Warum Faulsein nicht immer schlecht ist

Faulsein hat einen schlechten Ruf. Zu Recht? Family-Redakteurin Bettina Wendland findet, dass Faulheit sowohl hilfreich als auch hinderlich sein kann.

Pippi Langstrumpf hat uns diesen Ohrwurm beschert: „Faulsein ist wunderschön, denn die Arbeit hat noch Zeit.“ Allerdings assoziiere ich die Efraimstochter eher mit „hyperaktiv“ als mit „faul“. In meiner Erinnerung ist sie immer in Bewegung: Sie jagt Verbrecher, klettert Wände hoch, bespaßt ihre Freunde und reist durch die Südsee. Aber ja, es gibt auch diese andere Seite bei ihr: Sie schwänzt die Schule, chillt in der Villa Kunterbunt und schwebt mit dem Heißluftballon über die schwedische Landschaft. Und das ist irgendwie typisch für das Thema Faulsein: Es ist vielschichtig und wird, je nachdem, aus welcher Perspektive man es anschaut, sehr unterschiedlich bewertet.

Der Begriff „Faulsein“ oder „Faulheit“ ruft verschiedene, zum Teil sogar gegensätzliche Assoziationen hervor. Eher positive wie ausruhen, Pause, Entspannung, das Leben genießen … Und eher negative wie Trägheit, Arbeitsscheu, Bequemlichkeit, abhängen … Die Synonyme Nichtstun und Müßiggang sind ähnlich mehrdeutig. „Nichtstun macht nur dann Spaß, wenn man eigentlich viel zu tun hätte“, wird der englische Schriftsteller und Komponist Noël Coward (1899-1973) zitiert. Ein wahres Wort. In stressigen Zeiten ist die Sehnsucht danach, einfach mal nichts zu machen, besonders hoch. Für Menschen, die aufgrund ihres Alters oder einer Erkrankung nur wenig aktiv sein können, ist das Nichtstun dagegen eher eine Belastung. Und die Herausforderung des Alltags liegt für sie eher darin, „die Zeit totzuschlagen“.

Zwischen Todsünde und Dolce far niente

Von der Antike bis in die Neuzeit hinein war der Müßiggang kulturell meist höher angesehen als die Arbeit. Sokrates lobte die Muße als „Schwester der Freiheit“. Die Arbeit war eher etwas für das einfache Volk und mit Mühsal und Nöten verbunden. Diese Einstellung zur Arbeit – und damit zum Nichtstun – änderte sich maßgeblich mit der Reformation. Luther zitiert ein Sprichwort seiner Zeit: „Wer treu arbeitet, der betet zweifach.“ Gott nachzufolgen und die irdischen Pflichten zu erfüllen, gehört für ihn zusammen. Damit knüpft er an die katholische Tradition an, in der die Acedia (Nichtstun, Trägheit) seit dem Ende des vierten Jahrhunderts zu den sieben Todsünden gehörte. Der Dichter Hans Sachs, ein Zeitgenosse und Anhänger Martin Luthers, bringt die Kritik an der Faulheit in seinem Gedicht „Die frau Sorg und frau Faulkeit“ auf den Punkt: „ste auf, sunst bist verloren!/wiltu der Faulkeit hulden,/so mustu armut dulden./Faulkeit tregt auf dem rücke/wol mengerlei unglücke.“

Für den Reformator Calvin waren Fleiß und der damit im Idealfall verbundene Reichtum Begleitumstände eines gottgefälligen Lebens und der Gnade Gottes. Die sich in dieser Zeit entwickelnde so genannte protestantische Arbeitsethik prägt viele von uns bis heute.

Wohlergehen braucht Auszeiten

Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten die Wahrnehmung des Nichtstuns in unserer Gesellschaft gewandelt. Dr. Yvonne Robel von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg hat erforscht, wie sich die gesellschaftliche Haltung zum Müßiggang historisch verändert hat: „In den 50er- und 60er-Jahren herrschten auf der einen Seite extreme Sehnsüchte, etwa nach dem sogenannten ‚Dolce far niente‘ – dem süßen Nichtstun im Italienurlaub. Auf der anderen Seite gab es bis 1969 Arbeitshäuser zur Disziplinierung von sogenannten Arbeitsscheuen.“ (zit. n. uni-hamburg.de). Seitdem hat sich einiges geändert, wie Dr. Yvonne Robel feststellt: „Inzwischen steht mehr im Fokus, dass jeder für sich und sein Wohlergehen verantwortlich ist – und dazu gehört eben auch, sich um Auszeiten zu kümmern.

Nichtstun erfährt dabei übrigens eine vermehrte Bedeutungsaufladung. Das eine wichtige Stichwort ist Gesundheit, ein weiteres ist Kreativität. Nichtstun ist ja nicht einfach nur Rumhängen, sondern wird mit Ratgebern, die erklären, wie man richtig und effektiv nichts tun kann und dabei noch kreativ wird, quasi gestaltet.“ Das Faulsein ist salonfähig geworden.

Schöpferisches Faulsein

„Nichts bringt uns auf unserem Weg besser voran als eine Pause“, sagte schon die englische Dichterin Elizabeth Barrett Browning (1806-1861). Was zu ihrer Zeit nur der „Upper Class“ vorbehalten war, ist heute Allgemeingut. Nichtstun, Ausruhen, Pausieren ist wichtig. Ohne regelmäßiges Abschalten brennen wir aus. Wie unsere technischen Geräte müssen auch wir uns immer wieder herunterfahren und ausschalten, bevor wir neu durchstarten können.

Allerdings geht es meist weniger darum, dass wir uns von etwas erholen, sondern dass wir uns für etwas ausruhen – um anschließend mit voller Kraft weiterzuarbeiten. Die Faulheit und das Nichtstun sind nicht in sich selbst wertvoll, sondern weil sie uns gesundheitlich und kreativ weiterbringen. Nicht umsonst sprechen wir gern von einer schöpferischen Pause. Eine Pause ist nur dann „erlaubt“, wenn dabei etwas herausspringt. So richtig faul ist das nicht.

Es fällt uns wohl tatsächlich schwer, einfach nur faul zu sein. Ohne Hintergedanken. Ohne Überlegung, wie wir davon wieder profitieren können. Dabei ist doch das Nichtstun um seiner selbst willen wertvoll. Aber in unserer Lebensrealität kaum auszuhalten. Das schlechte Gewissen ist unser ewiger Begleiter. Wenn wir mal faul sind, dann nur mit gutem Grund und einer Entschuldigung oder Erklärung auf den Lippen.

Hinderliches Faulsein

Aber das ist ja auch nachvollziehbar. Denn faul zu sein ist nicht nur wunderschön. Faulheit kann uns Wege verbauen, Entwicklungen behindern – unsere eigenen oder auch die unserer Kinder. Wobei ich an dieser Stelle eher von Bequemlichkeit sprechen würde. Bequemlichkeit hindert uns daran, notwendige Schritte zu gehen und positive Veränderungen einzuleiten. Wem es zu anstrengend ist, Jobmöglichkeiten zu recherchieren und Bewerbungen zu schreiben, der wird aus seinem ungeliebten Berufsalltag nicht herauskommen und möglicherweise immer unzufriedener. Wer zu bequem ist, Zeit mit seinen Kindern zu verbringen, verliert vielleicht die enge Beziehung zu ihnen. Auch in Bezug auf die Bewahrung unserer Schöpfung ist Bequemlichkeit eine der größten Hürden. Mit dem Auto lassen sich Wege schneller und vor allem bequemer zurücklegen als mit dem Rad oder der Bahn. Nachhaltig einzukaufen kann anstrengend sein. Müll trennen nervt …

Problematisch finde ich auch Faulheit im zwischenmenschlichen Bereich. Beziehungen zu pflegen, kann anstrengend sein. Gemeinschaft zu leben, fordert uns heraus, weil der andere so anders ist als ich. Dabei lohnt es sich, hier zu investieren, weil gute Beziehungen echte Lebensqualität bedeuten.

Und jetzt?

Mein persönliches Fazit nach meiner intensiven Beschäftigung mit dem Faulsein – was in sich ja schon irgendwie unlogisch ist: Im Kleinen, Alltäglichen ist Faulsein, ist Nichtstun überlebenswichtig, um den Kopf freizubekommen, den Moment zu genießen, neue Kraft zu schöpfen und eine gesunde Balance für sein Leben zu entwickeln. Das heißt nicht, dass ich nun bei meinen alltäglichen Aufgaben schluderig werden soll. Aber ich darf es mir leisten und gönnen, auch mal einfach nur faul zu sein und in die Luft zu gucken.

Vor allem in großen Entscheidungen des Lebens kann Faulheit allerdings dazu führen, dass ich Chancen verpasse und Träume irgendwann ausgeträumt habe, weil es zu spät ist, sie umzusetzen. Das kann berufliche Entscheidungen betreffen, Erziehungsziele, Ideen, wie ich meine Begabungen auslebe oder mich persönlich weiterentwickeln kann. Ich möchte mich nicht im Nachhinein ärgern, dass ich aus Bequemlichkeit etwas nicht getan habe, was ich eigentlich gern tun und erreichen wollte. Aber es fällt mir definitiv leichter, mich für die großen Schritte zu motivieren, wenn ich mir im Kleinen ein bisschen Faulheit gönne. Und deshalb brauche ich jetzt erst mal eine Pause!

