Überall Spielzeug? Nein Danke!

Spielzeug türmt sich, es ist ständig unaufgeräumt und chaotisch. Madeleine Ramstein hat einen kreativen Weg gefunden, die Spielzeugberge abzubauen.

Meine Kinder lieben es, zu spielen und ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Doch trotz des vielfältigen Angebots an Spielzeugen in unserem Zuhause greifen sie oft zu Dingen, die sie in unserem Haushalt finden: Töpfe, Decken, Stühle … Wenn ein neues Spielzeug seinen Weg zu uns findet, geht es bald in dem Berg an vorhandenen Spielsachen unter. Es ist ein Phänomen, das wohl viele Eltern kennen: Das Interesse an einem Geburtstagsgeschenk verblasst schnell. Und wenige Wochen später findet sich das Spielzeug in einer verstaubten Schublade wieder.

Ich erinnere mich noch lebhaft an die fesselnden Werbespots in meiner Kindheit, welche die neuesten Spielsachen präsentierten: Flugzeuge, bei denen man das Gefühl hatte, wirklich fliegen zu können. Kleine Puppen, die zur Musik tanzten und mich in fremde Welten voller Abenteuer eintauchen ließen. Die Werbung suggerierte, dass ich mich mit genau diesem Spielzeug in eine wunderbare Welt voller Möglichkeiten begeben konnte. Doch die Realität sah oft anders aus: Das Spielzeug konnte dieses Versprechen nicht halten.

Kein Spielzeug und ein schlechtes Gewissen

Ähnliches beobachtete ich bei meinen Kindern: Ihre Spielsachen dienten in erster Linie dazu, den Fußboden zu bevölkern. Meine Kinder schafften es in kürzester Zeit, ein riesiges Chaos zu verursachen. Das anschließende Aufräumen dauerte oft länger als das Spielen selbst. Manchmal herrschte tagelang Unordnung und meine Nerven lagen blank. Als ich schließlich mit unserem dritten Kind schwanger und überfordert von der Spielzeugflut war, entschied ich mich für eine Challenge: Ich packte alle Spielsachen in Schachteln und Kisten und verstaute sie oben in unseren Schränken. Nur ihre Lieblingsstofftiere durften sie behalten. Falls sie gern mit einem bestimmten Spielzeug spielen wollten, würde ich es aus der Kiste hervorholen und ihnen geben. Mir war wichtig, dass sie nur mit den Spielsachen spielten, die sie bewusst verlangten und an die sie sich erinnern konnten. Mein Plan war, nach drei Monaten alles Spielzeug, das nicht zurückverlangt worden war, zu verkaufen oder zu verschenken.

Weshalb meine Kinder bei dieser Aktion mitmachten? Mein Mann und ich versprachen ihnen, dass wir nach Ablauf der drei Monate für zwei Tage in den Europapark fahren würden. Den Erlös der verkauften Spielsachen dürften sie im Park ausgeben. Mit dieser Challenge hoffte ich, ein für alle Mal Ruhe in unser Chaos zu bringen. Die Umstellung war für mich allerdings schwerer als gedacht. Zwar war ich das Chaos los, nicht aber das schlechte Gewissen: „Die armen Kinder! Sie haben keine Spielsachen mehr!“ Solche und ähnliche Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Im Chaos zu leben, war nicht einfach gewesen. Nun aber die Leere auszuhalten, war zu Beginn sehr herausfordernd.

Freiheit und Leichtigkeit

Der erste Tag ohne Spielsachen brachte überraschend wenig Beschwerden. Ich erwartete insgeheim, ständig zu den Kisten rennen zu müssen, um gewünschte Spielsachen hervorzuholen. Doch es kam anders: Der leere Raum fiel meinen Kindern auf, aber sie störten sich nicht daran. Im Gegenteil: Sie stellten Musik an und tanzten voller Freude. Sie bewegten sich unbeschwert, ohne Gefahr zu laufen, über Bausteine und anderes zu stolpern. Danach widmeten sie sich ihrem Lieblingsspiel: Sie bauten Hütten mit Vorhängen, Stühlen und Tüchern. In meinem Vorratsschrank „kauften“ sie für ihre Hütte ein. Sie spielten ungezwungen und waren sehr zufrieden. Nach einer Weile bat die Jüngste mich um eine Geschichte, woraufhin ich sie Bücher aus dem Schrank auswählen ließ und sie ihr erzählte. Der erste Tag ging vorüber. Die Kinder schienen nichts zu vermissen.

Zu Weihnachten erhielten sie Bastelsachen, ein Xylophon, einen Zählrahmen, Plüschhunde und Spielfahrzeuge. Die Geschenke hielten sich in Grenzen. Wir hatten unseren Eltern im Vorfeld mitgeteilt, dass wir mit weniger Spielsachen leben und mehr Wert auf Erfahrungen legen möchten. Deshalb waren Eintrittskarten in den Zoo ein beliebtes Geschenk. Die Kinder waren zufrieden – und ich auch. Gelegentlich wurde nach einem bestimmten Spielzeug verlangt. Die Aufräumarbeiten waren nun im Vergleich zu den Zeiten mit vielen Spielsachen deutlich einfacher. Ich genoss die neu gewonnene Freiheit und Leichtigkeit im Alltag. Gleichzeitig lernte ich meine Kinder besser kennen. Ihr Spielverhalten erschien mir nun deutlicher. Puppen waren ihnen wichtig, und sie kümmerten sich sehr gut um sie: Täglich pflegten und versorgten sie ihre Puppen, gingen mit ihnen spazieren und wechselten ihre Windeln. Nebenbei wurde viel zur Musik getanzt, gebastelt und Hütten gebaut.

Strahlende Augen

Ich verkaufte einige Spielsachen, die ich in unseren Schränken gestapelt hatte. Und schließlich war der ersehnte Tag für unseren Ausflug in den Europapark gekommen. Die strahlenden Augen unserer Kinder und ihre überbordende Begeisterung waren nicht zu übersehen. Wir genossen zwei Tage mit neuen Eindrücken, leckeren Snacks und vielen Achterbahnfahrten. In einem der Shops sagte ich zu den Kindern: „Ihr habt euer eigenes Geld dabei, sucht euch etwas aus und bezahlt es.“ Das hatten sie noch nie zuvor gemacht. Begeistert suchten sie sich jeweils ein kleines Spielzeug aus. Das restliche Geld investierten sie in Schokolade und andere Süßigkeiten.

Dieses Experiment und die Zeit im Europapark waren für unsere Familie ein voller Erfolg. Die Kinder lernten die Freude daran, ihr eigenes Geld zu verdienen und auszugeben. Bei uns zu Hause ist es wesentlich ruhiger und entspannter geworden. Wir besitzen noch etwa ein Drittel aller Spielsachen, die die Kinder zuvor zur Verfügung hatten. Dadurch hat sich unsere Lebensqualität deutlich verbessert. Auf keinen Fall möchte ich zu den Spielzeugbergen zurückkehren. Deshalb haben wir unserem Umfeld mitgeteilt, dass wir uns von nun an lieber Gutscheine und Ausflüge für die Kinder wünschen oder etwas Bestimmtes, das sie gerade gebrauchen können. Gemeinsame Erlebnisse und die Zeit zusammen als Familie sind für uns viel kostbarer als ein Haufen Spielsachen.

Madeleine Ramstein ist Theologin und Seelsorgerin. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Schweiz.

Nicht einfach, aber doch schön: Familienalltag mit Autismus

Autismus ist bekannt, aber mit vielen Klischees behaftet. Wie groß die Bandbreite der Krankheit ist, wissen nur Wenige. Am 2. April ist Welt-Autismus-Tag. Eine vierköpfige Familie erzählt, wie sie ihren Alltag mit zwei autistischen Teenagern erlebt.

Schon beim morgendlichen Anziehen gehen die Schwierigkeiten los: Wenn an einem Kleidungsstück ein Schildchen oder eine Naht drückt, fühlt sich der 13-jährige Daniel (Namen geändert) nicht wohl. Eine Zeit lang mussten Hosen und Schuhe bei ihm aber auch ganz eng geschnürt werden. „Damit er sich besser spürt“, erklärt Mutter Katja. Daniels Schwester Laura (15) mag es nicht, wenn man sie mit nassen Händen anfasst und auch sonst mag sie es kaum, berührt zu werden. Beide haben Autismus.

Autismus-Spektrum-Störung (ASS), so lautet die Diagnose von Daniel und Laura, die sie vor zwei Wochen von einer Psychotherapeutin bekommen haben. Eins von hundert geborenen Kindern ist heute von dieser komplexen neurologischen Entwicklungsstörung betroffen. Menschen mit Autismus nehmen Dinge anders wahr und haben Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Viele sind zum Beispiel besonders empfindlich gegenüber Licht, Geräuschen oder Berührungen. Oft können sie sich nicht gut in ihre Mitmenschen einfühlen und es fällt ihnen schwer, Beziehungen aufzubauen. In der Kommunikation verstehen sie das Gesagte häufig wörtlich, Zwischentöne oder sogar Ironie sind für sie schwer zu deuten.

Schnelle Überforderung

Dass Daniel und Laura Autismus haben, hatte die Familie schon seit Jahren geahnt. Jetzt endlich haben sie es auch schwarz auf weiß. Das macht es für sie einfacher, ihre Kinder zu erklären, zum Beispiel gegenüber der Schule oder Verwandten. Denn ihr Alltag ist auch so schon herausfordernd genug. Zum Beispiel beim gemeinsamen Essen: Die Teenager essen kein Fleisch, Gemüse nur roh. Laura bekommt bei der Konsistenz von Kartoffelbrei Würgereiz, Salzkartoffeln gehen wiederum. Vater Jark, der für die Familie kocht, ist bei der Essensauswahl sehr eingeschränkt. Und so wiederholt sich der Familienspeiseplan alle zwei Wochen.

Auch Ausflüge als Familie sind nicht spontan möglich, sondern müssen vorher gut geplant werden. Denn wenn die Kinder nicht wissen, was auf sie zukommt, macht sie das nervös. Ein Besuch im Freizeitbad oder bei Ikea geht eher nur selten – die vielen Menschen und die wenigen Ruhe-Oasen führen bei Laura und Daniel schnell zu Überforderung. Und der Besuch von neuen Städten kann auch herausfordernd sein. Letztens waren sie am Wochenende in Oldenburg. „Da hat Daniel mitten in der Stadt einen Zusammenbruch bekommen und losgeheult, weil ihm alles zu viel war – er ließ sich kaum beruhigen“, erzählt Jark. Woanders übernachten sei für Daniel schlimm. Das andere Bett, die fremden Gerüche – alles große Herausforderungen für ihn.

Das ist häufig so bei Menschen mit Autismus: Sie haben feste Rituale und brauchen geregelte Abläufe und Strukturen im Alltag. Die genauen Ursachen von Autismus sind bis heute nicht geklärt. „Klar ist: Autismus ist hochgenetisch, aber auch biologische Umweltfaktoren können einwirken und mit Genen interagieren“, sagt Sven Bölte, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit dem Jahr 2000 steigen die Autismus-Spektrum-Störungen weltweit. Sven Bölte vermutet, dass das unter anderem mit der besseren und schnelleren Diagnostik zusammenhängt, die es heute gibt. Und mit unserer Anforderung an Gesundheit: „Die Menschen haben heute unglaublich hohe Ansprüche daran, was es heißt, gesund zu sein.“ Auch in den Schulen würden die Ansprüche an die Kinder steigen. So würden Autismus-Spektrum-Störungen früher auffallen.

