werden und wichtig sind. Natürlich tragen Vater und Mutter die Hauptverantwortung, aber uns ist es wichtig, dass auch unsere Kinder – zum Beispiel durch Dienste im Haus – Verantwortung mittragen. Und dass sie lernen, mit Konsequenzen umzugehen, wenn sie der Verantwortung nicht gerecht werden. Natürlich nur solche Konsequenzen, die vorher gemeinsam festgelegt wurden. Der sonntägliche Familienrat gibt uns eine gute Plattform, um uns gegenseitige Rückmeldung zu geben, wie wir mit der jeweiligen Verantwortung umgegangen sind. Und wenn unsere Tochter dann bei der Anerkennungsrunde feststellt, dass sie nicht weiß, was sie mit einem Elternteil überhaupt Besonderes in der Woche erlebt hat, bringt mich das auch zum Nachdenken. Dann überlege ich, wie ich meiner Rolle als Mutter wieder mehr Gewicht geben kann, um meiner Verantwortung gerecht zu werden.

EINE PLATTFORM ZUM AUSTAUSCH

Die Wahrnehmung unserer Kinder ist unterschiedlich. Das hängt aber auch von den unterschiedlichen Entwicklungsphasen ab, in denen sie sich befinden. Im Alter von vier und fünf Jahren dreht sich beispielsweise alles darum, wahrgenommen und bewundert zu werden. Die Kinder sehnen sich nach Strukturen, die ihnen Halt und Sicherheit geben. Dagegen merken Jugendliche ab 13 oder 14, dass andere Menschen Schwachpunkte haben. Und sie fangen an, Rituale in Frage zu stellen, die bis dahin Gültigkeit hatten. Aber in jeder Altersgruppe brauchen sie eine Plattform zum Austausch innerhalb der Familie. Um auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Unserem Sohn fehlten damals Halt, Strukturen und Sicherheit. Er war den ganzen Tag in der Schule angespannt, weil er Mitschüler hatte, die ihn ärgerten, sodass er nachmittags ein Ventil brauchte, um all die Anspannung rauszulassen. Er bat darum, vom Hort abgemeldet zu werden, weil es ihm zu viel wurde. Als wir das in die Tat umsetzten, wendete sich das Blatt schlagartig. Er wurde ausgeglichener und ruhiger. Heute als vierzehnjähriger Teenager freut er sich über jede Möglichkeit, mit Gleichaltrigen unterwegs sein zu können und nicht mehr zu Hause sitzen zu müssen.

DIALOG AUF AUGENHÖHE

Und nicht nur von den Entwicklungsphasen ist das Erleben und Verhalten eines Kindes abhängig, sondern auch davon, wie unsere Kinder ein Geschehen beurteilen. Das haben wir als Eltern nicht in der Hand. Sie beurteilen mit ihrer momentanen Gefühlslage, mit ihrem Gewordensein und ihrem Blick auf sich selbst. Um herauszufinden, was sie zu einem bestimmten Verhalten bewegt, hilft es nicht weiter, sich die Schuld zu geben, sondern den Dialog auf Augenhöhe zu suchen. Wir Eltern sind keine Superhelden, sondern Begleiter, Gesprächspartner und Ermutiger. Mit unseren Fehlern, Stärken und Schwächen können wir unserem Kind auf seinem Weg helfen, den eigenen Platz im Leben zu finden, Interesse an anderen zu entwickeln und einen eigenen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft zu leisten. Dafür brauche ich als Elternteil lediglich die Überzeugung, dass in jedem Kind etwas Gutes und Potenzial steckt, das es zu entfalten gilt. Dann kann es richtig laufen.

Stefanie Böhmann ist Pädagogin und individual-psychologische Beraterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

„Ich habe mein Kind verkorkst!“

Dass Eltern Fehler machen, ist ganz normal. Aber manchmal rutschen Eltern und Kinder in einen unguten Kreislauf, der sich über die Jahre verstärkt. Da herauszukommen, kann mühsam sein. Stefanie Diekmann berichtet von einer Beratungserfahrung.

Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Als Claudia diesen Satz ausgesprochen hat, schaut sie mich erschrocken an. Schnell schiebt sie hinterher: „Eigentlich ist mein Mann schuld. Puh, das klingt auch so hart. Er hatte bei unseren Kindern viel Angst und ich habe unter seinem Druck dafür gesorgt, dass kein Weg zum Volleyballtraining oder Musikunterricht ohne meine Begleitung passiert. Und dass sie nur mit ausgewählten Kindern spielen. Die ständigen Diskussionen mit ihm über die möglichen Gefahren haben mich mürbe gemacht. Das sehe ich jetzt. Und jetzt ist es zu spät. Rahel ist nun 17 Jahre alt – und irgendwie verkorkst.“ Claudia ringt um Worte. Sie tastet sich an dieses fast unaussprechliche Gefühl heran.