Bettina Wendland ist Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT.

Soziale Netzwerke – gehören Kinderbilder auf Insta und Co?

Soziale Netzwerke laden dazu ein, das eigene Leben mit dem Rest der Welt zu teilen. Dabei stehen Eltern oft vor der Frage: Kann ich ein Bild von meinem Kind posten? Mediencoach Iren Schulz rät zur Vorsicht.

Das Familienleben hält jede Menge aufregende, lustige und besondere Momente bereit. Und weil Eltern sich gern daran erinnern und stolz auf ihre Kinder sind, werden die Erlebnisse mit der Smartphone-Kamera festgehalten und in privaten oder eben auch öffentlichen Communities geteilt. Insbesondere soziale Netzwerke bieten eine Plattform. Auch wenn Eltern positive Gedanken dabei haben, übersehen sie leider, dass solches Bildmaterial im Prinzip für jede(n) zugänglich ist und in falsche Hände geraten kann.

Grundsätzlich muss man sagen, dass digitale Medien wie das Smartphone heute selbstverständlicher Bestandteil des Familienalltags sind und nicht nur bei der Organisation helfen, sondern auch eine Art Erinnerungskiste, Verbindungsschnur und Sammelalbum darstellen. Gleichzeitig ist aber die Kindheit eine besonders schützenswerte Lebensphase. Wir als Erwachsene tragen die juristische und erzieherische Verantwortung dafür, dass Kinder sicher und gut aufwachsen können.

Das Recht am eigenen Bild

Juristisch gesehen ist das zum Beispiel darüber geregelt, dass auch Heranwachsende ein Recht am eigenen Bild haben. Weil sie aber noch nicht selbst über die Veröffentlichung entscheiden können, sind Eltern gefragt, hier besonders sensibel und sorgsam zu entscheiden. Denn sicher ist, dass Kinderfotos im Netz das Risiko für unerwünschte Kontakte oder eine problematische Weiterverwendung bergen. Deshalb sollten sich Eltern gut überlegen, ob und auf welche Art und Weise sie Kinderfotos im Netz und in sozialen Netzwerken verbreiten.

Öffentlich zugängliche Profile, Portale und Programme sind dafür nicht geeignet. Wenn Bilder veröffentlicht werden, sollten Kinder auf diesen Fotos nicht direkt erkennbar sein, sondern beispielsweise nur im Anschnitt, von hinten oder mit Sonnenbrille. Außerdem ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Fotos keine Kontextinformationen wie personenbezogene Daten zum Kind, Standortdaten oder Ähnliches enthalten. Zudem sollten Eltern regelmäßig die Sicherheits- bzw. Privatsphäre-Einstellungen in ihren Social-Media-Profilen überprüfen. Fotos von Kindern in peinlichen, unangenehmen oder unangemessenen Situationen sind absolut tabu!

Gute Routinen und Regeln

Mit dem Älterwerden sollten Heranwachsende in die Entscheidung einbezogen und gefragt werden, ob sie einverstanden sind, dass ein Foto von ihnen erstellt und geteilt wird. Kinder haben nicht nur ein gutes Bauchgefühl, sondern eben auch ein Recht darauf und lernen so, bewusst und souverän mit den Möglichkeiten digitaler Medien umzugehen. Hierbei ist auch noch einmal die Vorbildrolle von uns Erwachsenen angesprochen. Wenn wir uns verantwortungsvoll mit und in digitalen Medien bewegen, gute Routinen und Regeln in der Familie etablieren und auch mal ohne Smartphone zum Ausflug antreten, wird es eher gelingen, diese Handlungsweisen an unsere Kinder weiterzugeben. Und mal ehrlich: Ist nicht jeder Ausflug und jedes Erlebnis schöner, wenn die Familie mit allen Sinnen – und nicht mit allen Bildschirmen – dabei ist?

Dr. Iren Schulz ist Mediencoach bei der Initiative „SCHAU HIN! Was Dein Kind mit Medien macht.“

Silvester mit Teenagern? So gelingt die Party

Jedes Jahr die gleiche Frage: Wie feiern wir Silvester? Eltern möchten gerne mit den Kindern feiern, aber viele Teenager finden die Party mit den Eltern öde. Wie ein Familienfest gelingen kann verrät Pädagogin Stefanie Böhmann.

Eins steht für unsere Kinder fest, die mittlerweile Teenager oder junge Erwachsene sind: Um 24 Uhr an Silvester wollen sie das neue Jahr nicht mit einem musikalischen Feuerwerk oder langen Ausführungen über das letzte Jahr oder nicht erreichbaren Vorsätzen für das neue Jahr begrüßen, sondern mit handfesten Umarmungen und einem Glas Sekt in der Hand. Alles andere wird boykottiert.

Teebeutelrakete

Die Knallerei muss nicht mehr sein. Denn unsere jungen Erwachsenen sind zunehmend am Erhalt der Welt interessiert und sehen in den Knallern doch zu viel Umweltverschmutzung. Was natürlich nicht gegen ein nachbarliches Schnorren von ein paar Knallern um 24 Uhr spricht, um doch noch den pyromanen väterlichen Genen etwas nachzukommen. Alternativ kann man einen Teebeutelraketen-Wettbewerb durchführen. Dazu muss sich jeder eine Teebeutelrakete bauen. Alle zählen den Countdown runter. Jeder zündet die eigene Rakete an und hofft, mit der eigenen Teebeutelrakete am höchsten zu kommen (Anleitung: kurzelinks.de/9c8c).

Fondue gehört bei uns zu Silvester wie, man könnte schon sagen: das Amen in der Kirche. Es braucht doch seine Zeit, bis man satt geworden ist. Und diese Zeit hat man ja normalerweise an diesem besonderen Abend im Jahr. Unser letzter Silvesterabend hat uns allen sehr gut gefallen: Unsere Kinder meinten einige Wochen vorher, dass sie vermutlich alle außer Haus seien, was uns dazu veranlasst hatte, Freunde einzuladen. Eine Woche vor Silvester stellte sich heraus, dass unsere Kids dann doch lieber mit Freunden zu Hause feiern wollten. An einen Esstisch passten wir somit nicht mehr. Wir stellten im „Kinderzimmer“ eine Bierbank auf, sodass die Jugend erst mal für sich das Fondue gegessen und Musik gehört und getanzt hat.

Das Erstellen eines kurzen Jahresrückblicks mit Highlights aus dem vergangenen Jahr oder einer selbst moderierten Nachrichtensendung mit den wichtigsten Fakten war auch schon alles mal da und hat für Spaß, Anerkennung und Zeitvertreib gesorgt.

Alt gegen jung

Wenn alle Gäste involviert sein sollen, eignet sich das klassische „Activity“-Spiel. Hat man es nicht im Haus, kann man sich mit der „Wortbowl“ gut behelfen, denn dazu braucht man nur etwas zum Schreiben, kleine Zettel und eine Schale. Jeder Teilnehmer schreibt drei Hauptwörter auf jeweils einen kleinen Zettel, der in der Mitte einmal geknickt und dann in die Wortschale gelegt wird (wie zum Beispiel Herbstzeitlose, Pyrotechniker, Christbaumkerzenständer). Man teilt die ganze Gruppe in zwei Gruppen – sehr beliebt: alt gegen jung.

In der ersten Runde muss man wie bei „Tabu“ das Wort erklären, darf aber das Wort selbst oder Wortteile davon nicht benutzen. Jede Gruppe hat eine Minute Zeit zum Erklären, dann wird gewechselt. Mitraten darf immer nur die eigene Gruppe. Die anderen müssen aber aufpassen, denn die Wörter werden, nachdem alle erklärt und erraten und die erreichten Punkte gezählt wurden, wieder in die Bowl gelegt. In der nächsten Runde werden die gleichen Wörter pantomimisch gespielt. In der darauffolgenden Runde darf nur noch ein anderes Wort gesagt werden, um den Begriff zu umschreiben (zum Beispiel für Herbstzeitlose – Pflanze). In der letzten Runde dürfen nur noch Geräusche gemacht werden, was sehr lustig ist (zum Beispiel Pyrotechniker – Peng!). Wir hatten so viel Spaß dabei, dass der Abend förmlich verflogen ist und wir gestaunt haben, wie schnell es Mitternacht war!

Stefanie Böhmann ist Pädagogin und individual-psychologische Beraterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Wenn’s mal wieder laut wird… – So gelingt der Umgang mit der Wut

Im alltäglichen Familientrubel kann es schnell hitzig werden. Wenn die Wut hochkocht, braucht es starke Nerven. Psychotherapeutin Melanie Schüer gibt Tipps, was Eltern und Kindern hilft.

