Zu viel Körperkontakt: Wenn das Familienbett zur Belastung wird

Die ganze Nacht kuscheln, immer ein Ärmchen oder Beinchen im Gesicht… Zu viel Körperkontakt mit dem Kleinkind kann den Eltern den Schlaf rauben. Schlafberaterin Miriam Schneider verrät, wie die Schlafsitaution wieder erträglich wird.

Es ist erstmal gut und wichtig, die Bedürfnisse der Kinder herauszufinden und darauf einzugehen. Enger Körperkontakt beim Schlafen ist ein normales Bindungsverhalten von Kindern. Aber es ist auch verständlich, dass das zur Belastung werden kann. Wenn die Schlafsituation eher kurzfristig besteht, dann könnte es sein, dass das Kind mit diesem Verhalten auf etwas reagiert, was neu ist (zum Beispiel eine Eingewöhnung oder ein Umzug). Das ist ganz normal. Um den 18. Lebensmonat gibt es außerdem einen Entwicklungsschub. In dieser Phase empfinden Eltern die Nächte oft als herausfordernd. Das bessert sich meist nach zwei bis sechs Wochen. Ist die Schlafsituation schon länger nicht mehr zufriedenstellend, dann könnten andere Impulse weiterhelfen.

Übermüdet?

Es ist wichtig zu verstehen, dass es immer eine Ursache gibt, warum Kinder so reagieren, wie sie reagieren. Häufig holen Kinder ihr Bedürfnis nach Nähe intensiv in der Nacht nach. Dann hilft es, das Nähebedürfnis so gut es geht tagsüber zu erfüllen, indem ihr bewusst Zeit miteinander habt, dabei kuschelt oder Bücher anschaut. So kann man dem Kind auch gut deutlich machen: „Wow, wir haben jetzt Zeit nur für uns, das ist so schön. Ich habe dich lieb.“ Es gibt aber auch andere Gründe, die hinter einem starken Nähebedürfnis in der Nacht stecken können. In meiner Arbeit als Schlafberaterin schaue ich mir als Erstes immer die Schlafprotokolle an. Vielleicht hat sich der Tagesrhythmus in der Familie verändert, was dazu führt, dass der Mittagsschlaf zu kurz ausfällt oder das Kind am Abend zu spät ins Bett kommt, sodass es übermüdet ist. Übermüdete Kinder brauchen sehr viel Körperkontakt. Warum? Weil durch Übermüdung Cortisol, unser Stresshormon, ausgeschüttet wird. Kinder sind intuitiv wahnsinnig kompetent: Denn Oxytocin, das „Kuschelhormon“, kann den Cortisolspiegel wieder reduzieren. Kinder kuscheln also als Reaktion auf Stress. Ein Schlafprotokoll und gegebenenfalls eine Beratung helfen dabei, den individuellen Grund und damit auch die Lösung für das starke Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt herauszufinden.

Grenzen setzen

Für Eltern ist es aber auch wichtig, auf sich selbst zu achten und einander Freiräume zu ermöglichen. Denn wenn der eigene Krafttank gefüllt ist, hat man auch wieder mehr Kraft für die Schlafherausforderung. Deshalb müssen die Eltern herausfinden, was ihnen guttut. Vielleicht ist es spazieren gehen, Sport treiben oder sich in die Sonne legen? Und noch einen Gedanken finde ich wichtig: Eltern müssen schwere Situationen nicht einfach aushalten, sondern dürfen ihre Grenzen kommunizieren. Kinder verstehen so viel mehr, als wir häufig meinen. Sie brauchen Transparenz, Ehrlichkeit und eine klare Haltung. Über eine unzufriedene Schlafsituation lässt sich liebevoll kommunizieren. Wie zum Beispiel folgendermaßen: „Du kannst gern neben mir einschlafen und wir können jetzt nochmal richtig doll kuscheln. Aber wenn du eingeschlafen bist, braucht Mama auch ein bisschen mehr Platz. Das ist mir zu nah, so kann ich nicht schlafen. Ich zeige dir, wie es für mich okay ist.“ Eltern dürfen an sich selbst glauben und herausfinden, was für ihr Kind, für sie selbst und für die Familie das Beste ist.

Miriam Schneider lebt mit ihrer Familie in Ketsch, sie ist Kinderkrankenschwester und Schlafberaterin für Kinder. abenteuerbabyschlaf.com

Beziehungs-Zoff vermeiden, auf Augenhöhe leben

Wenn es in der Partnerschaft kracht, liegt es oft daran, dass unterschiedliche Persönlichkeitsanteile aufeinandertreffen. Paartherapeutin Ira Schneider erklärt, wie Partner auf Augenhöhe zusammenfinden.

Als Paar seid ihr eine Dyade, also ein System aus zwei Personen. Wenn Kinder dazukommen, entstehen mehrere Dyaden. Die Mutter-Kind-Dyade, die Vater-Kind-Dyade und auch eine neue Triade entsteht, denn ihr seid dann zu dritt. Je mehr Kinder dazukommen, desto komplexer wird es. Aber schon in der Dyade als Paar steckt genug Zündstoff, den es anzuschauen gilt. Das geschieht, wenn sich die Parter nicht auf Augenhöhe begegnen.

Innere Anteile verstehen

Zunächst einmal: Eine Paarbeziehung bewegt sich immer zwischen Fortschritt (Progression) und kindlichen Anteilen (Regression). Denn auch als Erwachsene tragen wir unsere kindlichen Anteile weiterhin in uns. Die Progression steht für unsere selbstständigen Anteile, wie „Identität, Stabilität, Autonomie, Reife, Tatkraft und Kompetenzen“ (Heidrun Ferguson, Partnerschaftsprobleme und chronischer Stress). Die Regression steht für „Einssein, Pflege, Umsorgung, Schutz, Geborgenheit und Abhängigkeit“ (Ferguson). Diese bedürftigen Anteile in uns werden innerhalb unserer Ehe aktiviert, und es geht darum, beweglich und flexibel mit ihnen umgehen zu können. Das können Paare miteinander lernen. Diese inneren Anteile begegnen jedem Paar in verschiedensten Abschnitten und Momentaufnahmen immer wieder. In der Paartherapie und zur Reflexion hat sich die Transaktionsanalyse als hilfreich erwiesen. Die Transaktionsanalyse ist eine „sozialpsychologische Theorie und Methode, welche Austausch und die Begegnungen von Menschen in den Vordergrund stellt und dabei unterschiedliche Kontexte sowie Persönlichkeitsanteile und Lebensgeschichten der Menschen berücksichtigt“ (Jürg Bolliger, Grundlagen der Transaktionsanalyse). Dabei reagieren Paare in der Interaktion meist auf drei verschiedenen Ebenen (vgl. Bolliger):

  • Eltern-Ich: Ein Teil des Paares kann aus dem Eltern-Ich reagieren. Dieses Eltern-Ich kann fürsorglich oder kritisch sein.
  • Kind-Ich: Ein Teil des Paares kann aber auch aus einem Kind-Ich reagieren. Dieses Kind-Ich kann angepasst, rebellisch oder frei sein.
  • Erwachsenen-Ich: Ein Teil des Paares kann aus dem Erwachsenen-Ich reagieren. Dieses kann realitätsbezogen, problemlösend und sachbezogen sein.

Im ungünstigen Zustand

Das Ziel einer Paarbeziehung ist, dass sich beide auf Augenhöhe im Erwachsenen-Ich begegnen. Nehmen wir folgende Paarsituation an: Greta und Ben sind mit Freunden im Kino verabredet. Sie machen sich im Flur fertig. Draußen regnet es in Strömen. Ben nimmt noch schnell einen Regenschirm zur Hand. Greta nimmt eine dünne Übergangsjacke und wirft sie sich über. Die beiden sind ohnehin spät dran. Ben verspürt einen Fürsorgedrang und will nicht, dass Greta sich erkältet.

Gleichzeitig erlebt er innerlich einen Kontrollverlust: Wenn Greta krank wird, liegt sie mehrere Tage flach und fällt bei der Kinderbetreuung aus. Ben verwandelt sich in ein kritisches und fürsorgliches Eltern-Ich zugleich. Aus ihm schießt es heraus: „Du nimmst doch nicht etwa bei dem Regen eine Übergangsjacke. Zieh dir doch was Richtiges an. Hier, deine Regenjacke.“ Greta fühlt sich augenblicklich angegriffen. Ihr wurde suggestiv eine umgekehrte Rolle zugewiesen. Statt bei sich zu bleiben, springt sie in die Dynamik mit rein und reagiert aus einem trotzigen Kind-Ich heraus. Sie zischt: „Das ist ja wohl meine Sache. Ich brauche eigentlich gar keine Jacke.“ Sie lässt sowohl die Übergangsjacke als auch die Regenjacke drinnen liegen und stapft raus. Schon ist die Stimmung im Eimer. Greta könnte einen weichen Blick auf Ben einnehmen und nachhorchen, wovor er sich schützt, weshalb er so vehement auf die Jacke pocht.

Wenn Paare sich wie Kinder oder Eltern verhalten, passiert das in der Regel unbewusst. Die Begleitaffekte können jedoch oft Wut oder eine diffuse und nicht greifbare Stimmung sein. Eine Möglichkeit wäre hier, dass Greta Ben erklärt, dass sie gern für sich selbst sorgen und dementsprechend auch gern allein entscheiden möchte, wie sie sich kleidet. Ben muss lernen, Gretas Grenzen und Autonomie zu wahren. Auch würde es ihm in dieser Situation helfen, seine eigentliche Angst, nämlich die Fantasie einer kranken Greta, die nicht mehr ihren Fürsorgeanteil bezüglich der Kinder übernehmen kann, zu kommunizieren.