Wer passt sich wem an?

Dass sie anders war als die anderen, bemerkte Laura schon in der ersten Klasse: „In der Schule war ich oft abgelenkt und bin häufig allein über den Schulhof gegangen, weil ich eine Pause von den ganzen Reizen brauchte“, sagt sie. Der Lehrerin fiel auf, dass sie nicht mit anderen Kindern spielte. Laura war auch oft verträumt, sie brauchte zum Beispiel lange, um ihren Schulranzen einzuräumen. Bald darauf bekam sie eine ADHS-Diagnose. Die Medikamente, die sie verschrieben bekam, hätten ihr zwar geholfen, sich besser zu konzentrieren, erzählt Katja. Aber sie hätten auch dazu geführt, dass Laura immer trauriger wurde. Das ging den Eltern zu weit, sie setzten die Medikamente ab. „Für uns war klar: Wir versuchen nicht unser Kind um jeden Preis an sein Umfeld anzupassen,“ sagt Katja. Stattdessen wechselte Laura an eine andere Schule.

Wegen Autismus: Keine passende Schule für Daniel

Als Daniel auf das Gymnasium kam, versuchte er lange Zeit, sich anzupassen. Es kostete ihn unheimlich viel Kraft, die unzähligen Reize – Geräusche, Licht, Gerüche – auszuhalten. Ständig befand er sich nervlich in einer Ausnahmesituation. Nachmittags zog er sich in sein verdunkeltes Zimmer zurück. Morgens mussten Katja und Jark mit Engelszungen auf ihn einreden, um ihn wieder herauszulocken. Eines Tages fanden sie statt des selbstbewussten 12-Jährigen einen 5-Jährigen vor, erzählt Jark: „Er weinte, wimmerte und bat darum, dass wir ihn nicht wieder zur Schule schickten.“ Daniel war total erschöpft, hatte keinen Antrieb mehr und nur wenig Freude am Leben.

Eine Kinder- und Jugendpsychiaterin diagnostizierte ihm eine Anpassungsstörung, er wurde krankgeschrieben. Seit einem Jahr beschulen ihn die Eltern zuhause. Die Schule und die Behörden halten an der Präsenz-Schulpflicht fest. Deswegen sei neulich auch das Jugendamt unangekündigt vorbeigekommen. „Anfang März hat die Bezirksregierung einen Bußgeldbescheid über 1.500 Euro an uns verschickt“, erzählt Jark. Der Druck ist groß. Doch in der Heimatstadt gibt es keine geeignete Schule für Daniel. Nun reisen sie an den Wochenenden durch ganz Deutschland, um nach passenden Schulen für ihn zu schauen.

Dass autistische Kinder vorübergehend nicht zur Schule gehen, ist nicht selten. Verschiedene internationale Studien geben an, dass zwischen 23 und 72% der autistischen Kinder und Jugendliche ab und zu oder langfristig nicht in die Schule gehen. Für Deutschland gibt es keine repräsentativen Daten. Die Gründe für die Nicht-Beschulung sind unterschiedlich: Mal schaffen es die Kinder und Jugendlichen nicht mehr in die Schule, mal sollen sie zu Hause bleiben, weil Fachpersonal fehlt. „Unser Schulsystem ist auf neurotypische Schülerinnen und Schüler ausgerichtet und nicht autismus-sensibel“, sagt Stephanie Meer-Walter, Pädagogin und Autismus-Beraterin. Sie wünscht sich, dass die Lehrkräfte durch Weiterbildungen besser auf autistische Kinder vorbereitet werden und Schulen dafür besser ausgestattet werden. Zum Beispiel durch Ruheräume als Rückzugsmöglichkeit bei Überreizung oder durch feste Strukturen und klare Kommunikation im Unterricht.

Gemeinsam Kompromisse finden

Für viele Schwierigkeiten hat die Familie inzwischen Lösungen gefunden. Zum Mittagessen gibt es wenige, ausgewählte Mahlzeiten, wie Pellkartoffeln oder Chili sin Carne. Sehr gut funktioniert auch das Salatbuffet oder Raclette, bei dem die Teenager selbst auswählen, was sie essen. Laura besucht jetzt ein Gymnasium, von der Klassenlehrerin fühlt sie sich unterstützt. „Heute komme ich ganz gut mit meinem Autismus klar“, sagt sie. Wenn sie Anschluss zu Freundinnen suche, nerve sie ihr Autismus schon. Es falle ihr schwer, zu entschlüsseln, was sie von ihr erwarten. „Im Endeffekt gibt es aber für alles eine Lösung.“

Daniel schaffe es im Alltag immer besser, sich selbst zu helfen, sagt Katja. Früher hätte er Wutanfälle bekommen, wenn sich die Klamotten falsch anfühlten. „Mittlerweile schneidet er die Schilder selbst heraus oder sagt uns klar, wie wir ihm helfen können.“ Und auch wenn die Beschulung zu Hause für Daniel nur eine Notlösung ist, geht es Daniel damit besser als noch zu Schulzeiten. „Er kommt jetzt wieder mehr aus sich heraus und nimmt sich auch mal das Skateboard, um auf den Skateplatz zu gehen“, sagt Jark. Er brauchte die Pause, sagt Katja. „Jetzt kann er sich wieder auf eine neue Schule einlassen“. Beide Kinder wirken auf die Eltern im Alltag inzwischen ausgeglichen.

Katja und Jark wünschen sich, dass andere Menschen in ihrem Umfeld mehr Offenheit und Verständnis für ihre Kinder zeigen und ihre Bedürfnisse nicht klein reden. Und sie wünschen sich mehr Aufklärung: Wenn sie anderen erzähle, dass ihre Kinder Autismus haben, seien diese oft erschrocken, sagt Katja. Die würden dann wahrscheinlich gleich an Filme wie „Rain Man“ denken. „Aber Autismus ist ein riesiges Spektrum. Ich wünsche mir, dass sich die Menschen mehr darüber informieren, wie vielfältig Autismus ist.“

Manche Menschen mit Autismus lernen in ihrem Leben nie zu sprechen und sind auch als Erwachsene auf eine Rundumbetreuung angewiesen. Andere haben studiert und führen ein selbständiges Leben. „Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten“, fasst Jark zusammen. „Jeder Mensch bringt seine individuelle Persönlichkeit mit und niemand will in eine Schublade gesteckt werden.“ Auch Kitas, Schulen und Arbeitgeber müssten aus der Sicht der Familie besser auf den Umgang mit autistischen Menschen vorbereitet werden.

Janna Degener-Storr und Sarah Kröger

Wer bin ich? Expertin erklärt, was unsere Identität ausmacht

Die Frage „Wer bin ich?“ ist eine der Kernfragen unseres Lebens. Pädagogin Julia Otterbein erklärt, wie sich unsere Identität formt und wie sie sich verändert. Und sie gibt Tipps, wie wir uns selbst auf die Schliche kommen.

Wer bin ich? Die zentrale Frge der Identität lässt sich von zwei Perspektiven aus betrachten: einmal von innen heraus (Wie sehe ich mich selbst?) und einmal von außen (Wer bin ich für andere? Wie sehen/erleben mich andere?). Die Außenperspektive ist für viele Menschen oft die leichtere, denn im Außen nehmen wir verschiedene Rollen ein, die sich klar benennen lassen: Mutter oder Vater sein, der Beruf, den wir ausüben, das Ehrenamt in der Gemeinde …

An diese und andere Rollen werden häufig bestimmte Erwartungen geknüpft, deren Erfüllung uns die Sicherheit gibt, anerkannt und zugehörig zu sein. Weil soziale Zugehörigkeit ein Grundbedürfnis ist und wir vor allem als Kind auf sie angewiesen sind, achten Menschen auch als Erwachsene noch sehr darauf, sich so zu verhalten, dass sie anderen gefallen. Sie bemühen sich, nicht zu sehr anzuecken, um ihre soziale Sicherheit nicht zu gefährden.

Wenn äußere Erwartungen zu „Identitätszwängen“ werden, führt das aber nicht nur dazu, dass Menschen sich für andere verbiegen – sie verlieren auch den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und zur eigenen inneren Identität. Denn wir sind selbstverständlich mehr als nur unsere Rollen oder das, was von uns im zwischenmenschlichen Miteinander sichtbar wird.

Wer bin ich von innen?

Zur Identität eines Menschen gehört immer auch eine Innenperspektive, die sich dadurch auszeichnet, was wir (über uns) denken und wie wir uns fühlen. Die Gedankenschleifen über uns selbst werden durch innere Stimmen genährt, die wiederum durch unsere Lebenserfahrungen mit engen Bezugspersonen geprägt sind. Stimmen Innen- und Außenperspektive überein, erleben wir das als Authentizität.

Manchmal setzen wir aber auch bewusst eine Maske im Außen auf, um unsere Identität im Innen zu schützen. Zum Beispiel, wenn wir Menschen begegnen, zu denen wir nicht das nötige Vertrauen haben, um uns so (verletzlich) zu zeigen, wie wir uns im Inneren fühlen. Das ist okay. Jeder kann entscheiden, wem sie oder er sich wie zeigt, mit welchen Aspekten und aus welcher Perspektive.

Kinder begleiten

Auch Kinder haben schon eine Identität, selbst wenn diese noch nicht vollständig ausgereift ist. Einige ihrer Eigenschaften sind in ihnen angelegt. Andere werden durch biografische Erfahrungen beeinflusst, seien es prägende Lebensereignisse oder das Miteinander mit ihren engsten Bezugspersonen. Dieses Miteinander wird wiederum durch die Identität der Bezugspersonen beeinflusst. Als Eltern prägen wir mit unserer Identität die Identität unserer Kinder. Gleichzeitig ist es für uns Eltern wichtig, offen zu sein für die sich entwickelnden Eigenschaften unserer Kinder, die anders sind als unsere eigenen.

Die Würde eines Menschen zu achten, ist das Zugeständnis, ihn so sein zu lassen, wie er ist. Für mich bedeutet würdevolles Erziehen, dem Kind die Erlaubnis zu geben, das, was in seinem Inneren ist, nach außen sichtbar werden zu lassen. „So wie du bist, bist du okay!“ Eine schöne Möglichkeit, den Kindern diese Botschaft zu vermitteln, sind Lieder wie „Vergiss es nie“ oder auch „Ich bin ich“ von der Kinderlieder- und Hörspielmacherin MIRA.

Wer bin ich – Wer werde ich? – Identität im Wandel

Identität ist eine Momentaufnahme: Manche Aspekte bleiben das ganze Leben über bestehen, andere entwickeln oder verändern sich. Und das ist gut so! Unsere Identität verändert sich gerade an den Schwellenübergängen des Lebens: in den unterschiedlichen Autonomiephasen eines Kindes, beim Erwachsenwerden, wenn wir einen Beruf ergreifen, wenn wir Mutter oder Vater werden, beim Begleiten der verschiedenen Entwicklungsphasen der eigenen Kinder bis hin zum Loslassen der Kinder, wenn sie als Heranwachsende eigene Wege gehen. Aber auch die sogenannte „Midlife-Crisis“, ein Jobwechsel oder das Beschäftigen mit der eigenen Endlichkeit haben Einfluss auf unser Identitätsgefühl.