Knallende Türen, lautes Geschimpfe und jede Menge Tränen – dass die Wut immer mal wieder hoch- bzw. auch überkocht, kennen wohl alle Familien. Und das ist auch ganz nachvollziehbar. Denn Kinder zu erziehen, nebenbei den Haushalt zu führen, den Familienalltag zu organisieren und womöglich auch noch zu arbeiten – das ist Schwerstarbeit und oftmals eine Überforderung. Schlafmangel, ständige Infekte, ein übervoller Terminkalender, riesige Wäscheberge und viele weitere Herausforderungen im Leben mit Kindern zerren einfach an den Nerven. Dass Eltern da immer mal wieder die Geduld verlieren und lauter werden, als sie eigentlich wollen, ist verständlich.

Anschreien ist fast wie körperliche Gewalt

Was, wenn im Affekt dann sogar die Hand ausrutscht? Dann fühlen sich die meisten Eltern sehr schnell sehr schlecht, und das ist gut so! Denn auch wenn wir alle nicht perfekt sind und einzelne Fehler uns nicht gleich zu schlechten Eltern machen – körperliche Gewalt ist ein No-Go. Zahlreiche Studien zeigen, wie schädlich es für Kinder ist, wenn sie mit Gewalt erzogen werden. Übrigens: Studien zeigen zudem, dass regelmäßiges Anschreien sich auf Kinder genauso negativ auswirkt. Beides schadet der psychischen Gesundheit und der Entwicklung von sozialen Fähigkeiten ganz enorm. Schreien ist verbale Gewalt und damit genauso schwerwiegend wie ein Klaps.

Das bedeutet natürlich nicht, dass es mit der glücklichen Kindheit vorbei ist, wenn Papa oder Mama mal die Sicherung durchbrennt. Aber: Körperliche und verbale Gewalt sollten wir als Eltern beide niemals als „normal“ ansehen.

Schadensbegrenzung im Worst Case

Stattdessen gilt, wenn wir eine solche Grenze überschritten haben:

  • sich kurz Ruhe gönnen, tief durchatmen
  • sich bei dem Kind entschuldigen: „Es tut mir leid! Ich hätte dich nicht anschreien/hauen dürfen. Entschuldige bitte.“
  • Überlegen, was der Auslöser war und, wie die Ruhe zukünftig besser gewahrt werden kann. Oft ist es wichtig, sich mehr Ruhepausen zu organisieren, z.B. mithilfe von Familienpaten oder Projekten wie „wellcome“ mit Kindern im ersten Lebensjahr (wellcome-online.de)
  • Wenn die Wut immer wieder mit einem durchgeht: Unterstützung holen, z.B. von einer Erziehungsberatungsstelle (dajeb.de)

Durch ein solches Verhalten bringen wir unseren Kindern etwas Wichtiges bei: Fehlerfreundlichkeit. Sie sehen an unserem Beispiel, wie man Fehler zugeben und an sich arbeiten kann. Und das hilft auch ihnen selbst, einen guten Umgang mit den eigenen Emotionen und Schwächen im Verhalten zu erlernen.

Wenn die Wut kommt: Tools für den Umgang

  • Eine Hand auf den Bauch legen und tief in den Bauch einatmen, kurz die Luft anhalten, dann langsam und ausgiebig ausatmen. Das 5 Mal wiederholen.
  • Beobachten, was sich in unseren Gefühlen und unserer Körperwahrnehmung verändert, wenn der Ärger wächst, z.B. Hitze, Herzrasen, Anspannen der Muskeln, etc., um zu erkennen, wann es gefährlich wird.
  • Sich ein Codewort überlegen, das man sich innerlich als Stopp-Signal sagt, wenn die Wut stärker wird, z.B.: „Stopp, bleib ruhig, es geht vorbei!“
  • Kurz die Situation unterbrechen und Gegen-Reize setzen, z.B. mit einem Glas Wasser, dem Öffnen des Fensters für etwas frische Luft oder kaltem Wasser, das man sich über die Handgelenke laufen lässt.

Und was ist mit Kinder-Wut?

Dass wir Erwachsenen gut mit Wut umgehen lernen, ist die Basis für ein entspanntes Familienleben, denn Kinder orientieren sich am Verhalten ihrer Eltern. Doch auch Frust und Ärger der Kleinen kann uns im Alltag ziemlich herausfordern – besonders in der Autonomiephase (oft auch „Trotzphase“ genannt) zwischen ca. zwei und sechs Jahren. In diesem Alter spüren die Kleinen ganz besonders stark ihren eigenen Willen. Gleichzeitig ist ihr Gehirn noch nicht so weit entwickelt, als dass sie sich in andere hineinversetzen könnten. Das heißt, sie nehmen intensiv wahr, was sie wollen und verstehen noch nicht, warum andere manchmal ganz andere Bedürfnisse haben. Da sind Wutanfälle vorprogrammiert! Hinzu kommt, dass die Kleinen noch kaum Selbstkontrolle haben: Ruhig bleiben, obwohl die Wut hochkocht ist ohne diese Fähigkeit kaum möglich und so ist es normal, dass Kinder besonders in diesem Alter oft “ausrasten”. Helfen kann dann:

  • Selbst ruhig bleiben und sich erinnern: Mein Kind macht das nicht absichtlich! Es ist gerade überfordert von seinen Gefühlen.
  • Auf Augenhöhe gehen, das Kind freundlich ansprechen, Kontakt herstellen: „Hey, ich bin da!“
  • Die Gefühle, die du bei deinem Kind wahrnimmst, in Worte fassen: „Ich sehe, du bist gerade ziemlich wütend, oder?“ Das zeigt deinem Kind, dass es nicht allein ist und hilft ihm, nach und nach zu lernen, die Wut selbst zu erkennen und zu verbalisieren.
  • Kompromisse und Wahlmöglichkeiten anbieten, um den Wunsch des Kindes nach Autonomie ernst zu nehmen, z.B.: „Wir können jetzt kein Kleid anziehen, aber du kannst zwischen diesen Hosen auswählen!“
  • Techniken zeigen, die helfen, die Wut zu kanalisieren, z.B.: „Komm, wir boxen die ganz Wut jetzt in die Kissen!“ oder „Wir stampfen die Wut jetzt in den Boden, bis es uns besser geht!“

Miteinander statt gegeneinander

Wir haben wohl alle diesen Traum von einem harmonischen, glücklichen Familienleben. Und doch ist es normal, dass der Alltag oft chaotischer, anstrengender und konfliktreicher aussieht. Auch wir Eltern haben Bedürfnisse und Grenzen, die wir auch formulieren sollten. Gerade Gespräche, in denen wir respektvoll mit unseren Kindern reflektieren, was im Streit schiefgelaufen ist und wie es besser gehen kann, stärken die sozialen Fähigkeiten unserer Kinder sehr. Das Wichtigste ist unsere Grundhaltung: Wir leben nicht gegeneinander, sondern miteinander. Nicht „wir gegeneinander“, sondern „wir gemeinsam gegen die Probleme“.

Melanie Schüer Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Autorin.

Familienstreit an Weihnachten? So helfen Sie Ihren Kindern

Der Traum einer besinnlichen Weihnacht platzt oft, wenn nicht alles perfekt ist. Der Stress steigt und dann nerven noch die Verwandten. Doch wie erleben das erst die Kinder? Mit diesen Tipps helfen Sie Ihren Kindern, die Spannungen auszuhalten.

„Einerseits ist Weihnachten ja echt schön – aber andererseits bin ich auch froh, wenn es vorbei ist. Denn die Erwachsenen sind an diesen Tagen immer so wahnsinnig gestresst …“

So in etwa äußerte sich in der Weihnachtszeit einmal meine Tochter über ihr Erleben der „schönsten Zeit des Jahres“ und ich musste erst einmal schlucken – das saß!

Diese gemischten Gefühle bezüglich der zugleich festlichsten und doch auch anstrengendsten Wochen des Jahres kennen wir vermutlich alle. Kinder und Jugendliche nehmen dies oft noch stärker wahr, weil sie sich besonders freuen – alles ist noch neu und so aufregend! – und gleichzeitig die bestehende Anspannung und Stressbelastung noch weniger reflektieren und einordnen können.

Es könnte alles so schön sein…

Auch in meiner psychotherapeutischen Arbeit erlebe ich, dass gerade depressive Symptome um die Weihnachtszeit herum zunehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig, zum Beispiel:

  • Hohe Erwartungen: Es soll schön werden, besinnlich, gemütlich, lecker, freudvoll, besonders – und das möglichst für alle! Das bedeutet viel Arbeit bei der Vorbereitung und viel Druck, denn Weihnachten ist eben nur einmal im Jahr.
  • Unterschiedliche Bedürfnisse, die alle an drei Tagen unter einen Hut gebracht werden sollen
  • Die Anspannung darüber, Familienmitglieder wiederzutreffen, denen man sonst eher aus dem Weg geht

Weihnachten mit strahlenden Augen

Was kann helfen, damit Kinder und Jugendliche Weihnachten so erleben, wie wir es ihnen wünschen – mit vor Freude geröteten Bäckchen, strahlenden Augen und einem fröhlichen Herzen?