Rahel wirkt auf Außenstehende sanft und klug. Zu Hause nehmen ihre Eltern sie aber als unausgeglichen und missgelaunt wahr. Schon immer haben ihre Hände besonders besitzergreifend nach Claudia gegriffen und sie gefordert. Ganz anders als die Kleinkinder ihrer Bekannten hatte sie viele Probleme: Schlafen nur auf dem Bauch der Eltern, Essensverweigerung, wenig Sprachentwicklung. Wenn Claudia von einer schweren Nacht mit ihr berichtete, kommentierten die anderen im Spielkreis nicht selten: „Na, was hat Rahel denn diesmal?“ Eigentlich nichts, und doch ließ Claudia sie immer wieder vom Kinderarzt durchchecken: Sie war und ist kerngesund. Vielleicht gibt es so etwas wie „alltagskompliziert“?

Immer unsicherer

Als Grundschülerin war Rahel in vielen alltäglichen Dingen hilflos. Kleinigkeiten wie das Einlegen der CD in den Kinder-CD-Spieler wurden zu einem Problem. Ihre jüngere Schwester hatte diese Hürde bereits genommen, aber Rahel stand immer noch jammernd neben der Mutter und brauchte Hilfe. Auch die Hausaufgaben waren während der kompletten Schulzeit ein Bereich voller Emotionen und Kämpfe. Claudia hat unzählige Stunden mit ihr am Esstisch verbracht. „Keine Idee meiner Freundinnen half, um sie zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. Sie jammerte und brauchte ständig meine Hilfe.“

Aber immer, wenn Claudia eine Idee für eine Loslösung hatte und umsetzen wollte, kam ihr Mann mit seinen Sorgen und Bedenken dazwischen. Rahel allein auf die Klassenfahrt schicken? Niemals! Also fuhr sie als Betreuerin mit. Rahel allein in den Schwimmverein lassen? Niemals. Also schwamm sie neben dem Trainingsbecken im Kinderbecken herum. Je älter Rahel wurde, desto unsicherer und unselbstständiger wurde die Jugendliche. Sie begann, leise und undeutlich zu sprechen und ihre Schultern nach vorn zu ziehen. Mit dieser angespannten Grundhaltung gelang es ihr nicht, Freundinnen zu finden.

Immer genervter

Natürlich hat Claudia sich Gedanken gemacht über ihr Verhalten. Sie hatte wohltuende Gespräche mit dem Kirchenseelsorger. Sie spürte aber, dass eine wirkliche Veränderung Kraft kosten würde. Claudia erinnert sich, dass sie sich von ihrem Alltag zwischen Kindern, Minijob und Kirchenmitarbeit so eingespannt fühlte, dass sie für das Thema „Rahel“ ganz kraftlos war. Sie zog sich immer mehr zurück. Sie half Senioren und anderen Familien mit praktischer Unterstützung, aber Rahel und den möglichen Lösungsideen für ihre Situation ging sie aus dem Weg.

Stattdessen wurde sie immer sensibler und genervter in Bezug auf ihre Tochter. Sie konnte schon an Rahels Seufzen erkennen, dass diese keinen einzigen Waffelteig im ganzen Internet finden konnte. „Um diese Alltagshürden nicht miterleben zu müssen, habe ich fix den Waffelteig selbst gemacht. Das Drama darum hat mich so genervt.“ Die Aggressionen in Claudia wachsen, je älter Rahel wird. Eine Jugendliche, deren Alltag scheinbar nur aus Hürden besteht und die ständig jammert, kostet Kraft. Dieser Kreislauf der Kraftlosigkeit hat Rahel in einen Kokon aus Überregulierung eingesponnen. Beide Eltern haben ihr immer weniger zugetraut und zugemutet.

Wendepunkt

Mit etwas Abstand und zunehmender Kraftlosigkeit wuchs bei Claudia das Gefühl, „falsch“ zu sein: als Mutter, als Familie, als Lebensraum für Rahel. „Ich spüre mein Versagen. Dass ich mich der Verantwortung entziehe. Wir brauchen einen Wendepunkt.“ Im Nachdenken erinnert sie sich an die Gespräche mit dem Seelsorger: Der Wert eines Menschen bleibt in Gottes Augen hoch – unabhängig von seinem Verhalten. Was sich für die Eltern als „verkorkst“ anfühlt, kann zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung werden. Das will Claudia angehen. Ab heute. Für jeden aus der Familie.

