Vater sein – Hirnforscher erklärt: Das brauchen Kinder von ihren Vätern

Vater sein ist nicht nur eine Aufgabe oder eine Rolle, sondern eine innere Haltung. Star-Hirnforscher Gerald Hüther erzählt im Interview, warum Kinder von ihren Vätern bedingungsloses Interesse brauchen.

Im Kindergarten und der Grundschule werden Kinder mehrheitlich von Frauen betreut. Sind Männer verzichtbar geworden?

Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um sich zu orientieren. Da Frauen und Männer unterschiedlich sind, fehlt ein wesentliches Gegenüber für eine gesunde Rollenbildung, wenn kein Mann da ist. Jungen und Mädchen müssen aber ein inneres Bild von dem entwickeln, was männlich und was weiblich ist. Mannsein lerne ich eben nicht aus dem Internet, dem Fernsehen oder aus Büchern. Und wenn die Kinder keinen Mann erleben, wachsen sie mit einem echten Erfahrungsdefizit auf.

Vater sein – eine besondere Bedeutung

Hier kommt besonders der Vater ins Spiel. Worin sehen Sie die Bedeutung von Vätern?

Wir haben zwei verschiedene Geschlechter und eine bestimmte Erfahrungswelt für Frauen und Männer in unserer Gesellschaft. Und die einzige Notwendigkeit, die ich als Hirnforscher sehe, ist, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen mit vielfältigen Menschen zu machen. Es gibt eine ganze Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass Väter und Mütter unterschiedlich auf Kinder reagieren und ihnen damit auch andere Möglichkeiten bieten. Wenn zum Beispiel ein Kind auf dem Spielplatz von der Schaukel fällt, nimmt die Mutter das Kind auf den Schoß, tröstet es und setzt es dann woanders hin. In die Sandkiste zum Beispiel, wo es nicht mehr runterfallen kann.

Bei Vätern beobachtet man häufiger, dass sie das Kind nehmen, es trösten und es wieder zurück auf die Schaukel setzen. Und das ist eine völlig andere Erfahrung für ein Kind. Nämlich, dass es ein Problem gab, aber dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es vermeidet, sondern dass man sich dem Problem stellt. Es mag sein, dass Männer das leichter können, und so mag es eine ganze Reihe von anderen Dingen geben, die ein Vater dem Kind besser vermitteln kann. Und das gilt eben nicht nur für Jungs, die natürlich ein männliches Vorbild brauchen, sondern das gilt in gleicher Weise auch für Mädchen. Auch Mädchen brauchen ihre Väter.

Was macht für Sie einen richtig guten Vater aus?

Ich fürchte, dass es keine richtig guten Väter gibt, sondern dass jeder Vater versuchen kann, es so gut wie möglich zu machen. Und es gibt Väter, die sich selbst darüber bewusst sind, dass sie für ihre Kinder ein Rollenmodell bieten. Kinder lernen von Vorbildern, und Jungs lernen von ihrem Vater, was männliche Identität bedeutet und bekommen damit einen Maßstab und eine Orientierung, die ihnen oftmals für das ganze Leben lang bedeutsam ist. Das war und ist aber nicht immer gegeben. Daher wäre es gut, wenn Väter sich noch stärker darüber bewusst würden, welche bedeutsame Rolle sie spielen und wie sehr ihr Vorbild ihre Kinder auf ihrem Weg prägt.

Aber nicht nur die Jungs, sondern die Mädchen in gleicher Weise. Denn wir sehen auch in vielen Studien, dass Mädchen ihre spätere Partnerwahl sehr stark unter dem Einfluss der Erfahrungen treffen, die sie mit ihrem eigenen Vater gemacht haben. Manche suchen sich einen, der so ähnlich ist wie der Vater, andere suchen einen, der sich in ihren Augen sehr stark von ihrem Vater unterscheidet. Väter sind also Rollenmodelle für Söhne, wie sie als Väter leben. Und Töchter sollten an ihrem Vater sehen können, wie ein Mann wertschätzend mit einer Frau umgeht und was man von einem Mann erwarten sollte. Und sie leben vor, wie Partnerschaft aussieht.

Anspruch und Wirklichkeit

Als Vater versuche ich natürlich, meine Sache gut zu machen. Trotzdem scheitere ich oft genug an meinen Ansprüchen. Ich möchte liebevoll sein und doch reagiere ich über. Was kann ich tun, um ein besserer Vater zu sein?

Vielleicht ist es hilfreich, erst mal zu fragen, weshalb es so oft nicht gelingt. Das hat etwas mit Affekten zu tun, die wach werden, wenn man als Vater mit bestimmten Verhaltensweisen des Kindes konfrontiert wird. Das kann wie ein Trigger wirken, der im eigenen Gefühlsleben bestimmte Emotionen und Affekte erzeugt, die so stark sind, dass man plötzlich nicht mehr Herr seiner Handlungen ist. Und dass man plötzlich in dieser übererregten Situation – neurobiologisch nennen wir das Frontalhirndefizit – kopflos reagiert.

Aus dem Affekt heraus tut man Dinge, die man sonst nicht machen würde. Das passiert vor allem dann, wenn man in engen emotionalen Bindungen steht. Also mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner. Was notwendig wäre, um nicht im Affekt zu reagieren: Zählen Sie erst mal bis zehn und dann denken Sie nochmal kurz nach und dann handeln sie. Wer sofort aus dem Affekt heraus handelt, kann nicht umsichtig und liebevoll mit seinem Kind umgehen. Das wären die praktischen Tipps.

Als Vater ein Vorbild zu sein, ist nicht immer leicht. Die Rollen im Beruf, in der Familie, in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Wie kann man das Mann- und Vatersein da leben?

Als Mann muss man sich über die verschiedenen Rollen bewusst sein. Die Gefahr ist groß, von der Gesellschaft verführt zu werden, irgendwelche Rollen spielen zu wollen, um Anerkennung zu bekommen. Es ist schlecht, wenn ein Mann, dem dieses Theaterspiel selbst nicht klar ist, Kinder erzieht, egal ob Jungs oder Mädchen. Wer das selbst nicht durchschaut, identifiziert sich dann auch allzu leicht mit seiner Rolle. Den Kindern so ein Rollenspiel vorzuleben, kann dazu führen, dass auch sie versuchen, irgendwelche Rollen zu spielen, und sich dabei selbst fremd werden.

Jetzt könnte man versuchen, diese Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, zu hinterfragen und sich nicht mit dieser Rolle zu identifizieren. Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, dann sage ich eben nicht: Ich bin Professor für Neurobiologie. Sondern: Ich bin Gerald Hüther, der sich auf irgendeine Art und Weise darum bemüht, im Leben zurechtzukommen. Das ist ein ganz anderes Selbstbild. Und dieses andere Selbstbild, dass ich, wie alle anderen, suchend und fragend unterwegs bin, wäre als Grundhaltung dann auch für die Kinder großartig.

Dadurch ist man nicht der Besserwisser und der Alleskönner, der die Kinder zum Objekt seiner Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen macht. Sondern man outet sich als einer, der auch nicht weiß, wie es geht. Man kann dem Kind auch offenbaren, dass man ein fehlbarer Mensch ist, der sich Mühe gibt und es versucht, so gut wie möglich zu machen. Hier ist der Erwachsene, ob Mutter oder Vater, nicht mehr die Führungsfigur, die das Kind erzieht und belehrt und ihm alles beibringt.

Solche Eltern werden ihr Kind in seiner ganzen Einzigartigkeit so annehmen, wie es ist. Sie werden nicht versuchen, aus diesem Kind etwas zu machen, wovon sie glauben, dass es darauf ankäme oder günstig wäre. Und das ist die wirkliche Definition von Liebe, nämlich das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Geliebten. Das halte ich im Augenblick für die wichtigste Botschaft, die wir an Väter weitergeben können: Kein Rollenspieler, sondern ein authentischer Mann zu sein. Natürlich brauchen Kinder auch Führung, Halt und Orientierung. Aber was sie nicht brauchen, ist jemand, der autoritär sagt, wie das Kind zu sein hat.

Vater sein – sich auf das Kind einlassen

Das setzt voraus, sich tief im Inneren auf das Kind einzulassen.

Richtig. Aber das fällt vielen Vätern schwer, weil sie eine andere Haltung erlernt haben. Nämlich, dass Väter bei kleinen Kindern noch nicht so wichtig sind und sie nicht gebraucht werden. Aber wenn man sich auf die Kinder einlässt, spürt man plötzlich, wie das Kind einen einlädt, in seine Welt zu kommen und alles mit zu entdecken. Die Welt, das Wohnzimmer, die Puppe, das Bett und auch den Papa, der mit kindlichen Augen betrachtet ganz anders ist.

Dann öffnet sich plötzlich nochmal auf eine neue Weise eine ganze Erfahrungswelt. Je öfter man diese Erfahrung macht, wie sehr sich das Kind darauf freut, dass der Papa jetzt da ist und es mit ihm etwas machen kann, desto stärker fühlt es der Papa. Dann macht er diese starke emotionale Erfahrung, dass er eigentlich ein toller Papa ist und dass er dadurch dem Kind eine ganze Menge schenken kann und dass er auch ganz viel von dem Kind bekommt.

Aus dieser wiederholt gemachten Erfahrung wird dann eine Haltung. Und die Haltung heißt, dass es toll ist, mit meinem Kind als Vater auf diese Weise verbunden zu sein. Das will ich auch aufrechterhalten. Das heißt, er kann später wieder arbeiten gehen. Diese Erfahrung geht nicht wieder weg und diese Haltung bleibt bestehen. So kann man das lernen und auch anderen Vätern weitergeben, sich auf diese Erfahrung einzulassen.

Gibt es für Sie ein Vorbild für Männer und Väter?

Jesus Christus. Wenn man wissen will, wie der moderne Mann aus neurobiologischer Sicht aussieht, sollte man sich an Jesus orientieren. Der Kern dieses Mannseins heißt: ein Liebender zu sein. Das ist das, was Jesus konnte. Er brauchte nicht andere, um sich selbst aufzubauen, musste nicht mit Klugscheißereien dauernd dazwischenreden und anderen erzählen, was sie zu tun und zu lassen haben. Er hatte etwas zu verschenken. Und er konnte sich um andere kümmern, sich hingeben, da sein und zuhören. Das können wir alle lernen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Family-Redakteur Marcus Beier.

Dr. Gerald Hüther ist emeritierter Professor für Neurologische Präventionsforschung und Autor vieler ­Sach- und Fachbücher. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Göttingen. gerald-huether.de

Kommunikation ohne Eskalation: Expertin gibt Tipps

Unbedachte Worte in der Partnerschaft können tief verletzen. Beziehungs- und Kommunikationsexpertin Piroska Gavallér-Rothe erklärt, wie achtsame Kommunikation einfach gelingen kann.

Gerade war noch alles gut, doch plötzlich kippt die Kommunikation und ein Satz schießt um die Ecke und bohrt sich wie ein spitzer Pfeil in Thomas’ Herz. Thomas’ Kopf weiß: „Das ist nicht böse gemeint!“ – dennoch kann er nicht anders und zieht sich verletzt zurück. Den Rest des Abends muss Lea allein verbringen.

Auch bei Hannah und Jonas nimmt der Abend eine abrupte Wendung: Jonas macht einen unbedachten Kommentar – schon wird Hannah laut. Schneller als sie gucken können, haben sie sich wieder in einen Streit verstrickt.

In der Tat sind es oft Kleinigkeiten, an denen sich in Partnerschaften Streitigkeiten entzünden. Viele Paare stehen dann hilf- und ratlos da und fragen sich, woran es liegt. Es gibt verschiedene Gründe, die zu solchen Situationen führen. In diesem Artikel möchte ich vier Aspekte herausgreifen, die mir in meiner Arbeit mit Paaren regelmäßig begegnen:

1. Formulierungen mit Eskalationspotenzial

Auch wenn wir es selten böse meinen – aus kommunikationspsychologischer Sicht verwenden Menschen erschreckend viele dysfunktionale Sprachmuster. Mit ihnen bringen wir direkt oder indirekt zum Ausdruck, unser Gegenüber habe etwas falsch gemacht oder sei nicht okay.