Gemeinsame Augenhöhe finden

Es kann sehr kräftezehrend und wohltuend zugleich sein, sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Keine Herkunftsfamilie, kein Paar ist perfekt. Doch allein die Tatsache, dass ihr euch mit diesen Fragen auseinandergesetzt habt, ist ein enormer Schritt. Sicher, eure kindlichen Anteile werden immer ein Stück weit bleiben und es ist wichtig, sie liebevoll zu umsorgen und anzunehmen. Ihr könnt mit eurer Ehe aber auch vieles, wenn nicht sogar alles überschreiben und wiedergutmachen und Ja zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe sagen.

Hilfreiche Fragen für eure Beziehung

  • Rutscht ihr manchmal in verdrehte Rollen? Wenn ja, welche Situationen kommen euch hier in den Sinn?
  • Wenn ihr gerade nicht im Erwachsenen-Ich reagiert, zu was neigt ihr eher: zum Eltern-Ich oder zum Kind-Ich?
  • Welches kleine Signalwort könntet ihr verabreden, um euch daran zu erinnern, wieder aus dem Erwachsenen-Ich zu reagieren?

Ira Schneider arbeitet als Paartherapeutin und Autorin. Der Artikel stammt leicht verändert aus ihrem frisch erschienenen Buch „Jeden Tag ein neues Ja“ (SCM Hänssler).

Glaube und Weihnachten: In der Familie über große Fragen sprechen

Während Plätzchen, Glühwein und Geschenke heute die Weihnachtszeit dominieren, liegt der Ursprung für das Fest in der biblischen Geschichte um Christ Geburt. Das Kind in der Krippe löst in Familien aber auch Diskussionen rund um den Glauben aus. So können Eltern damit umgehen.

„Also naja, so ganz kann die Geschichte ja nicht stimmen!“, ruft die kleine Nele entschlossen, „Denn Engel gibt es doch nicht in echt.“ Hanno schluckt. Gemütlich sitzt er neben seinen Kindern am Küchentisch, mit Lebkuchen und Waffeln, und war gerade dabei, die Weihnachtsgeschichte vorzulesen. Schon ist der Glaube im Gespräch.

Der Kommentar seiner sechsjährigen Tochter erwischt ihn kalt. „Mhm, meinst du …?“, bringt er verunsichert hervor, „Woher weißt du denn das?“

Gespräche auf Augenhöhe

Kinder sind keine leeren Gefäße, in die wir Erwachsenen vorgefertigte Inhalte gießen sollten. Kinder sind nicht einfach Lernende und Zuhörende, sondern sie machen sich eigene Gedanken und Vorstellungen – auch und gerade über Gott und die Welt. Diese Vorstellungen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von dem, was wir als Erwachsene glauben und annehmen. Und das ist gut so!

Wenn wir als Erwachsenen mit Kindern über Fragen des Lebens und des Glaubens sprechen, sollten wir darauf achten, das nie von oben herab zu tun. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, wusste schon Sokrates und selbst der Apostel Paulus rief die Gläubigen zur Bescheidenheit über die eigenen Erkenntnisse auf: „Denn unser Wissen ist Stückwerk“ (1. Korinther 13,9).

Wir sollten es also für möglich halten, dass auch unsere vermeintlichen Wahrheiten nur begrenzte Erkenntnisse sind. Und das sollten wir auch den Kindern gegenüber zugeben. Wichtig ist, Interesse zu zeigen an den Ansichten der Kinder und unsere Ideen nicht als alleingültige Wahrheiten präsentieren. Eine solche Haltung kann zum Beispiel deutlich werden in Formulierungen wie:

„Also, wir haben natürlich beide noch nie einen Engel gesehen, du und ich, oder? Und ich glaube auch persönlich nicht, dass sie so aussehen wie die kleinen Porzellanfiguren, die Oma Hilde sammelt. Und vieles können wir uns nicht so vorstellen. Aber so wie ich die Bibelgeschichten verstehe, gibt es doch so etwas wie Botschafter, die Gott immer mal wieder zu den Menschen geschickt hat.“

Oder:

„Oh wirklich, du glaubst, dass es gar keine Engel gibt? Das finde ich interessant. Was meinst du denn, wie das alles damals stattdessen gewesen sein könnte?“

Und auch ein ganz schlichtes: „Ehrlich gesagt, ich bin mir auch nicht sicher.“ ist völlig legitim. Das macht uns Erwachsene zu einem guten Vorbild darin, nicht immer alles (besser) wissen zu müssen.

Fragen stellen und notfalls korrigieren

Wir Erwachsenen dürfen offen kommunizieren, wenn wir selbst etwas nicht wissen oder zwischen verschiedenen Ansichten stehen. Für Kinder kann es sehr wertvoll sein, zu erfahren, welche unterschiedlichen Ideen es zu einem bestimmten Thema gibt, im Sinne von:

„Ich weiß es selbst nicht genau. Manche Menschen glauben fest daran, dass jeder Mensch einen Schutzengel hat oder sogar mehrere. Andere sagen, das mit den Engeln ist nur so symbolisch gemeint, um zu zeigen, dass Gott nah bei uns Menschen ist. Vielleicht gibt es auch doch Engel, aber die sind ganz anders, als wir sie uns vorstellen. Was denkst du denn? Was erscheint dir am logischsten?“

Gelegentlich kann es wichtig sein, dass Erwachsene doch korrigierend eingreifen, wenn Kinder zum Beispiel religiöse Inhalte auf eine bedrohliche und beängstigende Art verstanden haben. Das sollte aber behutsam und zurückhaltend geschehen, zum Beispiel:

„Du hast also in dem Film einen bösen, gefährlichen Engel gesehen und kannst jetzt nicht schlafen? Ich bin mir sehr sicher, dass Gott uns niemals solche bösen Engel schicken würde. In allen Geschichten der Bibel schickt Gott immer gute Engel, die den Menschen helfen. Denn Gott ist gut und genauso auch die Botschafter, die für ihn arbeiten.”

Auch mit kritischen Fragen können wir das Denken der Kinder herausfordern: „Hast du schonmal in einer Bibelgeschichte gelesen, dass Gott einen bösen Engel schickt? Kannst du dir vorstellen, dass Gott so etwas tut? Was meinst du, wer ist stärker – ein böser Engel, wenn es so einen überhaupt gibt? Oder Gott?“

Von den Kindern lernen

Ebenso dürfen aber auch wir Erwachsenen von den eigenen Vorstellungen der Kinder lernen. Oft staunen Eltern über die theologischen Ideen ihrer Kinder und fühlen sich davon ganz unerwartet inspiriert. Das dürfen wir dann auch ruhig verdeutlichen – damit fördern wir die Freude der Kinder, sich Gedanken zu machen und auszudrücken.

Grundsätzlich sollten Erwachsene versuchen, Fragen nicht immer gleich zu beantworten, sondern die Kinder mit Gegenfragen und kleinen Hinweisen selbst zum Nachdenken herauszufordern. Auch am Ende eines Gesprächs muss keine Einigung auf die eine richtige Antwort stehen.

Anders ist das mit Sachfragen zur Bibel, zum Beispiel: „Aus wie vielen Büchern besteht die Bibel?“ Aber auch hier lohnt es sich, nicht gleich zu antworten, sondern gemeinsam mit den Kindern zu recherchieren. Das fördert ihre Fähigkeit, sich Informationen zu beschaffen und diese eigenständig zu verarbeiten.

Glaube und Zweifel

Je nach eigener religiöser Prägung und Einstellung mag es Eltern leichter oder schwerer fallen, kindliche Zweifel an Glaubensinhalten zuzulassen. Die Prämisse sollte immer sein, Kindern wertvolle, stärkende Impulse mit auf den Weg zu geben, ohne sie zu einer bestimmten Weltsicht zu zwingen.

Wenn Sie selbst dem Glauben skeptisch gegenüberstehen und lieber über den Weihnachtsmann als über Jesus sprechen, wird es Ihnen vielleicht manchmal nicht behagen, wenn in der Kita christliche Weihnachtslieder gesungen werden. Doch Ihrem Kind tun Sie den größten Gefallen, wenn Sie Glaubensfragen offen und urteilsfrei gegenüberstehen. Sie müssen ihrem Kind nichts vorspielen. Sie dürfen Zweifel und Bedenken altersgerecht äußern – aber lassen Sie Ihr Kind seinen eigenen Weg finden. „Ich bin zwar nicht gläubig, aber mein Kind soll trotzdem zum Konfirmationsunterricht gehen“, sagte mir mal ein Bekannter, „Wenn er den Glauben auch ablehnt, soll er wenigstens wissen, wogegen er sich entscheidet.“ Diese Haltung empfand ich als stark und beeindruckend.

Weitergeben, was uns wichtig ist

Gönnen Sie ihrem Kind das Kennenlernen vieler verschiedener Ansichten und auch das Ausprobieren und Testen von unterschiedlichen Herangehensweisen und Einstellungen. Das ist die beste Voraussetzung für eine gelingende Identitätsentwicklung!

Und wenn Sie selbst den Glauben als wertvolle Ressource erleben, dann ist es nur verständlich, dass Sie diese Erfahrung auch Ihrem Kind wünschen. Erzählen Sie ihm von dem, was Sie am Glauben begeistert. Beten Sie gemeinsam, lesen Sie die Weihnachtsgeschichte und was Ihnen sonst am Herzen liegt. Doch auch in diesem Fall gilt – ein von den Eltern aufgezwungener Glaube hält selten den Stürmen des Lebens stand.