Während Rahel zu einem Personal Trainer geht, um ihre Körperpräsenz zu verbessern und an ihrem Stimmvolumen zu arbeiten, stehen auch Claudia und ihr Mann vor Entwicklungsaufgaben. Seinen Ängsten will Claudias Mann mit der Hilfe eines Facharztes die Stirn bieten. Warum er erst jetzt den Mut dazu hat, ist Claudia nicht klar. Vielleicht, weil sie sich bewusster positioniert und ihrem Mann zumutet, die Last seiner Ängste allein zu tragen. Sie will nicht mehr Sprachrohr seiner Sorgen sein. Claudia sucht ihren eigenen Standpunkt und wird in diesen ersten Schritten durch eine Kleingruppe der Kirche bestärkt. Täglich formuliert sie ein Gebet, um die Verantwortung für ihre Familie an Gott zurückzugeben. „Ich bin dadurch eher bereit, hinzusehen und mich nicht wegzuducken“, erklärt sie. Freundinnen haben Claudia immer wieder ermutigt, Rahel mehr zuzutrauen. Wahrzunehmen, was Rahel gelingt. Claudia beginnt zu strahlen, als sie von Rahels erstem kleinen Job erzählt. Ein Mutlächeln erleuchtet ihr Gesicht. Sie wird ihre Tochter begleiten und ihr ins Leben helfen. Auch wenn das gesamte Internet wieder mal leer ist, wenn Rahel Waffeln backen will.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

„Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Welche Erziehungsfehler Sabine heute bedauert

Sabines* Tochter ist viel zu unselbstständig. Die Schuld sieht Sabine bei sich und ihrem Mann. Dann entscheidet sie: Es muss sich etwas ändern.

„Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Als Sabine diesen Satz ausgesprochen hat, schaut sie mich erschrocken an. Schnell schiebt sie hinterher: „Eigentlich ist mein Mann schuld. Puh, das klingt auch so hart. Er hatte bei unseren Kindern viel Angst und ich habe unter seinem Druck dafür gesorgt, dass kein Weg zum Volleyballtraining oder Musikunterricht ohne meine Begleitung passiert. Und dass sie nur mit ausgewählten Kindern spielen. Die ständigen Diskussionen mit ihm über die möglichen Gefahren haben mich mürbe gemacht. Das sehe ich jetzt. Und jetzt ist es zu spät. Hannah* ist nun 17 Jahre alt – und irgendwie verkorkst.“ Sabine ringt um Worte. Sie tastet sich an dieses fast unaussprechliche Gefühl heran.

Hannah wirkt auf Außenstehende sanft und klug. Zu Hause nehmen ihre Eltern sie aber als unausgeglichen und missgelaunt wahr. Schon immer haben ihre Hände besonders besitzergreifend nach Sabine gegriffen und sie gefordert. Ganz anders als die Kleinkinder ihrer Bekannten hatte sie viele Probleme: Schlafen nur auf dem Bauch der Eltern, Essensverweigerung, wenig Sprachentwicklung. Wenn Sabine von einer schweren Nacht mit ihr berichtete, kommentierten die anderen im Spielkreis nicht selten: „Na, was hat Hannah denn diesmal?“ Eigentlich nichts, und doch ließ Sabine sie immer wieder vom Kinderarzt durchchecken: Sie war und ist kerngesund. Vielleicht gibt es so etwas wie „alltagskompliziert“?

Selbst das Einlegen der CD machte Probleme

Als Grundschülerin war Hannah in vielen alltäglichen Dingen hilflos. Kleinigkeiten wie das Einlegen der CD in den Kinder-CD-Spieler wurden zu einem Problem. Ihre jüngere Schwester hatte diese Hürde bereits genommen, aber Hannah stand immer noch jammernd neben der Mutter und brauchte Hilfe. Auch die Hausaufgaben waren während der kompletten Schulzeit ein Bereich voller Emotionen und Kämpfe. Sabine hat unzählige Stunden mit ihr am Esstisch verbracht. „Keine Idee meiner Freundinnen half, um sie zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. Sie jammerte und brauchte ständig meine Hilfe.“

Aber immer, wenn Sabine eine Idee für eine Loslösung hatte und umsetzen wollte, kam ihr Mann mit seinen Sorgen und Bedenken dazwischen. Hannah allein auf die Klassenfahrt schicken? Niemals! Also fuhr sie als Betreuerin mit. Hannah allein in den Schwimmverein lassen? Niemals. Also schwamm sie neben dem Trainingsbecken im Kinderbecken herum. Je älter Hannah wurde, desto unsicherer und unselbstständiger wurde die Jugendliche. Sie begann, leise und undeutlich zu sprechen und ihre Schultern nach vorn zu ziehen. Mit dieser angespannten Grundhaltung gelang es ihr nicht, Freundinnen zu finden.