Zu den dysfunktionalen Sprachmustern zählen insbesondere Urteile und Bewertungen wie zum Beispiel:

  • Du bist einfach viel zu empfindlich!
  • Das war mal wieder eine deiner vorschnellen Aktionen.
  • Vielleicht solltest du erst mal den Kopf einschalten und erst dann sprechen.

Aber auch Vergleiche bergen ungute Botschaften über unser Gegenüber in sich und können daher schnell zu einer Eskalation der Situation führen:

  • Du bist schon so wie deine Mutter!
  • Warum bloß hat niemand außer dir ein Problem mit dem, was ich sage?
  • Früher hast du nicht alles gleich auf die Goldwaage gelegt!

Eine subtile Form dysfunktionaler Sprachmuster ist das Leugnen von Verantwortung. In diesem Fall klingt das Gesagte so, als sei unser Gegenüber für die angesprochene Misere verantwortlich – während man selbst bequem aus dem Schneider ist:

  • Du könntest mittlerweile wirklich wissen, wo meine wunden Punkte liegen …
  • Wenn du nicht immer so empfindlich wärst, hätten wir weitaus weniger Probleme!
  • Wieso soll ich jetzt freundlich bleiben, wenn du mich gerade so angefahren hast?

Frühe Prägung

Die meisten von uns wurden schon seit frühester Kindheit von solchen Formulierungen geprägt. Wir haben sie so oft und selbstverständlich gehört, dass wir sie unbewusst übernommen haben. Heute verwenden wir sie selbst – meistens ohne es überhaupt zu merken! Genau deshalb ist es oft schwer nachvollziehbar, wenn das Gegenüber unleidig reagiert oder sich verletzt zurückzieht.

Dysfunktionale Sprachmuster wirken wie Tretminen in der Kommunikation. Besonders gilt das für Beziehungen, in denen Menschen in einem Näheverhältnis zueinander stehen – also in der Partnerschaft, aber auch in der Eltern-Kind-Beziehung oder der Beziehung zwischen Geschwistern. Das hohe Maß an Intimität macht die beteiligten Menschen verletzlich, denn nirgendwo tut Ablehnung so weh, als in Beziehungen, in denen wir uns nach Liebe sehnen.

2. Empfindliche Ohren in der Kommunikation

Auch empfindliche Ohren können dazu führen, dass Gespräche aus dem Ruder laufen. Oft sind sie das Ergebnis dysfunktionaler Erziehungsbotschaften. Kritische Urteile wie zum Beispiel „Du bist zu neugierig!“, und negative Vergleiche wie beispielsweise „Nimm dir mal ein Beispiel an deinem Bruder!“, können das Selbstvertrauen von Kindern ebenso erschüttern wie der Vorwurf, für unerwünschte Gefühle anderer Menschen die Verantwortung zu tragen: „Mama ist jetzt ganz traurig, weil du immer noch nicht schlafen willst.“ Schnell entsteht so die kindliche Überzeugung, „schuldig“ oder „nicht richtig“ zu sein.

Ohne positive Gegenimpulse gräbt sich dieses negative Selbstbild tief ins eigene Erleben ein und beeinflusst auch im Erwachsenenalter unsere Wahrnehmung und unsere Reaktionen. Auch positiv gemeinte Äußerungen wie zum Beispiel: „Ich bin wirklich froh, dass du heute Abend so entspannt bist!“, können dann leicht als persönlicher Vorwurf gehört werden und zu gekränkten Reaktionen führen: „Sag doch gleich, dass es dich nervt, dass ich in letzter Zeit so gestresst bin!“

Ungute Paarung

Treffen dysfunktionale Sprachmuster auf empfindliche Ohren, ist das Unglück vorprogrammiert. Meistens fehlen nämlich auf beiden Seiten Fertigkeiten, um das Gespräch zurück in konstruktive Bahnen zu lenken: Die sprechende Person vermag es nicht, über ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Selbst wenn sie Ich-Botschaften zu verwenden versucht, verbirgt sich oft noch eine vorwurfsvolle Du-Botschaft in ihren Worten („Ich bin traurig, weil du mich mal wieder nicht ernst nimmst.“).

Der empfangenden Person fehlen wiederum die Fähigkeiten, in vorwurfsvollen Aussagen die Gefühle und Bedürfnisse des Gegenübers zu erkennen, ohne sich dadurch selbst angegriffen oder schuldig zu fühlen („Bist du traurig, weil es dir wichtig ist, ernst genommen zu werden?“).

3. Störungen der Beziehungsebene

Dass es in Beziehungen zu Unstimmigkeiten kommt, ist normal und im Grunde auch nicht schlimm. Schlimm wird es nur, wenn sie nicht aufgelöst werden – weil man zum Beispiel keine Zeit darauf verwenden mag oder es nicht vonnöten erscheint. Dann kommt es zu Verwerfungen auf der Beziehungsebene. Wie bei tektonischen Platten führt das zu Spannungen. Kommen weitere unaufgelöste Unstimmigkeiten hinzu, verstärken sich die Spannungen. Schließlich kann die Spannung so stark werden, dass sie sich selbst bei kleinen Dingen in heftigen Erschütterungen entlädt.

Verbindungslücke

Die herkömmliche Form unserer Kommunikation ist nicht geeignet, Unstimmigkeiten in verbindender Weise auflösenzu können. Stattdessen fördert sie zermürbende Diskussionen, in denen man sich im Kreis dreht und am Ende doch nichts klärt.

4. Biografische Verletzungen

Es gibt immer wieder Situationen, in denen so starke Emotionen zu wirken beginnen, dass wir sie nicht richtig zu steuern vermögen. Dann übernimmt ein Autopilot das Ruder und wir tun oder sagen Dinge, die wir später bereuen.

Ein aktivierter Autopilot zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit an, dass gerade tiefgreifende und noch immer schmerzende Verletzungen in uns berührt werden. Die Heftigkeit der emotionalen Reaktion weist darauf hin, wie groß der stimulierte Schmerz in Wirklichkeit ist.

Verdrängt und abgespalten

Besonders schmerzhaft oder gar traumatisch erlebte Erlebnisse – insbesondere aus der Kindheit – werden sehr häufig aus dem Bereich des bewusst Zugänglichen in den Bereich des Unbewussten verschoben. Die emotionale Reaktivität bleibt jedoch erhalten. So schlittern wir immer wieder in reaktive Verhaltensweisen, können aber nicht wirklich nachvollziehen, weshalb.

Lichtblick

Eskalierender Streit in der Kommunikation als Paar – das muss kein Schicksal bleiben! Als Paar kann man sehr wohl einiges tun, um entspannter miteinander auszukommen:

Kommunikation

Hierbei geht es weder um Rhetorik noch um kommunikative Tipps und Tricks, sondern um die Fähigkeit, anders zu sprechen und anders zu hören.

Anders sprechen bedeutet: Sich aus dysfunktionalen Sprachmustern zu befreien und stattdessen Worte wählen zu können, mit denen wir wertschätzend und klar zum Ausdruck bringen, was wir fühlen und was wir brauchen.

Anders hören bedeutet: Einfühlsam und bedürfnisorientiert unserem Gegenüber zuhören zu können – sogar dann, wenn es gerade dysfunktionale Sprachmuster nutzt.

Dialog

Der Dialog ist der Gegenentwurf zur Diskussion. Kommunikatives Kräftemessen und die Durchsetzung der eigenen Meinung wird ersetzt durch einen verbindenden Austausch auf Augenhöhe. Die dialogische Gesprächsführung folgt klaren Abläufen und verbindet die neue Form des Sprechens und des Hörens zu einem lebendigen Ganzen.

Heilung

Möchten wir auch in Situationen mit einer hohen emotionalen Last angemessen agieren können, kommen wir nicht umhin, uns um unsere tiefliegenden Verletzungen zu kümmern. Kümmern bedeutet nicht, die Situation psychologisch analysieren oder kognitiv erklären zu können. Vielmehr geht es darum, sich der eigenen Verletzung liebevoll anzunehmen und sie damit zu versorgen, was sie braucht, damit es weniger schmerzt – auch und insbesondere dann, wenn sie einen schmerzvollen Impuls durch das Außen erfährt. Erst durch unsere fürsorgliche Zuwendung wird der Anteil nach und nach entspannen und durchatmen können, anstatt sich durch reaktive Automatismen zu schützen zu versuchen.

Am besten gelingt eine solche Heilungsarbeit in einem professionell begleiteten Kontext. Sich einfühlsam den eigenen Verletzungen zu widmen, stärkt nicht nur die persönliche Resilienz, sondern ermöglicht auch die Versöhnung mit der eigenen Biografie. Und wer versöhnt ist mit sich selbst, kann auch versöhnlich mit dem Partner sein.

Piroska Gavallér-Rothe ist Trainerin für Konflikt- und Kommunikationskompetenz und Paartherapeutin. Weitere Informationen unter: gavaller-rothe.com

Partnerschaft: Was erwarten wir von der Liebe?

Von einer Partnerschaft erwarten wir, dass sie uns erfüllt. Aber ist unser Partner wirklich für unser Glück verantwortlich? Paarexperte Marc Bareth sieht das kritisch.

Warum hast du dich damals eigentlich für eine Beziehung mit deinem Partner entschieden? Als ich kürzlich über diese Frage nachgedacht habe, war ich überrascht und ehrlich gesagt auch ein bisschen ernüchtert, was da alles zusammengekommen ist. Ein wichtiger Grund für die Partnerschaft war natürlich, dass ich verliebt war. Aber auch, dass ich der Meinung war, dass die Charaktereigenschaften meiner Partnerin eine gute Ergänzung zu meinen waren. Und schließlich, dass ich mir gut vorstellen konnte, mit dieser Person an meiner Seite durchs Leben zu gehen. Dass sie mein Leben bereichern und ich mit ihr glücklich sein würde.

Sehnsüchte erfüllen

Allediese Gründe haben eines gemeinsam: Es geht nur um mich. „Was bringt es mir?“ als Leitfrage unserer Beziehung schien mir schon eine bedenkliche Basis für eine lebenslange Partnerschaft zu sein. Ein wenig beruhigt hat mich dann die Erkenntnis, dass es wohl allen so geht. Wir sind alle mit überwiegend eigennützigen Motiven in unsere Beziehungen gestartet.

Wir wünschen uns, dass unser Leben durch unsere Partnerschaft besser wird. Oder etwas dramatischer ausgedrückt: Wir erwarten von unserer Partnerschaft, dass sie unsere Defizite, Löcher und Sehnsüchte stopft. Wir brauchen unsere Beziehung als Krücke, um uns glücklicher oder weniger einsam zu fühlen. Und weil es unserer Partnerin oder unserem Partner wahrscheinlich ähnlich geht, stützen wir uns nun also zu zweit auf diese Krücke und hoffen, dass sie hält.

Eine Partnerschaft leidet darunter, wenn es bei diesen Motiven bleibt. Wahre Liebe kann dort entstehen, wo wir die Liebe nicht brauchen, sondern uns aus freien Stücken dafür entscheiden. Nur wenn wir nicht vom Partner abhängig sind, können wir ihn wirklich auf diese Art lieben.

Eine Quelle der Erfüllung finden

In einem der bekanntesten Trauverse aus der Bibel heißt es, dass die Liebe nicht den eigenen Vorteil sucht (1. Korinther 13,5). Oder anders übersetzt: „Die Liebe sucht nicht das Ihre.“ Das ist die Art von Liebe, von der von der Bibel die Rede ist, einer Liebe, die Gott zu uns Menschen hat. Er liebt uns nicht, weil ihm irgendetwas fehlt, was er in der Beziehung zu uns zu bekommen hofft. Und diese reife Art der Liebe soll auch das Ziel unserer Liebe sein.