Und wenn Zweifel und Kritik immer im Keim erstickt werden, empfinden viele Kinder oder Jugendliche den Glauben irgendwann als enges Korsett, das sie nur noch abstreifen wollen. Deshalb lassen Sie als Erwachsene Einwände und Zweifel zu, stehen Sie zu Ihren Ansichten, aber seien Sie auch offen für andere Meinungen und seien Sie bereit, dazuzulernen – auch und gerade von Ihrem Kind.

Mit einer solchen Haltung kann die Weihnachtszeit uns im Alltag mit Kindern viele spannende, lebendige und inspirierende Gespräche bescheren.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Autorin.

Bemuttern oder begehren? Wie das Knistern in der Beziehung erhalten bleibt

Wir kümmern uns um die Sorgen und Bedürfnisse unserer Liebsten. In der Partnerschaft kann das jedoch das sexuelle Verlangen stören. Psychologin Tabea Müller verrät, wie es im Bett trotzdem spannend bleibt.

Endlich schlafen die Kinder. Luise räumt auf, legt frische Kleidung raus und macht das Nachtlicht an. Dann geht sie in die Küche, um die Brotboxen für den nächsten Tag zu füllen. Tim schlurft aus dem Büro und schenkt sich und Luise einen Schluck Wein ein. Zu müde für eine geistreiche Konversation setzen sie sich, um zumindest den Tag in stiller, aber zufriedener Zweisamkeit zu beenden. Seit die Kinder ihre Ehe bereichern, hat sich vieles geändert. Das sexuelle Verlangen leidet darunter.

Mehr Zeit fließt in Alltagsorganisation und Versorgung. Zeiten der Muße und der Langeweile sind rar geworden. Das entbehrliche Schöne in ihrem Leben stellen sie hinten an, bis die vermeintlich dringlichen Dinge erledigt sind – so auch den Sex. Als letzter Punkt auf der To-do-Liste am Abend muss er mit dem ersehnten Schlaf konkurrieren und zieht dabei oft den Kürzeren. Die wenigen Male, die er gewinnt, ähnelt er mehr einem Sandwich im Drive-in als einem festlich gedeckten Mahl: uninspirierend, fantasielos, unkreativ.

Auf andere ausgerichtet

Luise und Tim sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Je länger eine Beziehung dauert, desto mehr erlebt ein Paar miteinander. Neben all den schönen und aufregenden Dingen kommen auch Stressphasen, Zusammenbrüche und Krankheiten hinzu, in denen der Partner mehr Fürsorge braucht als in den ersten gemeinsamen Urlauben. Den Kaffee ans Bett zu bringen ist dann nicht mehr nur romantisch, sondern notwendig, da die Partnerin das Bett nicht verlassen kann.

Diese Phasen gemeinsam zu meistern, ist einer der vielen Vorteile einer lebendigen Beziehung. Durch die gegenseitige Fürsorge fühlen sich die Partner zugehörig, sicher und geliebt. Sie lässt beide spüren, dass sie jemandem so viel bedeuten, dass dieser nachts für sie aufsteht und seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt.Betreten Kinder die Bühne, wird es komplizierter: Plötzlich reicht es nicht mehr, sich nur umeinander und um sich selbst zu kümmern. Tag, Nacht und Hormone werden über den Haufen geworfen, um den Bedürfnissen der neuen hilflosen Wesen nachzukommen. Sogar das mütterliche Gehirnvolumen schrumpft während Schwangerschaft und Kleinkindphase, um sich laut wissenschaftlicher Vermutung auf die Erkennung der nonverbalen Zeichen des Kindes zu spezialisieren. In dieser Zeit mutieren Eltern zu wahren Fürsorgeprofis, immer auf das Wohl eines anderen bedacht.

Selbstfürsorge, und damit die Quelle für sexuelles Verlangen, bleibt häufig auf der Strecke. Denn während Fürsorge stets gedanklich und emotional auf einen anderen ausgerichtet ist, bleibt Verlangen bei sich selbst.

Lustkiller Fürsorge

So edel Fürsorge auch sein mag, wenn du deine Identität darin findest, verwandelt sie sich in selbstgefällige Bemutterung. Statt dem anderen gutzutun, schränkt sie dessen Individualität ein und wird kontrollierend. Sie betrachtet ihn oder sie nicht mehr als Gegenüber, sondern als Hilfsbedürftigen – und wirkt dadurch wie ein echter Lustkiller. Wenn du deinen Partner bemutterst, dann habt ihr sicherlich weniger Sex. Es fällt schwer, jemanden zu begehren, den du als hilfsbedürftig wahrnimmst.

Genauso schwer ist es aber auch, den attraktivsten und selbstständigsten Partner auf dem Planeten zu begehren, wenn du selbst erschöpft und ausgelaugt bist. Von der Mutterrolle in die erotische Ehefrau zu wechseln, sobald die Kinder schlafen, ist nicht einfach. Ebenso schwer kann es sein, als Vater den Stress beiseitezuschieben, um ganz im Hier und Jetzt der müden Frau zuzuhören und dabei sexuelles Begehren aufflammen zu lassen. Hier hilft immer wieder eine Standortbestimmung, wie du dich nicht nur gegenüber deiner Partnerin oder deinem Partner verhältst, sondern auch gegenüber dir selbst.

Um deinen Partner oder deine Partnerin wieder zu begehren, musst du zuerst dich selbst lieben und dafür sorgen, dass deine Bedürfnisse gestillt und dein Liebestank gefüllt ist. Eine Gedichtzeile von Bernhard von Clairvaux drückt das ganz passend aus: „Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott.“ So machst du das Geliebtwerden nicht mehr vom anderen abhängig. Du begehrst aus der Fülle heraus und nicht aus Mangel. Doch auch das Verlangen kann Schatten werfen. Wenn du dich so auf deine eigenen Wünsche fokussierst, dass du den Zustand des anderen nicht mehr richtig wahrnimmst, verwandelt sich dein Begehren in Begierde.

Darin steckt ein schönes Wortspiel: Ehre wird zur Gier. Gier ehrt den Partner nicht, selbstsüchtig und rücksichtslos trampelt sie über dessen moralische und emotionale Grenzen. Das kann dazu führen, dass deine Partnerin oder dein Partner Druck empfindet. Sex passiert dann mehr aus Pflichtgefühl als aus freien Stücken.

Erotik statt Aufopferung

Lassen wir Fürsorge und Verlangen also wieder miteinander tanzen, so führt die Fürsorge das Verlangen so, dass dieses die Grenzen seines Gegenübers wahrt und ihn begehrt. Gleichzeitig sorgen die Tanzfiguren des Verlangens dafür, dass die Fürsorge beeindruckt bleibt und ihr Gegenüber nicht diskreditiert, sondern bewundernd zu ihm aufschaut. Fürsorge und Verlangen sind Gegensätze, die einander brauchen, um eine Beziehung dynamisch zu halten. Sie spannen einen Raum auf, in dem Spannung und Abenteuer, aber auch Sicherheit und Heimat Platz finden.Monate vergehen, bis der Leidensdruck von Tim und Luise groß genug ist, um etwas dagegen zu unternehmen. So sehr Tim auch die Hingabe und Aufopferung von Luise bewundert, so stark vermisst er ihre verspielte, erotische Seite.

Auch Luise vermisst diese Seite an sich, hat aber keine Idee, wie sie sie auf die Schnelle hervorzaubern kann.Um ihre Sexualität wieder wie ein Kunstwerk zu behandeln, krempeln sie ihr Leben um. Sie schaufeln sich einen Vormittag in der Woche frei, an dem die Kinder versorgt sind. Ohne Müdigkeit und Zeitdruck verabreden sie sich regelmäßig zu einer erotischen Begegnung, bei der sie ihre Lust kultivieren können.

Diese Entscheidung kostet sie nicht wenig. Da Tim dafür seine Arbeitszeit auf 80 % reduziert, bleibt weniger Geld übrig, das an anderen Stellen gespart werden muss. Doch die frische Lebendigkeit ihrer Beziehung ist ihnen jeden Euro wert.Dieser Lösungsansatz ist ziemlich radikal und sicherlich nicht für jedes Paar geeignet. Die Frage dahinter kann aber jeder beantworten: Wie viel ist mir eine Veränderung unserer aktuellen Situation wert? Kostet mich die Lösung mehr, als einfach das Problem zu behalten? Dann ist vielleicht die Lösung das Problem und ihr habt gar keins mehr. Oder ihr versucht es erst einmal mit kleineren Veränderungen.

Vier Stellschrauben, um das sexuelle Verlangen nach dem Partner zu erhalten:

1. Kümmere dich zuerst um dich selbst
Wie bei der Sicherheitseinweisung im Flugzeug: Erst die eigene Maske, dann anderen helfen. Es lohnt sich ein regelmäßiger Self-Check: Auf einer Skala von 1 (zu wenig) bis 10 (tiptop): Wie viel Schlaf erlaube ich mir? Plane ich regelmäßig Zeit für Sport ein? Wie viel Wert lege ich auf gute Ernährung? Nehme ich meine Bedürfnisse gut genug wahr? Wie begehrenswert fühle ich mich? Wo du keine 10 Punkte vergeben kannst, lohnt sich eine Anpassung.Ein häufiges Selbstsabotage-Symptom ist die sogenannte Bedtime-Prokrastination, also das sinnfreie Hinauszögern der Schlafenszeit trotz Müdigkeit. Hier gibt es viel Energie zu holen. Also: Handy aus, Schlafi an!