Als erstes ist es hilfreich, zu reflektieren und zu erklären, was los ist: Stress lässt sich in der Adventszeit nicht immer vermeiden. Aber es hilft Kindern, wenn Erwachsene diese Erfahrungen altersgemäß einordnen: „Puh, es tut mir leid, dass ich vorhin so gereizt war! Der Advent ist so schön, aber manchmal auch so stressig, weil so vieles zu erledigen ist. Und das alles neben der normalen Arbeit, die ja auch nicht liegen bleiben kann. Deswegen kommt es vor, dass ich genervt reagiere, weil ich müde bin von all dem, was zu tun ist. Aber morgen machen wir uns einen gemütlichen Tag, ja?“

Das Schlagwort „Weniger ist Mehr“ hilft tatsächlich dabei, die randvolle Zeit zu entzerren. Es bringt oft ungemein Entlastung, wenn man sich zumindest einen Tag vor Heiligabend freinehmen kann, den Baum schon etwas früher als sonst aufstellt und schmückt, die Geschenke schon im November besorgt oder auch mit einigen Leuten bespricht, sich nichts zu schenken, sondern lieber mit weniger Trubel einfach die gemeinsame Zeit zu genießen.

Auch hilft es, wenn wir in den Terminkalender bewusst Zeiten für Stille und Besinnlichkeit einplanen. Das kann auch mit altersgemäßen Medien gelingen, wie:

  • Videos wie „Superbuch – das erste Weihnachten“ (ca. 6-12 Jahre)
  • Der Weihnachtsfolge der Serie „The Chosen“ (ab ca. 12 Jahren)
  • Fortlaufenden Adventskalender-Büchern wie „Komm doch mit nach Betlehem!“ (SCM-Verlag, ca. 5-10 Jahre) oder „Ricas Weihnachtsüberraschung“ (ca. 2-6 Jahre)

Für Erwachsene besonders schwer, aber für das Familienleben ungemein wichtig ist es, Unperfektheiten auszuhalten. Wenn wir Erwachsene an unsere Weihnachtserinnerungen denken oder überlegen, wie wir damals Weihnachten gern erlebt hätten – wäre dann wirklich eine einwandfrei saubere Wohnung oder ganz besondere Deko das Wesentliche? Letztlich entscheidet viel mehr das Maß der Herzlichkeit, Liebe und einer fröhlichen Stimmung darüber, wie positiv Kinder und Jugendliche Weihnachten erleben.

Weihnachten – das Fest der Widersprüche

Jugendliche empfinden das ach-so-friedliche Beisammensein einmal im Jahr mit allen Verwandten, auch der unliebsamen Tante Agatha, oft als heuchlerisch. Daher brauchen sie Unterstützung darin, das Geschehen differenziert einzuordnen. „Das ganze Jahr über wird gestritten und gezankt und dann plötzlich spielen wir uns Friede, Freude, Eierkuchen vor!?“ Hier können Erwachsene am besten reagieren, indem sie:

  • Die Ungereimtheiten und auch mögliche Konflikte und Fehler anerkennen und einräumen, dass nicht alle Beziehungen heil und friedlich sind
  • Und gleichzeitig hervorheben, dass gerade in diesem „sowohl als auch“ eine Chance stecken kann: Nämlich, dass die gemeinsame Besinnung auf etwas Größeres (die Geburt dessen, der sich selbst als „Licht der Welt“ bezeichnet und die Menschen auffordert, Frieden mit Gott und dem Nächsten zu machen) helfen kann, über Uneinigkeiten hinweg zu sehen oder diese zumindest nicht größer werden zu lassen, als sie sein müssten.

Kinder mit einbeziehen

Ein wichtiges Element für ein harmonisches Weihnachtsfest ist, Kinder und Jugendliche in das Geschehen einzubeziehen. Das kann sowohl bedeuten, dem Nachwuchs altersgemäße Aufgaben zu übertragen (beim Putzen, Dekorieren, Backen, etc. helfen) als auch, die kindlichen Ideen und Wünsche bei der Planung zu berücksichtigen. Hier gilt es, ein gesundes Maß zu finden – Eltern sollen und dürfen einen gewissen Rahmen vorgeben, der ihnen wichtig ist. Aber Kinder fühlen sich wertgeschätzt, wenn sie in gewissen Bereichen mitgestalten können, zum Beispiel: Was könnten wir den Großeltern schenken? Wie wollen wir die Bescherung gestalten? Was gibt es als Nachtisch?

Die Advents- und Weihnachtszeit, so schwierig sie oft ist, ist eine ganz besondere Zeit. Daher ist es so immens wichtig, vor allem die Zeit mit den Menschen, die wir lieben, zu genießen, auch wenn manches nicht perfekt ist.

Melanie Schüer Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Autorin.

Was die Ehe schützt – Drei Lehren aus gescheiterten Beziehungen

Prinzipiell ist keine Ehe sicher davor, ins Wanken zu geraten. Was können wir tun, um die Ehe zu schützen? Paartherapeut Jörg Berger zieht Lehren aus gescheiterten Beziehungen und zeigt, was helfen kann.

Würden Menschen ein Haus bauen, wenn dabei jeder Dritte scheitern und das Haus mit Verlust verkaufen würde? Vermutlich nicht. Den meisten Menschen wäre das Risiko zu groß. Zum Glück ist unsere Risikobereitschaft größer, wenn es um die Ehe geht. Obwohl jede dritte Ehe zerbricht, gehen Menschen glücklich und hoffnungsvoll hinein. Vielleicht denkt man anfangs, die Menschen, deren Ehe nicht gelingt, seien irgendwie anders als man selbst. Doch die Lebenserfahrung zeigt: Es sind wunderbare Menschen, die auseinandergehen – nicht weniger reif und nicht weniger liebevoll als andere. Außenstehende erleben dann oft einen bangen Moment: Könnte uns das auch treffen? Jedes Ehepaar kann in eine kritische Situation geraten. Doch wir können von gescheiterten Paaren lernen. Denn im Nachhinein zeigt sich, was sie geschützt hätte.

Vertrauen, wenn es bedrohlich wird

Zehn Jahre lang waren Verena und Dirk glücklich miteinander. Dann erlebte Verena eine persönliche Krise, infolge derer es Verena wichtig war, selbstbewusster zu werden und ihr Leben stärker in die eigene Hand zu nehmen. Sie dachte, dass dies keine Auswirkungen auf ihre Ehe hätte. Doch sie hat eine Lawine in ihrer Beziehung losgetreten. Dirk fühlte sich übergangen und abgeschrieben. Erst bemühte sich Verena, ihm mehr Liebe zu zeigen und auf Dirks Gefühle einzugehen. Aber weil das wenig half, zog sie sich zurück. Konnte es sein, dass Dirk einbricht, nur weil sie ein wenig selbstbewusster geworden ist? Der Alltag funktionierte noch, aber das Glück und die Nähe waren weg. Sobald Verena ein falsches Wort sagte, war Dirk verletzt. Sie überlegte, auszuziehen.

Kann man sich vor solchen Entwicklungen schützen? Nein, leider nicht. Aber man kann eine Haltung einnehmen, die einen solchen Teufelskreis durchbricht. Es ist menschlich, dass wir dem anderen unser Vertrauen entziehen, wenn wir verletzt oder enttäuscht werden. Doch genau das setzt einen Teufelskreis in Bewegung. Diesen durchbricht man, indem man das Vertrauen erneuert. Für Verena könnte das so aussehen: „Für mich wirkt es so, als würde Dirk kindisch reagieren und als könnte er nur mit mir zusammen leben, wenn ich schwach bin. Doch so war Dirk doch eigentlich nie. Auch wenn ich seine Gefühle nicht verstehe, gibt es sicher einen Weg, wie er sich mit mir verbunden fühlen kann und ich trotzdem die Freiheit behalte, die mir gerade so guttut.“

Dirk könnte sein Vertrauen so aufrichten: „Es fühlt sich für mich zwar so an, als würde Verena unser gemeinsames Leben verraten und als wäre ihr die Selbstverwirklichung wichtiger als unsere Liebe. Aber eigentlich kann das nicht sein. Verena war nie selbstbezogen. Außerdem hat sie sich ja bemüht, auf meine Gefühle einzugehen, auch wenn mir das noch nichts gebracht hat. Wenn sie erst einmal versteht, wie es mir geht, was ich brauche und dass ich nichts Schlimmes von ihr verlange, können wir sicher einen gemeinsamen Weg finden. Sie ist bereit, mir zuzuhören, wenn ich ihr keine Vorwürfe mache.“

Natürlich sollte man prüfen, ob der Mensch, an den man sich binden möchte, vertrauenswürdig ist. Doch wenn man einem Menschen vertrauen kann und sich das durch das gemeinsame Leben bestätigt, muss man dem anderen das Vertrauen nie mehr entziehen. Dann sollen die Teufelskreise ruhig kommen. Selbst wenn nur einer das Vertrauen aufrecht hält, findet man wieder heraus.