Eine solche Liebe hat nichts mit falscher Demut, vorgetäuschter Selbstlosigkeit oder Verdrängung eigener Bedürfnisse zu tun. Im Gegenteil: Der Abt Bernhard von Clairvaux kam schon vor rund 900 Jahren zu dem Schluss, dass die Liebe nicht das Ihre sucht, weil sie es eben schon hat.

Ich wünsche mir, dass wir uns alle auf den Weg zu einer weniger egoistischen Liebe machen. Gelingen kann uns das, wenn wir eine Quelle finden, aus der unsere Defizite, Löcher und Sehnsüchte auf eine gesunde und nachhaltige Weise gestillt werden und dafür nicht ausschließlich unsere Partnerschaft herhalten muss.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter: familylife.ch/five

Familie im digitalen Zeitalter? Eltern berichten von ihren Erfahrungen

Der Umgang mit digitalen Medien sorgt regelmäßig für Spannungen in Familien. Wie finden Eltern die Balance zwischen den Wünschen und Interessen der Kinder und guten Regeln? Drei Familien geben einen Einblick in ihre Erfahrungen.

Alternativen anbieten

Letztens hatte mein fünfjähriger Sohn eine schlaue Frage, auf die ich keine Antwort wusste. „Dann google doch mal“, war seine Reaktion darauf. Meine Tochter fragt mehrmals pro Woche, wann denn endlich Freitag sei, damit sie sich eine Kinderdoku aussuchen können. Puh, da sind wir also als Familie – angekommen in der digitalen Welt. Und dabei hatte ich doch, bevor ich überhaupt Kinder hatte, immer gedacht, wir würden unsere Kinder komplett medienfrei erziehen.

Als ich mit unserem dritten Kind schwanger war, musste ich mich dringend mittags hinlegen. Ich brauchte kurz meine Ruhe und habe den anderen beiden Kids oft etwas zum Schauen angemacht. Schnell haben wir gemerkt: Das ist zu viel. Die Kinder waren hinterher oft sehr aufgebracht, teils wütend, und die Zeit danach war dadurch ziemlich anstrengend. Seit einiger Zeit haben wir die Regel, dass die Kinder nur freitags etwas schauen dürfen. Das gibt uns als Familie Struktur und die Kinder empfinden es wieder als besonders, etwas sehen zu dürfen. Uns als Eltern ist hierbei wichtig, dass sie „nützliche“ Dinge schauen. So dürfen sie nicht wahllos aussuchen, was ihnen gefallen könnte, sondern wir geben die Auswahlmöglichkeiten. Und so wird meistens „Anna und die wilden Tiere“ oder „Checker Tobi“ geschaut. Hier kann man viel lernen und die Kids wissen hinterher mehr als wir.

Digitalität prägt unser Familienleben immer mehr. Unsere Kinder sind gerade noch klein und wir versuchen bei Nachfragen zur Medienzeit schöne Alternativen anzubieten, gemeinsam zu spielen und Zeit miteinander zu verbringen. Bisher klappt das ganz gut, allerdings mache ich mir oft Gedanken, wie es sein wird, wenn die Kinder größer werden. Wird mein Kind in der Schule mithalten können, wenn es keine Filme kennt oder noch kein Handy hat?

Doch eine Sache nehme ich mir immer wieder neu vor: Ich möchte für meine Kinder ein Vorbild sein. Denn wie soll ich ihnen vermitteln, dass sie sich doch lieber ein Buch oder Duplo-Steine schnappen sollen, wenn ich immer wieder mein Smartphone in der Hand habe? Seit ein paar Tagen lege ich immer öfter mein Handy bewusst in den Flur. Außerhalb meiner Reichweite und raus aus meinem Blickfeld. Und siehe da, ich kann wieder viel mehr im Hier und Jetzt sein und habe sogar angefangen, ein neues Buch zu lesen. Digitalität und die Nutzung von Medien sind nicht mehr wegzudenken. Und doch wünsche ich mir für meine Kinder und für uns als Familie, dass sie uns nicht bestimmen, wir immer wieder neu einen guten Mittelweg finden und Zeit miteinander immer noch den größten Reiz hat!

Maria Elter ist derzeit in Elternzeit und zu Hause als Vollzeitmama. Nebenbei engagiert sie sich in ihrer Gemeinde. Mit ihrem Mann und drei kleinen Kindern wohnt sie in Wetter.

Beim Zocken ins Gespräch kommen

Vor circa vier Monaten hatte ich die Gelegenheit, auf einem Digitalforum einen spannenden Vortrag der Schulleiterin Silke Müller zu hören. Darin wies sie eindrücklich auf die Gefahren hin, denen unsere Kinder heutzutage ausgesetzt sind. Dieser Vortrag hat mich in eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema digitale Medien gebracht. Klar weiß ich, dass ich mich und meine Kinder nicht der Nutzung in Gänze entziehen kann. Trotzdem habe ich gemerkt, dass ich im Alltag allzu schnell den Blick darauf verliere.

Als unser ältester Sohn sein erstes Handy bekam, begann unsere Auseinandersetzung damit, welches Endgerät das geeignete ist. Da bei Apple-Geräten schon von Haus aus eine gute Administration der Endgeräte auch für Kinder innerhalb der Familie möglich war, haben wir uns dafür entschieden. Über die Family Link-App kann man aber auch andere Endgeräte recht gut administrieren. Wir haben gemeinsam mit unserem Sohn in kleinen Schritten die Möglichkeiten des Handys entdeckt und erweitert.

Wenn ich jetzt auf diese Zeit zurückblicke, bin ich erschrocken, wie schnell der Wandel in der digitalen Welt ist. Da ist es für eine Familie, die ihre Kernkompetenz nicht im digitalen Bereich hat, nicht so einfach, Schritt zu halten. Ich versuche, immer wieder Zeit gemeinsam mit meinen Kindern mit den Medien zu verbringen, zum Beispiel beim Minecraft-Spielen. Oder ich lasse mir erklären, was bei EA Sports Neues passiert oder bei Animal Crossing oder Super Mario. Da ich auch gern mal zocke, fällt mir das nicht so schwer. Ich bin meiner Frau dankbar für die Zeit, die sie mir dafür einräumt. Es geht weit über das eigentliche Spielen hinaus, wenn ich beim Minecraft-Zocken an den Twitch-Sessions meines Sohnes teilhaben kann oder beim Spielen mit meinen Kids ins Gespräch komme. Diese Zeit empfinde ich als unendlich wertvoll.

Was mich in letzter Zeit allerdings aufhorchen lässt, ist die Tatsache, dass die jungen Menschen mit Hilfe der digitalen Welt mehr und mehr eine Parallelwelt erschaffen. Leute wie Trymacs oder Monte, Knossi oder Sascha hatten ihren Start in der digitalen Welt, haben jetzt aber mehr und mehr Einfluss auf unsere Gesellschaft. Oder die Baller League: Die Jungs stellen sich Fußballvereine zusammen und erschaffen einfach mal eine neue Fußball-Liga – nicht mehr nur in der digitalen, sondern in der realen Welt.

Wir als Eltern können nicht vor der Digitalisierung davonlaufen, sondern müssen uns die Zeit nehmen, gemeinsam mit unseren Kids in die digitale Welt einzutauchen, um den Anschluss nicht nur an die Digitalisierung, sondern auch an unsere Kids nicht zu verlieren. Nur so werden wir eine Atmosphäre schaffen, in der unsere Kids auch mit Themen, die sie beschäftigen oder bedrücken, zu uns kommen, um diese mit uns zu besprechen.

Peter Diehl ist Diplom-Sozialpädagoge und arbeitet als Bereichsleitung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt er in Ostfriesland.

Inspiration für das wirkliche Leben

Digital – wenn ich dieses Wort höre, merke ich, wie die Wut in mir aufsteigt. „Zeitfresser!“, denke ich mir. „Beziehungsräuber! Suchtfalle!“ Scheinbar jeder ist von diesem Virus befallen – ich mit eingeschlossen. Und schon sehe ich mich gedanklich in Alaska, in den Bergen im Wald, ein kleines Häuschen mit Garten, ein prasselndes Kaminfeuer. In der Natur wie die Amish leben. Ganz einfach ohne Technik, ohne Lärm, Hektik, Cancel Culture und Co. – back to the roots eben.

Ich ertappe mich dabei, wie ich wehmütig auf Zeiten zurückblicke, in denen digitale Medien nicht so viel Raum einnahmen. Bis mir wieder auffällt: „Ich bin hier. Im Hier und Jetzt!“ Dadurch sehe ich das viele Positive, das mit der Technik einhergeht: ermutigende Sprachnachrichten an Freunde in Not, die ins Ausland ausgewandert sind. Oder das wöchentliche Mama-Gebets-Treffen per WhatsApp, das live undenkbar wäre. Hörbücher, Predigten und Lobpreis im Auto, vor dem Einschlafen oder bei der Gartenarbeit sind kaum mehr wegzudenken.

Gerade vor Kurzem haben unsere Mädels eine tolle Stelle am Bach entdeckt. Inspiriert von Outdoor- und Survival-Serien, die wir als Familie gern gemeinsam schauen, wurden kurzerhand Handschuhe, Säge und Klappmesser eingepackt. Voller Eifer wurde gesägt, zu dritt wurden Baumstämme getragen und nach Dingen zum Zusammenbinden gesucht. Voller Freude (und auch ein bisschen Stolz) dachte ich daran, was wohl die Real Life Guys sagen würden, wenn sie unser tolles Shelter sehen könnten! Ein unvergessliches Erlebnis für alle. Eine Idee, deren Umsetzung und Erfolgserlebnis dank digitaler Inspiration möglich war.

Schon als unsere erste Tochter klein war, entschieden wir uns, Medienzeiten einzuführen. Filme, Serien und Ähnliches gibt es bei uns am Wochenende. Und wir schauen vorrangig gemeinsam. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Mit der Oma schauen die Kinder gern dienstags die Naturdokus der ORF-Reihe „Universum“. Und auch das Binge-Watching der Serie „The Chosen“ erlauben wir. Ein ebenso wichtiger Punkt ist das gemeinsame Essen. Bei Tisch gibt es weder Handy, Radio oder Bücher. Dafür wird geplaudert, erzählt und nicht selten gelacht, geblödelt und gereimt.

Am Ende handhaben wir es so wie mit allen Dingen: Wir nutzen die Medien bedacht. Und wir reflektieren: Hast du das Handy? Oder hat es dich?

Astrid Magerle lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern (7 und 10) im Lavanttal in Österreich.

Partnerschaft: Wir brauchen Vertrautheit und Überraschung

Beziehung, Liebe und Sexualität leben von Gegensätzen, die eine gesunde Spannung in das gemeinsame Leben bringen. Wir brauchen Routinen, aber auch Abwechslung, erklärt eine Psychologin.

Luise und Tom sitzen gemeinsam auf dem Sofa. Sie lieben diese Abende: Endlich schlafen die Kinder und sie haben Zeit zu zweit. Ihre Augen suchen den Insta-Feed ab, immer auf der Suche nach neuen lustigen Videos, die sie einander zeigen können. Dabei kuscheln sie, genießen die Gegenwart des anderen und tauschen sich über ihren Tag aus, bis Tom an diesem Abend auf die Toilette muss. Plötzlich springt die Tür auf. Tom stürmt herein mit dem Ritterhelm des Sohnemanns auf dem Kopf. Dabei schwingt er einen Besen und ruft: „Sinke vor Ehrfurcht nieder, Weib! Sir Tom Tomus ist mit dem gebührenden Respekt zu begegnen, wenn er seinen Minnesang vorträgt.“ Luise lacht, sie legt das Handy weg und lässt sich zurück auf die Couch sinken, die Hände ergebend erhoben.