2. Entrümpele deinen Alltag
Je weniger du besitzt, umso weniger Dinge wollen, dass du dich um sie kümmerst. Einmal komplett zu entrümpeln ist zwar viel Arbeit, danach bleibt aber definitiv mehr Zeit für Muße und Selbstfürsorge. Auch ein kritischer Blick in den Kalender lohnt sich: Sind all deine Termine sinnvoll, notwendig oder beflügelnd? Wende auch hier wieder die 10-Punkte-Skala an. Was nicht mindestens eine 9 bekommt, kann weg.

3. Plane bewusste Intimität ein
Es geht nicht nur um die Häufigkeit von Sex und ob beide Partner zum Orgasmus kommen. Vielmehr geht es um die Qualität der gemeinsamen Zeit, wohin die Erfahrung euch trägt und welche Träume und Fantasien sie anregt. Es kann sehr intim sein, sich gegenseitig zu berühren, ohne Sex haben zu dürfen. Auch spielerisch mal den Liebesdiener zu spielen und beim nächsten Mal den Bestimmer, kann aufschlussreich darüber sein, ob dir das Geben oder das Nehmen leichterfällt. Bist du mental gern ganz bei dir oder lieber beim anderen? Wie hast du dich in der jeweiligen Rolle gefühlt?

4. Tauscht regelmäßig die Rollen
Oft werden die Aufgaben nach Kompetenz und Präferenz aufgeteilt. Dadurch wirst du in manchen Dingen zum Experten, während du andere Dinge vielleicht sogar verlernst. Die Rollen immer wieder zu tauschen, hilft, dem Partner ebenfalls alles zuzutrauen und schützt vor der Bemutterungs- oder Bevaterungsfalle.

Tabea Müller ist Psychologin und lebt mit ihrer Familie bei Karlsruhe. tabeasarah.de

Commitment: Dieser Satz hält Ihre Beziehung lebendig

Was der Beziehung wirklich dient, geht tiefer als Kommunikation oder Sexualität. Es ist Commitment. Paarexperte Marc Bareth weiß, was wir einander immer wieder sagen müssen, um eine stabile Partnerschaft zu leben.

Eine große Studie hat kürzlich untersucht, was für das Gelingen einer Partnerschaft entscheidend ist. Ist es die Kompatibilität der beiden Partner? Eine überdurchschnittlich gute Kommunikation? Oder etwa eine befriedigende Paarsexualität? Nein, es ist ein Commitment.

Eine feste Zusage

Die Forschenden rund um Samantha Joel haben 43 bestehende Paarstudien kombiniert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es einen Faktor gibt, der wichtiger ist als Kompatibilität, Kommunikation und Sex: Es ist das Wissen, dass die andere Person voll und ganz hinter einem steht und einen nicht im Stich lässt. Oder kurz: Commitment. Dies ist das Fundament unseres Beziehungshauses. Auf dem uneingeschränkten Ja zueinander bauen alle anderen Beziehungsbereiche wie Kommunikation, Konfliktlösung und Freizeitgestaltung auf.

Wenn das Fundament Risse bekommt, hat das unmittelbare Auswirkungen auf alle Beziehungsräume, vom Umgang mit den Schwiegereltern über die Sexualität bis zum Umgang mit Geld. Ich will das am Beispiel der Kommunikation verdeutlichen. Sarah ist eine hervorragende Kommunikatorin. Sie beherrscht die Gewaltfreie Kommunikation und andere Konzepte im Schlaf. Doch all das nützt ihr nichts, wenn sie spürt, dass das Commitment ihres Partners bröckelt. Denn wenn sie sich nicht mehr sicher ist, ob er zu ihr steht und sie unterstützt, werden bei ihr Ängste aktiviert.

Standhaft gegen die Ur-Angst

Der Verlust des Partners gehört zu den bedrohlichsten Szenarien unseres Lebens. Wir reagieren darauf ähnlich wie Menschen vor 3.000 Jahren, wenn sie einer wütenden Bärenmutter gegenüberstanden: Unser Körper schüttet Adrenalin und Cortisol aus und es kommt zu einer Fight-Flight-Freeze-Reaktion. Während es bei der Begegnung mit der Bärenmutter noch überlebenswichtig war, alle mentalen und körperlichen Ressourcen für eine Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion zu bündeln, ist dies in einer heutigen Partnerschaft eher nicht hilfreich. Denn diese Reaktion führt dazu, dass wir nicht mehr auf unsere erlernten Kommunikationsstrategien zurückgreifen können. Dazu bräuchten wir unser Großhirn.

Die Bedrohung – das schwindende Commitment unseres Partners – führt dazu, dass das Stammhirn übernimmt und das Großhirn abschaltet.So kann Sarah ihre kommunikativen Fähigkeiten nicht mehr abrufen. Stattdessen wird sie aggressiv, flieht oder erstarrt. Natürlich reagiert ihr Partner nicht gut darauf und die Paarkommunikation, eigentlich immer eine Stärke dieses Paares, bricht zusammen.Weil das Commitment so zentral für jede Partnerschaft ist, sind Paare im Vorteil, die die Ehe als lebenslange und grundsätzlich unauflösliche Gemeinschaft verstehen. Wer weiß, dass die Partnerin auch in schweren Konflikten nicht von seiner Seite weicht, ist weniger gefährdet, dass das Stammhirn das Ruder übernimmt, weil zu wenig Commitment des Gegenübers wahrgenommen wird.

Um dem Gegenüber zu zeigen, dass man durch dick und dünn zusammenhält, sind Worte wichtig. Noch bedeutender als sich „Ich liebe dich“ zu sagen, ist es, sich gegenseitig sein Commitment zu bestätigen. Deshalb lautet der wichtigste Satz in einer Beziehung: „Ich bin da für dich und stehe immer hinter dir.“ Wenn wir einander diesen Satz wirklich glauben können, dann gibt uns das die Sicherheit, die wir als Grundlage für alle Beziehungsbereiche brauchen.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter familylife.ch/five

Spannungen aushalten? Pädagogin gibt Einblicke

Gräben durchziehen die Gesellschaft, aber auch Familien und Freundschaften. Warum fällt es uns oft so schwer, andere Meinungen zu respektiern und Spannungen auszuhalten? Pädagogin Daniela Albert reflektiert über Einstellungen und Wertschätzung.

Eigentlich müsste ich gerade Sachen packen, denn übers verlängerte Wochenende wollen wir weg. Mit einer tollen Truppe Menschen, jeder Menge Kinder und dem Wohnwagen geht es für vier Tage in die Natur. Wir wollen wandern, mit dem Floß auf dem See herumplanschen, grillen und vor allen Dingen Gemeinschaft erleben. Eine wunderschöne Sache. Wenn da nicht …

An einem Strang ziehen?

Wenn da nicht unsere unterschiedlichen Ansichten zum Thema Erziehung wären. Die eine Mutter mag es eher strukturiert und pädagogisch zumindest anspruchsvoll. Als Pädagogin sollte das eigentlich auch mein Anspruch sein, blöderweise mag ich es aber lieber kreativ-langweilig und zumindest im Urlaub laissez-faire. Grundsätzlich habe ich ein großes Vertrauen in meine Kinder und dass die Dinge schon irgendwann gut werden, und mache mir um Alltägliches weniger Gedanken. Die Teenies hängen vor dem Handy? Was soll’s? Solange sie die Mahlzeiten mit uns einnehmen und an ein paar Gemeinschaftsaktivitäten teilnehmen, soll mir das recht sein. Ein Kind mag nicht wandern? Lass uns mal kreativ schauen, wie wir das lösen. Und falls irgendwer von den Erwachsenen auch nicht so viel Lust hat, habe ich nichts dagegen, wenn ein Teil der Gruppe am See bleibt. Wir haben doch schließlich Urlaub.

Das sehen nicht alle in der Runde so. Einige würden sich wünschen, dass wir mehr an einem Strang ziehen und die Kids sich auch mal anpassen müssen, weil sie, so die Erfahrung, am Ende meistens trotzdem Spaß haben. Letztes Jahr hatten wir dazu ein paar unschöne Diskussionen. Deshalb sitze ich gerade hier am Schreibtisch und haue in die Tasten, statt endlich zu packen. Tief in mir frage ich mich nämlich, ob es wirklich eine gute Idee ist, meine freien Tage inmitten solcher Spannungen zu verbringen. Realistisch betrachtet machen die Uneinigkeiten natürlich nur einen verschwindend geringen Prozentsatz unserer gemeinsamen Zeit aus. Meistens haben wir Spaß zusammen, genießen den Austausch, lernen voneinander und können uns stehen lassen und wertschätzen. Doch blöderweise merke ich, dass die Spannungen, die entstehen, sich oft stärker einprägen als all das Gute, das ich in Gemeinschaft erleben darf.

Die einzig gültige Wahrheit

Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir Strategien fehlen, um Reibung auszuhalten. Das war nicht immer so. Früher war ich gern mittendrin, immer da, wo diskutiert wurde, wo Meinungen aufeinanderprallen, wo es heiß zur Sache ging. Ich war neugierig auf andere Menschen und das, was sie denken. Habe mich für ihr Leben interessiert und versucht zu ergründen, wo diese ganz anderen Ansichten, als ich sie habe, herkommen und an welchen Stellen unsere gemeinsamen Nenner liegen könnten. Nicht umsonst habe ich als damals politisch eher links engagierte Studentin den Vorsitzenden des Rings Christdemokratischer Studenten geheiratet – das macht man nicht, wenn man ein Problem mit Spannungen und Unterschiedlichkeiten hat. Doch in den letzten Jahren kommt es mir so vor, als hätte ich so einiges verlernt, was mich früher ausgemacht hat – und ich glaube, damit bin ich nicht allein. Andere stehen lassen, Spannungen und Unterschiedlichkeiten aushalten, das scheint schwieriger geworden zu sein.

Gesprächsangebote statt Spannungen?