Betrauern, was nicht möglich ist

Wieder ein schweigsames Sonntagsfrühstück. Irinas Mann liest etwas auf dem Smartphone. Sie betrachtet ihn. Plötzlich wird es ganz klar und ruhig in ihr: „Ich mag diesen Menschen nicht. Ich kann ihn nicht lieben, jedenfalls nicht als Ehefrau.“ Irina hatte ihren Mann schnell geheiratet. Sie engagierten sich damals in einer neu gegründeten Kirchengemeinde. Beide waren begeistert und haben viel mit Gott erlebt. Hatte sie das blind gemacht für die Frage, ob sie zueinander passen? Oder haben sie geglaubt, dass Gott alles gut macht, was schwierig ist? Irina kann sich heute nur schwer in ihr jüngeres Ich zurückversetzen.

Um zu verstehen, warum Ehen scheitern und was Ehen schützt, muss man manchmal auf die Partnerwahl zurückblicken. Denn die gelingt nicht immer. Befunde aus der Paarpsychologie legen nahe, dass knapp die Hälfte der Paare umfassend zufrieden mit ihrer Beziehung ist. Sie sagen: „Ich könnte nicht glücklicher sein, auch wenn bei uns natürlich nicht alles perfekt ist.“ Andere zweifeln in dunklen Stunden an ihrer Wahl. Sie sagen: „In manchen Bereichen passen wir gut zusammen, aber in anderen fehlt etwas so Wichtiges.“

Wie nicht jeder den perfekten Beruf oder die perfekte Wohnung findet, verliebt sich nicht jeder Mensch in eine Person, die umfassend passt. Viele Menschen entwickeln erst nach der Hochzeit die Reife, die erkennen lässt, wer man im Tiefsten ist und was man braucht. Doch niemandem würde man raten, deshalb mit der Partnerwahl zu warten, bis man 40 ist. Besser geht man ins Risiko. Mit diesem Risiko kann man einen Weg finden.

Meist kann man den Mangel bewältigen, bevor dadurch die Ehe zerbricht oder sich ein Verliebtsein außerhalb der Ehe entzündet. Dazu ist etwas nötig, das man in der Psychologie Trauerarbeit nennt. Vieles kann fehlen in einer Ehe: tiefere Gespräche, Berührungen, leidenschaftliche Sexualität, gemeinsame Interessen, emotionale Wärme. Wenn klar wird: Das Gegenüber kann das von der Persönlichkeit her nicht geben und möchte sich auch nicht auf eine Entwicklung einlassen, ist das wie ein Verlust, der existenziell erschüttert. Doch Menschen kommen selbst über schwere Verluste hinweg und werden wieder glücklich. Warum sollte das nicht auch funktionieren, wenn in der Ehe etwas fehlt? Doch die Trauer darüber verläuft ähnlich heftig. Sie beginnt, wenn man nicht mehr gegen den Mangel ankämpft, sondern ihn akzeptiert: „Das fehlt mir. Ich würde es so dringend für mein Glück brauchen. Doch ich werde es in meiner Liebesbeziehung nicht bekommen.“

Die Trauer darüber kann überwältigend sein. Man darf damit nicht allein bleiben. Man braucht gute Freunde und Begleiter, die einfach mit aushalten. Trauer verläuft in Wellen. Endlich glaubt man, allmählich damit klarzukommen, schon rollt eine neue Welle heran. Doch irgendwann wird eine Freude spürbar, ein neues Glück. Glaubende Menschen entdecken manchmal: „Genau da, wo mir menschlich etwas fehlt, ist meine Beziehung zu Gott inniger geworden. Hier ist jetzt Gott selbst mein Glück.“ Hätte es Irinas Ehe gerettet, wenn sie vor 15 Jahren getrauert hätte, statt weiter zu kämpfen und zu scheitern, statt weiter zu hoffen und enttäuscht zu sein? Vielleicht. Ihr Irren bei der Partnerwahl wiegt schwer, weil die Persönlichkeit ihres Mannes so wenig von dem abdeckt, was sie braucht. Es ist tragisch, wenn einem das erst im Nachhinein bewusst wird. Doch nicht immer liegt es an der Partnerwahl, wenn man das Gefühl hat: „Wir passen einfach nicht zusammen.“

Ein Fundament für die Ehe bauen, bevor die Stürme kommen

Heiko hat einen tiefen Glauben. Er hat seine Familie mitgezogen und Familienandachten eingeführt. Manchmal hat er die anderen moralisch unter Druck gesetzt. Denn Heiko hatte klare Vorstellungen, wie man als Christ lebt und wie nicht. Umso schockierender war es, dass ausgerechnet er fremdgegangen ist, zunächst heimlich und dann ganz offen. Wie passt das denn zu dem, was Heiko immer so ernsthaft vertreten hat? Doch Heiko hat seinen Glauben einfach an seine Gefühle angepasst: Man müsse auf das hören, was einem das Herz sagt. Gott wisse, dass Menschen scheitern, und er vergibt. Er möchte nicht, dass man in einer Ehe bleibt, die einem wie ein Gefängnis vorkommt. Das hätte Heiko so nie vertreten – bis die andere kam.

Kann man dem vorbeugen? Damit man nicht irgendwann von Gefühlen bestochen und seiner Überzeugung untreu wird? Ja, aber dazu braucht man eine Bindung, die wichtiger ist als das eigene Glück. Für mich persönlich sah das so aus: Ich habe als junger Erwachsener zum christlichen Glauben gefunden, der seither mein Leben prägt und mir mit der Bibel ein gutes Wertefundament gibt, die meine Entscheidungen leitet. Seit 30 Jahren habe ich deshalb Menschen, denen ich davon erzählen darf, wie sich mein Leben entwickelt. Sie helfen mir, auf dem Weg zu bleiben, den ich für mein Leben als richtig erkannt habe. Was sonst könnte mich halten, wenn ich einmal vor einem Abweg stehe?

Wenn mich jemand fragt, wie man eine Ehe aufbauen kann, würde ich daher antworten: „Überlege dir, was du tun möchtest, wenn die Stürme kommen, mit denen jeder rechnen muss: ein Fremdverliebtsein, eine emotional unerträgliche Situation oder auch eine Wüstenzeit, in der schöne Gefühle in der Beziehung fehlen. Und sorge jetzt dafür, dass du dann nach deinen Werten handeln wirst.“ Man kann sich gegenüber einem Freund oder einer anderen Vertrauensperson festlegen: „Wenn ich einmal in eine solche Situation gerate, möchte ich so damit umgehen. Erinnere mich dann bitte daran, frage nach, lass dich nicht abwimmeln.“

Wer glaubt, kann sich auch Gott gegenüber festlegen: „Ich werde mich dann eine Woche in die Stille zurückziehen, um zu hören, wie du mich weiter führen möchtest.“ Auch das ist keine Garantie für das Gelingen einer Ehe, aber es ist ein Fundament dafür, mit Krisen so umzugehen, wie es der eigenen Überzeugung entspricht. Ich habe schon viele Paare begleitet, für die genau das die Ehe gerettet und wieder glücklich gemacht hat.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut mit eigener Praxis in Heidelberg. Er ist mit Vorträgen, Büchern und Online-Kursen unterwegs, um Ehen zu stärken (psychotherapie-berger.de/family).

Stress vor Weihnachten: Wenn im Advent der Burnout brennt

Der „besinnliche“ Advent ist die stressigste Zeit des Jahres. Das belastet auch die Paarbeziehung. Paartherapeutin Ira Schneider erklärt, was die Adventszeit retten kann.

Der Dezember ist angebrochen: Hiermit heiße ich euch Herzlich Willkommen in dem wohl stressigsten Monat des Jahres! Gleichzeitig ist es ein Monat, der besinnlich, kuschelig, ruhig und gemütlich sein soll. So richtig passt dieses Bild eines entschleunigten Ruhemomentes nicht zu dem von außen geforderten Marathon. Nicht zuletzt ist der Dezember der Monat, der gesellschaftlich den höchsten Anspruch hat, „perfekt“ zu werden. Ein Monat, der voller Erwartungen steckt. So können wir in diesem Sinne alle ein altbekanntes Lied umdichten: Statt „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt“ heißt es dann „Advent, Advent, unsere Energie brennt aus!“ Es ist ein Monat, der nicht nur Energie bindet, sondern diese auch Paaren regelrecht raubt.

Nicht mit mir!

Eigentlich soll der Monat doch besinnlich und fast schon magisch sein. Das Essen muss schmecken. Die Deko muss stehen. Die Geschenke sollen gefälligst gefallen. Kein Wunder, dass sich viele Paare im Dezember zerreißen. Im Job müssen sie Jahresabschlüsse durchpeitschen, für die Kinder werden Adventskalender gebastelt, Festlichkeiten werden organisiert, Päckchen verschickt, Wohltätigkeitsorganisationen unterstützt und Termine und Adventsfeiern werden auch noch im Wochenkalender untergebracht.