Auch das bewusste Beschäftigen mit der eigenen Identität, das Ergründen, warum man heute so ist, wie man ist, verändert das Erleben des eigenen Selbst. Das kann durch eine persönliche Reflexion geschehen, zum Beispiel mit den Fragen am Ende des Artikels. Man kann sich in einem solchen Prozess aber auch von einem Coach oder einer Therapeutin begleiten lassen. So eine Innenschau kann hilfreich sein, prägende Erfahrungen, die unseren Charakter geformt haben, nachträglich neu zu bewerten. Dies kann die Entwicklung der eigenen Identität ermöglichen, um zum Beispiel Schüchternheit loslassen zu können.

In Beziehungen wachsen

Wir werden geprägt von den Menschen in unserem Umfeld. Oft umgeben wir uns auch mit Menschen, die uns ähnlich sind. Das kann auf der einen Seite schön und angenehm sein, denn dieser Umstand sorgt dafür, dass wir uns in unserem Umfeld zugehörig fühlen. Aber es kann auch dazu führen, dass wir unsere Identität limitieren und sich bestimmte Seiten unserer Identität in diesem Umfeld nicht entfalten können.

Es lohnt sich also, genauer in sich hineinzuhorchen, ob es eine Diskrepanz zwischen dem inneren Identitätsgefühl und den äußeren Verhaltensweisen innerhalb meines sozialen Umfeldes gibt. Es ist gut und richtig, dass wir an Begegnungen und in Beziehungen mit anderen wachsen und ein Stück weit auch geformt werden. Aber es ist nicht richtig, wenn sich das für uns einengend anfühlt und wir das Gefühl haben, so sein zu müssen wie unser Umfeld. Dann ist es vielleicht Zeit für ein anderes Umfeld und neue Beziehungen, die Facetten unserer Identität stärken, die bisher nur in uns schlummerten.

Bewusste Prägungen

Manche Prägungen, vor allem die, die früh in unserem Leben gewirkt haben, konnten wir uns nicht selbst auswählen. Sie haben unsere Identität geprägt, ohne dass wir es kontrollieren konnten. Heute als Erwachsene können wir uns diesen Prägungen gezielt zuwenden und reflektieren, warum sie in unserem bisherigen Leben wichtig, wenn nicht sogar überlebenswichtig waren. Aber wir können uns auch bewusst entscheiden, uns ab jetzt von anderen Menschen und neuen Einflussfaktoren prägen zu lassen, korrigierende Erfahrungen machen und unsere Identität dadurch neu erblühen lassen.

Während manche Menschen mit einer Haltung von „Ich bin halt so“ durch ihr Leben gehen, wird an anderer Stelle mit dem Slogan geworben: „Du kannst alles werden.“ Ich persönlich denke, dass die individuelle Wahrheit für jede und jeden irgendwo dazwischen liegt. Manche Facetten von uns sind sehr tief in uns verankert. Wir wollen sie vielleicht auch gar nicht ablegen. Gleichzeitig dürfen wir belastende Prägungen mutig hinterfragen: Soll ich mich ein Leben lang limitieren? Oder gibt es Möglichkeiten, diese Prägung hinter mir zu lassen?

Identität sollte in erster Linie für uns selbst und nicht für andere sein. Sie ist ein dynamisches Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, das sich im Laufe des Lebens ständig weiterentwickelt. Indem wir unsere Prägungen reflektieren und den Mut aufbringen, belastende Muster loszulassen, schaffen wir Raum für persönliches Wachstum und Authentizität. Wichtig ist dabei, auch unsere Kinder in ihrer individuellen Identitätsentwicklung achtsam zu begleiten. Ein erster Schritt könnte die ehrliche Auseinandersetzung mit den Impulsfragen unter dem Artikel sein.

Julia Otterbein ist Dipl.-Sozialpädagogin und Coach für friedvolle Elternschaft i.A. (FREL®-Coach). Sie lebt mit ihrer Familie in Süderbrarup. familywithlove.de

 

Impulsfragen zur Identitätsentwicklung

1 Welche Erfahrungen aus meiner Vergangenheit haben mich geprägt?
Oft hinterfragt man solche Erfahrungen gar nicht mehr. Deshalb lohnt es sich, einmal gezielt darüber nachzudenken: Haben diese Erfahrungen „das Recht“, mich dauerhaft in dieser Art und Weise zu prägen? Es gibt die Chance auf eine Neubewertung dieser Erfahrungen, insbesondere wenn sie durch Scham geprägt sind. Es muss sich auch nicht um formal große Ereignisse handeln. Wie wäre es gewesen, wenn diese Erfahrungen anders gewesen wären? Sogenannte korrigierende Erfahrungen können wichtig für den Heilungsprozess sein.

2 Wie würde ich mein Leben gestalten, wenn ich keine Angst vor dem Urteil anderer hätte?
Diese Frage wirft einen Blick auf die Erwartungen an uns in verschiedenen Rollen und Kontexten, in denen wir agieren. Inwiefern limitieren sie uns? Die Bewertung von anderen Menschen hat sehr viel Macht, weil sie unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit betrifft. Nach wessen Urteil soll man sich richten? Eigentlich nur nach dem eigenen. Was bleibt von einem, wenn man die Bewertung der anderen subtrahiert? Wie viel Erlaubnis gebe ich mir?

3 In welchen Momenten fühle ich mich lebendig, verbunden und im Einklang mit mir?
Diese Momente sind oft mit körperlichen Reizen verbunden, zum Beispiel mit Gänsehaut oder einem warmen, wohligen Gefühl. Es sind die Momente, wenn man am meisten im Hier und Jetzt ist. Eine ergänzende Frage könnte sein: Wofür begeistere ich mich?

Partner fürs Leben: Paar-Expertin verrät, wie die Beziehung glücklich bleibt

Den Partner fürs Leben finden! Das wünschen sich viele. Aber ist der Traum von der ewigen Liebe nicht der Stoff für kitschige Liebesromane? Nein, sagt Psychologin Tabea Müller und gibt Tipps, wie die Liebe im Alltag lebendig bleibt und ein Leben lang halten kann.

Es war ein Novembertag in Paris, als er niederkniet und die Frage aller Fragen stellt. „Jaaaaa!“, antworte ich. Er steckt mir einen Ring an. Wir küssen uns, lachen erleichtert. Nur wenige Schritte entfernt erfüllt ein Straßenmusiker die Luft mit Geigenklängen. Zu unseren Füßen liegt Paris mit seinen verwinkelten Gassen und unendlichen Möglichkeiten – wie ein Spiegel unserer gemeinsamen Zukunft. Der Partner fürs Leben – der Traum ist zum Greifen nahe.

Der perfekte Moment

Nicht nur der Moment schien perfekt, sondern auch der Mann an meiner Seite. Mein kleines Herz konnte das große Glück gar nicht fassen, dieses vor uns liegende gemeinsame Abenteuer, das für immer halten sollte.

Niemals zuvor war ich mir einer Entscheidung so sicher wie in jenem Augenblick, auf den Stufen von Sacré-Cœur vor einem Dutzend Jahren. Ja, ich wollte seine Frau werden. Er sollte mein Mann werden. Mein one and only, mein Partner fürs Leben. Der, der besser zu mir passt als alle, die bisher meinen Weg gekreuzt haben. Auch wenn wir beide nicht perfekt sind, füreinander sind wir es – oder werden es jeden Tag ein Stückchen mehr. Und noch immer bin ich überzeugt, die richtige Wahl getroffen zu haben.

Der Traum von der ewigen Liebe

Der Traum von der ewigen Liebe ist zeitlos – der Wunsch, den einen Partner fürs Leben zu finden, begleitet die Menschheit durch alle Generationen hindurch. Auch heute noch wollen 67 Prozent der „Generation Z“ laut einer österreichischen Jugendstudie einmal heiraten. Kein Wunder, denn die positiven Auswirkungen sind enorm: Glücklich Verheiratete leben zum Beispiel im Durchschnitt vier bis acht Jahre länger als unglücklich verheiratete oder geschiedene Paare. Sie haben mehr natürliche Killerzellen in ihren weißen Blutkörpern und sind dadurch weniger anfällig für Krankheiten.

Die tatsächliche Zahl der Eheschließungen sinkt trotzdem seit 1950 stetig. Das kann an der erschlagenden Auswahl an potenziellen Partnern liegen, die wir dank Internet inzwischen weltweit haben. Aber auch an unseren Erwartungen, die höher sind als je zuvor. Als ich meine Oma fragte, wie sie sich unter ihren Verehrern für meinen Opa entschieden hatte – ich wusste, dass es mehrere Anwärter gab –, antwortete sie: „Er hatte ein Motorrad.“

Partner fürs Leben und veränderte Ansprüche

Ein Motorrad! Das hätte heute bei Weitem nicht gereicht. Wir sehnen uns nach dem einen Menschen, der uns so sehr in seinen Bann zieht, dass uns alle anderen völlig egal sind. Wir träumen von einer Zukunft, in der wir alles teilen, beste Freunde, anregende Gesprächspartner und leidenschaftliche Liebhaber sind. Und wir wollen, dass eine einzige Person all unsere oft widersprüchlichen Bedürfnisse erfüllt – sei es Nähe, Freiheit, Verbundenheit und Erotik. Die Psychologin Esther Perel bringt es auf den Punkt: „Heute erwarten wir von einem Partner fürs Leben, was früher ein ganzes Dorf geleistet hat – und wir leben doppelt so lang wie damals.“ Kein Wunder, dass Enttäuschungen kommen, wenn wir uns diese Erwartungen nicht bewusst machen.

Den one and only kann es trotzdem geben, davon bin ich überzeugt und mit mir alle, die heutzutage noch heiraten wollen. Dabei hat das gar nicht so viel mit diesem Jemand zu tun, sondern damit, wie wir ihn oder sie wahrnehmen und behandeln. Der one and only bekommt von uns den Stellenwert, wichtiger zu sein als alles andere in unserem Leben. Diese Person ist die einzige Familie, die wir uns aussuchen können. Wir lieben sie und behandeln sie dementsprechend wie etwas ganz Wertvolles. In den ersten zwei Jahren ist das auch easy, denn da sind wir vollgepumpt mit Liebeshormonen, wie auf Drogen. Wir vergeben kleine Macken, finden sie vielleicht sogar süß. Pendeln sich die Hormone nach geraumer Zeit wieder im Normalbereich ein, stören uns Eigenheiten immer mehr. Zudem haben wir uns an die Gegenwart des Partners oder der Partnerin gewöhnt und nehmen sie oder ihn für selbstverständlich.

Was eine glückliche Ehe ausmacht

Wenn wir das Agieren unseres Partners zudem als persönliche Angriffe empfinden – was selten wirklich der Fall ist –, schleichen sich nach und nach negative Gefühle ein, und die Beziehung gerät in einen Abwärtsstrudel. Wir gehen in Gegenangriff, der Rosenkrieg beginnt: Einer kritisiert, der andere verteidigt sich, findet für jedes Fehlverhalten einen Grund. Wenn der Kritisierende auf seinem Standpunkt beharrt und mit verächtlichen, sarkastischen Bemerkungen reagiert, zieht sich der andere meist stillschweigend zurück. Gar nicht mal böswillig, sondern aus Selbstschutz vor der Flut an negativen Gefühlen, die eine leichte, humorvolle Wendung der Situation unmöglich machen.