Immer genervter auf ihre Tochter

Natürlich hat Sabine sich Gedanken gemacht über ihr Verhalten. Sie hatte wohltuende Gespräche mit dem Kirchenseelsorger. Sie spürte aber, dass eine wirkliche Veränderung Kraft kosten würde. Sabine erinnert sich, dass sie sich von ihrem Alltag zwischen Kindern, Minijob und Kirchenmitarbeit so eingespannt fühlte, dass sie für das Thema „Hannah“ ganz kraftlos war. Sie zog sich immer mehr zurück. Sie half Senioren und anderen Familien mit praktischer Unterstützung, aber Hannah und den möglichen Lösungsideen für ihre Situation ging sie aus dem Weg.

Stattdessen wurde sie immer sensibler und genervter in Bezug auf ihre Tochter. Sie konnte schon an Hannahs Seufzen erkennen, dass diese keinen einzigen Waffelteig im ganzen Internet finden konnte. „Um diese Alltagshürden nicht miterleben zu müssen, habe ich fix den Waffelteig selbst gemacht. Das Drama darum hat mich so genervt.“ Die Aggressionen in Sabine wachsen, je älter Hannah wird. Eine Jugendliche, deren Alltag scheinbar nur aus Hürden besteht und die ständig jammert, kostet Kraft. Dieser Kreislauf der Kraftlosigkeit hat Hannah in einen Kokon aus Überregulierung eingesponnen. Beide Eltern haben ihr immer weniger zugetraut und zugemutet.

Der Wendepunkt ist ein Satz des Seelsorgers

Mit etwas Abstand und zunehmender Kraftlosigkeit wuchs bei Sabine das Gefühl, „falsch“ zu sein: als Mutter, als Familie, als Lebensraum für Hannah. „Ich spüre mein Versagen. Dass ich mich der Verantwortung entziehe. Wir brauchen einen Wendepunkt.“ Im Nachdenken erinnert sie sich an die Gespräche mit dem Seelsorger: Der Wert eines Menschen bleibt in Gottes Augen hoch – unabhängig von seinem Verhalten, so verspricht es der christliche Glaube. Was sich für die Eltern als „verkorkst“ anfühlt, kann zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung werden. Das will Sabine angehen. Ab heute. Für jeden aus der Familie.

Während Hannah zu einem Personal Trainer geht, um ihre Körperpräsenz zu verbessern und an ihrem Stimmvolumen zu arbeiten, stehen auch Sabine und ihr Mann vor Entwicklungsaufgaben. Seinen Ängsten will Sabines Mann mit der Hilfe eines Facharztes die Stirn bieten. Warum er erst jetzt den Mut dazu hat, ist Sabine nicht klar. Vielleicht, weil sie sich bewusster positioniert und ihrem Mann zumutet, die Last seiner Ängste allein zu tragen. Sie will nicht mehr Sprachrohr seiner Sorgen sein. Sabine sucht ihren eigenen Standpunkt und wird in diesen ersten Schritten durch eine Kleingruppe der Kirche bestärkt. Täglich formuliert sie ein Gebet, um die Verantwortung für ihre Familie an Gott zurückzugeben. „Ich bin dadurch eher bereit, hinzusehen und mich nicht wegzuducken“, erklärt sie. Freundinnen haben Sabine immer wieder ermutigt, Hannah mehr zuzutrauen. Wahrzunehmen, was Hannah gelingt. Sabine beginnt zu strahlen, als sie von Hannahs erstem kleinen Job erzählt. Ein Mutlächeln erleuchtet ihr Gesicht. Sie wird ihre Tochter begleiten und ihr ins Leben helfen. Auch wenn das gesamte Internet wieder mal leer ist, wenn Hannah Waffeln backen will.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert. 

Trotz Corona – Familienberaterin ist überzeugt: „Eltern tun ziemlich viel Heldenhaftes“

Fehler machen gehört für die Eltern- und Familienberaterin Daniela Albert zum Elternsein dazu. Warum Eltern sich trotzdem als Heldinnen und Helden fühlen dürfen, erklärt sie im Interview.

Das letzte Jahr war für viele Eltern sehr anstrengend. Was waren deinem Eindruck nach die größten Herausforderungen?