Überraschende Momente, die die Vertrautheit unterbrechen, bringen uns schlagartig in die Gegenwart zurück und erregen unsere Aufmerksamkeit. Innerhalb von Sekunden verändern sie unsere Stimmung und reißen uns aus unseren Gedankenschleifen heraus. Wer mit Kindern zu tun hat, kennt diese Erfahrungen. Mit ihrer einzigartigen Logik überraschen sie uns oft und erhellen im Nu unsere Laune. Auch Witze leben von Überraschungseffekten. Humor, Unerwartetes, Neues – danach sehnt sich jeder und das ist es, was den Beginn einer Beziehung meist so schön und aufregend macht. In Langzeitbeziehungen zeigt sich das Neue nicht mehr täglich. Wir glauben, unsere Partnerin oder unseren Partner zu kennen und wissen bereits, was er oder sie denkt und möchte. Überraschungen sind wie ungewohnte, vielleicht sogar selbst ausgedachte Drehungen in einem Paartanz, die die Vertrautheit von Takt, Grundschritten und Lied durchbrechen. Beim Tanz achten beide Partner aufeinander, sind einander zugewandt und schenken einander ihre volle Aufmerksamkeit. Dabei erwartet der oder die Geführte das Unerwartete. Die Unvorhersehbarkeit der nächsten Figur bringt Leichtigkeit und Spaß in die routinierte Abfolge der Grundschritte. Das ist schön und lässt sich auch auf den Alltag übertragen. Sich

immer wieder einander zuzuwenden, den anderen anzusehen, zuzuhören und aufmerksam zu erspüren, wohin er oder sie im Gespräch möchte, sind Nebenwirkungen einer Beziehung, die Raum für Neues lässt. Ganz im Sinne von Oscar Wilde: „Das Unerwartete zu erwarten, verrät einen durchaus modernen Geist“ – einen Geist, der offen für Veränderungen ist, sich eine gewisse Flexibilität zur Anpassung bewahrt und eingefahrene Muster kritisch hinterfragt.

Gegensätze, die einander brauchen

Vertrautheit und Überraschung sind zwei Pole der Intimität. Während Neues und Überraschendes vor allem beim Kennenlernen und Verlieben eine große Rolle spielt, übernimmt mit der Zeit die Vertrautheit die Führung. Sie wird zum Rückzugsort, an dem beide Partner sie selbst sein können und sich angenommen fühlen. Vertrautheit stärkt die emotionale Bindung und das Gefühl inniger Liebe. Doch so tröstlich sie auch sein mag, ohne die Unterbrechung durch überraschende Momente wird Vertrautheit so spritzig wie eine abgestandene Cola. Langeweile macht sich breit und es fällt immer schwerer, einander die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz ehrlich: Warum auch? Denn wir verbleiben in unseren Mustern und der damit einhergehenden Vorhersehbarkeit von Abläufen und Verhaltensweisen, ähnlich einem Grundschritt ohne Figuren. Nur wenn wir mit dem Unerwarteten rechnen, bleiben wir offen dafür, dass der Partner beispielsweise wirklich etwas Unvorhersehbares zu erzählen hat und hören ihm oder ihr länger als acht Sekunden zu (so lange dauert es in der Regel, bis wir innerlich unsere eigene Antwort formulieren).

Zu viele Überraschungen hingegen überfordern uns. Bestünde das Leben nur aus Überraschungen, würden wir nach kurzer Zeit erschöpft zusammenbrechen. Die Schönheit des Unerwarteten würde der Hässlichkeit des Willkürlichen Platz machen – begleitet von Angst und Stress. Der vertraute Gleichschritt und die Zeit, um die Überraschungen im Nachgang zu genießen, sind genauso wichtig.

Liebe sehnt sich nach der Sicherheit und Geborgenheit des Vertrauten, während die sexuelle Leidenschaft das Abenteuerliche der Überraschung liebt. Beide brauchen einander und bringen in ihrem Zusammenspiel Leichtigkeit und Lebendigkeit in eine Beziehung.

Das Dilemma

Überraschungen bringen Schwung in unseren vertrauten Alltag. Leider haben die meisten von uns die Tendenz, zu wenig zu überraschen und der Vertrautheit den Vortritt zu lassen. Denn zu überraschen bedeutet, sich aufzurappeln. Das kostet Energie, die wir nicht gerne verschwenden und oft einfach nicht haben. Wenn wir über längere Zeit kraftlos sind und die eingefahrenen Muster sich aufgrund des Energiemangels verstetigen, sinkt auch der Mut, die vertrauten Bahnen zu verlassen. Genauso, wie

das Verhalten unseres Partners uns Sicherheit gibt, wollen wir mit unserem Verhalten die Stabilität nicht gefährden. Leider auch dann nicht, wenn es sich um destruktive Muster handelt. Wie beim Tanz nehmen beide Partner eine Rolle ein. Und tappen dabei in eine Falle. Denn wie kann es sein, dass zwei Partner ein Problem lösen wollen und es dabei noch schlimmer machen? Beide Partner geben sich große Mühe und halten das Problem trotzdem am Leben oder machen es durch ihr Handeln noch schlimmer.

Luise und Tom kennen das. Je mehr Luise Tom bittet, seine Sachen wegzuräumen und je mehr sie demonstrativ für Ordnung sorgt, desto weniger räumt er auf und beteuert, dass ein bisschen Chaos nicht schade. Je öfter Tom Annäherungsversuche zum Sex unternimmt, desto bedrängter fühlt sich Luise und weist ihn noch öfter zurück. Was Tom als die Lösung sieht, wird für Luise zum Problem und andersherum. Beide nehmen die Probleme wahr und wollen ihnen auf den Grund gehen. Doch der Grund spielt bei der Lösung eines Problems meist eine untergeordnete Rolle. Er ist nur für die Schuldfrage relevant. Wenn wir aber wirklich eine Lösung anstreben, ist folgende Frage viel wichtiger: Will ich lieber recht haben oder verheiratet sein?

Hier kommt Überraschung ins Spiel: Zu überraschen bedeutet, sich so zu verhalten, wie es unsere Partnerin oder unser Partner nicht erwartet. Die größte Überraschung passiert somit dort, wo wir uns selbst überraschen. Denn damit rechnet der Partner bestimmt nicht. Für Tom und Luise bedeutet das, jeweils das Gegenteil von dem zu tun, was sie bisher taten. Tom müsste abends all seine herumliegenden Sachen aufräumen. Luise müsste aushalten, dass sie nicht für Toms Sachen verantwortlich ist und sie kommentarlos liegen lassen. Alternativ könnten sie als Kompromiss „Toms Minnekiste“ aufstellen, in die Luise alles werfen darf, was sie stört, und Tom die Verantwortung überlassen kann, wichtige Rechnungen unter den Socken trotzdem auf dem Schirm zu haben. Des Weiteren müsste Tom aufhören, Annäherungsversuche zu unternehmen, bis Luise freiwillig die Initiative zum Sex ergreift. Alternativ könnten die beiden einen Deal vereinbaren, dass Luise auf jeden seiner abgelehnten Annäherungsversuche selbst innerhalb von drei Tagen auf ihn zugeht. So können beide ihre Bedürfnisse wahren, ohne Vorwurfs-Rechtfertigungs-Pingpong.

Vier Stellschrauben, um die Leichtigkeit in der Beziehung durch Überraschungen zu erhalten:

1. Überrasche deinen Partner:
Kleine Überraschungen lockern den Alltag auf und teilen deiner Partnerin oder deinem Partner mit: Ich sehe dich. Du bist mir wichtig. Ich mag unsere Beziehung.

Get active: Fertige eine Liste mit Dingen an, die deine Partnerin gernhat, sowie Aufgaben, die sie überhaupt nicht gern mag und beginne, diese Aufgaben anzugehen. Überrasche sie damit am nächsten Tag wieder und den Tag darauf auch. Lade deinen Partner zu einem kurzen Abendspaziergang ums Haus ein, zünde abends mal wieder eine Kerze an oder bring deiner Partnerin morgens einen Kaffee ins Bad. Tun es bei ihr eher Worte der Anerkennung, dann verstecke kleine Botschaften in Jackentasche, Brotdose oder Geldbeutel. Oder schreibe mal wieder eine Mail, am besten in einer anderen Sprache.

2. Überrasche dich selbst:
Was könnte eine größere Überraschung sein, als sich so ungewohnt zu verhalten, dass man über sich selbst staunen muss?

Get active: Frage dich, worauf du wirklich gar keine Lust hast, und dann mache es. Wenn du beispielsweise nicht magst, dass dein Partner abends gerne am PC spielt, überrasche ihn, indem du mitspielst. Wenn du ein hingebungsvoller Langschläfer bist, stelle deinen Wecker zu einer Unzeit und mach euch einen Kaffee. Falls du dich zu den Warmduschern zählst, stell dich unter die eiskalte Dusche. Dabei darfst du gern kreischen, dann hat dein Partner direkt etwas zu lachen.

3. Bewahre einen „modernen Geist“:
Die Fähigkeit, sich flexibel an Bedingungen anzupassen und offen für Unbekanntes zu bleiben, kann geübt werden.

Get active: Wechselt jeden Monat ein paar Aufgabenverteilungen und am besten auch gleich die Bettseite. Plant jede Woche etwas zusammen, was ihr noch nie gemacht habt: eine gegenseitige Handmassage, Sex an einem neuen Ort, ein Eisbad, einen Fallschirmsprung… Je mehr Adrenalin dabei ausgeschüttet wird, desto verliebter werdet ihr danach wieder sein. Erstellt eine Traumliste, was ihr noch alles gemeinsam erleben wollt. Entlarvt typische „Das macht man halt so“ und macht das Gegenteil.

4. Mach Sport:
Ja, richtig gelesen. Sport stärkt Körper und Psyche und liefert langfristig Energie, die wir wiederum brauchen, um uns gegenseitig zu überraschen.

Get active: Schon eine einzige, schwere Wiederholung einer Liegestütze liefert messbare Effekte. Absurd einfach, oder? Falls du dich nur schwer motivieren kannst, dann kopple den Sport an feste Routinen im Alltag, wie beispielsweise eine einzige Kniebeuge nach dem Spülmaschine-Anschalten.

Viel Freude beim Blick über den vertrauten Tellerrand auf der Suche nach Alltagsabenteuern!

Tabea S. Müller ist Psychologin. Sie coacht bei „Micro Sabbaticals“ und „Friede deiner Hütte“.

Einfach mal offline: Warum wir digitalfreie Zeiten brauchen

Die digitale Technologie durchdringt unseren Alltag und bringt viele Vorteile mit sich – aber auch große Herausforderungen. Eine Expertin erklärt, warum regelmäßige digitale Pausen nötig sind.

Frau Miller, sie sind Expertin für digitale Achtsamkeit. In ihrem Buch „Verbunden“ schreiben sie, dass digitale Achtsamkeit eine der großen Herausforderungen unseres Jahrhunderts ist. Was meinen sie damit?

Es geht nicht rein um die Frage der Technologie, sondern darum, wie wir als Menschen mit immer digitaleren Prozessen und dem Eindringen vom Digitalen in all unsere Lebens- und Beziehungsbereiche umgehen wollen. Ich glaube, dass es eine sehr große Herausforderung sein wird, da moralische und ethische Grenzen und Möglichkeiten herauszuarbeiten. Wie wollen wir leben, wie wollen wir Beziehungen führen und wie wollen wir die Digitalisierung wieder so aktiv in die Hand nehmen, dass sie uns in unseren menschlichen Herausforderungen nützt, statt uns zu schaden?

Mittlerweile ist es bei vielen Menschen normal, dass sie morgens als Erstes und abends als Letztes zum Handy greifen. Wieso ist das problematisch?