Kritik, Verachtung, Rechtfertigung, Rückzug: Das sind laut dem Psychotherapeuten John Gottman die vier apokalyptischen Reiter, die das Ende einer Ehe ankündigen. Seit einem halben Jahrhundert erforscht er mit seinem Team im „Liebeslabor“ in Seattle Ehen und liefert beeindruckende Ergebnisse. Nicht nur können sie nach einer kurzen Beobachtungsphase mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % vorhersagen, ob sich ein Paar im Laufe seines Lebens scheiden lassen wird, viel wichtiger: Sie fanden auch heraus, was glückliche Ehen ausmacht. Denn auch glückliche Paare streiten – aber sie haben Strategien, die verhindern, dass Konflikte eskalieren. Kleine Rettungsversuche wie ein humorvoller Kommentar oder eine Entschuldigung wirken wahre Wunder. So kann das Stresslevel im Streit sinken und eskaliert nicht. Aus all seinen physiologischen Messungen und Beobachtungen siebte Gottman sieben Geheimnisse heraus, die glückliche Paare gemeinsam haben. Ich habe mir erlaubt, diese ein bisschen zu würzen.

7 Tipps für glückliche Paare

1. Gefährten

Glückliche Paare sind beste Freunde. Sie wissen, was den anderen gerade beschäftigt, wovon er träumt oder was ihn belastet.

Konkret: Geh nicht schlafen, bevor du weißt, wie es deinem Partner heute erging und was er oder sie erlebt hat. Erwarte stets, dass er/sie dir etwas erzählt, was du so nicht erwartet hast. Falls das nicht der Fall ist, stell kreativere Fragen.

2. Verehrer

Selbst nach vielen Ehejahren bewundern und respektieren glückliche Paare einander und erzählen ihre gemeinsame Liebesgeschichte positiv und detailliert.

Konkret: Behandle deinen Partner so respektvoll wie einen Kunden und gib ihm am Ende des Tages nicht nur deine müden „Reste“. Würdest du mit ihr oder ihm genauso umgehen, wenn dein Chef oder Jesus selbst zu Gast wäre? Merkt der andere, dass er oder sie dir kostbar ist?

3. Cheerleader – oder Anästhesisten

Glücklich Liebende wenden sich einander zu, kommen in der Gegenwart des anderen zur Ruhe und bauen im Gespräch den Stress des Tages ab. Egal, was passiert ist, sie stärken einander den Rücken.

Konkret: Kommt dein Partner bei dir zur Ruhe und kann entspannen? Falls nicht, hilft: Handy weglegen, aktiv mit Augenkontakt zuhören und Verständnis äußern. Dazu eine ordentliche, nicht zu sanfte Massage und der Stress fühlt sich definitiv unwohl.

4. Influencer

Glückliche Paare lassen sich vom anderen beeinflussen und schätzen ihre oder seine Sichtweise und Expertise.

Konkret: Werde selbst zum Traumpartner und zeige dich von deiner besten Seite. Dabei hilft folgende Frage: Bin ich jemand – gesund, produktiv, sauber, großzügig, ehrlich und geduldig –, mit dem man unbedingt zusammenbleiben möchte? Dann ist der andere nämlich mit Sicherheit auch offen für deine Ideen.

5. Harte Weicheikocher

Die nicht lösbaren Konflikte – das sind übrigens zwei Drittel –, die es in jeder Beziehung gibt, lassen glückliche Paare stehen und akzeptieren, dass sie Teil ihres gemeinsamen Lebens sind. Die lösbaren Konflikte lösen sie.

Konkret: Unterstelle deinem Partner NIE eine böse Absicht, höchstens Unachtsamkeit oder Unwissenheit. Dazu gehört auch, nicht aufzurechnen. 50:50 ist eine nette, aber unrealistische Idee von Beziehung, manchmal sind es 100:100, manchmal 80:20, manchmal 30:30 … Das Energielevel schwankt und das ist okay.

6. Diplomaten

Auch bei Konflikten, die zu Patt-Situationen führen, bleiben sie im Gespräch. Sie versuchen, die Grundmotivation des anderen hinter dem Standpunkt zu verstehen, bauen im Gespräch durch Rettungsversuche Stress ab und halten die nicht verhandelbaren Aspekte so gering wie möglich.

Konkret: Oft steckt irgendeine Angst hinter nicht verhandelbaren Standpunkten. Wenn du dazu neigst, ängstlich zu sein, versuche mutiger zu werden und dir häufiger die bestmöglichen Szenarien vorzustellen. Neurotizismus ist einer der wenigen Charakterzüge, die mit einer unglücklichen Ehe einhergehen.

7. Sinnfluencer

Durch Zukunftsträume, Finanzpläne oder Gottmomente im Alltag haben sich glückliche Paare einen gemeinsamen Sinn geschaffen. Wiederkehrende Familienrituale wie das gemeinsame Planen von Kindergeburtstagen oder ein ganz besonderer Ablauf an Heiligabend verbinden und definieren ein Wir-Gefühl.

Konkret: Nehmt euch Zeit und schreibt auf, was ihr in 1/3/10 Jahren besitzen sowie gelernt und erlebt haben möchtet. Dann fangt an, eure gemeinsamen Nenner probezuleben.

Lass dich von dieser Masse nicht erschlagen. Sie soll lediglich als Inspiration dienen, ganz nach dem Motto: „Das Gute behaltet.“ Vieles liegt in deiner Hand und du musst nicht warten, bis sich dein Partner oder deine Partnerin verändert.

Tabea Müller ist Psychologin und lebt mit ihrer Familie bei Karlsruhe. tabeasarah.de

Expertin warnt: Tradwives sind keine Beziehungsratgeber

Ein Trend aus den USA, die sogenannten Tradwives, suggeriert ein neues altes Bild von Frauen und Familie. Doch hinter dem Vorhang lauern bedenkliche Ideale. Paarexpertin Ira Schneider nimmt deren Beziehungstipps unter die Lupe.

„Oh, ein leckerer Kuchen“, denke ich und betrachte das vor mir aufpoppende Video genauer. Eine Frau in blumiger Schürze, strenger Körperhaltung und adrett gelocktem Haar steht am Küchentresen voller Backutensilien. Die Szene füllt das Bild auf meinem Handy. Ich bin neugierig und schaue etwas genauer hin. Der Algorithmus von Instagram hat inzwischen registriert, dass ich dem Video einen Moment zu viel Aufmerksamkeit gewidmet habe. Schon füllen ähnliche Videos von Tradwives meinen Feed.

Damals und heute

Die Videos erinnern mich an True Womanhood und Culture of Domesticity. Das waren Schlagworte aus der amerikanischen Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert, die kennzeichneten, wie eine wahre Frau zu sein hatte. Sie sei häuslich und der öffentliche Raum wurde ihr verwehrt. Geschichtsnarrative wiederholen sich. Die Gemeinsamkeit der Frauenbilder damals und heute: Ihre Hauptwirkungsstätte scheint ausschließlich häuslich zu sein. Doch eins ist heute anders: Obwohl die Frauen in den Videos sich im häuslichen Raum bewegen, bedienen sich einem riesigen öffentlichen und schnell zugänglichen Raum – dem medialen – um ihr Narrativ der wahren Frau zu verbreiten. Das zugrundeliegende Bild ist allerdings zutiefst patriarchalisch. Es geht um eine immer willige, stets schöne und nie erschöpfte Frau. Eine, die zuhause bleibt und dessen einziges Lebensglück das Wohl der anderen ist und die dabei die eigenen vier Wände in eine wohlige Heimat verwandelt.

Die Videos der Tradwives spielen mit Gegenüberstellung dualistischer Prinzipien einer schwarz-weißen Welt. Die Tradwife sei liebevoll, bescheiden und sogar schlank, weil sie zuhause gesund kochen könne. Eine Frau, die erwerbstätig ist, sei übergewichtig, da sie keine Zeit habe, sich gesund zu ernähren und habe einen schlechten Selbstwert. Diese selbsternannten fürsorglichen Frauen sind jedoch gar nicht so herzerwärmend wie ihre frisch aus dem Ofen gezauberten Cookies, sondern ziemlich hart – nämlich allen Frauen gegenüber, die eigene Wünsche und Bedürfnisse außer der Fürsorgearbeit ihrer Familie verspüren.

Mehr als Limonadenrezepte

Was ich als Paartherapeutin als sehr besorgniserregend empfinde, sind aber vor allem die Beziehungstipps der Tradwives. Es gibt nämlich nicht nur Cup Cake-, Limonaden- und Sauerteigrezepte im Angebot, sondern auch kostenfreie Beziehungstipps von diesen Frauen in ihren fluffigen Kleidern. Es sind Tipps für ein harmoniegeschwängertes Ehe- und Familienleben. Damit das gelinge, müsse Frau sich ihrer ureigenen Bestimmung als Hausfrau und Mutter zurückbesinnen. So zumindest das Postulat dieser Videos.

Das Ganze wird dann über Schuld- und Schammechanismen verstärkt, indem raffiniert moralisiert wird. Hierfür wird noch das Christentum hinzugezogen und Zitate aus biblischen Texten werden wie eine Collage zusammen geclustert. Dabei wird der ursprüngliche historisch-kulturelle Hintergrund ignoriert. Diese Textstellen werden so instrumentalisiert, dass vor allem Frauen ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie nicht diesem einen bestimmten Bild entsprechen.

Dieser Trend aus den USA, der auch nach Deutschland herübergeschwappt ist, arbeitet mit Stilmitteln der Übergeneralisierung. Dabei entbehren diese Gedanken und jeglicher therapeutischen Basis. Stattdessen werden hoch emotionalisiert die Beziehungstipps aus dem Ärmel beziehungsweise aus der Schürze geschüttelt. Sie tauchen plakativ als Texttitel in Videos auf, während kitschige Musik im Hintergrund läuft und um die Rührschüssel herumgetänzelt wird. Die Allgemeingültigkeit dieser Tipps wird dabei mit keiner Silbe hinterfragt. Perspektivvielfalt? Fehlanzeige!

Beziehungstipps der Tradwives im Faktencheck

Diese Frauen wissen angeblich, wie man Ehemänner glücklich macht. Dabei schreiben sich die Tradwives Ratschläge auf ihren Accounts jeweils ab. Drei Tipps tauchen interessanterweise immer wieder auf. Diese möchte ich mir genauer anschauen:

  • Die Tradwife empfiehlt, dass sich Frauen ihrem Mann immer frisch geschminkt, frisiert und fein angezogen präsentieren.

Sich für das Gegenüber frisch zu machen, ein Parfüm anzulegen, vielleicht auch mal das Oberteil zu tragen, von dem man weiß, dass der oder die andere es besonders schätzt, finde ich für Paarbeziehungen sehr achtsam, wärme-schenkend und entzückend. Aber dass hier Frauen im Grunde Frauen zu Objekten machen, finde ich empörend. Was für ein Druck, immer besonders herausgeputzt sein zu müssen und das mitten im Familienalltag, der doch oft mit kleinen Kindern unkontrollierbar und unvorhersehbar ist. Was auf Paarebene besonders problematisch ist, ist der Gedanke, sich nicht wahrhaftig zeigen zu können. Da wird etwas versteckt, nämlich die wuscheligen Haare und die verschwitzte Jogginghose. Solche Tipps nehmen einer intimen und vertrauten Beziehung die Natürlichkeit. Aber nicht nur das: Sie rauben auch das Gefühl tiefer Annahme. Denn ein wichtigstes Kriterium von Nähe ist, sich unbekümmert und frei so zu zeigen, wie man gerade ist.