Eltern mussten Rollen einnehmen, die nicht ihre sind. Gerade im ersten Lockdown, als viele Schulen noch keine digitalen Formate hatten, mussten sie im Homeschooling Lehrerrollen übernehmen. Das oft zusätzlich zur eigenen Berufstätigkeit, vielleicht noch zur Betreuung von kleineren Kindern. Herausfordernd war auch, dass dabei viele verschiedene Rollen gleichzeitig ausgefüllt werden mussten.

Haben sich die Beratungsanfragen von Eltern an dich von denen vor Corona unterschieden?

Es werden keine anderen Fragen gestellt. Es sind schon immer ähnliche Themen. Sie sind aber zugespitzter, sie sind drängender. Wenn vorher schon eine Situation in der Familie schwierig war, dann ist es durch Corona wie durch ein Brennglas extremer geworden. Oder die Kräfte sind einfach weniger da, um es selbst zu Hause zu steuern.

Notendruck rausnehmen

Was brauchen Eltern jetzt am dringendsten?

Sie brauchen Entlastung von den verschiedenen Rollen. Auf der einen Seite finde ich es gut, dass es jetzt vermehrt digitale Formate gibt und auch Möglichkeiten, Kinder im Wechselunterricht in die Schule zu schicken, sodass Eltern aus der Lehrerrolle herauskommen. Es ist auch weiterhin wichtig, dass Eltern Befreiungsmöglichkeiten haben, zusätzliche Urlaubstage und Möglichkeiten, sich im Job zurückzunehmen, um nicht in diese starke Überlastung zu kommen. Und was Familien auch bräuchten: Dass man den Druck herausnimmt – natürlich da, wo es geht. Es ist mir klar, dass man bei jemandem, der kurz vor dem Schulabschluss steht, nicht sagen kann: Wir machen nichts mehr. Aber überall, wo es geht, würde ich mich freuen, wenn man den Notendruck und den Versetzungsdruck herunterfahren könnte.

„Ich glaube schon, dass meine Eltern Helden sind. Sie kümmern sich um mich und sind immer für mich da, wenn ich sie brauche oder eine Frage habe. Besonders jetzt in der Corona-Zeit ist das wichtig für mich, weil ich mich nicht so viel mit Freunden treffen kann. Meine Eltern versuchen, mir so viel, wie es geht, zu ermöglichen, damit es mir trotzdem gut geht.“
Johanna (10)

Wir finden, dass viele Eltern Heldenhaftes leisten – nicht nur, aber besonders in Corona-Zeiten. Viele Eltern sehen sich selbst aber nicht als Heldinnen und Helden …

Das ist traurig. Ich glaube, das liegt daran, dass sie ihren eigenen Ansprüchen oft nicht gerecht werden können. Und weil sie das Gefühl haben, sie machen das nicht richtig oder sie machen das nicht gut genug. Aber es ist jetzt wichtig, dass Eltern einen realistischen Blick auf die Situation und sich selbst werfen und sehen, dass sie viel und Großartiges leisten und dass sie ihre Rolle nicht daran festmachen dürfen, dass alles so klappt, wie sie es idealtypisch gern hätten. Die Eltern, die ihre Kinder durch die Pandemie begleiten und ihnen Stabilität geben, tun ziemlich viel Heldenhaftes.

„Ich finde, dass meine Eltern Helden sind, weil sie sich, obwohl sie so viel arbeiten müssen, gut um meine Schwestern und mich kümmern. Sie gehen auch immer mit uns nach draußen.“
Adam (10)

Du hast erwähnt, dass viele Eltern hohe Ansprüche an sich haben. Wie geht man damit um, wenn man ihnen nicht gerecht wird?

Ich finde es wichtig zu überlegen: Wo kommen die Ansprüche her? Warum glaube ich, dass ich das so und so gut machen muss? Warum glaube ich, dass mein Kind nur dann gut ins Leben kommt, wenn ich das mache, was ich mir als idealtypisch vorgenommen habe oder was man auf Instagram sieht oder in Büchern liest? Es ist wichtig, genau zu gucken, was hinter diesem Anspruch steckt. Und sich klarzumachen, dass sehr viel schieflaufen darf und anders laufen darf, als man das eigentlich gern hätte. Und dass trotzdem kein bleibender Schaden entsteht. Viele Ideale sind gut und wichtig, aber das heißt nicht, dass man sie zu 100 Prozent leben muss. Es reicht auch, wenn man sie zu 50 Prozent oder in Krisenzeiten auch nur zu 20 Prozent lebt.