Das hat meiner Ansicht nach verschiedene Gründe. Zum einen ist es im Zuge von sozialen Medien und dem schnellen Finden von Gleichgesinnten einfacher geworden, in der eigenen Suppe zu kochen. Wir können uns den ganzen Tag mit Menschen umgeben (zumindest virtuell), die uns zustimmen. Klar, gerade wenn wir in sozialen Netzwerken unterwegs sind, findet sich immer auch eine Menge Gegenwind. Diesen wiederum kann man aber gut aushalten, weil man sich ja in der Anonymität dieser Welt nicht weiter mit den Personen dahinter auseinandersetzen muss. Dann ist es aber tatsächlich so, dass andere Meinungen – auch wieder hauptsächlich in der Anonymität des Internets, doch zunehmend leider auch offline – nicht mehr als Gesprächsangebot in den Raum gestellt werden, sondern als einzig gültige Wahrheit.

Dabei bleibt es nicht. Diese Wahrheiten werden oft mit einer solchen Vehemenz vorgetragen, dass kaum noch Raum für Austausch vorhanden ist. Meist bleibt das nicht auf der Sachebene, sondern geht tief ins Persönliche. Menschen greifen sich gegenseitig verbal – und leider im Extremfall sogar körperlich – an, weil sie nicht aushalten, dass jemand über einen bestimmten Sachverhalt anders denkt.

Spannungen vermeiden

Im religiösen Bereich gibt es eine besonders fiese Möglichkeit, einander aufgrund von Unterschiedlichkeiten zu verletzen: Wir sprechen dem Gegenüber einfach den Glauben ab, unterstellen einander ein falsches Verständnis und schon müssen wir nicht mehr diskutieren oder uns auch nur im Ansatz auf die Gedanken des anderen einlassen. Meinungen sind in ganz vielen Fällen keine Sachfragen mehr, sondern in höchstem Maß emotional aufgeladen – und somit bekommen Meinungsverschiedenheiten schnell etwas Existenzielles. Beziehungen werden infrage gestellt, wenn man merkt, dass man sich in bestimmten Themen nicht einig ist. Und ja: Manchmal ist das auch nötig.

Es gibt Ansichten, die für den einen oder anderen wirklich bedrohlich oder schwer auszuhalten sind. Wenn Menschen dich aufgrund deines Seins ablehnen, du in deinem Umfeld mit Meinungen konfrontiert bist, die dich selbst oder dir nahestehende Menschen kränken und diskriminieren, geht es oft nicht, ohne dass du Abstand gewinnst. Doch das Vermeiden von Spannungen fängt leider oft nicht erst da an, wo man sich selbst schützen muss, sondern da, wo es einfach nur ab und zu ein bisschen unbequem werden kann. Da fasse ich mich an die eigene Nase – wie man an meinem Beispiel oben sieht. Denn unterschiedliche Auffassungen darüber, wie wir unsere Kinder erziehen und welche Regeln für die paar wenigen Tage gelten sollten, sind weder bedrohlich noch existenziell (zumindest, solange sie sich im Rahmen eines gesunden Menschenverstandes und eines gewaltfreien Erziehungskonzepts bewegen). Sie sind nur ein bisschen nervig.

Kurzfristig ausgeladen

Aber wie kommt es dann, dass wir auch solche Spannungen heute am liebsten vermeiden würden und so süchtig nach Harmonie und Bestätigung zu sein scheinen? Ich habe darauf keine allgemeingültige Antwort, aber eine Beobachtung. Ich erlebe viele Menschen heute als sehr unsicher, was ihr Zugehörigkeitsgefühl angeht. Wenn ich an die große, laute, diskussionsfreudige Sippe denke, aus der ich stamme, dann erinnere ich mich vor allem daran, dass es fast nicht möglich war, sich dort dauerhaft ins Aus zu katapultieren. Man stritt heftig und impulsiv, und am Ende des Tages war man trotzdem eine Gemeinschaft, eine Familie.

Heute erlebe ich es häufiger, dass Menschen aufgrund ihrer Ansichten, ihrer Streitlust oder ihrer Unterschiedlichkeit irgendwo gar nicht mehr hinkommen dürfen. Das passiert im professionellen Kontext, wenn Referenten oder Rednerinnen kurzfristig ausgeladen werden, weil man auf einmal merkt, dass sich zu viele Leute an ihnen reiben (das passiert übrigens, anders als ein gängiges Vorurteil nahelegt, nicht nur bei „woken“ Veranstaltungen, sondern auch das konservative Spektrum wählt mittlerweile sehr genau aus, wer wo noch was sagen darf). Es geschieht aber mehr und mehr auch im Privaten. Ich habe das Gefühl, wir alle haben mit unserem Leben und den täglichen Aufgaben so viel um die Ohren, fühlen uns oft so stark belastet, dass uns die Kraft und die Lust fehlt, auch noch unsere Freizeit damit zu verbringen, für uns schwierige Ansichten auszuhalten.

Ermutigung statt Wahrheit

Eine gute Erfahrung, die ich gemacht habe, wenn es darum geht, hier gegenzusteuern, ist tatsächlich, den Fokus wieder auf die Gemeinsamkeiten zu legen: Was läuft eigentlich gut? Wo kommen wir zusammen? Was können wir trotz der Unterschiedlichkeiten vielleicht doch gemeinsam wuppen? Was kann ich von dir lernen? Kann ich mir von meiner Freundin und ihren eher strengen Ansichten etwas abschauen, was mir in schwierigen Situationen helfen kann? Und könnte ich mit meiner Lockerheit auch Inspiration für sie sein? Oder können wir uns – ach, wäre das schön – am Ende des Tages bei einem Glas Wein zugestehen, dass wir die Dinge völlig unterschiedlich handhaben und dabei beide einen wundervollen Job machen?

Ein weiterer Punkt, der uns ermutigen kann, auch wieder Spannungen auszuhalten, ist, immer wieder den Ausgleich zu suchen. Sinnvoll wäre es, einander zu ermutigen, uns liebevolle Dinge zu sagen, uns zu loben und unseren Fokus auf das zu richten, was jemand richtig gut macht. Wie wäre es, wenn wir die, an denen wir uns am meisten reiben, täglich mit Liebe für all das überschütten, was wir an ihnen toll finden? Wenn wir ihnen die Sicherheit geben, dass sie bei uns angenommen und geliebt sind – und erst dann und im Rahmen dieser Sicherheit mal ordentlich aneinanderrumpeln?

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin (familienberatung-albert.de).

Wut im Bauch – So gehen Sie als Eltern damit um

In Konfliktsituationen mit kleinen Kindern geraten auch Eltern in Wut und werden laut. Psychologin Mara Pelt verrät, wie Mama und Papa damit umgehen und aus den Situationen lernen können.

Wut, so heißt es, sei ein schlechter Rat­geber – aber stimmt das wirklich? Gefühle wie Wut liefern wichtige Informationen über unsere Bedürfnisse und sind auch ein wesentlicher Bestandteil unserer Kommunikation. Sie äußern sich in unserer Mimik, Gestik, in unseren Worten und Handlungen. Auf all diesen „Kanälen“ werden Signale an unser Gegenüber gesendet und verraten, was gerade mit uns los ist. Dabei gibt es keine falschen Gefühle. Sie sind erst einmal einfach da und zu respektieren – was nicht meint, direkt nach ihnen zu handeln. Wer sich selbst mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen ernst nimmt, hat die Chance, Unangenehmes nicht wiederholen zu müssen und in den Rollen als Mama oder Papa weiter zu wachsen.

Wut heißt Grenzen spüren

Was also tun, wenn die Wut im Kontakt mit unseren Kindern aufkommt? Wenn Sie in der Situation sind, hilft es immer, einen Schritt zurückzugehen, tief durchzu­atmen, innezuhalten, eine andere Person zu bitten, kurz zu übernehmen, um sich einmal zu sammeln. Erklären Sie Ihrem Kind, was mit Ihnen los ist: „Ich merke, dass mich die Situation gerade wütend macht.“ Mit erklärenden Worten kann das Kind ein Gefühl verstehen lernen. Gleichzeitig bekommt es die wertvolle Information, dass dieses Gefühl zum anderen gehört, denn Kinder lernen erst schrittweise das Außen von sich selbst zu trennen. Durch ehrliche Erklärungen erfährt Ihr Kind, dass die Situation nicht bedeutet, selbst falsch zu sein – so wie es beim Schimpfen schnell passiert –, sondern, dass Sie als Mutter gerade an eine persönliche Grenze kommen. Persönliche Grenzen zu bewahren, heißt für Kinder, Halt in der Bindung zu erfahren. Es sichert, dass Eltern langfristig da sein können und dabei selbst gesund bleiben. Persönliche Grenzen häufig zu missachten, führt hingegen dazu, dass sich Belastungen und Gefühle wie Wut anstauen.

Gefühle hinter den Gefühlen

Nehmen Sie sich nach der Situation Zeit, um zu verstehen, was passiert ist und um daraus lernen zu können. Welches Gefühl war das genau? Wirklich ein Gefühl von Wut oder eher Frustration, Kränkung oder Empörung? Und steckt hinter diesem vordergründigen Gefühl womöglich ein ganz anderes? Etwa Traurigkeit, Erschöpfung, Schuld, Angst oder Fürsorge? Welcher Not sind Sie in der Situation ­begegnet? Um welche Bedürfnisse ging es auf beiden Seiten? Was fehlte? Wer kann helfen? Gibt es eigene negative Erfahrungen, die hier hineinspielen? Sich solche Fragen im Nachgang zu stellen, ist lohnenswert und ermöglicht, dass Eltern und Kinder schrittweise voneinander lernen.