Es gäbe sicherlich zahlreiche Tipps, was Paare tun oder lassen könnten. Ganze Listen darüber ließen sich niederschreiben. Am besten schreibe ich eine neue Liste: mit Not-To-Dos, also, was man alles lassen sollte. Wenn das eure Hoffnung war, kurze und schnelle Tipps für den Advent zu erhalten, dann muss ich euch leider enttäuschen. Aber was ich euch entgegenwerfen kann, ist hoffentlich eine warme Woge der Entlastung. Zwei Dinge sind während des Dezembers wahr: Egal, wie ihr den Dezember dreht und wendet. Er bleibt wohl oder übel immer etwas knackig. Was aber auch wahr ist: Ihr dürft neue Grenzen setzen.

Tradition im Advent: Stress

Starten wir mit dem ersten Teil der Wahrheit. Es ist in Ordnung, wenn euch dieser Monat stresst. Ihr dürft gestresst sein. Ihr müsst nicht auch noch das nicht-gestresst sein leisten. Es ist ok, wenn ihr euch zwischen Stille und Eile nicht entscheiden könnt. Es ist ok, wenn ihr euch rastlos und überfordert fühlt. Euer Zeitmanagement ist nicht schuld daran. Euer Abwägen, euer Zusagen und euer Absagen sind nicht der Knackpunkt. Wie wir Weihnachten feiern, ist ein strukturelles Problem. Eins, das sich zutiefst in unsere Gesellschaft hineintradiert hat. In diesem Monat zahlt nicht nur unser Portemonnaie einen hohen Preis, auch unser Nervenkostüm wird auf die Probe gestellt.

Wenn Paare sich diesen Ist-Zustand gewähren, weicht der der Druck möglichst, „entspannt sein zu müssen“. Ohne Druck möchte ich euch behutsam zusprechen, dass es kein „Ihr müsst kürzertreten“ sein muss. Es ist vielmehr ein „Ihr dürft kürzertreten“. Wie oft verwehren Paare sich selbst ihre eigentlichen Bedürfnisse, weil der Druck von außen so hoch ist. Ihnen fehlt nachvollziehbarerweise eine gewisse innere Erlaubnis.

Zuviel

Der zweite Teil der Wahrheit, verkennt den ersten Teil nicht, aber er macht euch Mut eigene Wege zu gestalten und Grenzen zu setzen. Daher dürft ihr beides: Zum einem vollkommen gestresst sein und euch der Akzeptanz hingeben, dass der Dezember ein besonderer Monat ist und bleibt. Ende. Ihr dürft aber auch das Nein-Sagen und Absagen ausprobieren, wenn ihr beispielsweise bestimmte Konstellationen bei Zusammenkünften vermeidet, weil sie euch zu viel sind. Oder ihr dürft Feierlichkeiten früher verlassen. Ihr dürft kürzertreten, wenn es um Weihnachtsgeschenke geht. Ihr dürft Weihnachtspost weglassen, wenn sie euch zu viel wird. Ihr dürft all das, was euch zu viel ist wahrnehmen und dürft euch selbst begrenzen.

Auch wenn die Harmonie rund um die Festlichkeiten euch hoch oben auf der Agenda schweigend anschreit, ist es okay, wenn ihr für euch als Paar sorgt. Not-To-Do-Listen umzusetzen oder grundsätzlich Grenzen rundum die Feiertage zu setzen, kann im ersten Moment eine unliebsame Aufgabe sein. Abgrenzung kann durch Unverständnis im Außen Spannungen erzeugen. Das heißt: Es müssen die Folgen der eigenen Grenzen ausgehalten werden oder sie müssen zumindest aushaltbar sein. Es ist eine besondere Herausforderung für Paare, für sich selbst und für sich als Familie zu entscheiden und folglich auszuhalten, dass Erwartungen enttäuscht werden. Doch nur enttäuschte Erwartung haben die Chance in gedämpfter und weniger fordernder Kleidung im kommenden Jahr wieder anzuklopfen. Es hilft. Denn dann werden aus überhöhten Anforderungen vielleicht realistische Erwartungen. Das kann entlasten!

Ira Schneider ist Paartherapeutin und Autorin. Mehr unter: @ira.schneider_

Kreativität – Was Kinder dazu brauchen

Im Ausleben von Kreativität erleben Kinder Lebensfreude und Erfüllung. Heilpädagogin Sonja Krebs zeigt, warum Kinder dazu einen geschützten Raum brauchen und wie Eltern sie dabei unterstützen können.

Menschen sind von sich aus kreativ. Und wenn ich von Kreativität schreibe, meine ich nicht das Fensterbild aus Tonkarton, ein mit Pinsel gemaltes Bild oder ein musikalisches Wunderwerk. Kreativität ist viel mehr und sichert unser Überleben, da sie Weiterentwicklung, Ausprobieren, Experimentieren beinhaltet. Es ist die Kraft, zu gestalten und schöpferisch zu wirken. Es ist die Kraft, gedanklich in die Weite zu gehen und kreative Lösungen zu finden.

Kreativität gibt Kraft

Kreative Ideen sind gerade in der aktuellen Zeit, angesichts des Klimawandels und Krisen verschiedenster Art, notwendig. Wir sind gefordert, Neues zu denken und zu entwickeln und in die Umsetzung zu kommen. Kreatives Schaffen im Sinne von musischen und künstlerischen Tätigkeiten kann in persönlichen Herausforderungen wirksam unterstützen, Zugang zu eigenen Kraftquellen, Fähigkeiten und Bedürfnissen zu erschließen.

Somit macht es in jeglicher Hinsicht Sinn, Kinder in ihrer Kreativität zu stärken. Denn diese stärkt nicht nur ihre Lebenszuversicht und Resilienz. Aus der Schöpferkraft fließen auch Kraft und Freude für das Leben. Kreativität ermöglicht, aus spielerischer Lebensfreude und Zuversicht heraus vertrauensvoll ins Handeln zu kommen und das Zusammenspiel von eigenem Handeln und Wirksamkeit zu erleben. Diese kann allein oder in der Interaktion mit Mitmenschen geschehen.

Wertschätzend unterstützen

Doch was braucht es im Alltag, damit ein Kind kreativ sein und diese wertvollen Aspekte erleben kann? Erforderlich ist zunächst ein wertschätzender Rahmen. Kinder brauchen Zeit, Wärme und Halt, um sich entfalten zu können. Kreatives Schaffen braucht keine Bewertung von richtig oder falsch, sondern Bestätigung: „Ich sehe dich, ich traue dir zu, dass du voller Ideen steckst, und ich glaube daran, dass du neue Lösungswege finden kannst.“ Das kann beim Malen eines Bildes sein oder bei einer Gesprächsbegleitung im Konflikt mit Mitschülern. Auch hier können kreative Wege gefunden werden: Welche Möglichkeiten habe ich? Was kann ich tun? Auf welche Erfahrungen und Fähigkeiten kann ich zurückgreifen? Was kann ich neu ausprobieren?

Dafür braucht es mein echtes Zutrauen in die Fähigkeiten des Kindes und die Bereitschaft, diese auch gemeinsam freizulegen. Oft sind Kinder verunsichert, weil sie glauben, etwas nicht zu können oder etwas Perfektes schaffen zu müssen. Dadurch wird die Schaffensfreude gehemmt. Darum gilt es, Kinderbilder nicht zu bewerten, sondern wertschätzend zu unterstützen und zum Beispiel gemeinsam herauszufinden, welche Lieblingsstelle das Kind auf seinem Bild findet. Gern darf es erzählen, was es so daran mag. Es geht nicht um das Endprodukt, sondern um die Freude am Kreativsein. Dabei sollten sich Kinder wie Erwachsene nicht vom Lob oder der Kritik anderer abhängig machen, sondern ein Gefühl dafür entwickeln, was für sie stimmig ist und ihnen selbst gefällt.

Sich selbst kennenzulernen, dient im Lebensalltag dazu, eine eigene Meinung und Haltung zu entwickeln und den Selbstwert nicht von anderen abhängig zu machen. Und aus der innigen Verbindung zu mir selbst kann dann eine echte Verbindung zum Gegenüber entstehen.

Alle Sinne aktiv

Der Wald ist ein wunderbares und kreatives Spielfeld. Das Kind kann sich fragen – oder von den Eltern zu Fragen angeregt werden: Welches Bedürfnis habe ich – Ruhe oder Action? Was steht mir zur Verfügung? Benötige ich in der Umsetzung meiner Idee Unterstützer? Baue ich mir eine Hütte oder Wippe oder lege ich mit Naturmaterialien ein Bodenbild? Lege ich mich selbst auf den Waldboden und nehme alles um mich herum wahr und lasse meine Gedanken fantasievoll schweifen? Es gibt viele individuelle Wege, kreativ zu sein. Gerade im Wald sind alle Sinne aktiv und wachsam: Ich sehe, lausche, betrachte, nehme den Duft wahr, nehme meine Bewegung wahr. Ich bin achtsam.

Dasselbe kann zum Beispiel auch beim Malen mit Flüssigfarben oder Rasierschaum geschehen: Das Kind folgt intuitiv seinen Ideen und erprobt spielerisch verschiedene Möglichkeiten seiner Selbstwirksamkeit. Es lernt seinen Handlungsspielraum auf farbenfrohe Art kennen.