Es ist nicht nur problematisch: Wenn wir morgens ans Handy gehen, sind wir ja viel schneller wach. Das hat auch damit zu tun, dass die vielen Informationen unser Nervensystem aktivieren und uns dann leichter wecken. Gleichzeitig ist genau das das Problem: Statt uns erst einmal im Dämmerzustand zu sammeln und zu überlegen, was ich mit diesem Tag machen will, statt sich Zeit und Raum für sich und andere zu lassen, wird man mit vielen Dingen konfrontiert, die nicht im unmittelbaren Lebensbereich stattfinden. Das ist eine der Hauptschwierigkeiten der Digitalisierung: Dass wir überall immer Zugriff auf die ganze Welt haben und viele Informationen in unsere Lebensrealität, in unsere Körper, in unsere Seelen eindringen. Das macht etwas mit unserem Nervensystem, mit unserem Selbstwert, mit unseren emotionalen, seelischen und geistigen Ressourcen. Wir müssen einen Sinn für die eigene Kompetenz haben, für einen gewissen Radius der Kontrolle. Das digitale Dauerrauschen führt zu einer emotionalen und seelischen Nervosität. Wenn dann noch eine 50-Stunden-Woche dazukommt und zwei Kinder und man noch einkaufen muss und schlecht geschlafen hat, ist es eine weitere Dauerstressquelle.

Das heißt, wir brauchen grundsätzlich Pausen von digitalen Reizen?

Ja. Wir brauchen nach einer Aktivierung des Nervensystems auch wieder eine Beruhigung, sonst sind wir in einem chronischen Stresszustand. Das macht uns krank und anfällig für psychische Krankheiten.

Und wie verändern sich Beziehungen durch digitale Medien?

Auf der einen Seite sind sie für viele Menschen ein Tor zur Welt und zu anderen Menschen. Beziehungsherstellung im digitalen Raum kann sehr inspirierend sein. Wichtig ist aber, dass es nicht beim Digitalen bleibt. Der Mensch ist ein körperliches Wesen und braucht den dreidimensionalen Raum, um Beziehungen auf allen Ebenen und mit allen Sinnen zu erfahren. Für zwischenmenschliche tiefe Beziehungen ist Präsenz wichtig, das Vermitteln: Ich bin jetzt ganz bei dir und emotional verfügbar für dich. Das spürt das Gegenüber. Das digitale Dauerrauschen reißt viele im Minutentakt aus der Situation und aus der Beziehung heraus. Man kann digitale Kontakte pflegen, aber es ist auch wichtig, immer wieder in sich hineinzuhören: Ist das jetzt befriedigend? Reicht mir dieser digitale Kontakt? Wie möchte ich überhaupt mit Menschen interagieren?

Sollte man Social Media also insgesamt wohldosiert verwenden?

Es gibt ein paar Elemente von Bildschirmkonsum, auf die man achten kann, zum Beispiel Qualität versus Quantität: Wie qualitativ hochwertig ist das, was ich digital konsumiere? Wie lange konsumiere ich das? Und wie oft lasse ich mich unterbrechen? Es ist etwas anderes, wenn ich einmal am Tag eine halbe Stunde auf Instagram gehe oder wenn ich alle Push-Notifications anhabe und alle fünf Minuten nachschaue, ob ich noch ein Like gekriegt hab. Die andere Frage ist ja: Was haben wir in dieser Zeit nicht gemacht? Man ist jetzt im Schnitt mittlerweile fünf Jahre seines Lebens auf Social Media. Wenn du die Antwort für dich finden kannst, dass du eine aktive, beteiligte Person warst, Sachen gepostet und das gemäß deinen Werten und Wünschen für dich gemacht hast, dann wäre das kein Thema. Aber viele Menschen merken ja: Da ist so ein Zwang dahinter. Ich bin viel länger online, als ich will. Und irgendwann bist du müde und hast wenig Energie und Ressourcen übrig für andere Dinge, die dir wichtig wären.

Eine aktuelle Postbank-Studie hat ergeben, dass 41 Prozent der 18- bis 39-jährigen Deutschen weniger Zeit auf Social Media verbringen wollen. Was würden sie ihnen raten?

Überlege dir: Was mache ich stattdessen? Wenn ich abends nach Hause komme und mir vorher schon überlegt habe, dass ich ein Buch lesen möchte oder zusammen mit Freunden kochen will, dann habe ich eine proaktive Antwort darauf, was ich mit meiner Zeit eigentlich anfangen möchte. Aber: Das Digitale übt oft einen viel stärkeren Sog aus. Lesen zum Beispiel stimuliert das Nervensystem und das Gehirn viel weniger als ein YouTube-Video. Das sollte man sich bewusst machen: Die „langweiligeren“ Aktivitäten, die mir aber guttun, weil sie mein Nervensystem beruhigen, sind schwieriger, wenn wir schon total aufgeputscht nach Hause kommen. Deswegen lohnt es sich, diese Aktivitäten auf den Morgen zu verschieben. Damit anzufangen: weniger digitale Inputs, die erste Stunde des Tages digitalfrei, einen analogen Wecker kaufen und in Ruhe starten und sich daran gewöhnen, dass die Welt sich weiterdreht, auch wenn ich den Flugmodus erst um 8:30 Uhr rausnehme. Und diese Zeiträume, wo wir panisch online immer wieder checken, was passiert ist, nach und nach wieder ausdehnen und ohne Handy einkaufen oder spazieren gehen und mal fühlen, dass das wahnsinnig entlastend ist. Also: Handy vom Körper weg. Handy aus den Räumen weg. Ein weiterer Punkt: Viele Leute gehen zum Beispiel abends mit Freunden essen, aber im Büro war noch nicht klar, ob da noch eine Deadline ist, und mit dem Partner hat man noch nicht vereinbart, ob man sich morgen sieht. Da sind noch viele offene Punkte. Natürlich kann ich mich digital nicht abgrenzen, wenn ich Leerbereiche habe, weil das emotional verunsichernd ist.

Eltern machen mit dem Smartphone gern Fotos und Videos von ihren Kindern. Warum sollten sie vorsichtig damit sein?

Weil das Kind lernt, dass es auf diese Weise Lob und Anerkennung kriegt. Das ist das Problem unserer Zeit, wir konditionieren uns ja als Erwachsene auch dazu. Das Kind hat ein Recht auf Privatsphäre und darauf, nicht in einem öffentlichen Zusammenhang Dinge zu erleben. Deswegen finde ich auch Videos von Kleinkindern im Netz problematisch.

Wieso sollten Kinder lieber analog als digital spielen?

Weil das echte Leben ein bisschen dreckiger und chaotischer ist. Im echten Leben funktionieren Leute nicht wie Roboter. Beim Spielen kann es sein, dass der Lukas dir an deinen Haaren rumzieht und du dann ein ganz anderes Problem zu lösen hast. Das ist das, was das Leben ausmacht und dir soziale und emotionale Kompetenz und Emotionsregulation beibringt. Das Kind erfährt im dreidimensionalen Raum und über den Körper, über Lernen am Modell der Eltern und Erziehungsberechtigten. Das ist ein viel komplexeres Ding, als vorm Bildschirm zu sitzen und fünf Knöpfe zu drücken. Das heißt nicht, dass man das nicht auch mal machen kann, aber das sollte nicht tägliche Routine sein.

Was würden sie Eltern sagen, die Angst haben, dass ihre Kinder später digital abgehängt werden?

Das stimmt einfach nicht. Auf einem iPad drückt ein Siebenjähriger eine halbe Stunde rum, dann hat er das begriffen! Das ist nicht das gleiche wie laufen lernen, wo man anderthalb Jahre üben muss. Die Welt ist so digital, da kommt man sowieso nicht dran vorbei, da muss keine Frühförderung betrieben werden. Es ist viel wichtiger, die digitalen Prozesse proaktiv zu begleiten. Da geht es um emotionale und soziale Kompetenz, um Fragen wie: Wo kann dieses Foto hin? Wie gehe ich im digitalen Raum mit Menschen um? Das hat nicht nur mit den Kindern zu tun, da müssen sich auch viele Eltern und die Schule regulieren.

Welche Anregungen würden sie Eltern mitgeben, um ihren Kindern digitale Achtsamkeit zu ermöglichen?

Erstens: gemeinsame, digitalfreie Zeiten. Zweitens: Wie kann ich proaktiv vormachen, dass das Handy nicht meinen Alltag bestimmt? Zum Beispiel, indem man als Familie einen Ort definiert, wo die digitalen Geräte liegen bleiben können. Und das Dritte ist, sich dafür zu engagieren, dass sich das System ändert. Die 365 Nachrichten im Klassenchat über Mittag belasten das Kind. Es ist völlig logisch, dass ein 8-Jähriger oder ein 12-Jähriger genau das Gleiche machen will wie seine Peers – der hat keinen Bock, der Einzige ohne Handy zu sein. Da kann man mit der Schule und politisch und gesellschaftlich das Gespräch suchen, einen Schüler- oder Elternrat gründen und sich da engagieren.

Was wünschen sie sich für unsere digitalisierte Gesellschaft in der Zukunft?

Ich wünsche mir als Allererstes, dass die Leute merken: Die Digitalisierung hat mit jedem Einzelnen was zu tun! Das ist eine Bürgerfrage und eine politische Frage, nämlich, welche menschlichen Werte in Zukunft überhaupt noch geschützt werden und von wem und wie. Da muss man auch nichts verstehen von Digitalisierung, sondern davon, wie man leben will. Wir müssen uns alle für nachhaltige Digitalisierung engagieren, um tatsächlich die Menschenwürde aufrechtzuerhalten. Das ist nicht einfach ein bisschen Candy Crush. Das ist wie der Klimawandel und Gleichstellung! Wir müssen anfangen, den digitalen Raum würdevoll zu gestalten, Menschen zu schützen und das Positive zu stärken. Da braucht es jeden – nicht einfach ein paar Leute, die nicht ins Internet gehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Diana Heidemann.

Anna Miller hat einen Master-Abschluss in Positiver Psychologie und ist Autorin und Expertin für digitale Achtsamkeit.

Keine Angst vor Mathe: Was tun, wenn mein Kind nicht rechnen kann?

Selbst einfache Matheaufgaben bereiten ihrem Kind Probleme? Womöglich liegt eine Rechenstörung vor. Eine Expertin gibt Tipps, um nachhaltig zu helfen.

Es gibt Kinder, die bereits im Vorschulalter auffallen, weil sie Probleme mit Zahlen und Mengen haben. In den meisten Fällen werden die Schwierigkeiten beim Rechnen aber erst in der Grundschule deutlich sichtbar. Die betroffenen Kinder rechnen zählend und können Rechenaufgaben nicht erfassen. Wenn es dann über den Zehnerzahlenraum hinausgeht und die Finger nicht mehr ausreichen, um zählend zu rechnen, können sie die Aufgaben meist nicht lösen. Sie haben auch keine Vorstellung davon, ob Acht größer als Fünf ist, denn sie beherrschen den Zahlenstrahl noch nicht.

Diagnose Dyskalkulie

Wenn man bei einem Kind diese massiven Schwierigkeiten mit Zahlen und Mengen beobachtet, sollte man mit dem Kinder- und Jugendarzt darüber sprechen, ob eventuell eine Sehschwäche oder eine Aufmerksamkeitsstörung ursächlich sein können. Ist das auszuschließen, wird der Kinder- und Jugendarzt empfehlen, eine Diagnostik zur Feststellung einer Dyskalkulie (Rechenstörung) bei einem Kinder- und Jugendpsychiater oder einer Psychologischen Psychotherapeutin durchführen zu lassen.