Entschuldigung!

Nun sind Sie doch wieder laut gegenüber Ihrem Kind geworden? Eine Entschuldigung hilft immer. Eine sichere Bindung aufzubauen, heißt nicht, alles richtig zu machen, sondern vielmehr, dass Fehler und Vergebung möglich sind und man auch nach Differenzen wieder auf Augenhöhe zueinander finden kann. Zum Schluss sei gesagt, dass Eltern von Kindern in der Autonomiephase (meist beginnend um das dritte Lebensjahr) in Bezug auf das Aushandeln unterschiedlicher Bedürfnisse besonders auf den Prüfstand gestellt sind. Das ist schwer und zugleich eine wunderbare Gelegenheit, Kindern zu zeigen, dass man immer wieder Fehler machen muss, um an etwas zu wachsen.

Mara Pelt ist Psychologin M.Sc., Psychologische Psychotherapeutin i.A., Systemische Beraterin und Familientherapeutin und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

„Familie ist der Ort, wo Zukunft entsteht“

Wie wird Familie zukunftsfähig? Welche Rahmenbedingungen können dabei helfen? Und wie können Familien ihren Weg finden? Ein Interview mit der Unternehmensberaterin, Autorin und Mutter Dr. Ana Hoffmeister.

Ana, du beschäftigst dich schon länger mit dem Thema Familie, Beruf und Vereinbarkeit. Seit 2022 hostest du den Podcast FutureFamily und hast mit verschiedenen Familien Interviews geführt. Warum? Was bewegt dich?

Ich habe mich schon früh dafür interessiert, wie andere Familien leben. Als Migrationsfamilie – ich wurde im Iran geboren – waren wir in Deutschland immer ein wenig besonders. Bei Freunden zu Hause habe ich Unterschiede im Miteinander und im Alltag bemerkt. Je älter ich wurde, desto mehr machte ich mir Gedanken darüber, wie ich später selbst Familie leben möchte. Mir war immer klar, dass ich auch arbeiten und Karriere machen wollte. Aber ich kannte wenige Mütter, die eine Führungsrolle einnahmen.

Als ich später heiratete, war ich gerade frisch promoviert und wurde befördert. Bei Entwicklungsgesprächen kam dann ungefragt der Hinweis, doch mit der Familienplanung noch zu warten. Da wurde mir klar: In diesem Setting geht das offenbar nicht zusammen. Dann wurde ich schwanger und war zu dem Zeitpunkt bei zwei unterschiedlichen Arbeitgebern beschäftigt – beides in Teilzeit. Bei dem einen mussten wir uns schließlich auf eine Vertragsauflösung einigen, weil man mir die Stelle nicht mehr als sechs Monate freihalten konnte. Bei dem anderen hieß es, ich solle einfach schauen, was möglich ist. Mit dem Ergebnis, dass ich früher als erwartet mit einem ganz geringen Stundenumfang zurückkehrte. Wir arbeiteten nach einem geteilten Führungsprinzip. Es war nicht leicht, aber machbar. Nach kurzer Zeit war ich wieder auf demselben Stundenumfang wie vor der Schwangerschaft.

In Phasen denken

Wie kam es dann von dieser Erfahrung zum Buch?

Ich wollte diese verschiedenen Erfahrungswelten sichtbar machen und Eltern aufzeigen, dass es viele individuelle Wege gibt und sich die Bedürfnisse je nach Lebensphase verändern. Auch, damit wir für uns herausfinden: Was brauchen wir persönlich als Familie, als Eltern? Was tut uns gut, was tut mir gut? Welchen Weg stelle ich mir beruflich und privat vor, und welchen Preis bin ich bereit, dafür zu zahlen? Wie wirken sich unsere Entscheidungen auf unsere Kinder aus? Dann habe ich mich auf die Suche gemacht nach geeigneten Persönlichkeiten und Familien, die ich interviewte. Daraus entstand schließlich die Idee zum Buch.

Wie lebt ihr als Familie Vereinbarkeit?

Flexibel, vertrauensvoll und lebensphasenorientiert. Je nachdem, welche Ansprüche es beruflich gerade gibt. Als Paar sind wir dadurch sehr viel im Gespräch miteinander, weil wir von Woche zu Woche schauen müssen, wie wir es machen, wenn die Kita kurzfristig schließt, die Betreuungszeiten kürzt oder die Schule nicht so betreut, wie wir es brauchen. Es ist ein ständiger Prozess.

Überlebensmodus

Dein Buch trägt den Untertitel: Familien am Limit – neue Impulse für mehr Vereinbarkeit. Wo sind Familien am Limit?

Viele Eltern und Familien stehen vor einer großen Gesamtüberforderung. Großfamilien gibt es nur noch selten, Familien sind insgesamt kleiner geworden und die unterschiedlichen Generationen leben oft nicht mehr am selben Ort. Es gibt weniger familiären Support. Dazu ist auf externe Betreuung kein Verlass mehr: Kita und Schule sind seit der Pandemie ein sehr fragiles System. Es ist ein Leben am Limit, weil du nie weißt, was als Nächstes kommt.

Wir hatten zum Beispiel monatelang keine Woche, die normal verlief. Es gab Lehrerstreik, Krankheit, Personalengpässe, plötzliche Schließungen. Da bist du irgendwann nur noch im Überlebensmodus und mit Organisieren beschäftigt. Viel Freude, die du mit der Familie haben könntest, geht verloren. Das umfasst auch die Pflegesituation, was ebenso viele Mütter betrifft, die Kinder betreuen und Eltern pflegen – eine enorme Belastung! Die Pflegesituation wird sich in Zukunft noch verschärfen. Hier ist schon längst eine Lawine ins Rollen gekommen, die wir kaum noch aufhalten können.

Familie braucht neue Wege

Welche Lösungen braucht es? In Politik, ­Gesellschaft, von Arbeitgebern?

Ich finde wichtig, es ganzheitlich zu sehen. Unternehmen können nicht alles leisten, aber viel verändern. Führungskräfte zum Beispiel haben eine große Vorbildfunktion, wie sie selbst mit Arbeit und Familie umgehen. Das färbt immer auf die Unternehmenskultur ab und prägt die Beschäftigten. Unternehmen können aktive Vaterschaft unterstützen und dadurch gleichzeitig auch die Erwerbstätigkeit der Mütter fördern. Ein anderer wichtiger Punkt sind die institutionellen Systeme wie Kita und Schule. Da ist es wichtig, dass wir auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ehrlich die Frage beantworten: Was ist uns Familie noch wert? Denn für mich ist Familie eine der wichtigsten Säulen unserer Zukunft. Ohne Familie werden wir die aktuellen und nachfolgenden Krisen in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, im Bildungswesen, in Kitas und der Pflege nicht auffangen können.

Doch Familien sind bereits jetzt am Limit. Eltern kommen immer mehr in die Erschöpfung und in den Burnout. Auch die Gesundheit, besonders die psychische, der Kinder und Jugendlichen leidet zunehmend. Meine kritische Frage ist: Werden Familien noch die Kraft und Stärke haben, um diese Krisen stemmen zu können? Ein viel wichtigerer Punkt aber ist unser eigener Handlungsspielraum als Familien. Jede Veränderung vollzieht sich von innen nach außen.

Mehr Generationen

Worum geht es bei der Veränderung von innen?

Wenn wir wollen, dass Familie sich gesund weiterentwickelt, dürfen wir bei uns selbst beginnen und uns die Frage stellen: Was ist mir Familie wert? Worauf bin ich, sind wir bereit zu verzichten, um Familie gesund und stark werden zu lassen? Wir können uns auch überlegen: Was wünsche ich mir darüber hinaus für die nächste Generation? Welche Prägung wünsche ich mir für unsere Kinder, damit sie selbst später gesunde Entscheidungen für ihr Leben treffen? Unsere Entscheidungen heute haben immer Einfluss auf die übernächste Generation, auf unsere Enkel.

Du plädierst auch im Buch stark dafür, generationsübergreifend zu denken und zu leben. Da schreibst du: „Uns fehlt der Weitblick.“ Wofür brauchen wir den?

Wenn wir in und über Generationen hinaus denken, wird uns bewusst, dass wir einander wirklich brauchen. In unserer Zeit heißt es oft, dass wir alles allein und selbstbestimmt erreichen können. Dass wir einander nicht brauchen, nicht mal mehr das Wissen der älteren Generation. Doch dabei gehen Erfahrungswissen und Weisheit verloren. Es ist so wichtig, einander Fragen zu stellen und zuzuhören: Welche Herausforderungen hatten andere Generationen, und wie haben sie diese gelöst? Woran haben sie sich orientiert? All das sind wichtige Erfahrungen, von denen wir lernen und profitieren können.

Du hast viele Familien interviewt und im Buch vorgestellt, die die unterschiedlichsten Modelle leben. Gibt es ein ideales Modell?

Ja, ich glaube schon. Aber es ist für jede Familie anders: Es ist das Modell, das individuell passt, das mit meinen Werten übereinstimmt, mit meinen Bedürfnissen als Mutter oder Vater und mit Blick auf die gesamte Familie. Und das flexibel ist, um je nach Lebensphase mitwachsen und sich verändern zu können.

Für Überzeugungen einstehen

Wieso stehen wir anderen Modellen oft kritisch gegenüber?