Kreativ vor dem Bildschirm?

Aber wie sieht es aus mit Kreativität in Bezug auf Medien und Computerspiele? Hier fällt die bedeutsame ganzheitliche Wahrnehmung mit Bewegung weg. Doch es gibt durchaus Medienmaterial für ältere Kinder, das dazu einlädt, aktiv und kreativ zu werden. Onlineworkshops zum Beispiel können ein inspirierender Anschubser sein, um selbst aktiv zu werden. Bei Spielen wie Minecraft können Welten erbaut werden und Kids sich online begegnen. Man kann auch gemeinsam Filme oder Serien schauen und anschließend überlegen, wie die Geschichte weitergehen könnte oder welche Lösungen es für die Protagonisten gibt. Oder man kann gemeinsam reflektieren, wie Stimmungen mit Licht, Kameraeinstellung und Musik erzeugt wurden.

Wenn wir mit unseren Kindern unterwegs sind, ihre Interessen und Stärken wahrnehmen, sie darin bestärken, gedanklich in die Weite zu gehen und sie darin unterstützen, selbst wirksam zu werden, ist ein guter nährender Boden für Kreativität geschaffen. Und wie wunderbar ist es, dass Gott uns eine Schöpfer- und Gestaltungskraft in vielfältigen Formen geschenkt hat!

Sonja Krebs ist Erzieherin, Heilpädagogin, Resilienztrainerin und systemisch-lösungsorientierte Beraterin (atelier-einmalig.de). Sie lebt in Königswinter.

Vater sein mit Leidenschaft: „Ich bin nur meinem Kind etwas schuldig“

Der Journalist und Autor Tillmann Prüfer ist leidenschaftlich gern Vater. Wie er die Rolle und Aufgaben eines modernen Vaters sieht und woran sich Väter heute orientieren können, erzählt er im Interview.

Sie sind Vater von vier Töchtern. Was ist die wichtigste Lektion, die Sie durch Ihre Kinder gelernt haben?
Tillman Prüfer: Dass man mehr von den Kindern beigebracht bekommt, als man selbst den Kindern beibringt. Man denkt normalerweise, dass Erziehung so funktioniert: Da kommt ein junger Mensch wie ein unbeschriebenes Blatt zur Welt und wird dann durch die Eltern gebildet, mit Werten versorgt und so etwas. Wenn man dann aber mit Kindern zu tun hat, merkt man, dass man von ihnen mindestens genauso viel lernen kann, wie sie von einem selbst lernen, und dass man sich selbst durch die Kinder genauso verändert. Es ist ein beidseitiges Beeinflussen. Einem wird ein Mensch ins Leben geschenkt, der aber schon, wenn er da ist, ein vollkommener Mensch ist, also eine vollkommene Persönlichkeit, mit der man dann das Leben bestreitet.

Andererseits brauchen Kinder Sicherheit und Richtungsweisung. Ist das ein Widerspruch?
Nein, das ist kein Widerspruch. Natürlich lernt das Kind von den Eltern und von seinem Vater. Aber es lernt nicht in dem Sinne, dass man Regeln und Vorgaben gibt. Das braucht man natürlich für ein gesundes Zusammenleben. Aber es lernt vor allem durch das Vorbild der Eltern. Und wenn ich Vater eines Kindes bin, lernt das Kind vorrangig durch die Anschauung meiner Person: Wie kommt er durch sein Leben, was ist ihm wichtig, worauf achtet er besonders, wie löst er Probleme, was macht ihn glücklich? Das bedeutet Sicherheit und Richtung. Das verlangt viel Auseinandersetzung mit sich selbst. Denn wenn ich meinem Kind etwas vorleben möchte, muss ich erst mal wissen, was das eigentlich ist. Und dann kommt die entscheidende Frage: Wann lebe ich das eigentlich vor? Wann ist die Zeit dafür? Wann haben wir eigentlich Zeit, miteinander Dinge zu erleben? Das ist der Rahmen der Eltern-Kind-Beziehung.

Orientierung für Väter

Woran sollten sich Väter orientieren, gerade wenn sie kein optimales Vorbild hatten?
Umfragen haben ergeben, dass die meisten Männer ihre Väter lieben und positive Erinnerungen an sie haben. Aber leider ist der Normalfall ein Vater, der zu wenig Zeit hatte, um sie mit seinen Kindern zu genießen, weil seine Aufgabe in der Familie die des Alleinernährers war. Das ist leider immer noch das übliche Modell. Aber dadurch verpasst er viel. Später tut es ihm leid und er sieht sich im Defizit. Um das zu kompensieren, würde ich mich hinsetzen – allein oder mit der Partnerin – und auf einen Zettel schreiben, was mir wichtig ist, was meine Erwartungen an Vaterschaft sind, woran sich mein Kind erinnern soll. Was soll es gelernt haben, was soll rübergekommen sein? Anders gesagt: Was soll diese Vaterschaft nachher ausgemacht haben?

Wenn dann vier oder fünf Begriffe da stehen, kann ich mir überlegen, wie ich das weitergeben kann: Sind das gemeinsame Urlaube, Gespräche, gemeinsame Unternehmungen? Wenn ich zum Beispiel gern Fußball spiele, kann ich mit meinem Kind Fußball spielen oder ins Stadion gehen. Plötzlich ergeben sich sehr konkrete Dinge. Dann kann ich mir im dritten Schritt überlegen, wann dafür Zeit ist. Da wird es manchmal schwieriger, wenn ich merke, dass die Zeit zwischen 20 Uhr, wenn ich nach Hause komme, und 7 Uhr morgens, wenn ich das Kind in die Schule bringe, gar nicht so lang ist. Da kann ich ja gar nichts transportieren. Wann ist dann die Zeit, in der nur ich allein mit meinem Kind etwas machen kann? Dann geht es weiter mit dem Überlegen: Bin ich damit zufrieden? Kann ich das anders anstellen? Ich würde empfehlen, möglichst konkrete Aufgaben und Probleme zu benennen.

Rollen und Herausforderungen

Als Vater hat man verschiedene Rollen. Welche genau sind das?
Die Mutter- und Vaterrolle sind Begriffe aus der Entwicklungspsychologie, die gut eingeführt sind, aber die nicht grundsätzlich an Geschlechter geheftet sind. Da sind einfach zwei Menschen, Vorbilder, die ein Kind für eine günstige Entwicklung haben sollte. An der Vaterrolle ist das Wichtigste, dass man einen Elternpart hat, der eher den Herausforderer spielt, das Kind mit neuen Aufgaben konfrontiert, das Kind mehr lockt und ermutigt. Das heißt aber nicht unbedingt, dass das immer der Vater sein muss.

Es gibt Situationen in unserer Ehe, da ist meine Frau eher in der Rolle der Herausforderin. Wenn wir im Urlaub sind, steigt sie mit dem Kind auf irgendwelche Klippen und springt wieder runter. Ich denke dann: „Spinnt ihr, ihr könnt euch wehtun! Bleibt doch besser hier, das ist doch viel zu gefährlich!“ Da bin ich eher der schützende, behütende Part. Das sind die zwei wesentlichen Dinge, die einem Kind guttun: Es sollte einen Part geben, bei dem es sich eher Schutz suchend zurückziehen kann, und einen Part, der eher nach außen zieht, der sagt: „Guck mal, geh doch mal da hin! Du kannst das!“ Das können sich Partner natürlich hin- und herspielen, wie es für sie passt. Nur diese Dualität ist gut.

Als Mann, als Vater, steht man vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen: Man möchte ein guter Vater sein, für die Kinder da sein, für die Ehefrau, man soll genug Geld verdienen, erfolgreich im Beruf sein. Wie sollte man mit diesen Erwartungen umgehen?
Indem man sich nur eine Person vornimmt, der man irgendetwas schuldig ist – und das ist das Kind. Natürlich kommen tausend Erwartungen: die des Chefs, der Partnerin, der Freunde, der Eltern und so weiter. Aber die einzige Person, der ich wirklich etwas schuldig bin, ist das Kind. Und das ist auch der einzige wirkliche Referenzpunkt, ob man seine Sache gut gemacht hat oder nicht. Das wird das Kind einem schon irgendwann sagen. Leider haben wir heute gar nicht so seltene Fälle von Vätern, die keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern haben, nachdem sie ausgezogen sind. Und die leiden darunter, weil da einiges grundlegend falsch gelaufen ist. Wichtig ist: Man kann Dinge ganz anders machen, als die Gesellschaft das sagt. Man kann Dinge auch anders machen, als die eigene Frau das gut findet. Es geht einzig um das Kind. Wenn das Kind der Verlierer ist, dann ist etwas schiefgelaufen.