Die Eltern sollten die Lehrkraft für Mathematik über die Diagnose Dyskalkulie informieren und besprechen, wie eine individuelle Förderung des Kindes in der Schule erfolgen kann. Lehrkräfte sollten für eine individuelle Dyskalkulie-Förderung weitergebildet sein, denn es hilft Kindern mit einer Dyskalkulie wenig, wenn sie bei der Förderung nur den Schulstoff wiederholen. Ihnen fehlt ja noch das grundlegende Verständnis für Zahlen und Mengen. Erst wenn die Kinder über eine individuelle Förderung verstanden haben, was sich hinter einer Menge und einer Zahl verbirgt, und sie den Zahlenstrahl beherrschen, ist es möglich, in erste Rechenoperationen einzusteigen. Dazu gibt es gut evaluierte Förderansätze, die zum Einsatz kommen sollten, wie sie in der S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung aufgeführt sind.

Keine Matheangst

Wir empfehlen Eltern, möglichst frühzeitig die medizinische Diagnose stellen zu lassen und beim Vorliegen einer Dyskalkulie schnellstmöglich eine Förderung einzuleiten. So bleibt dem Kind unnötiges seelisches Leid erspart und es entwickelt keine „Matheangst“. Wenn das Kind in der Schule keine ausreichende Förderung erhält, sollten Eltern eine außerschulische Förderung einleiten. Auch hier ist eine gute Qualifizierung der Therapeuten entscheidend, um den Kindern nachhaltig zu helfen.

Annette Höinghaus ist Pressesprecherin des BVL – Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie.

Vier Tipps: So bleibst du für deinen Partner begehrenswert

Wenn ein Paar lange zusammen ist, kann die Sehnsucht nach körperlicher Nähe schwinden. Eine Psychologin gibt Tipps, wie beide Partner in einer Beziehung füreinander wieder begehrenswerter werden können.

Luise (Namen geändert) ist verliebt. Voller Spannung wartet sie auf Nachrichten von Tim. Ihr Herz hüpft, wenn er geschrieben hat. Eigentlich gehört sie zu den frühen Vögeln, aber um seine Stimme zu hören, wird sie zur Nachtigall, schläft erst nach stundenlangen Telefonaten ein. Nur um danach von Tim zu träumen. Sie begehrt ihn, will nah bei ihm sein, nicht mehr von ihm getrennt sein. Wenn er sie beiläufig streichelt oder sich ihre Knie berühren, fährt ein heißer Schauer durch ihren Körper.

Nach einigen Jahren und der gemeinsamen Hochzeit ist Tim ihr nah, schläft neben ihr ein und wacht neben ihr auf. Er ist Teil ihres Alltags geworden. Und er bleibt es auch – bis ans Ende ihrer Tage, das haben sie einander versprochen. Sie genießt seine Nähe und Vertrautheit, seine Meinung, sein Mitentscheiden bei Kleinigkeiten. Aber sie begehrt ihn nicht mehr. Die Spannung in ihr ist einer Entspannung gewichen. Die Sehnsucht ist erschlafft.

Der Raum der Gegensätze

Spannung aufzubauen und aufrechtzuerhalten, kostet Kraft. Darum lösen wir sie gern auf, so schnell es geht. Das ist menschlich. In einer Langzeitbeziehung wird es so allerdings zu entspannt. Dann lohnt es sich, sowohl Nähe als auch Distanz immer wieder ungebremst auszuhalten. Beide Extreme im Wechsel zu leben, bedeutet, deinen Mann oder deine Frau in deine Seele blicken zu lassen und ihm oder ihr andererseits Bereiche zu gewähren, die er oder sie ohne dich ausleben darf. Denn zwischen den Gegensätzen Nähe und Distanz öffnet sich ein Raum. Man kann ihn als Raum deiner Seele bezeichnen, mit der du dein Gegenüber liebst.

Gift für eure Beziehung dagegen ist der goldene Mittelweg: das schnelle Wegschauen, wenn dir der intime Blick des Partners zu nah wird. Zur Begrüßung ein Schmatzer anstatt eines innigen Sechs-Sekunden-Kusses. Deine Partnerin auf ihre bekannten Seiten zu reduzieren, weil du dich in vertrautem Terrain wohler fühlst und dir Unbekanntes Angst macht. Dem Partner nicht die Freiheit zu lassen, allein auf ein Festival zu fahren, weil du dann die Kontrolle über die Beziehung verlierst. Jede Beziehungsmelodie braucht Schwingungen, das wellenförmige Auf und Ab, damit sie schön und voll klingt. Schwingungslos, tonlos und auf Dauer ziemlich leblos ist es in der Mitte.

Das Dilemma

Endlich zusammenziehen, die Distanz auflösen, eins werden, das war Luises Ziel. Aber das hatte einen Preis. Den Preis des Nicht-mehr-Begehrens. Wir Menschen können nur begehren, was wir nicht haben. Ein Partner, der dir über Jahre hinweg treu zur Seite steht und Höhen und Tiefen mit dir teilt, den hast du ja schon. Er ist Teil von dir und du von ihm. Untermauert wird diese Annahme durch gemeinsame Kinder, gemeinsame Freundinnen und Freunde und ein gemeinsames Heim. Seid ihr miteinander so verschmolzen, dass es nur noch Wir statt Du und ich gibt, dann wisst ihr nicht mehr genau, was euch selbst ausmacht, wo ihr anfangt und aufhört. Euch gegenseitig zu begehren, wird unglaublich schwierig.

Sexuelles Begehren und Eifersucht brechen oft erst dann wieder hervor, wenn ein toter Punkt in der Beziehung erreicht ist – die Partnerin, der Partner dir entgleitet, du dir ihrer oder seiner nicht mehr sicher bist. Durch das lange Entspannen in der sicheren und vertrauten goldenen Mitte habt ihr euch auseinandergelebt, wie man so schön sagt. Unbewusst die Distanz gesucht, um euch in all der Verschmelzung nicht selbst zu verlieren, bis es mit der Entspannung vorbei war. Der Partner oder die Partnerin ist dir fremd geworden und hat sich verändert.

Angst ist oft die erste Reaktion auf Entfremdung, weil du hier kein berechenbares Aktions-Reaktions-Verhalten kennst und nicht in deiner Komfortzone bleiben kannst. Fremd im Sinne des germanischen Wortstamms „fram“ bedeutet aber nichts anderes als „fern von“ oder „weg von“. Es drückt erst einmal nur Distanz aus, der du auch mit Neugier anstelle von Angst begegnen kannst. Wenn du die Angst loslässt, dich oder deine kleine berechenbare Welt schützen zu müssen, dann kannst du deinen Partner, deine Partnerin mit einem neuen, interessierten und offenen Blick betrachten. So wie damals. Aber das passiert nicht von allein. Es braucht die Entscheidung, die gefühlte Distanz zu deinem Partner nicht als Gefahr, sondern als Potenzial zu sehen, ihn wieder ganz frisch und unvoreingenommen wahrzunehmen. Dann ist wieder Raum für Begehren.

Das Fremde ist begehrenswert

Wann fühlen sich Menschen am meisten zu ihrem Partner, ihrer Partnerin hingezogen? Laut der belgischen Psychotherapeutin Esther Perel, die zahlreiche Paare befragt hat, lassen sich die Antworten auf diese Frage folgenden Kategorien zuordnen:

  • Wenn mein Partner im Flow ist und ganz in seinem Element aufgeht
  • Wenn meine Partnerin längere Zeit weg war und wir uns wieder treffen
  • Wenn mich mein Partner überrascht
  • Wenn ich meine Partnerin mit den Augen eines anderen Menschen sehe

All diese Antworten drücken Entfremdung oder Distanz aus. Der oder die Fremde im eigentlich so vertrauten Gegenüber ist begehrenswert. Ihn oder sie besitze ich nicht. Er/sie hat Dinge im Leben, die er gut kann, die sie mag und die ihn begeistern.

Eine Partnerin, die in ihrem Element aufgeht, strahlt Selbstvertrauen aus, das ist sexy. Wenn du sie in solchen Momenten beobachten darfst, vielleicht auf der Bühne oder beim Toben mit den Kids, dann siehst du nicht deine Frau, die heute Morgen den Abwasch vergessen hat, sondern die Fremde. Sie braucht dich in diesem Moment nicht. Du kannst deine fürsorgliche Seite fallen lassen und sie bewundern.

Ein Partner, der unterwegs ist, macht Erfahrungen ohne dich und trifft Leute, die du nicht kennst. Geheimnisvoll kann er wieder Teil deiner Fantasien werden, die in der Realität des ständigen Beisammenseins verkümmert sind, sich jedoch hervorragend als Nährboden für deine Sehnsucht eignen.

Eine Partnerin, die dich überrascht, indem sie beispielsweise mit neuen Outfits spielt, eröffnet eine fremde Seite, die du noch nicht kennst. Oft zeigt sich diese Seite im Urlaub, da das Standardrepertoire des alltäglichen Verhaltens wegfällt. Sie kommt auch hervor, wenn sie sich trotz Harmonieliebe entscheidet, bei einem Streit nicht wie gewohnt auszusteigen, sondern bis zum Ende zu diskutieren, wo auf euch beide eine neue Perspektive wartet.

Einen Partner, der im Café angeflirtet wird, siehst du mit dem ersten Eindruck eines anderen. Du nimmst neu wahr, wie andere auf seinen Humor und Charme reagieren. Deine Augen öffnen sich für die bewundernswerten Dinge, für die du vielleicht mit der Zeit blind geworden bist. Du hörst ihn mit Nachbarn über Themen reden, die ihr sonst nie ansprecht, und bist von seiner Haltung angezogen. Du bekommst mit, wie sich eine alte Dame über seine Ansprache in der Kirche bedankt und erkennst, dass er im Leben anderer einen positiven Unterschied macht, den du bei dir als selbstverständlich angenommen hast.

Das Exotische, Neue, Überraschende wirkt anziehend. Das gilt auch umgekehrt. Welche Stellschrauben in deinem Leben kannst du drehen, damit dein Mann oder deine Frau auf die gleichen Antworten kommt?

Vier Stellschrauben, um begehrenswert zu bleiben:

1) Im Flow sein

Es ist leichter, deinem Partner, deiner Partnerin Freiraum zu gönnen, wenn du mit dir selbst im Reinen bist und ebenfalls deinen „Spielplatz“ gefunden hast. Fehlt dir deine „Spielzeit“ im Alltagswahnsinn und machst du dein Gegenüber dafür mitverantwortlich, dann schaffst du eine Distanz, die nicht im Begehren, sondern in Ablehnung mündet. Mal ganz ehrlich: Wie oft warst du letzte Woche so vertieft in eine

Sache, dass du die Welt um dich herum vergessen hast? Hat deine Frau, dein Mann das überhaupt mitbekommen?

Get active: Priorisiere zu Beginn der Woche freie Zeitfenster, in denen du Zeit für dich hast und dem nachgehen kannst, was dich begeistert. Sei es Puzzeln, Backen, Lesen, Stricken, Spielen, Rätseln, Programmieren oder Sport.

2) Allein reisen

Beruflich längere Zeit im Ausland zu sein, ist in manchen Branchen normal. Allein Urlaub zu machen, fühlt sich dagegen für viele falsch an. Dabei gibt es tolle Angebote. Und es eröffnet die Möglichkeit, mal keinen Kompromiss zwischen Familienzeit und Lesen, Bergen und Meer, Schweigen und Reden eingehen zu müssen. Mein persönlicher Favorit sind Schweige-Exerzitien.

Get active: Plane dieses Jahr mindestens einen Aufenthalt außer Haus allein ein.

3) Den Partner überraschen

Überraschung zeigt sich im Spontanen, im Neuen und in der Improvisation. In kleinem Stil ist da jeden Tag etwas möglich.

Get active: Probiere ein neues Gericht, google nach Witzen oder nerde dich in ein Thema ein, mit dem du deinen Partner, deine Partnerin beeindrucken kannst.