Ich glaube, weil es sich oft unserer Vorstellungskraft entzieht, wie andere Modelle im Alltag funktionieren können. Andererseits spiegelt sich in der Kritik oftmals die eigene Unsicherheit darüber wider, ob das eigene Modell das richtige ist. Ich wurde damals in meiner Entscheidung, meine Kinder nicht bereits mit einem Jahr in die Kita zu geben, sehr oft infrage gestellt. Andere habe ich nie von meinem Modell überzeugen wollen, sondern es einfach gelebt. Ich glaube, wir müssen lernen, andere Entscheidungen stehen zu lassen. Doch wir sind oft unsicher und vergleichen uns, weil wir uns über unsere eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen kein Bild machen. Wenn wir überzeugt wären von dem, was wir entscheiden, würden wir uns nicht angegriffen fühlen.

Welchen Wunsch verbindest du mit deinem Buch?

In meinem Buch gebe ich Einblicke in unterschiedliche Lebensrealitäten und neue Lösungswege zwischen Familie, Pflege und Beruf. Ich wünsche mir, dass die, die das Buch lesen und den Podcast hören, Lust auf Zukunft bekommen. Im Moment leben wir in einer Zeit, die uns sagt: „Hör auf zu träumen! Wir leben in sehr schweren Zeiten!“ Das nimmt den Menschen die Vorstellungskraft, dass wir auf eine gute Zukunft zusteuern.

Da, wo wir vor der Zukunft Angst haben, hören wir auf, innovativ und kreativ zu sein. Wo wir uns die Zukunft nicht vorstellen können, machen wir die Tür auf für radikale, sehr einfache Schwarz-Weiß-Lösungen. Das sehen wir auch in der Politik. Deswegen brauchen wir Menschen, Familien, Politiker und Unternehmen, die sich auf die Zukunft freuen und die Lust haben, sie zu gestalten. Familie ist der Ort, wo Zukunft entsteht. Deshalb sollten wir mit Familien anfangen, sie stärken und in ihnen die Hoffnung wieder wecken.

Familie ist Zugehörigkeit, Geborgenheit

Wie sieht deine Hoffnung aus?

Meine Hoffnung ist, dass Familie ein Ort ist, wo sich unsere Sehnsüchte nach Herkunft, Zugehörigkeit, Geborgenheit und Sicherheit erfüllen. Aber dass sie auch ein Ort ist, der Flügel verleiht, in die Zukunft zu gehen, kein Ort der Begrenzung, sondern der Befähigung. Ein Ort, an dem das Zusammenleben der Generationen stattfindet und wir feststellen: Wir sind Teil einer Geschichte, die vor uns begonnen hat. Und wir sind gemeinsam Teil der Geschichte, die uns überdauern wird. Wir sind nicht der Nabel der Welt mit unserer Generation, sondern ein Puzzleteil. Wir sind eine Wegstrecke.

Es kann sehr heilsam sein, so zu denken, weil wir dann einerseits das größere Bild sehen und unseren Platz darin finden. Und andererseits auf die Herausforderung schauen, die wir zu lösen haben in dieser Zeit. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir vom engen Bild von Familie – Mutter, Vater, Kind, vielleicht noch Großeltern – wegkommen und Familie wirklich öffnen und diesen Ort der Geborgenheit auch anderen zugänglich machen, die keine Familie im klassischen Sinne haben. Dass wir Familie weiter denken.

Das Interview führte Andrea Specht, Autorin, Lektorin und zweifache Mutter.

Dr. Ana Hoffmeister ist zweifache Mutter, Unternehmensberaterin, Speakerin und Podcasterin (FutureFamily). Ihr Buch „Future Family. Familien am Limit – neue Impulse für mehr Vereinbarkeit” ist bei Knaur erschienen.

Mehr Bewegung wagen!

Wenn Kinder in die Pubertät kommen, werden sie oft träger und bewegen sich weniger. Eine Expertin gibt Tipps, wie Sie mehr Bewegung in den Alltag integrieren können.

Bewegung ist der Motor des Lebens. Wortwörtlich! Bereits im Mutterleib sind Babys aus eigenem Antrieb aktiv, bei der Geburt sowieso und danach gibt es kein Halten mehr. Bewegung ist also ohne jeden Zweifel ein Grundbedürfnis von Kindern. Bei Jugendlichen dient Sport vor allem als Ausgleich sowie zum Abbau von Stress und Aggressionen. Die gibt es in der Pubertät oft reichlich. Darüber hinaus fördert viel körperliche Aktivität ein positives Selbstwertgefühl und hilft beim Kennenlernen, Akzeptieren und Lieben des eigenen Körpers.

Bewegung bei den Hausaufgaben

Sie können mehr Bewegung in den Alltag Ihrer Kinder bringen, indem Sie die Zeit mit den Hausaufgaben kreativ gestalten. Das birgt auf vielen Ebenen Vorteile für Ihre Teenager. Schulaufgaben müssen nicht im Sitzen erledigt werden. Vielleicht haben Sie einen höhenverstellbaren Schreibtisch, an dem das Kind gut im Stehen arbeiten kann? Auch das Auswendiglernen von Gedichten, Vokabeln oder sonstigen Texten kann man im Stehen, auf dem Bauch liegend oder laufend machen. Die Bewegung erhöht die Gedächtnisleistung und hilft dabei, dass sich Gelesenes besser gemerkt wird. Auf diese Weise werden verschiedene Sinne einbezogen, es bilden sich außerdem mehrere Verknüpfungen, die dem Kind ermöglichen, Inhalte besser und schneller zu verarbeiten.

Schwung reinbringen

Eine andere Möglichkeit, um körperliche Aktivitäten mit den Hausaufgaben zu kombinieren, sind Bewegungskarten oder -würfel. Dabei zieht das Kind zum Beispiel nach jeder gelösten Matheaufgabe eine Karte, würfelt oder macht einen eigenen Vorschlag für eine Bewegung wie Hüpfen, Kniebeugen oder Hampelmänner. Hierbei können Sie das Ergebnis der Rechenaufgabe für die Entscheidung benutzen, wie oft oder wie lange eine körperliche Aktivität ausgeführt werden soll. Außerdem helfen Sie Ihrem Kind, wenn Sie so oft wie möglich Materialien zu den Hausaufgaben dazunehmen. Lassen Sie Ihr Kind zum Beispiel unterschiedliche Materialien aus der Wohnung holen, um anhand dieser eine Rechenaufgabe zu lösen oder Vokabeln zu lernen.

Inliner statt Auto

Mir ist bewusst, dass diese Art, Hausaufgaben zu machen, aufwendig ist und sich bestimmt nicht jeden Tag umsetzen lässt. Sie können sich solche Ideen aber zum Beispiel für das Wochenende aufheben und für besonders regnerische Wochen oder wenn das Kind „krank“ zu Hause ist. Hier gilt: Machen Sie es für sich passend!
Es gibt im Alltag außerdem ausreichend andere Gelegenheiten, die Kinder in Bewegung zu bringen. Einkäufe lassen sich mit dem Rad oder den Inlinern tätigen. Der Weg zur Schule beziehungsweise zur Haltestelle kann zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt werden. Das Einführen von bewegten Ritualen kann ein weiterer Weg sein, Bewegung in den Alltag Ihrer Kinder zu integrieren. Auch wenn es ein wenig Überzeugungsarbeit braucht, es lohnt sich!

Anika Schunke ist Mutter, Erzieherin, Übungsleiterin für Kinderturnen sowie Referentin für den Badischen Turnerbund und die Kinderturnstiftung.

Mutter adoptiert pflegebedürftiges Kind: „Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten“

Als Claudia Staudt die kleine Lena im Arm hält, ist für sie klar: Sie möchte ihre Mama werden. Dass Lena lebenslang pflegebedürftig sein wird, ändert nichts an ihrer Entscheidung.

Lena Marie. Lena. Lenchen. Mein Baby. Unsere Tochter. Unser großes Mädchen, das mit den ersten Launen der Pubertät kämpft, Sitzski fährt und allein ihre Assistenzhündin führt. Lena ist ein so bemerkenswertes Mädchen. Und bemerkenswert ist auch unsere Geschichte. Bis heute kann ich es manchmal kaum glauben, dass ich Mama dieses tollen Wesens sein darf. Dass ich überhaupt Mama sein darf.

Das winzigste Baby

Als mein Mann und ich unsere Tochter kennenlernten, war sie schon beinahe drei Monate alt. Und doch war sie das winzigste Baby, das ich je gesehen habe. Sie trug Kleidergröße 50 und versank darin. Lena war vier Monate zu früh zur Welt gekommen und hatte während der Geburt Hirnblutungen erlitten. Die Ärzte hatten so schwere Schädigungen des Hirns diagnostiziert, dass sehr schnell klar gewesen war, dass Lena zeitlebens schwere Beeinträchtigungen haben würde. Lenas leibliche Eltern hatten sie daraufhin zur Adoption freigegeben, und das Jugendamt hatte sie bei einer Bekannten unserer Familie untergebracht. Wir kannten Regina aus unserer Kirchengemeinde, sie nahm häufiger Kinder auf. Aus Familien, in denen es schwer war. Oder Babys, die weitervermittelt wurden. Und nun war Lena bei ihr. An einem Sonntag im März 2013 lag sie in meinen Armen. Ich roch an ihrem Haar, streichelte sanft über ihren kleinen Bauch und hörte zu, wie Regina berichtete, dass die Behörden keine Adoptiveltern für dieses kleine Mädchen finden konnten. Keiner wollte ein Baby adoptieren, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebenslang ein Pflegefall bleiben würde. Die vergangenen drei Monate hatte dieses kleine Mädchen allein auf der Neonatologie gelegen. Sie hatte nach einer Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche um ihr Leben gekämpft, ihren Zwillingsbruder verloren und niemanden gehabt, der ihr sagte, dass er sie liebt. Und nun sollte sie den Rest ihres Lebens in einem Heim verbringen? Würde man da auch mehrmals die Woche mit ihr zu ihren Therapien gehen, wie Regina es tat? Alles in mir wehrte sich gegen diese Vorstellung.