In den allermeisten Familien läuft es gut

Du hast gerade den Begriff „Schaden“ benutzt. Das ist ja eine Angst, die Eltern haben. Aber welchen Schaden können Kinder nehmen, wenn Eltern etwas falsch machen?

Natürlich gibt es Sachen, die können richtig schieflaufen, und die können auch Spuren hinterlassen. Eine von Gewalt oder sehr wenig Zuneigung geprägte Erziehung hinterlässt Spuren. Und sie hinterlässt Schäden. Nur ist das in den allermeisten Familien ja gar nicht der Fall. In den allermeisten Familien läuft es aus dieser Sicht recht gut, und es sind eher die Kleinigkeiten, die mal schiefgehen. Oder es sind Phasen, in denen die Bedürfnisse der Kinder vielleicht nicht gut erfüllt werden können, wie jetzt in der Pandemie, wo sicher auch etwas hinten runterfällt.

Und wenn viel hinten runterfällt und es längerfristig ist, kann es natürlich dazu kommen, dass ein Ungleichgewicht und eine Auffälligkeit auf Seiten der Kinder entsteht. Oder dass die Kinder Probleme bekommen, auch psychischer Natur. Nur ist auch das nicht in Stein gemeißelt für das weitere Leben. Wir haben ja gerade als die Eltern, die nah an ihren Kindern dran sind, die viel Zuneigung leben und sich Mühe geben, das Familienleben instandzuhalten, immer noch Möglichkeiten, einzugreifen. Wir schreiben keine Geschichte, die wir für immer festschreiben und die dann so bleibt.

„Meine Eltern sind stark! Sie beschützen mich, und sie helfen mir immer.“
Aurelia (8)

Wann sollten sich Eltern externe Hilfe holen?

Wenn man bei seinem Kind merkt, dass ein totaler Rückzug stattfindet – nicht ein pubertätstypischer Rückzug. Wenn man gar nicht mehr ans Kind herankommt, wenn das Kind nicht mehr ansprechbar ist oder gar nicht mehr bereit ist, zu kommunizieren. Wenn es sich zurückzieht und alltägliche Dinge nicht mehr schafft. Ein Punkt, sich Hilfe zu suchen, ist immer, wenn man individuell feststellt: Ich beherrsche es nicht mehr. Ich weiß nicht mehr weiter und bin in einer Situation, wo ich dermaßen schwimme, dass es für alle Beteiligten belastend ist. Da ist es immer gut, jemanden von außen draufgucken zu lassen. Das heißt ja nicht sofort, dass man eine Therapie anfangen muss. Manchmal reicht es auch, dass einer von außen mal schaut und sagt: So und so könnte es gehen.

Keine Gefühle runterspielen!

Was ist deiner Meinung und Erfahrung nach das Wichtigste, das Eltern in herausfordernden Zeiten wie diesen tun sollten?

Aufmerksam sein! Ohne die Kinder total zu bedrängen und gerade bei größeren Kindern ständig zu gucken, was sie machen. Aber aufmerksam sein für die Signale, die Kinder senden. Und es ernst nehmen und nicht herunterspielen, wenn ein Kind sagt: „Mir geht es total schlecht.“ Oder: „Ich bin so traurig.“ Wir neigen manchmal dazu, das zu relativieren: „So schlimm ist es doch gar nicht. Du hast noch so viel im Vergleich zu anderen.“ Was objektiv stimmt, die Kinder aber subjektiv nicht weiterbringt. Wir sollten es aushalten, dass wir das als Eltern gerade nicht ändern können. Und wir sollten auf jeden Fall einen Raum geben, wo Gefühle Platz haben.

„Meine Eltern machen ganz viel für mich: alles im Haushalt, Frühstück und so weiter. Sie unterstützen mich beim Lernen. Sie machen auch besondere Sachen mit mir, zum Beispiel in Freizeitparks gehen.“
Moritz (9)

Und was sollten Eltern lassen?

Wie ich schon gesagt habe, dieses Herunterspielen von Gefühlen. Ich finde aber auch wichtig, dass wir nicht unnötig Probleme an die Kinder herantragen. Je nach Alter der Kinder finde ich es auch gut, sie vor zu vielen Informationen zu schützen. Sie sollten zwar grundsätzlich Bescheid wissen, was in der Welt passiert, aber sie müssen nicht jede neue Studie kennen und jede neue Horrormeldung. Und mit älteren Kindern, die eigene Handys oder Tablets haben, sollte man darüber sprechen, dass es zwar viele schreckliche Meldungen gibt, aber dass schlechte Nachrichten eher publiziert werden als gute Nachrichten.