4) Ein frischer Blick

Von allen vier Stellschrauben macht der frische Blick den größten Unterschied. Leider liegt es außerhalb deiner Kontrolle, wie leicht es deinem Mann oder deiner Frau fällt, dich mit neuen Augen zu sehen. Ein Anfang ist jedoch die Gegenseitigkeit: Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.

Get active: Wenn dein Partner, deine Partnerin zu Hause ist, schließe deine Augen für mehrere Sekunden. Schau ihn/sie anschließend an, als würdest du ihm/ ihr zum ersten Mal begegnen. Was willst du über ihn wissen? Was macht sie interessant, wenn man alle Aspekte ausblendet, die mit eurer Beziehung und deinen eigenen Bedürfnissen zu tun haben? Es braucht sowohl ein gutes Gespür für sich selbst und für den anderen als auch den Austausch darüber, um gemeinsam im Takt beim Tanz zwischen den Extremen Nähe und Distanz zu bleiben. Dazu ermutige ich dich und wünsche viel Erfolg!

Tabea S. Müller ist Psychologin und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in der Nähe von Karlsruhe.

Störenfried: Wenn das innere Kind dazwischenfunkt

Ein plötzlicher Ausraster, undefinierbare Gefühle – so oder anders kann sich das innere Kind zu Wort melden und die Harmonie in der Partnerschaft stören. Therapeutin Melanie Schüer erklärt die Zusammenhänge.

„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich mich so aufgeregt habe. Irgendwas hat mich daran total getroffen …aber es ist nicht deine Schuld“, murmelt Lea, während sie sich Milch in ihren Kaffee gießt und zaghaft ihrem Mann zulächelt. Wieder mal ist sie ziemlich wütend geworden in einer Situation, die so ähnlich – das fällt ihr jetzt, mit etwas Abstand auf – immer wieder für Konflikte sorgt.

„Wenn ich mal so darüber nachdenke, geht es bei meinen Ausrastern ziemlich oft um dieses Thema Vergessen werden“, denkt sie laut nach. Und tatsächlich: Gerade hat ihr Mann den Käse vergessen, den sie so gern morgen zum Frühstück genossen hätte. Ihr Sohn hat vor ein paar Tagen nicht daran gedacht, ihren Brief zur Post zu bringen, als er in der Stadt war und als ihre beste Freundin hatte sich letzte Woche nicht, wie angekündigt, gemeldet. In all diesen Situationen hatte Lea ziemlich wütend reagiert – übertrieben wütend, wie sie selber findet, eigentlich unreif, kindlich. Und das ist ganz logisch, denn diese Situationen lösen aufgrund von Leas Biografie etwas aus, das ihr inneres Kind betrifft.

Das innere Kind und die Persönlichkeit

Manchmal nehmen wir Menschen in uns verschiedene Stimmen wahr. Das ist keine Spaltung der Persönlichkeit, sondern die normale Tatsache, dass jeder Mensch verschiedene innere Anteile besitzt. Diese inneren Anteile hängen auch mit unseren unterschiedlichen Rollen zusammen, die wir im Alltag einnehmen – zum Beispiel der Rolle als Freundin, als Partner, als Mutter, Vater, Angestellter oder als Schülerin. Das innere Kind ist der Teil unserer Persönlichkeit, der stark in unserer Kindheit verwurzelt ist. Hier kommen prägende Eindrücke, Gefühle und Erfahrungen aus unserer Kindheit zum Tragen.

Innerer Erwachsener – inneres Kind

Zwei oft sehr gegensätzliche innere Anteile sind das sogenannte ‚Erwachsenen-Ich‘ und das ‚Innere Kind‘. Wenn wir sicher in der Rolle als Erwachsene agieren und uns dem, was uns begegnet, gewachsen fühlen, dann ist das Erwachsenen-Ich in uns besonders präsent. Wir fühlen uns dann souverän, selbstsicher und kompetent – zumindest sind diese Gefühle stärker als Ängste, Sorgen oder Selbstzweifel. Es ist wortwörtlich der erwachsene, reife Teil unserer Persönlichkeit – man könnte auch sagen, „Die Stimme der Vernunft“. Das mag positiv klingen, beinhaltet aber auch negatives Potenzial im Sinne von Druck, Perfektionismus und Verlust von Lebensfreude. Wer immer nur auf die eigene innere Erwachsene hört, schwächt oft wichtige Aspekte des Lebens wie Fantasie, Unbeschwertheit, Freude oder Spontaneität.

In diesen Zuständen kommt ein anderer Anteil besonders stark zum Vorschein: unser inneres Kind. Das innere Kind kann uns befähigen, das Leben zwischendurch leicht zu nehmen und zu genießen. Wir können dann herumalbern und völlig im Moment sein. Gleichzeitig sind mit dem Inneren Kind auch bestimmte negative Erfahrungen verbunden. Wenn das innere Kind in uns stark wird, dann kann es auch passieren, dass wir uns unzulänglich, gedemütigt, abgelehnt, hilflos oder belächelt fühlen. Diese Gefühle hängen mit Erfahrungen aus unserer Kindheit zusammen, die natürlich individuell unterschiedlich sind. Sie werden in Momenten wach, in denen wir an Situationen aus unserer Kindheit erinnert werden – oft sprechen wir dann von „Triggern“. Es kann sich dann anfühlen, als wären wir in die Situation von früher zurückversetzt. So wie Lea, die mit Blick auf die Trigger-Situationen der letzten Zeit ein Muster erkennt und versteht, dass sie sich in diesen Momenten fühlt wie in bestimmten Situationen ihrer Kindheit.

Grundüberzeugungen auf der Spur

Prägende Erfahrungen in der Kindheit führen zur Entwicklung fester Grundüberzeugungen. Das sind quasi Glaubenssätze, die oft unbewusst unsere Sicht auf uns selbst, andere Menschen und Situationen formen. Grundüberzeugungen können zum Beispiel sein:

  • Wenn ich nicht alles perfekt mache, werde ich nicht akzeptiert
  • Wenn ich anders als andere bin, werde ich zurückgewiesen
  • Egal was ich tue, es ist nie genug
  • Ich darf nicht zu hohe Ansprüche stellen, um andere nicht zu nerven
  • Ich muss alles kontrollieren, weil ich sonst nicht sicher bin
  • Andere Menschen werden mich früher oder später enttäuschen
  • Wenn andere mich wirklich kennenlernen, mögen sie mich nicht mehr

Selbstverständlich gibt es auch positive Überzeugungen, zum Beispiel „Ich kann etwas leisten!“ oder „Ich darf meine Meinung sagen!“ Aber durch Krisen und Problemen, insbesondere in der Paarbeziehung, bekommen die negativen Grundüberzeugungen stärkeres Gewicht. Das hängt damit zusammen, dass wir uns in einer Paarbeziehung besonders öffnen und dadurch verletzlich machen und an unser Gegenüber Bedürfnisse und Erwartungen herantragen, die denen eines Kindes gegenüber den Eltern ähneln (Geborgenheit, Annahme, Liebe, Interesse, etc.).

Im Fall Lea

In Leas Fall könnte man die negative Grundüberzeugung in etwa so formulieren: „Wenn andere mich vergessen, zeigt das, dass ich ihnen nicht wichtig bin.“ Lea war mit einem völlig überforderten alleinerziehenden als Vater groß geworden. Der Vater hatte oft vergessen, Lea etwas zu Essen vorzuberteiten oder Lea vom Kindergarten abzuholen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie dann als letztes Kind noch wartete, während ihr Erzieher Jan versuchte, ihren Vater zu erreichen.

Wenn Lea ihren Vater dann weinend begrüßte, spielte er das Problem herunter: „Ach komm, mach‘ doch nicht so ein Theater, Lealein. Ich komm doch immer irgendwann, oder etwa nicht? Es dreht sich doch nicht immer alles nur um dich.“ Irgendwann hatte sich Leas Traurigkeit mit Wut vermischt. Die Wut half ihr ein wenig, sich stärker zu fühlen. Das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der Traurigkeit, die ja ohnehin nur belächelt wurde, wurde ein wenig abgeschwächt durch die Wut über das Verhalten ihres Vaters. Und genau diese Gefühle kamen auch jetzt wieder hoch, wenn sich vergessen und infolgedessen nicht wertgeschätzt fühlte.

Das innere Kind und die Paarbeziehung

Diese negativen Grundüberzeugungen aus der Kindheit und die dazugehörigen Gefühle wie Scham, Angst Traurigkeit, Wut und Verhaltensweisen wie Konfliktvermeidung, übertriebene Anpassung oder mangelnde Offenheit haben einen enormen Einfluss auf die Entwicklung einer Paarbeziehung. Denn in einer solchen Beziehung machen wir uns besonders verletzlich und entwickeln eine enge Verbundenheit, die auch Verlassensängste oder Angst vor Abhängigkeit auslösen kann.

Im Paar-Alltag werden immer wieder Situationen entstehen, die uns an Erlebnisse aus der Kindheit entwickeln – oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst. Diese Ähnlichkeit der Situation (zum Beispiel eine frustrierte Reaktion meines Partners, weil ich etwas nicht schaffe) kann die vertrauten Denkmuster, Gefühle und dann auch Verhaltensweisen auslösen, zum Beispiel, wenn Lea ihren Mann anschreit, weil sie sich in diesem Moment wieder wie die kleine, vergessene Lea fühlt und, weil die Traurigkeit sich zu überwältigend anfühlt, mit Wut reagiert.

Diese Dynamik kann Konflikten immer wieder befeuern, weil beide Partner nicht verstehen, was eigentlich gerade passiert. Scheinbare kindische, unreife Verhaltensweisen treten immer wieder zutage, denn handlungsleitend ist in diesen Fällen tatsächlich das innere Kind!

Das innere Kind auf frischer Tat ertappen

Um diese Zusammenhänge zu erkennen, ist es wichtig, zunächst einmal zu verstehen, welche Situationen zu Unstimmigkeiten und Konflikten führen. Überlegen Sie in einer ruhigen Situation, mit etwas Abstand zu einem konkreten Streit, ob Sie gewisse Muster erkennen können. Was haben die letzten Konfliktanlässe, an die Sie sich erinnern können, gemeinsam? Was sind Themen, die ähnlich sind – zum Beispiel Äußerung von Kritik, Umgang mit Verschiedenheit, Einstellungen zu bestimmten Fragen wie Haushaltsführung, Finanzen, Alltagsgestaltung. Meist kommen schnell Muster zum Vorschein und zeigen an, was Ihr inneres Kind oder das Ihres Gegenübers triggert.

Dann gilt es, ein wenig in der Zeit zurückzureisen: Inwiefern kennen Sie dieses Thema/ähnliche Situationen aus Ihrer Kindheit? Wie haben Sie sich damals gefühlt? Was war damals belastend und stressig? Was hat Sie verletzt, beschämt, wütend gemacht oder geängstigt?

Das innere Kind beruhigen

Wichtig ist, in so einem Reflexionsprozess das innere Kind nicht einfach beiseitezuschieben im Sinne von „Ach so, das liegt nur an meiner Kindheit – okay, das ignoriere ich.“ Das wäre auf Dauer nicht hilfreich, denn das innere Kind meldet sich an ähnlichen Stellen wieder, weil dieses Thema in der Kindheit nicht ausreichend geklärt und verarbeitet werden konnte. Es gilt daher, die Verletzung des inneren Kindes ernst zu nehmen und wie ein liebevoller Erwachsener mit Verständnis zu reagieren.

Es klingt vielleicht komisch, aber erlauben Sie sich ruhig ein wenig Kopfkino. Stellen Sie sich selbst als Kind in einer belastenden Situation vor, an die Sie sich noch erinnern können. Und dann gehen Sie in Ihrer Fantasie als heutiges, erwachsenes Ich auf Ihr jüngeres Ich zu und blicken es freundlich an. Sagen Sie ihm das, was Sie damals schon hätten hören müssen. Sprechen Sie Ihm Mut und Trost zu und erklären Sie, dass die Situation heute anders ist als damals. Wenn Sie offen dafür sind, stellen Sie sich auch gerne vor, sich dem inneren Kind zuwendet, es tröstet und stärkt.