Vater – zwischen Beruf und Familie

Gibt es Berufe, die nicht familienkompatibel sind?
Mein Beruf gilt als nicht familienkompatibel. Und trotzdem arbeite ich seit über zwanzig Jahren in Teilzeit und habe ein abwechslungsreiches Arbeitsleben. Wir Männer glauben, wir können alles verändern, alles schaffen. Das männliche Bild ist: „The sky is the limit“, „Wir schaffen das!“ Aber dann diktiert der Job unser Leben. Das soll unabänderlich sein? Das glaube ich nicht! Wenn ich es will, dann kann ich mir die Dinge so biegen, dass ich für andere Menschen auch greifbar bin. Und wenn man sagt, das ist ein Job, der nicht kompatibel sei – ja, was soll das denn für ein Job sein? Einer, der mit einem glücklichen Leben nicht kompatibel ist? Ich glaube, wir müssen uns abgewöhnen zu denken, dass viele Überstunden das Maß der Dinge sind. Und mal ehrlich: Vierzig Stunden mehr in der Woche am Computer zu sitzen, ist, mit etwas Distanz betrachtet, auch nicht so toll.

Was würden Sie einem jungen oder werdenden Vater als wichtigsten Rat mit auf den Weg geben?
Das Wichtigste ist, dass er sich vergegenwärtigt, dass Vatersein – genauso wie das Muttersein – das Leben komplett ändert. Und es ist das größte Abenteuer, das man als Mensch bestehen kann, einen anderen Menschen großzuziehen.

Das Zweite ist, dass es kein Job ist. Wenn Männer von ihrer angehenden Vaterschaft sprechen, dann sagen sie häufig, eine große Verantwortung liege jetzt vor ihnen und das alte Leben sei vorbei. Nein, es ist nicht vorbei. Das alte Leben ist das Leben, das man einem Kind vorlebt. Und es ist ganz wichtig, dass man Spaß daran hat und dass man es so macht, wie es für einen passt, weil es dann auch für das Kind meistens ganz gut passt. Man kriegt dafür keine Beförderung, es gibt keine Sternchen. Es gibt aber ein fantastisches Leben mit einem anderen Menschen.

Und das Dritte ist, dass man Vaterschaft auf die Lebensspanne sehen muss. Oft hat man das als Vater so im Kopf: Ich muss Geld verdienen und für das Kind sorgen, bis es ausgezogen ist, dann habe ich meine Arbeit gemacht. Nein, man ist ein Leben lang Vater – und ein Referenzpunkt für das Kind. Es guckt zu, wie man alt wird, wie man sein Leben in den Griff kriegt. Das, was sich dabei ändert, ist der zeitliche Horizont, in dem man tatsächlich Zeit mit dem Kind verbringen und sich als Vater einbringen kann. Es gibt eine Zahl – ich habe sie leider nicht nachgeprüft –, dass mit dem 12. Lebensjahr des Kindes die Face-to-Face-Zeit, die ein Kind mit seinen Eltern verbringt, schon zu 80 Prozent rum ist. Danach bleiben noch 20 Prozent. Das heißt, bis zum 12. Lebensjahr passiert das meiste.

Aber das ist gleichzeitig die Zeit, in der die Väter meistens voll im Job sind, das Häuschen abbezahlen, aber die wertvollste Zeit verpassen. Meist bemerkt man erst spät, wie krass das ist, weil man danach auch nicht mehr alles nachholen kann. Daher würde ich immer dazu raten, dies bei den wichtigen Entscheidungen zu bedenken.

Verlorenes aufholen

Wenn ein Vater in den Teenager-Jahren der Kinder feststellt, dass er im Kleinkindalter kaum zu Hause war und viel verpasst hat, kann man das zumindest teilweise nachholen?
Man kann einiges nachholen, anderes nicht. Ich glaube, es ist auch die Frage, wie weit man bereit ist, dem Kind gegenüber Fehler zuzugeben. Auch ich musste mit meiner ältesten Tochter viel sprechen und viel nacharbeiten. Das ist nicht einfach! Es ist einfacher, wenn man Dinge zusammen erlebt, als wenn man das später nacharbeitet. Man kann viel Vertrauen und Tiefe in der Beziehung später herstellen, aber man muss es wirklich wollen und das dem Kind von Herzen zeigen. Ich glaube, Kinder reagieren nicht gut darauf, wenn sie denken: „Aha, jetzt, wo sein Job nicht mehr so wichtig ist, bin ich plötzlich wichtig!“ Um diesen Eindruck zu vermeiden, braucht es schon ein bisschen Überzeugungskraft.

Sie haben Kinder sowohl im Teenager-Alter als auch schon erwachsene, und Sie haben die ganze Entwicklung schon durchgemacht. Wie verändert sich das Vatersein mit dem Aufwachsen der Kinder?
Es ist natürlich immer mehr ein Reden auf Augenhöhe. Kinder sind vom ersten Tag an als Persönlichkeit da. Und ihr Feedback wird konkreter. Meine Tochter Lotta hat mir kürzlich gesagt, dass es für sie immer wichtig war, dass ihre Eltern mit ihr auf Augenhöhe sprechen. Denn wenn man von oben herab behandelt wird, erzählt man irgendwann auch nichts mehr. Man kann sich früh bewusst machen, dass es nur sehr kurze Zeit ein echtes Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern gibt. Der Einfluss, den Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder haben, in der sie alles in der Hand haben, existiert nur im Kleinkindalter. Aber danach nimmt es rasch ab und ist irgendwann gar nicht mehr da. Und wenn ich mich nicht darauf einlasse, meine Kinder ernst zu nehmen, dann kann ich auch nicht erwarten, dass meine Kinder mich ernst nehmen.

Vielen Dank für das Gespräch und die wertvollen Anregungen!

Die Fragen stellte Family-Redakteur Marcus Beier.

Tillmann Prüfer ist stellvertretender Chefredakteur des Zeitmagazins und Autor mehrere Bücher. Zuletzt erschien sein Buch „Vatersein: Warum wir mehr denn je neue Väter brauchen“ (Rowohlt/Kindler)

Wo beginnt Magersucht? Expertin erklärt Warnsignale

Essen ist für viele junge Leute ein heikles Thema. Wenn Teenager sich schwertun, selbst kleine Portionen zu essen, klingeln bei Eltern schnell die Alarmglocken: Ist das Magersucht? Psychologin Claudia Beck erklärt, worauf Eltern achten sollten.

Eine Magersucht entwickelt sich aus dem komplexen Zusammenwirken biologischer, psychischer und sozialer Faktoren. Am Anfang steht immer eine Gewichtsabnahme, welche durch den Wunsch, sich nur noch „gesund“ zu ernähren, ausgelöst werden kann. Wenn Sie sich Sorgen machen oder Sie das Essverhalten Ihres Kindes irritiert, sollten Sie tatsächlich genauer hinschauen!

Wichtige Fragen

Fragen Sie offen und interessiert nach: Wie ist der Wunsch nach gesunder Ernährung entstanden? Gibt es einen Druck beispielsweise aus Schule, Peergroup, Sozialen Medien …? Wie viel Raum beansprucht das Thema Essen in den Gedanken Ihres Kindes? Fühlt es sich unwohl in seiner Haut, möchte es gern anders aussehen? Leidet es unter Ängsten? Folgende Fragen können für eine erste Einschätzung hilfreich sein:

  • Hat eine Gewichtsabnahme stattgefunden? Wenn ja: Wie viel in welchem Zeitraum?
  • Gibt es sogenannte „verbotene Lebensmittel“, beispielsweise Zucker, Kohlenhydrate oder Fette?
  • Besteht Angst vor gemeinsamen Mahlzeiten oder werden diese vermieden?
  • Kreisen die Gedanken ständig um Essen oder Nicht-Essen?
  • Wird das Gewicht täglich oder sogar mehrmals täglich kontrolliert?
  • Angst vor Gewichtszunahme trotz schlanker Figur?
  • Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, geringes Selbstwertgefühl?
  • Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Niedergeschlagenheit?
  • Wird zusätzlich viel Sport getrieben, werden extra Workouts absolviert?
  • Sozialer Rückzug von Familie und Freunden?

Familienbasierte Therapie

Auch wenn Ihr Kind versucht, Sie zu beschwichtigen, vertrauen Sie auf Ihr Bauchgefühl und besprechen Sie Ihre Beobachtungen und Bedenken mit dem Kinderarzt. Durch eine Thematisierung der Essproblematik lässt sich vielleicht eine ernsthafte Erkrankung noch abwenden. Wird jedoch die Diagnose Magersucht gestellt, gibt es seitens der Betroffenen keine Krankheitseinsicht. Es gilt: Je früher eine Magersucht erkannt und behandelt wird, desto höher sind die Heilungschancen.

Eine moderne Therapieform der Magersucht ist die „Familienbasierte Therapie“ (Maudsley Modell). Die FBT betont als ersten Schritt zur Genesung eine schnelle und effiziente Wiederherstellung des Gewichts. Dabei werden die Eltern als größte Ressource im Kampf gegen die Magersucht mit in die Behandlung hineingenommen. Die Eltern lernen ihr Kind von der Krankheit Magersucht zu trennen, bei den Mahlzeiten Ruhe zu bewahren und werden befähigt, diese extrem belastende Zeit durchzustehen.

Claudia Beck ist Gesundheitspsychologin und Heilpraktikerin für Psychotherapie (claudiabeck-intact.de). Infos zu FBT: elternnetzwerk-magersucht.de/fbt