Weg von der Strenge

Du hast gerade ein Buch für Eltern geschrieben: „Unperfekt, aber echt“. Was möchtest du damit erreichen?

Ich hoffe, dass Eltern durch dieses Buch ermutigt werden, sich weniger unter Druck zu setzen und es weniger perfekt machen zu wollen. Dass sie sich selbst und anderen gegenüber fehlertoleranter werden und ein Vergebungsmanagement sich selbst und ihrer Familie gegenüber etablieren. Und wirklich mal von den hohen Ansprüchen wegkommen, mit denen viele Eltern durch die Welt gehen.

„Mama und Papa erlauben mir manchmal, Filme zu gucken. Sie machen mir was zu essen. Bei den Schulaufgaben unterstützen sie mich. Für mich sind sie Helden!“
Leon (9)

Was hast du für dich in den letzten Monaten gelernt?

Ich habe für mich gelernt, dass das, was ich schon immer theoretisch geglaubt habe, wirklich okay ist. Dass es okay ist, im Familienalltag unperfekt zu sein und als Eltern Schwächen zu zeigen, übers Ziel hinauszuschießen, Fragen nicht beantworten zu können oder Fehler zu machen. Und dass es auch keinen Schaden anrichtet. Ich habe das in dieser Corona-Phase ganz besonders von meinen großen Kindern gespiegelt bekommen. Sowohl was schiefgelaufen ist und blöd war – gerade unser großes Kind ist da sehr ehrlich – als auch, dass es okay ist. Und das finde ich wunderbar, auch in dieser schwierigen Zeit so eine Rückmeldung zu bekommen und zu merken: Ich weiß nicht nur theoretisch, dass es gut ist und dazugehört, Fehler zu machen, sondern ich darf es gerade auch praktisch erleben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.

„Traut euch was zu“ – Familien-Redakteurin macht Ansage an die Papas

Väter sollten sich viel mehr in die Erziehung ihrer Kinder einbringen, findet Family-Redakteurin Bettina Wendland. Aber auch die Mütter sieht sie in der Pflicht.

„Mein Mann lässt mir zum Glück freie Hand.“ Dieser Satz einer Mutter in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder hat mich ziemlich geschockt. Da freut sich eine Mutter darüber, dass sie ihre Ideen unbehelligt von ihrem Mann umsetzen kann. Nur ein Einzelfall?

Eine andere Mutter schreibt in ihrem Blog darüber, dass sie ihre Tochter schon in der Kita angemeldet hatte, aber hin- und hergerissen war, ob das das Richtige sei. Sie schildert ihr Abwägen, Gespräche mit Freundinnen, schlaflose Nächte – ihr Mann (den sie offensichtlich hat) kommt bei diesen Überlegungen nicht vor. Kann natürlich sein, dass er im Blog nicht erwähnt werden möchte. Aber im Mama-Blog-Universum scheint auch nicht so wichtig zu sein, was der Papa meint …

Oft ist Papa nur die Nr. 2

Kürzlich haben wir auf Facebook einen Artikel geteilt, in dem sich ein Vater darüber beklagt, dass seine Tochter lieber von Mama im Kindergarten abgeholt wird. Daraufhin kam es zu einer Diskussion: Ist Mama deshalb bei Kindern die Nummer 1, weil Papa sich aus Unsicherheit oder Bequemlichkeit zurückhält? Oder liegt es an den Müttern, die den Vätern zu wenig zutrauen und meckern, wenn sie etwas anders machen?

Natürlich sind nicht alle Väter, Mütter und Kinder gleich. Aber ich habe den Eindruck, dass oft beides stimmt: Väter lassen sich schnell verunsichern, wenn das Baby oder Kind auf sie nicht genau so begeistert reagiert wie auf die Mama. Aber es ist nun mal so, dass Mama oft Bezugsperson Nr. 1 ist, Papa „nur“ Nr. 2. Sich dann aber zurückzuziehen und Mama machen zu lassen, ist genau die falsche Reaktion. „Jetzt erst recht!“ – das würde ich mir von Vätern wünschen: Jetzt erst recht kuscheln! Jetzt erst recht die Windel wechseln! Jetzt erst recht trösten! Jetzt erst recht vom Kindergarten abholen!

Mütter: Lasst die Väter machen!

Und die Mütter? Die sollten den Vätern auch mal das Feld überlassen. Nicht erst, wenn sie nicht mehr können. Nicht nur dann, wenn Papa es genau so macht wie Mama. Vielleicht muss dann manches intensiver diskutiert werden. Aber auch Papas haben das Recht und die Pflicht, bei Erziehungsfragen mitzuentscheiden! Der Mama freie Hand zu lassen, klingt erst mal gut, ist meines Erachtens aber der falsche Weg!