  • Die Tradwife empfiehlt, sexuell großzügig zu sein.

Sexuelle Bedürfnisse im Blick zu haben, einander zu fragen, was der oder die gerade braucht, eine gemeinsame Sprache über das Sexualleben zu entfalten, sind wichtige Entwicklungsaufgaben eines Paares. Jede Frau befindet sich in unterschiedlichen Lebensphasen. Vielleicht ist gerade Wochenbettruhe angesagt oder womöglich ist das innere Nähekontingent durch Kinder, die gerade viel kuscheln wollen, bis zum letzten Tropfen ausgeschöpft. Möglicherweise ist der Alltag auch so stressig, dass für romantisch-lustvollen Sex gerade keine Kraft mehr da ist. Vielleicht liegt aber auch eine hormonelle Störung vor oder es gibt schwerwiegende traumatische Erfahrungen in Zusammenhang mit Sexualität. Einfach großzügig sein impliziert, dass fehlende Sexualität im Gegenzug emotionaler Geiz wäre. Diese Form der Unterstellung ist für keine Paarbeziehung konstruktiv. Ein hilfreicherer Tipp wäre, beide Teile des Paares zu ermuntern, sich über Wünsche und Fantasien auszutauschen.

  • Die Tradwife empfiehlt, morgens dem Ehemann Mittagessen für die Arbeit mitzugeben.

In vielen Videos sieht man Frauen, die noch vor Sonnenaufgang Fleisch anbraten und große Brotboxen richten. Gegenseitige Fürsorge, kulinarische Gelüste erfüllen, für den anderen, die andere mitdenken, einander überraschen und sich gegenseitig versorgen bringt viel Halt und Geborgenheit in Paarbeziehungen. Was diese Videos allerdings empfehlen, ist eine sehr einseitige Form der leiblichen Versorgung. Eine, bei der der Mann nicht mehr auf Augenhöhe bleibt, sondern eher auf die Kinderebene rutscht. Ich frage mich, wo hier das Elternpaar als Team ist, das die Kinder gemeinsam versorgt. Davon sehe ich in den Videos wenig. Für eine langfristig gesunde Beziehung ist es wichtig, dass Eltern miteinander kooperieren und nicht ein Teil das Gefühl hat, ein weiteres Kind versorgen zu müssen. Da braucht es Erwachsene, die selbstfürsorglich sind, was nicht bedeutet, dass auch gegenseitige Versorgung und Entlastung stattfinden kann.

Einen individuellen Weg finden

Was ich festhalten möchte: Als Paartherapeutin werte ich nicht die Verteilung von Care- und Erwerbsarbeit. Das ist nicht mein Auftrag. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass Kinder gute Bindungspersonen haben, die zuverlässig sind, und dass sie einen sicheren Lebensraum erfahren. Für mich ist entscheidend, dass beide Teile einer Partnerschaft sich in dem gesehen fühlen, was sie zum Familienleben beitragen. Für jedes Paar und jede Familie funktioniert etwas anderes. In meiner Arbeit und in meinem privaten Umfeld habe ich sehr viele unterschiedliche Paare kennengelernt. Alle geben ihr Bestes. Paritätische Partnerschaft kann man nicht pedantisch in stündlichen Tabellen ausmessen. Tabellen und Listen finden manche Paare hilfreich. Aber schlussendlich geht es darum, ob emotionale Prinzipien im Gleichgewicht sind. Beispielsweise, dass eine achtungsvolle Wertschätzung da ist oder dass das Gefühl der Gleichwertigkeit im Gleichgewicht ist.

Es ist hilfreich, wenn beide Teile des Paares sich mit Altersvorsorge beschäftigen und ein für sich gutes Modell ausarbeiten. Wenn ein Paar sich Rollen traditionell aufteilt, kann das für das Paar wunderbar funktionieren. Oft beobachte ich auch, dass Paare sich in Lebensphasen abwechseln. Mal ist der eine Teil mehr, mal der andere Partner erwerbstätig. Paarbeziehungen sind ein vertrauensvolles gegenseitiges Wechselspiel an Unterstützung. Das entscheiden Paare für sich. Hingegen ein rigides Bild zu malen, in dem Ehe und Familie nur nach einem Modell funktioniert, wie es die Tradwives in flatternden Röcken behaupten, streut rechtspopulistische Werte. Es ist ein Nährboden derer, die Frauen in ihrer Freiheit beschneiden wollen und stärkt die strukturelle Benachteiligung, die Frauen ohnehin schon erleben.

Ira Schneider arbeitet als Paartherapeutin. Ihr Ratgeber ,,Jeden Tag ein neues Ja“ ist im Juni erschienen. @ira.schneider_

Partnerschaft eintönig? Vielleicht ist es eine „Bierdeckelallianz“

Gleiche Hobbies, gleicher Freundeskreis, alles gemeinsam machen. Eine solche Partnerschaft wird irgendwann eintönig. Paarexperte Marc Bareth nennt das eine „Bierdeckelallianz“ und erklärt, wie neuer Schwung in die Partnerschaft kommt.

Herr und Frau Flückiger verbindet eine innige Beziehung. Sie haben jung geheiratet und sind nicht nur Ehepartner, sondern auch beste Freunde. Sie verbringen gerne ihre Freizeit zusammen und haben einen großen gemeinsamen Freundeskreis. Doch schleichend wurde die Partnerschaft eintönig.

Wie ein gedrosselter Sportwagen

Dennoch hat sich bei den Flückigers in den letzten Jahren eine gewisse Unzufriedenheit mit ihrer Partnerschaft breitgemacht. Frau Flückiger beklagt immer öfter, dass ihr Ehealltag eintönig sei. Sie vermisst das Neue, das Überraschende in ihrer Beziehung. Und Herr Flückiger empfindet seine Ehe zunehmend als anstrengend. Sie entzieht ihm Energie. Kürzlich hat er einem Freund anvertraut, dass er sich zu Hause wie ein Sportwagen fühlt, dessen Motor auf 80 km/h gedrosselt ist.

Eine solche Partnerschaft nenne ich eine Bierdeckelallianz. Sie sind wie zwei Bierdeckel, die sich aneinanderlehnen. Sie stützen sich gegenseitig und können dank dem anderen stehen. Sie brauchen einander, denn gemeinsam schaffen sie, was jeder für sich nicht schafft. Zwei aneinandergelehnte Bierdeckel sind aber auch voneinander abhängig. Keiner darf sich zu fest bewegen, verändern oder gar wachsen, sonst könnte das Ganze einstürzen.

Das erlebt das Ehepaar Flückiger. Weil beide nicht allein durchs Leben gehen können, klammern sie sich aneinander und suchen die Verschmelzung. Das führt dazu, dass sich ihr Leben zunehmend auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner abspielt. In der Freizeit machen sie nur noch das, worauf beide Lust haben. Lebensbereiche und Themen, zu denen sie unterschiedliche Ansichten haben, verdrängen sie.

Nähe und Freiheit

Der Preis dafür, ein Herz und eine Seele zu sein, ist, dass beide alle Eigenschaften und Interessen gekappt haben, die nicht mit denen des Partners übereinstimmen. Eine solche Beziehung ist eine falsch verstandene Art von Einssein. Sie führt zu den Symptomen, unter denen die Flückigers heute leiden: Langeweile, Stagnation, Leblosigkeit und Verkümmerung.

Ein gesundes Einssein ist keine Bierdeckelallianz, sondern lässt sich mit dem Bild zweier starker Bäume beschreiben, deren Kronen sich zu einem gemeinsamen Blätterdach verbinden. Es ist die volle Nähe zweier Menschen, die beide auch unabhängig voneinander im Leben stehen könnten. Es ist eine Nähe, die dem anderen Freiheit, Entwicklung und Veränderung zugesteht, weil dies für den fest verwurzelten und selbst stehenden Baum nicht bedrohlich ist. Der Weg zu mehr Lebendigkeit in der Partnerschaft besteht darin, in enger Verbindung mit dem Partner und trotzdem ganz bei sich selbst zu bleiben.

Wenn die Flückigers wieder mehr Lebendigkeit in ihre Beziehung bringen wollen, führt kein Weg daran vorbei, sich die eigene Individualität in kleinen Schritten zurückzuerobern. Dazu gehören zwei Seiten. Zum einen, sich zu trauen, den Partner nicht ständig zu schonen, sondern zu seinen Bedürfnissen zu stehen und sich selbst in seiner Andersartigkeit dem Partner zuzumuten. Und andererseits dem anderen eine eigene Meinung, andere Bedürfnisse und eine Entwicklung zuzugestehen, auch wenn sich das bedrohlich anfühlt.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter: familylife.ch/five

Liebevoll loben, ehrlich ermutigen – Das müssen Kinder hören

Worte schaffen Realität. Das gilt umso mehr im Umgang mit Kindern. Wie sprechen wir mit ihnen? Welche Bewertungen äußern wir? Vermitteln wir etwas Positives oder etwas Negatives? Pädagoin Stefanie Diekmann klärt darüber auf, was Kinder wirklich hören müssen.

Mitte der 90er: Geburtstagsfeier einer Tante. Ich habe noch keine Kinder. Ein kleiner Junge tobt und donnert dabei mit seinem Kopf so an den Tisch, dass die Schwarzwälder Kirschtorte schwankt. Die Mutter greift sich ihren Sohn und sagt: „Was hast du gerade im Kopf? Den Teufel!“ Ich zucke zusammen und ringe nach Worten. Auch wenn ich sonst vieles stehen lassen kann, werde ich wachgerüttelt: Unbedachte Worte und Bewertungen sind machtvolle Stempel für die Selbstwahrnehmung eines Kindes.

Wir Eltern reden viel – locker, fröhlich, angespannt oder zornig. Ich denke nicht immer vorher über das nach, was ich sage. Gerade im Umgang mit meinen Kindern habe ich erlebt, wie schnell Worte aus mir herauspurzeln. Deshalb ist es mir wichtig, ein Bewusstsein für die Kraft meiner Worte zu entwickeln. Denn jedes Wort bewirkt etwas!

Ermutigung lernen

Anna (alle Namen geändert) berichtet, wie sie als Kind fast unsichtbar war. Immer wieder stellt ihre Mutter sie anderen mit diesen Worten vor: „Anna ist so, dass man sie immer vergisst und übersieht!“ Wahrscheinlich ist es liebevoll gemeint, denn Annas Brüder sind laut und präsent. Erst mit 40 Jahren gönnt sich Anna schließlich eine Beratung, um zu verstehen, was sie so unscheinbar macht und welchen Einfluss die Worte ihrer Mutter hatten.

Natürlich erlangt nicht jede Aussage so eine hohe Bedeutung im Leben eines Kindes – zum Glück. Wir können nie wissen, welche Bemerkung, welches Lob oder welche Rüge im Kind Resonanz auslöst. Deswegen sollten wir sorgsam mit unseren Worten umgehen. Worte sind kraftvoll. Sie können schwächen oder stärken, motivieren oder demotivieren, trennen oder verbinden. Das Tolle ist: Worte können eingeübt werden. Jede Familie kann Ermutigung und Lob lernen. Wir können dabei bewusst auf unsere Sprache und unsere Wortwahl achten.