Hals über Kopf verliebt

Mein Mann und ich hatten eine jahrelange Reise durch die Labore einer Kinderwunschklinik hinter uns. Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtungen und Fehlgeburten hatten in den vergangenen Jahren unseren Alltag bestimmt. Unser sehnlichster Wunsch war es, einem Kind Liebe zu schenken und es in die Welt zu begleiten. Hier war nun dieses bezaubernde, hilflose Wesen, und niemand wollte ihm ein Zuhause geben? Wir wollten es. Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten, ihm immer wieder versichern, dass es nicht allein ist. Mein Mann und ich hatten uns Hals über Kopf in Lena verliebt und wollten für Lena da sein, sie glücklich machen, ihr helfen. Wir sprachen miteinander, mit Freunden und der Familie. Sprachen mit Regina. Wir stellten uns vor, wie es wäre, Lenas Eltern zu sein. Malten uns aus, wie das Leben mit einem schwer behinderten Kind aussehen könnte. Zeichneten Worst-Case-Szenarien und betrachteten sie. Schreckten sie uns ab? Nein. Hatten wir die Unterstützung unserer Freunde und Familien? Ja. Also gingen wir zum Jugendamt und erklärten, dass wir Lenas Eltern werden wollen. „Auf keinen Fall“, hieß es vonseiten des Jugendamtes. Man kenne uns schließlich gar nicht. Man könne uns nicht einfach so ein Kind geben. „Nein, nicht einfach so“, sagten wir. Aber man könnte uns doch wenigstens mal anschauen. Wir gaben nicht auf, wir kämpften, wir überzeugten das Amt, uns kennenzulernen. Endlose Gespräche, unzählige ausgefüllte Formulare und viele absolvierte Seminare später durfte Lena unsere Pflegetochter werden.

Anders als die anderen

Dass Lena anders war als die Babys in unserem Umfeld, die keine Behinderung hatten, war von Anfang an sehr deutlich. Wenn ich gefragt werde, wann wir merkten, dass das Leben mit Lena nicht so werden würde, wie wir uns unser Familienleben während unserer Kinderwunschbehandlungen vorgestellt hatten, sage ich, dass Anders gemeinsam mit Lena bei uns eingezogen ist. Angeklopft hatte es schon einige Jahre zuvor, das kleine Anders – nämlich mit unserem Gang ins Kinderwunschzentrum. Mit Lena aber nistetete es sich bei uns ein, war gekommen, um zu bleiben. Ich erinnere mich an die Babyschwimmkurse: Jede einzelne Stunde beendeten Lena und ich vorzeitig und verließen vor allen anderen fluchtartig das kleine Becken. Lena konnte die vielen Reize nicht verarbeiten. Das Wasser, das Lachen der anderen Kinder, der Gesang der Mütter – alles zu viel für sie. Anders war es auch mit Lena im PEKiP-Kurs. Während die übrigen Kinder von Woche zu Woche mobiler wurden, nach Gegenständen griffen, sitzen lernten und sich irgendwann an den großen bunten Spielquadraten hochzogen, lag Lena von Anfang bis Ende des Kurses in meinem Arm. Sie zeigte kein Interesse an der Bewegung, scheiterte daran, irgendetwas festzuhalten, und begann stets panisch zu brüllen, wenn ich ihren Körper auch nur ansatzweise von meinem entfernte. Ich litt. Nicht, weil ich mein Baby nicht jede Sekunde bei mir haben wollte. Nein, ich liebe es noch immer, an ihr zu riechen, sie an mich zu drücken und ihr über die dunklen Locken zu streicheln. Aber die anderen Kinder schienen so viel Freude an der Bewegung zu haben – und das wünschte ich mir für Lena auch.

Außen vor

Mit Lena wuchs auch Anders. Es nahm immer mehr Platz auf unserer Couch ein. Es begnügte sich nicht mehr damit, bei uns zu Hause zu sein, sondern spazierte mit uns durch die Straßen unseres Stadtviertels. Das war ungefähr zu der Zeit, als wir für Lena einen Rehabuggy bekamen. Ein sperriges und für mein Empfinden hässliches Teil. Das sei in grau eigentlich ganz schick, hatte der Rehatechniker bei der Erprobung gesagt. Glatte Lüge. Aber es bot Anders eine tolle Möglichkeit, sich beim Spazierengehen daran festzuhalten – alle anderen Familien hatten schicke moderne Buggys. Wir fielen also auf. Anders fiel auf. In der Kindergartenzeit sorgte Anders immer wieder für Tränen bei Lena und uns. Kindergeburtstage in der Kletterhalle, Playdates auf dem Spielplatz, die ersten Turnstunden – Lena war außen vor. Und mit Lena waren auch wir außen vor. Die Mamas der nicht behinderten Kinder unseres inklusiven Kindergartens waren großartig und luden mich immer mit ein, wenn sie sich trafen. Immer ging ich voller Vorfreude und Optimismus hin. Und immer kam ich enttäuscht nach Hause. Denn jedes Mal ging es um Themen, bei denen ich nicht mitreden konnte: Welche Ballettschule im Umkreis ist die beste? Welches Fahrrad ist für den Einstieg geeignet? Und wo gibt es Vereine, in denen die Kinder den Freischwimmer machen können? Ich hörte zu und lächelte. Wollte aber manches Mal lieber heulen. Und mich eigentlich über Windeln für große Kinder, schönen Rolli-Speichenschutz und die nächste stationäre Kinderreha unterhalten. Es passte einfach meistens nicht.

Hobby gefunden

Mittlerweile besucht Lena die vierte Klasse einer inklusiven Montessorischule. Und noch immer ist Anders ein Thema. Nach wie vor gehört Lena für unser und ihr Empfinden nicht richtig dazu. „Mama, das liegt nicht an mir. Das liegt an meiner Behinderung“, sagt sie oft. Ja, mein Kind, ganz richtig. Nun könnte man fragen, ob sie denn an einer Förderschule nicht besser aufgehoben sei. „Nein“, sagt Lena. Wir haben uns vor Schuleintritt gemeinsam mit ihr für die private Regelschule und gegen die Förderschule entschieden. Denn Therapien konnte man uns in der Förderschule ohnehin nicht garantieren. Individuelle Förderung für unser zwar motorisch so eingeschränktes, kognitiv aber so fittes Mädchen auch nicht. Dazu dreimal so lange An- und Abreisezeit und unflexible Unterrichtszeiten. Lenas Schule ist toll. Und in der Schule selbst ist Lena voll dabei. Genau wie all die anderen Kinder mit Behinderung. Aber zwischen „Ich akzeptiere meine behinderte Mitschülerin“ und „Ich möchte mit meiner behinderten Mitschülerin befreundet sein“ liegen eben Welten. Lena hat eine Freundin. Eine. Und die auch erst seit Ende der dritten Klasse. Inklusion ist eben mehr, als behinderte Kinder als nicht störend zu empfinden. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir heute eine glückliche kleine Familie, Lena ein fröhliches, intelligentes und humorvolles elfjähriges Mädchen. Mit ihrem Elektro-Rollstuhl fährt sie selbstbewusst durchs Leben. Sie ist eloquent und durchsetzungsfähig. Und stolze Teampartnerin einer Assistenzhündin namens Ypsi. Mit Ypsi hat Lena ein Hobby gefunden, das sie gemeinsam mit den anderen Kindern aus unserem Assistenzhundeverein ausüben kann.

Ständiger Kampf

Und wir? Wir kämpfen noch immer. Nicht mehr um Lena, sondern für sie. Für Teilhabe, für Hilfsmittel, für Inklusion. Für Entlastung, Verständnis und Unterstützung für uns pflegende Eltern. Wir haben gelernt, uns Anders zu Nutzen zu machen. Lena spricht auf medizinischen Kongressen über ihre Behinderung. Sie berichtet, wo sich in ihrem Alltag Hürden auftun, welche Hilfsmittel ihr die liebsten sind und was sie sich für die Zukunft wünscht. Auf meinem Instagram-Account @claudistaudi lasse ich die Welt an unserem turbulenten Alltag teilhaben. Ich betreibe außerdem den Podcast „Pflegegrad Glück“ für pflegende Mütter. Und ich habe ein Buch veröffentlicht. In „Wir wollten Lena“ erzähle ich nicht nur unsere Geschichte, sondern beschreibe auch, dass es nach wie vor die Bürokratie ist und nicht Lenas Behinderung, die uns im Alltag am meisten behindert. Andreas und ich werden oft gefragt, ob wir es bereuen, ein behindertes Kind angenommen zu haben. Die Antwort ist ein entschiedenes und laut gebrülltes „NEIN!“. Aber auf die Frage, ob das Leben mit einem behinderten Kind so ist, wie wir es uns vorgestellt hatten, brüllen wir ein ebenso lautes „NEIN!“. Niemals hätten wir gedacht, wie schwierig es ist, die Hilfsmittel und die Unterstützung zu erhalten, die unserem Kind und uns zustehen. Und niemals hätten wir vorab realisieren können, wie wenig inklusiv unsere Gesellschaft ist. Aber ebenso wenig hätten wir uns jemals ausmalen können, wie glücklich und zufrieden uns das Leben mit Lena machen würde.

Claudia Staudt arbeitet als freie Journalistin, Pressesprecherin und Fitnesstrainerin. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Pflegetochter und deren Assistenzhündin im Großraum Düsseldorf. Über ihre Geschichte mit Lena hat sie ein Buch geschrieben: „Wir wollten Lena“ (Bonifatius) Mehr zur Familie auf Instagram unter @claudistaudi