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

„Bei Papa darf ich das“ – In diese Erziehungsfalle sollten Eltern nicht tappen

Papa erlaubt alles, was Mama verbietet? Das kann zum echten Problem werden, sagt Erziehungswissenschaftlerin Melanie Schüer.

„Mein Mann reagiert nachgiebiger als ich. Wenn ich etwas verbiete, erlaubt er es. Schadet das den Kindern? Was können wir tun?“

Dass Eltern nicht in allen Erziehungsfragen gleicher Meinung sind, ist völlig normal. Dennoch ist es wichtig, dass Sie sich über wesentliche Fragen austauschen und eine gemeinsame Linie finden. Denn wenn Sie als Mutter etwas verbieten und Ihr Mann genau das erlaubt, werden Sie als Eltern für Ihr Kind unglaubwürdig. Das Kind wird dadurch geradezu provoziert, die Eltern gegeneinander auszuspielen – nicht aus böser Absicht, sondern weil es so Dinge erreichen kann, die es sich wünscht. Das schwächt aber die Verlässlichkeit der Eltern und den Zusammenhalt untereinander – und der ist eine unverzichtbare Grundlage für ein gutes Familienleben.

Kleine Ausnahmen sind nicht schlimm

Bei Großeltern ist das etwas anderes – Kinder können schon recht früh verstehen, dass bei Oma und Opa andere Regeln gelten. Wenn aber zu Hause die Regeln ständig wechseln, dann bekommen Kinder den Eindruck, dass die Regeln nicht ganz so wichtig sein können. Natürlich müssen auch Eltern nicht in allen Angelegenheiten gleich handeln. Wenn der Papa mal etwas erlaubt, was Sie eher verboten hätten, was aber keine große Bedeutung hat oder im Alltag kaum vorkommt, ist das kein Drama. Zum Beispiel: Der Papa ist mit den Kindern unterwegs und kauft ihnen ein Eis, obwohl es bald schon Abendessen gibt. Oder: Es ist Wochenende und der Papa bringt die Kinder etwas später ins Bett als sonst. Solange das Ausnahmen bleiben – halb so wild. Wenn aber bestimmte Konflikte häufiger auftreten oder es um konkrete Regeln im Familienalltag geht (zum Beispiel Medienzeiten), dann wird es schwierig, wenn die Eltern nicht an einem Strang ziehen.

Reden hilft

Wichtig ist, unterschiedliche Haltungen dann nicht als persönliche Kränkung zu verstehen. Ihr Mann wird seine Gründe haben. Das können zum Beispiel eigene Erfahrungen sein oder eine andere Prägung. Dennoch sollten Sie ihn bitten, mit Ihnen über diese unterschiedlichen Ansichten zu sprechen. Das sollte nicht vor den Kindern und unter Zeitdruck geschehen, sondern zu zweit und in Ruhe. Fragen Sie Ihren Mann, warum er anderer Meinung ist als Sie – hören Sie aufmerksam zu und respektieren Sie seine Ansichten. Erklären dann auch Sie, weshalb Sie bestimmte Grenzen wichtig finden und versuchen Sie, einen Kompromiss zu finden – eine Vereinbarung, hinter der Sie beide stehen und die Sie dann auch geschlossen durchsetzen können.

Beratungen vermitteln neutral

Sollte Ihr Mann trotzdem immer wieder besprochene Grenzen nicht durchsetzen, gilt es herauszufinden, woran das liegt: Fehlt ihm die Energie dafür? Wenn ja, was könnte er ändern? Früher schlafen gehen, mehr Bewegung, frische Luft, ein Gesundheits-Check-Up? Ist er der Meinung, die Grenzen, die Sie setzen möchten, seien eigentlich unwichtig? Oder gibt es Probleme in der Beziehung zu seinen Kindern? Wenn Sie zu zweit nicht weiterkommen, scheuen Sie sich nicht, ein Gespräch in einer Erziehungsberatungsstelle zu vereinbaren. Tatsächlich ist es oft sehr hilfreich, wenn eine neutrale Person zuhört und vermittelt. Denn diese hat eine ganze andere Perspektive und kann dadurch wertvolle Impulse geben. Sollte Ihr Mann sich weigern, können Sie auch erst einmal für sich allein einen Termin vereinbaren. Adressen finden Sie unter dajeb.de.

Melanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin und Gesundheitsberaterin. Sie bietet Beratungen für Eltern von Babys und Kleinkindern mit Schrei- und Schlafproblemen sowie für Schwangere an (neuewege.me).