Wir können zum Beispiel zuhören, wie andere Eltern ihre Kinder loben oder wie Ehepartner über den anderen sprechen. Und reflektieren: Welche bewertenden Formulierungen nutze ich häufig? „Da warst du lieb!“ „Sei schön leise!“ „Stell dich nicht so an wegen der Beule am Kopf!“ „Du kannst wirklich nichts!“ Wenn wir uns das bewusst gemacht haben, können wir üben, die Sätze umzuformen: „Deine Unterstützung hat mir gutgetan.“ „Danke, dass du gerade still zuhörst.“ „Ich spüre, du hast Schmerzen.“ „Ich möchte gern herausfinden, was du besonders gut kannst.“

Liebe ohne Bewertungen

Manchmal hilft es, mir auszumalen, was meine Bewertungen konkret heißen. „Da warst du lieb!“: Wäre mir das Kind denn nicht lieb, wenn es sich anders verhielte? „Lieb sein“ wird in Verbindung gebracht mit „still sein und mich nicht fordern“ und vermittelt automatisch, dass ein Kind nicht lieb ist, wenn es mehr körperliche Aktivität oder Fragen mitbringt. In diesem Moment stellen wir uns unbewusst über das Kind, um ihm zu sagen, wie es zu sein hat. Jedes Kind hat ein großes Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Kinder wollen mit den Eltern zusammenarbeiten und ihnen gefallen. Sie strengen sich an, die Kriterien für unsere Bewertungen zu erfüllen – auch, wenn sie sich dafür verbiegen müssen. „Lieb sein“ kann aber auch bedeuten: „Ich habe dich immer lieb, egal wie dein Verhalten gerade ist.“ Diese Zusage, diese eine Liebesbekundung sollte nicht mit einer Rüge oder einem Lob verbunden sein.

Das Selbstvertrauen von Kindern ist so sehr von Lob abhängig, dass sie es permanent einfordern. Manche Kinder verhalten sich ständig so, dass sie anderen gefallen. Oder sie tun Dinge nur, um ein Lob zu bekommen.

„Sei schön leise!“: Hier legen wir unsere Bewertung von „schön“ auf das Kind. Wer sagt denn, dass leise sein „schön“ ist? „Stell dich nicht so an wegen der Beule am Kopf!“: Ich habe auch Momente, in denen mir etwas Schmerzen verursacht. Wie wohltuend, wenn jemand diese Schmerzen nicht wegredet. „Du kannst wirklich nichts!“: Solche Bewertungen wischen den Respekt vor dem Einzelnen weg. Unserem Kind dürfen wir das nicht zumuten.

„Das hast du toll gemacht!“ Hier dürfen wir fragen, ob unser Kind selbst zufrieden ist. Denn um dieses innere eigene Bewerten geht es im Lob. Unser Kind wird ein gesundes Ich-Gefühl entwickeln, wenn es nicht auf positive Bewertungen von außen angewiesen ist. Lob ist eine Einladung zum Austausch über die Wahrnehmung des Gelungenen und des Noch-nicht-Gelungenen.

Orientierung geben

Auch wir selbst sind mit Worten geprägt worden – vielleicht mit guten, vielleicht mit weniger guten. Gerade in turbulenten Alltags-Situationen kann es zu spontanen Äußerungen kommen, die den Tiefen unserer eigenen Erfahrung entspringen. Deshalb ist es wichtig, den eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern. Wie wäre es, eine Lobliste anzulegen? Es kann auch eine Liste werden, die eine Familie für sich erstellt: Was wertet mich auf? Was wärmt mich von innen? Was sagt Gott über mich?

Im Familienalltag bewerten wir uns ständig gegenseitig. Wir bewerten, indem wir ignorieren, Wohlwollen zeigen, mit den Augen rollen oder kommentieren. All das hilft unserem Kind, sich zu orientieren: „So ist mein Leben. Das finden meine Eltern wichtig.“ In manchen Familien, die ich berate, erlebe ich zu wenig Worte. Dabei sind Worte wichtiger Bestandteil zum Beispiel einer Mahlzeit: Wir hören zu, achten auf kleine Gesten der Höflichkeit und laden klar und liebevoll zum Sitzenbleiben ein. Worte leiten an und vermitteln ein Familiengefühl. Wir geben Kindern mit bewusst gewählten Worten Halt. Positive Äußerungen wie „Ich freue mich mit dir“, „Ich bin beeindruckt“ oder „Ich freue mich, wie stolz du bist“ bringen dem Kind Wertschätzung entgegen und stärken das Ich-Gefühl. Solche Worte rutschen tief ins Herz eines Kindes.

Positive Haltung

In einer Familie liegt schnell der Fokus auf Fehlern und dem, was „falsch“ läuft. Im Miteinander geht es aber nicht um Erfolg oder Misserfolg, sondern um eine wertfreie Begegnung miteinander und – in Familien mit christlichem Hintergrund – auch die Begegnung mit Gott. Wir dürfen den Sprachgebrauch unserer Erziehung hinterfragen und ersetzen und den Fokus auf die Fähigkeiten des Kindes oder die Möglichkeiten zur Unterstützung legen. Manchmal hilft es, den Teenager zu fragen: „Ich finde Erfolg nicht so wichtig. Wie geht es dir damit, wenn ich das nicht lobe?“ Unseren Sohn hat es beispielsweise verletzt, dass wir auf sein gelungenes Abitur nicht reagiert haben.

Wir können mit positiver Sprache eine positive Haltung fördern. Wir können zum Beispiel auf das Wort „falsch“ verzichten und lieber Alternativen oder Lösungswege anbieten. Anstelle von „Ach, Luisa, du hast ja schon wieder die Jacke falsch angezogen“ können wir sagen: „Schau mal, der Ärmel hängt da unten. Hier kannst du reinschlüpfen.“ Der Fokus liegt nicht auf dem Fehler, sondern wir bieten positive Unterstützung an. So entsteht eine ermutigende Atmosphäre.

Oft haben wir eine Bewertung im Kopf und im Herzen. Wir finden das Verhalten des Kindes zu laut oder sein Zögern zu ängstlich. Simone ärgert sich wiederkehrend über den fordernden Ton ihrer Tochter. Wenn Lenja in den Raum kommt, hat Simone oft den Impuls, zu fliehen oder zu meckern. Zunächst tauscht sie sich darüber mit ihrem Partner aus. So ein Austausch kann einen Perspektivwechsel bewirken, der den Zugang zum Kind verändert. Simone bekommt dadurch Orientierung über ihre eigenen Gefühle, sodass sie in der nächsten kritischen Situation statt eines Motzanfalls sagen kann: „Ich möchte gern mit dir reden. Aber wenn du mit mir in diesem Ton sprichst, macht mich das sauer.“ Simone wiederholt diesen Satz und findet heraus, dass es ihrer Tochter guttut, erst mal in den Arm genommen zu werden. Nun kann eine Wertschätzung ins Herz sacken.

Simone beschreibt in der Beratung: „Auch wenn das Kind meine Bemerkungen nicht hört, prägen sie doch die Wirklichkeit. Deswegen möchte ich mir zur Gewohnheit machen, gut über mein Kind zu sprechen. Gute Worte über andere verändern auch unsere Sicht auf sie und unsere Haltung ihnen gegenüber. Wir können aussprechen, was mit Gottes Hilfe in den Kindern Wirklichkeit werden kann und soll.“

Kraft und Segen

Johann ist erwachsen. Er berichtet von einer Mitarbeiterin in seiner Kirche, die immer wieder zu ihm gesagt hat: „Du wirst ein guter Leiter. Du hast Einfluss auf Menschen.“ Zu diesem Zeitpunkt hat Johann gestottert, er war zurückgezogen und schrullig. Tatsächlich aber sah die Mitarbeiterin, wie er sich um die neuen Kinder bemühte oder Jüngeren half. Johann hat sich in diese Idee, dass Gott ihm wunderbare Gaben geschenkt hat, hineingelebt und ist heute tatsächlich ein hingebungsvoller Gruppenleiter.

Worte haben Kraft. Wo Wunden entstanden sind, dürfen wir um Vergebung bitten. Wenn uns unser Kind herausfordert, können wir es segnen. Denn im Segnen liegt der unfassbar starke Blick, den Gott auf unser Kind hat. Ich lade euch ein zum liebevollen Loben und ehrlichen Ermutigen!

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und Pädagogin, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt in Göttingen.

Einsam im ersten Babyjahr: „Ich habe mich nach Gesellschaft gesehnt“

Den ganzen Tag mit dem Baby zusammen und dennoch einsam? Was paradox klingt, ist für manche Mütter und Väter im ersten Babyjahr leider Realität. Trotz Krabbelgruppen und Co fühlen sie sich einsam. Wie sie damit umgehen berichtet Lisa-Maria Mehrkens.

Das Einsamkeitsbarometer des Deutschen Familienministeriums von 2024 listet die Erziehung und Betreuung minderjähriger Kinder als „erhöhte Einsamkeitsbelastung“ auf. Als Eltern habe man weniger Zeit, soziale Kontakte zu pflegen. Vor allem im Coronajahr 2020 fühlte sich rund ein Drittel aller Eltern einsam, 2021 waren es noch über 12 Prozent, bei Alleinerziehenden sogar 16 Prozent. Im Internet findet man viele Berichte von Müttern, die sich mit Baby zu Hause einsam fühlen. Vor allem dann, wenn der Partner viel arbeitet oder Freunde und Familie weiter weg wohnen.

Auch ich habe mich in der Elternzeit sehr oft nicht nur allein, sondern einsam gefühlt. Mir fehlte der Austausch mit Erwachsenen. Zu Hause allein mit Baby war mir oft langweilig. In Spiel- und Krabbelgruppen fühlte ich mich aufgrund der oft so unterschiedlichen Erziehungsstile selten wirklich wohl. Sozialkontakte aus der Zeit vor den Kindern brachen teilweise weg, weil die Lebensentwürfe, Themen und Zeitpläne zu verschieden waren. Da ich nebenbei freiberuflich weiterarbeitete, ging mein Themenfeld über Gespräche über Babythemen hinaus, womit viele meiner Mama-Bekanntschaften nichts anfangen konnten.

Ich wollte Zeit mit meinem Kind verbringen und brauchte gleichzeitig auch Zeit für mich allein und meine Arbeit. Diese Zerrissenheit führte zu ständigen Schuldgefühlen, weil ich weder ganz in der einen noch in der anderen Welt war. Ich war verunsichert und fragte mich, was mit mir nicht stimmte, dass ich die Elternzeit nicht so genießen konnte, wie scheinbar alle anderen Mütter um mich herum. Später stellte ich fest, dass es vielen Müttern ähnlich ging – nur sprach kaum jemand offen darüber.

Nicht allein, aber einsam

Das Gefühl von Einsamkeit im ersten Babyjahr scheint ein Tabuthema zu sein. Keine Mutter – oder kein Vater – gibt gern zu, dass die Gesellschaft des Babys nicht immer reicht. Und dennoch kennen die meisten dieses Gefühl wahrscheinlich. So wie Sara. Als die rund einjährige Elternzeit mit ihrem Sohn begann, ging ihre zweieinhalbjährige Tochter in den Kindergarten. Sara und ihr Mann waren gerade in ein Haus auf einen ehemaligen Bauernhof zur Familie gezogen.

Vor der Elternzeit hatte Sara viele soziale Kontakte und ging gern zur Arbeit. Doch ihr Sohn schlief sehr schlecht, wachte nachts stündlich auf, weinte tagsüber viel. Der monatelange Schlafmangel erschöpfte Sara. „Ich war so müde, ich konnte weder Freunde treffen noch Babykurse besuchen. Nicht mal einkaufen war möglich“, sagt sie über ihren Zustand damals. Trotz der Unterstützung von Mann und Mama fühlte sich Sara überfordert und einsam. „Es war schwierig, die Verantwortung und Belastungen die meiste Zeit des Tages nicht teilen oder sich darüber austauschen zu können“, erzählt sie.

Während andere Eltern vom schönen ersten Babyjahr schwärmten, konnte Sara dieses Empfinden nicht teilen. Manche Freundinnen und Freunde reagierten mit Unverständnis, andere zeigten keinerlei Reaktion, wenn sie von ihren Problemen erzählte. Einige brachen den Kontakt sogar ab. Nur ein paar wenige zeigten sich empathisch, verständnisvoll und interessiert. Vor allem kinderlose Menschen können das Gefühl von Einsamkeit in den ersten Babymonaten nur schwer nachvollziehen – wie kann das denn sein, wo man doch den ganzen Tag mit einem kleinen Menschen zusammen ist?!

Doch Einsamkeit ist nicht mit Alleinsein zu verwechseln. Einsamkeit ist subjektiv. Das Einsamkeitsbarometer beschreibt Einsamkeit als „wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Erwartungen an soziale Beziehungen und den tatsächlich vorhandenen Beziehungen“, sowohl bezogen auf die Anzahl als auch Qualität der Sozialkontakte. Es gibt Menschen, die von außen betrachtet in ein großes soziales Netzwerk eingebunden sind und sich dennoch einsam fühlen. Und es gibt Menschen, die oft allein sind, ohne darunter zu leiden. Auch Sara kennt das Gefühl, einsam, aber nie allein zu sein: „Ich habe mich nach Gesellschaft gesehnt und gleichzeitig nach Zeit, mal wirklich allein für mich zu sein. Ich war zerrissen zwischen mehreren Herzenswünschen“, erinnert sie sich.

Sehnsucht nach Austausch

Natürlich empfindet es nicht jedes Elternteil so. Manche schaffen es, ihre früheren Sozialkontakte aufrechtzuerhalten oder in Spielgruppen neue zu finden. Bei manchen leben Eltern und Geschwister im gleichen Ort. So wie bei Tabea und Linda. Tabea ist seit rund zehn Monaten in Elternzeit mit ihrem ersten Kind. „Ich bin sehr gern zu Hause, es macht mir viel Freude und ich habe viel Spaß mit meiner Tochter“, sagt sie. Vor allem die ersten vier Monate nach der Geburt war sie froh, die Zeit mit ihrer „pflegeleichten Tochter“ ohne Verpflichtungen oder Termine genießen zu können. Wenn sie sich nach Austausch sehnt, besucht sie ihre Geschwister oder Eltern, die nur wenige Gehminuten entfernt wohnen. Eine Freundin mit einem gleichaltrigen Kind wohnt im Nachbarort. Tabeas Schwägerin war ihre Hebamme und ist jetzt selbst schwanger.

Die vielen Kontakte sind „ein großer Segen“ für Tabea. Auch in ihrer Gemeinde ist sie tief verwurzelt, ihr Mann und sie arbeiten bei den Konfirmanden mit. Demnächst wollen sie dort in einen Spielkreis gehen. Aber eine Sache fehlt Tabea: eine Austauschgruppe für Mütter. „Vor allem zu Beginn hätte ich mir eine Online-Austauschgruppe gewünscht“, sagt sie. So hätte jede Mama entspannt mit Baby zu Hause bleiben und sich gleichzeitig über eigene Herausforderungen austauschen können. Leider gab es eine solche Gruppe nicht. „Beim nächsten Kind werde ich es selbst in die Hand nehmen und eine Gruppe gründen“, plant Tabea.

Als Lindas erster Sohn geboren wurde, war ihr Mann als Austauschpartner noch oft zu Hause. Das gab ihr zudem die Zeit, Elterngruppen für neue Kontakte zu finden. Einige Mütter kannte sie bereits aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Später kamen Bekanntschaften aus dem Mutter-Kind-Kreis ihrer Gemeinde hinzu. „Ich war also Gott sei Dank von Anfang an recht gut sozial eingebunden“, erinnert sie sich. Deshalb fühlte sie sich nicht einsam, jedoch oft „alleingelassen mit meinen Fragen und Sorgen“. Die vielen unterschiedlichen Ansichten der anderen Mütter verunsicherten sie. Sie wünschte sich ehrlichen Austausch und gegenseitige Unterstützung. „Ich habe lange nach jemandem gesucht, bei dem ich mich mit meinen Unsicherheiten gut aufgehoben fühle und der mir hilfreich zur Seite steht, ohne mich zu belehren und zu sagen, was richtig und was falsch ist“, sagt Linda. Selbst sozial gut eingebundenen Eltern fehlt es also manchmal in der Elternzeit an ehrlichem Austausch auf Augenhöhe.

Wege aus der Einsamkeit

Was hilft nun also, aus der Einsamkeit herauszukommen? Nicht jeder kann auf die Unterstützung von Freunden oder Familie in der Nähe bauen. Wer vor der Geburt des Babys noch kein gutes soziales Netzwerk hatte, kann Krabbelgruppen, Spielplatztreffen und Co dazu nutzen, um neue Bekanntschaften zu finden. Aktivitäten gemeinsam mit dem Kind wirken der Einsamkeit entgegen, weil man vielleicht neue Bekannte mit gleichen Interessen findet. Nebenbei stärken sie die Bindung zum Kind. Das können Sportkurse sein sowie Kreativ- und Musikangebote, bei denen Babys und Kleinkinder willkommen sind. Du hast keine Gruppe, die dir gefällt, in deiner Nähe? Dann gründe wie Tabea selbst eine – vielleicht in deiner Gemeinde – und mach Werbung dafür, um Gleichgesinnte zu finden. Für alle, die sich dazu nicht überwinden können oder sich wie ich in solchen Gruppen nicht wirklich wohl fühlen, sind vielleicht Online-Foren zum Austauschen eine gute Idee.

Falls du neben dem Elternsein noch einen weiteren Lebenssinn suchst: Auch Ehrenämter sind mit Baby und Kleinkind möglich. Zum Beispiel Besuche bei Senioren in der Gemeinde oder einem Altenheim, die etwa der Besuchsdienst des Roten Kreuzes vermittelt. Die meisten Senioren freuen sich über kleine Kinder! An besonders schlechten Tagen habe ich es nicht geschafft, meine Einsamkeit zu überwinden und persönlich nach Kontakten zu suchen. Dann half es mir, meinen Partner einzubinden. Teilweise hat er dann bei befreundeten Familien angefragt und als ersten Schritt ein Treffen zwischen uns Frauen oder Mamas organisiert. Auch der Glaube kann eine große Stütze sein. Sara sagt, Gott habe in dieser schwierigen Zeit mit ihr „das Leben aufgearbeitet, wie es sonst nie möglich gewesen wäre“. Es half ihr zu wissen, „dass da jemand ist, der mich hält und sieht, auch in den dunkelsten Stunden und allein im dunklen Schlafzimmer“.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

Sexualisierte Gewalt an Kindern: Expertin gibt Tipps zur Prävention

Wie lernen Kinder, die Grenzen körperlicher Nähe wahrzunehmen und zu benennen? Und wie kann man Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen? Im Interview gibt Präventionsexpertin Agota Lavoyer Tipps, worauf Eltern achten sollten.

Wann würdest du beginnen, mit Kindern über körperliche Nähe und Grenzen zu sprechen?

Agota Lavoyer: Darüber kann man sehr früh mit Kindern sprechen, sobald man ihnen auch andere Dinge erklärt. Als Eltern bekommt man ja mit, wie viel Nähe ein Kind mag. Diese Beobachtungen sollte man unbedingt aufgreifen und dem Kind beibringen, dass sein Körper ihm gehört und es selbst darüber entscheiden darf. Als Erwachsene ist es wichtig, uns bewusst zu machen: Auch Kinder haben Grenzen. Diese Erkenntnis ist relativ neu in unserer Gesellschaft, weil wir von einer Pädagogik kommen, in der körperliche Gewalt ganz normal Teil der Erziehung war. Viele sträuben sich noch dagegen, Grenzen von Kindern genauso zu achten wie von Erwachsenen.

Kein öffentlicher Gegenstand

Ja, da wird schnell mal ungefragt einem Kind über den Kopf gestreichelt, auch von fremden Personen. Was kann ich als Elternteil in so einem Fall tun?

Am wichtigsten finde ich, dem Kind die Rückmeldung zu geben: Das ist nicht okay. Der Kopf eines Kindes ist kein öffentlicher Gegenstand, der einfach berührt werden darf. Diese klare Haltung seiner Eltern gibt dem Kind Sicherheit, selbst zu bestimmen, wie viel Nähe es zulassen möchte. Und wenn man solche Vorfälle im eigenen Umfeld immer wieder thematisiert, sensibilisiert das auch diejenigen, die so etwas vielleicht selbst manchmal tun.

Wie können wir als Eltern unser Kind noch darin stärken, eigene Grenzen zu kommunizieren?

Ich finde es gut, sich bei alltäglichen Dingen wie Umarmungen oder Küssen immer mal rückzuversichern, ob unser Kind das noch mag oder ob es vorher gefragt werden möchte. Wenn wir dem Kind unsere eigenen Grenzen vorleben, lernt es, dass es normal und in Ordnung ist, diese auch zu kommunizieren.

Grenzen einhalten

Ich habe mich mal überwunden, einem Verwandten zu sagen, dass ich das Gefühl habe, mein Vierjähriger möchte nicht jedes Mal gekuschelt werden und dass er ihn vorher fragen soll. Er geht nun sehr achtsam mit dem Kind um. Und mein Sohn fühlt sich ernst genommen und sucht von sich aus viel Nähe zu diesem Verwandten.

Das ist ein schönes Beispiel. Als Eltern müssen wir uns darüber bewusst sein: Wir sind dafür zuständig, dass die Grenzen unserer Kinder gewahrt werden. Ein Kind ist in den meisten Fällen überfordert damit. Ich finde es wichtig, Kindern in diesem Zusammenhang auch beizubringen: „Du musst niemals Nähe oder Zärtlichkeit erdulden, um Liebe, Aufmerksamkeit oder ein Geschenk zu bekommen.“ Es ist in der Gesellschaft noch nicht selbstverständlich, über körperliche Grenzen zu sprechen. Ich bin zuversichtlich, dass sich das in der Zukunft ändern kann. Unsere Kinder können wir von Anfang an sprachfähig machen.

Jetzt haben wir viel über Grenzen gesprochen. Wieso ist es so wichtig, Kinder auch konkret über die Gefahren sexualisierter Gewalt aufzuklären?

Das Ausmaß an sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern ist enorm – etwa jedes siebte Kind ist betroffen –, doch viele Kinder haben keine Ahnung, was sexualisierte Gewalt ist. Wir klären sie selbstverständlich über die Gefahren im Straßenverkehr oder von Feuer auf. Auch über sexualisierte Gewalt sollten wir unaufgeregt mit ihnen ins Gespräch kommen. Das ist für viele Erwachsene schwierig, weil sie diese Gespräche mit ihren Eltern selbst nicht erlebt haben. Doch um Übergriffe erkennen und mit uns darüber sprechen zu können, müssen Kinder wissen, was okay ist und was nicht.

Klare Sprache

Ich habe von dem Beispiel gehört, dass ein Kind von den sexuellen Übergriffen durch seinen Großvater erzählt hat: „Der Opa fährt immer den Traktor in die Garage.“ Weshalb ist es so wichtig, die Körperteile im Intimbereich korrekt zu benennen?

Einerseits stärkt es die Selbstwirksamkeit und das Körpergefühl, wenn ein Kind weiß, wie Körperteile heißen, und andererseits macht es Kinder sprachfähig. Das gilt für sexualisierte Gewalterlebnisse in der Kindheit und ist genauso wichtig für die schöne Seite von Nähe, um Bedürfnisse äußern und Konsens herstellen zu können. In meinem Umfeld erlebe ich: Wenn Kinder mit den Begriffen Vulva, Vagina und Penis aufwachsen, sind das normale Worte für sie.

Fast alle Täter und Täterinnen stammen aus dem nahen Umfeld. Was können Eltern tun, um Übergriffen vorzubeugen?

Potenzielle Tatpersonen werden abgeschreckt, wenn sie miterleben, dass offen über Grenzen gesprochen wird und die Kinder darüber Bescheid wissen. Ich würde auch in allen Einrichtungen und Vereinen, die mein Kind besucht, nachfragen, ob es ein Schutzkonzept für sexualisierte Gewalt gibt und wie mit Grenzverletzungen umgegangen wird. Oder auch, was dafür getan wird, damit es nicht zu grenzverletzendem Verhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern kommt und wie mit grenzverletzendem Verhalten unter Kindern umgegangen wird. Wenn man das beim Elternabend fragt, werden auch die anderen Eltern sensibilisiert. Außerdem finde ich es enorm wichtig, dass Lehrpersonen sich mit diesen Themen beschäftigen und mit den Schülerinnen und Schülern darüber sprechen. Niemand kann dafür sorgen, dass alle Eltern mit ihren Kindern über Grenzen und Grenzverletzungen sprechen, doch in die Schule müssen alle Kinder gehen.

Sexualisierte Gewalt: Fragen stellen und zuhören

Und wie können Eltern ihr Kind ermutigen, von grenzverletzendem Verhalten zu erzählen?

Ich habe lange in der Opferberatung gearbeitet und viele Erwachsene gefragt, was sie als Kinder gebraucht hätten, um darüber zu sprechen. Neben der Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, haben nicht wenige gesagt: „Es hat nie jemand gefragt.“

Gerade wenn wir uns um ein Kind Sorgen machen, weil es sich verändert hat, oft traurig ist oder schlecht schläft, stellen wir dem Kind viele Fragen, wie: „Wirst du gemobbt, hast du Probleme in der Schule oder mit den Freunden …?“ Ich finde es wichtig, auch immer mal wieder zu fragen: „Ist dir schon mal jemand zu nahe getreten, hat dich im Intimbereich berührt oder dir eine sexualisierte Nachricht geschickt?“

Je alltäglicher diese Themen in einer Familie sind, desto einfacher ist es, darüber zu sprechen.

So helfen Eltern betroffenen Kindern

Angenommen, mein Kind erzählt mir von einem Vorfall, wie soll ich als Elternteil reagieren?

Unsere Reaktion ist für die Verarbeitung des Kindes sehr ausschlaggebend. Mein wichtigster Rat ist, in dem Moment zu versuchen, ruhig zu bleiben, dem Kind zuzuhören, es ernst zu nehmen und nichts zu überstürzen. Dem Kind immer die Rückmeldung zu geben: „Ich finde es stark, dass du mir das erzählt hast. Vielen, vielen Dank!“

Idealerweise schreibt man wortwörtlich auf, was das Kind erzählt hat. In den meisten Fällen ist man emotional so aufgewühlt, dass man schon am nächsten Tag nicht mehr genau weiß, was das Kind erzählt hat. Priorität Nummer eins ist: das Kind vor Begegnungen mit der mutmaßlichen Tatperson schützen. Es ist okay, wenn das Kind für ein paar Tage mal nicht in die Schule geht. Wir sollten die Tatperson auf keinen Fall direkt mit der Tat konfrontieren. Ich rate immer, sich unbedingt Hilfe von Fachpersonen zu holen. Es gibt keine pauschale Handlungsstrategie für sexualisierte Gewalt, sondern die Fachleute werden jeden Fall genau anschauen und individuell raten, was zu tun ist. Es gibt sehr viele gute Stellen, an die man sich wenden kann, auch telefonisch oder per Chat.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anna Koppri.

Anlaufstellen

Nummer gegen Kummer für Eltern (D):
0800 111 0 550

hilfe-portal-missbrauch.de

Zur Hoffnung erziehen: Diese Botschaft müssen Kinder hören

Was hilft uns, wenn alles scheinbar den Bach runtergeht? Wie können wir unsere Kinder zur Hoffnung erziehen? Erziehungsexpertin Daniela Albert rät: Wir können den Herausforderungen nur gemeinsam begegnen.

Beim Konsumieren meiner Eltern-Bubble in Social Media bin ich in den letzten Jahren immer wieder an meine Grenzen gekommen. Ich folge vielen Müttern und Vätern, die sich für die Belange dieser Welt engagieren – in der Klima­bewegung, in politischen Parteien, NGOs oder in christlichen Werken und Organisationen. Alle haben sie gemeinsam, dass sie für ihre Themen brennen, sie immer wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken und für Entwicklungen sensibilisieren, die ich sonst sicher nicht mitbekommen oder nicht in diesem Maße durchdringen würde. Mir gefällt das. Ich mag Menschen, die meinen Horizont erweitern und sich sinnvoll einbringen. Das macht Hoffnung.

Auf Halt angewiesen

Doch in vielen Bereichen, in denen man sich für Gottes Welt einsetzen kann, herrscht gerade eine eher schwierige Stimmung, weil unser Planet durch eine krisenhafte Zeit geht. Und so finde ich in besagten Profilen leider auch eine zunehmende Lust am Untergang. Wenn Menschen ihre Themen platzieren, dann gern aus Sicht des schlimmstmöglichen Ausgangs. Wir sehen das bei der Klimakrise, wir konnten es in teilweise verstörendem Maß seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wahrnehmen, und während ich das schreibe, sind nicht wenige davon überzeugt, dass in den USA das Ende der Demokratie bevorsteht. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir offenbar alle Teil eines riesigen Sozialexperiments namens „Smartphone“ sind, das unsere Kinder und Jugendlichen in bisher ungeahntem Maß dauerhaft schädigen wird.

Wow! Geht es auch eine Nummer kleiner? Besonders wenn diejenigen, die den Weltuntergang beschwören, nebenbei auch Kinder betreuen. Denn gerade sie sind doch darauf angewiesen, dass sie von Erwachsenen begleitet werden, die ihnen Halt und Hoffnung geben. Und die nicht mit der Einstellung umherlaufen, dass wir unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuern. Schließlich wollen wir, dass die kommenden Generationen den multiplen Krisen, in die sie hereinwachsen, etwas entgegensetzen können. Doch wie geht das eigentlich? Wie werden Kinder stark und resilient? Wie können sie sich zu Menschen entwickeln, die sich mutig den Herausforderungen stellen, statt sich ängstlich zurückzuziehen? Ich bin der festen Überzeugung: Dafür brauchen sie Eltern, die ihnen Hoffnung vermitteln.

Ein erster Schritt zur Hoffnung

Wenn Krisen – globale oder persönliche – in unser Leben treten, fühlen wir uns oft erst mal machtlos. Wichtig ist es, nicht in diesem Zustand zu verweilen, sondern zu schauen, was wir selbst tun können, um die Situation zu verändern. Dabei kann es oft nicht darum gehen, ein Problem umfassend zu lösen. Gerade die globalen Themen sind dazu viel zu komplex. Selbst private Krisen lassen sich meist nicht mit einem Fingerschnipp beseitigen. Aber irgendwas geht immer: ein erster Schritt, eine kleine Erleichterung, ein schöner Moment inmitten von Schmerz, Wildblumensamen, die neben sterilen Gärten ausgestreut werden. Und all solche Schritte mögen klein – vielleicht sogar sinnlos – erscheinen. Sie sind es aber nicht. In der Rückschau auf persönliche Krisen, die ich erlebt habe, ist mir das bewusst geworden. Den Unterschied hat am Ende die Ansammlung von vielen kleinen, für sich genommen scheinbar unwichtigen Dingen gemacht. Wie eine Patchworkdecke fügen sie sich zusammen zu etwas, das die Macht hat, Geborgenheit zu geben und Kälte draußen zu halten.

Wenn Kinder einen kleinen Anteil zur Bewältigung einer Krise leisten dürfen, erleben sie Selbstwirksamkeit. Und das ist eine der wichtigsten Erfahrungen, wenn es um die Bewältigung von Herausforderungen geht. Unsere Aufgabe ist es, die Stellen, an denen sie etwas bewirkt haben, für sie auch sichtbar zu machen. Denn oft fühlen sie sich weiterhin klein. So haben die ausgestreuten Blumensamen vielleicht nicht die Macht, den schlechten Nachrichten über Klimakatastrophen etwas entgegenzusetzen. Doch wenn wir den Kindern an einem Frühsommermorgen zeigen, wie viel Leben sich zwischen diesen Blüten tummelt, ist das doch ziemlich beeindruckend. Der schwerkranke Opa wird vielleicht nicht wieder gesund, wenn man ihn besucht. Doch wir können das Augenmerk der Kinder darauf richten, dass wir ihm inmitten von all der Schwere eine Freude machen konnten.

Wir sind nicht allein

Neben der Erfahrung, selbst etwas an der Situation verändern zu können, brauchen Kinder eine zweite wichtige Sicherheit: Dass es Menschen gibt, auf die sie sich verlassen können. Oft fühlen wir uns in Krisen alleingelassen, haben das Gefühl, dass das Anliegen, für das wir uns engagieren, von anderen kaum beachtet wird. Und überhaupt denken die meisten doch vor allem an sich, oder? Nein – das ist nicht wahr! Bei all dem Schlechten, das wir in den Nachrichten sehen oder uns von anderen berichtet wird, geht oft eines unter: Die meisten Menschen sind bereit, sich um andere zu kümmern und tun das auch, wenn es hart auf hart kommt.

Wir lesen immer wieder Geschichten von Notfällen, bei denen keiner zu Hilfe gekommen ist. Doch das liegt nicht etwa daran, dass alle immer ignoranter werden, sondern daran, dass so etwas selten vorkommt. Deshalb berichten Medien darüber. All die anderen 1.000 Notfälle, bei denen sofort helfende Hände da waren, schaffen es seltener in die Nachrichten, weil sie selbstverständlich sind – und keine Schnappatmung und somit weniger Klicks im Internet auslösen. Wenn wir unsere Kinder also zu hoffnungsvollen und mutigen Menschen erziehen wollen, können wir darauf achten, dass wir ihnen die guten Geschichten erzählen – die, in denen Menschen einander etwas Gutes tun, sich helfen. Und nicht zuletzt finde ich es, neben dem Vertrauen in sich und in andere, unfassbar hilfreich, dass unsere Kinder mit dem Glauben an einen Gott heranwachsen, der uns sogar Hoffnung über dieses Leben hinaus schenkt.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin, Eltern- und Familienberaterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Kaufungen und bloggt: eltern-familie.de. In ihrem Buch „Was trägt? Was zählt? Was bleibt?“ (Neukirchener) gibt sie weitere Anregungen zum Thema.