Grundüberzeugungen verändern

Wenn Sie einen Schritt weitergehen möchten, reflektieren Sie auch, welche Grundüberzeugung hinter dem erlebten Konflikt stehen könnte – zum Beispiel im Beispiel von Lea: „Ich werde vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“

Überlegen Sie, welche Erfahrungen zu dieser Überzeugung geführt haben – und welche anderen, positiven Erfahrungen und Erkenntnisse ihr widersprechen. Sammeln Sie ruhig Argumente, was für uns was gegen die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Und wenn sie der Realität nicht standhält, dann formulieren Sie – am besten schriftlich, so lernt unser Gehirn effektiver – eine positivere, realistische Grundüberzeugung – wie beispielsweise „Ich bin Gott so wichtig, dass er sogar die Zahl der Haare auf meinem Kopf kennt. Ich bin mir selber wichtig. Und es gibt Menschen, denen ich wichtig bin wie …..“ Lesen Sie sich die positiven Sätze immer wieder durch – so So können Sie neue Denkpfade prägen, die nach und nach Ihre Wahrnehmung prägen und zur Realität werden. Womöglich fühlt sich das anfangs künstlich an – das ist normal, denn Ihr Gehirn hat ja jahrelang das Gegenteil gedacht! Geben Sie dem Training also etwas Zeit.

Nicht alles geht in Eigenregie

Vieles können wir selbst durch Reflexion erreichen. Manche Prozesse brauchen aber Begleitung und Hilfe. Einige Grundüberzeugungen sitzen so tief, haben eine so destruktive Wirkung, manche Erfahrungen unseres inneren Kindes waren so massiv, dass eine Aufarbeitung alleine nicht gelingt. Ein freundliches, professionelles Gegenüber macht einen großen Unterschied und kann einen sehr heilsamen Prozess in Gang bringen. Psychotherapie, Lebensberatungsstellen und Seelsorge können dazu hilfreiche Angebote sein.

Melanie Schüer ist Mutter von zwei Kindern und areitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin im Osnabrücker Land.

Patchwork-Papa: So gelingt das Leben in der kniffligen Konstellation

Benjamin Funk hat mit seiner Frau Alexandra eine ganze Familie geheiratet. Zu Alexandras drei Kindern kamen später noch drei gemeinsame hinzu. Er verrät, was ihm und seiner Familie in der Patchwork-Herausforderung hilft.

Ich knallte die Tür unseres Schlafzimmers mit voller Wucht zu. Mein Puls raste, mein Kopf glühte vor Wut. Unser damals 13-jähriger Ältester und ich hatten uns heftig in die Wolle bekommen. Auch er war stinksauer. Er hatte es geschafft, jede einzelne meiner Nerven zu strapazieren und jeden denkbaren Knopf bei mir zu drücken, bis ich schließlich explodierte. Meine Frau kam dazu, versuchte, mich zu beruhigen. „Wie konnte ich nur so die Kontrolle verlieren? Was denkt er sich eigentlich?“, schrie ich quer durchs Schlafzimmer, laut genug, dass es jeder im Haus hören konnte. Nein, so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Ich war damals nach Israel ausgewandert, um eine Familie zu heiraten. Eine klassische Patchwork-Familie: Meine Frau brachte drei Kinder mit in die Ehe. „Du bist jetzt Vater von null auf hundert“, sagte sie mir liebevoll und mit einem Lächeln. 2016 war das Jahr meines Aufbruchs nach Israel. Ich wollte eine Familie gründen und hatte durch den Aufbau eines Kinder- und Familienzentrums in einem herausfordernden Bezirk in Salzgitter viele Erfahrungen sammeln können. Das gab mir Rückenwind. Zugleich hatte ich Respekt davor, eine Frau mit drei Kindern zu heiraten – besonders, weil es sich um eine komplett fremde Kultur und ein fremdes Land handelte. Ich hatte meinen Job in Deutschland aufgegeben, mein Haus und mein Auto verkauft. Der eigentliche Plan war der, dass wir alle zusammen zwei bis drei Jahre später nach Deutschland ziehen würden.

Dauerkämpfe statt gütlicher Einigung

Doch die Realität machte uns einen Strich durch die Rechnung. Unsere Beziehung wurde auf eine harte Probe gestellt. Der Ex-Mann und Vater der Kinder, gewalttätig und mit seinem narzisstischen Wesen eine Belastung für alle, hatte tiefe Narben hinterlassen. Bis heute kämpft er immer wieder erfolglos vor Gericht gegen uns, indem er falsche Geschichten mit fingierten Zeugenaussagen gegen uns hervorbringt. Keines der Kinder hat mehr Kontakt zu ihm.

Eins möchte ich an dieser Stelle einwerfen: Du wirst das Wort „Stiefkinder“ nicht finden. Denn für mich gibt es keinen Unterschied. Unsere Großen und die drei Jüngeren, die noch dazugekommen sind, sind für mich eins – meine Kinder. Nur wenn ich bereit bin, alle Kinder so anzunehmen, kann Patchwork gelingen. Wenn ein Ehepaar getrennte Wege geht oder ein Elternteil verstirbt, stellt das auch die Kinder vor riesige Herausforderungen. Oft kommt hinzu, dass die Kinder sich bereits an die Lebensumstände mit einem Elternteil gewöhnt haben, bis ein neuer Partner ins Leben kommt. In unserem Fall hatte der Älteste unbewusst väterliche Verantwortung übernommen. Das passiert oft, wenn der Vater wegfällt. Das machte mein Ankommen und den Start unserer Beziehung nicht einfacher. Hier kamen die schlimmen Erfahrungen aus seiner Kindheit, der Bruch mit seinem Vater und die Pubertät zusammen. Unsere Konflikte gingen oft an unsere Grenzen. Warum unsere Beziehung nicht an diesen Baustellen zerbrach, lag unter anderem an den klaren Absprachen, die wir als Ehepartner getroffen hatten. Auch hatten wir uns keiner Illusion hingegeben.

Kein Plan B

Alles begann mit klaren Entscheidungen ohne einen Plan B. Wenn wir Klarheit leben, nehmen die Kinder das genauso wahr. Als jemand, der in eine Patchwork-Familie eintritt, muss mir eines bewusst sein: Ich heirate nicht nur meine Partnerin, sondern auch ihre Kinder. Eine klare Entscheidung zu treffen, bietet zwar keine Garantie gegen ein mögliches Scheitern, hilft aber, größere Probleme zu vermeiden.

Ein wesentlicher Faktor für uns war, dass meine Frau mich während unserer Fernbeziehung, als ich nur in Abständen nach Israel reisen konnte, schon als ihren zukünftigen Ehemann vorgestellt und so klar Stellung bezogen hatte. Diese klare Positionierung war entscheidend dafür, dass ich in der Familie ankommen und in die Rolle als Teil dieser neuen Patchwork-Konstellation hineinwachsen konnte. Man muss sich aber im Klaren sein, dass die Kinder in der Regel keinen neuen oder anderen Elternteil haben wollen. Das ist nicht schlimm, sondern ganz normal.

Patchwork: „Du bist nicht mein Vater“

Dass ich nicht der Vater sei, musste ich regelmäßig am Anfang hören. Es kann verletzend sein. Aber als erwachsener und mündiger Mann kann ich das aushalten. In solchen Momenten galt es, Ruhe zu bewahren. Meine Antwort war dann: „Das stimmt, aber ich bin der Erwachsene und ich möchte, dass du jetzt aufräumst.“ Hierbei gingen meine Frau und ich Hand in Hand. In der Anfangszeit liefen die Kinder oft schnurstracks zu meiner Frau, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten.

Es war mir aber auch wichtig, mich in das Kind hineinzuversetzen. Je nach Vorgeschichte ist in dem Kind eine Welt zerbrochen. In vielen Fällen trauern Kinder der Vergangenheit nach. Kinder haben eine Gabe: Sie können Konflikte verdrängen. Ein Vater bleibt ein Vater, auch wenn er ein schlechter Vater ist. In meiner Zeit in Salzgitter habe ich mit vielen Kindern zu tun gehabt, die von Vätern geschlagen und misshandelt wurden. Dennoch besuchten diese Kinder immer wieder ihre Väter, getrieben von der Hoffnung, dass sich diese eines Tages ändern würden. Das mitzuerleben war erschütternd. Deshalb kann ich ein Kind, das mir Ablehnung entgegenbringt, nicht verurteilen oder abweisen. Denn es hat vielleicht die Hoffnung, dass der Vater doch wieder zurückkommt oder sich ändern könnte.

Klare Entscheidung

Ein weiteres Geheimnis unseres Weges liegt darin: War ich zu streng oder hatte ich eine umstrittene Entscheidung getroffen, fiel meine Frau mir nie in den Rücken. Stattdessen besprach sie, wenn nötig, Dinge unter vier Augen mit mir. So stärkte sie meine Position und Autorität und half mir, in meine Rolle als Vater hineinzuwachsen.

Die Liste der möglichen Konflikte in einer Patchwork-Situation ist lang. Es ist offensichtlich, dass Kinder nur ungern ihre Mutter und deren Aufmerksamkeit mit einer neuen Person teilen wollen. Wenn zusätzlich Kinder vom neuen Partner hinzukommen, verstärken sich die Veränderungen noch deutlicher. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Verständnis und Empathie einerseits und klarer Linie andererseits. So herausfordernd die Vergangenheit war: Wir als Eltern müssen eine Perspektive und Vision für unsere Familie finden.

Familien-Vision

Hand aufs Herz, Familie unter „normalen“ Umständen ist bereits eine Herausforderung. Deshalb haben wir als Ehepaar mit einem Bild gearbeitet, das uns half, unsere eigene Vision zu erkunden: Uns war es nicht gegeben, ein deutsches, stylishes Reihenhaus mit klaren Linien und solider Ausstattung zu gestalten. Wir kamen zusammen, als das Haus bereits im Bau war, durch Jahre geprägt und geformt, in guten wie in schlechten Zeiten. Deshalb ergab sich für uns ein Bild mit verschiedenen Wänden, großen und kleinen Fenstern, Rundungen – ein Kunstwerk, das in einer normalen Siedlung auffallen würde.

Dieses Bild half uns, unsere Erwartungen an uns und die Kinder in einem gesunden Rahmen zu halten. Ich kann von Kindern, die deutsch-israelisch sind, nicht erwarten, dass sie deutsche Tugenden erlernen und leben, nur weil ich in dieser Richtung gut konditioniert bin. Es gibt eine Menge Anekdoten, bei denen ich mit meinen Versuchen diesbezüglich kläglich scheiterte. Ich möchte aber auch nicht unerwähnt lassen, dass wir viele geniale Zeiten erleben.

Vorbilder für Vaterschaft

Auch wenn ich es erst jetzt anspreche: Wir sind Christen und sind überzeugt, dass wir nur mit Gottes Hilfe den Weg bis heute geschafft haben. In der Bibel finden wir nur wenig gute väterliche Vorbilder. Doch in Jesus finde ich ein Vorbild, wie Vaterschaft aussehen sollte. Gute Führung hat in der Familie immer Liebe als Grundlage und das Wohl meiner Nächsten zum Ziel. Dabei ist wichtig zu wissen: Meine Taten wiegen immer mehr als meine Worte. Besonders als Männer neigen wir dazu, den Part von Regeln und Vorschriften besonders ausgeprägt zu leben. Mir wurde erst mit der Zeit klar, was wirkliche Führung bedeutet. Dazu gehört, gemeinsame Erlebnisse und Qualitätszeiten zu schaffen, manhmal fünf gerade sein zu lassen, authentisch zu leben und vor allem den Kindern alle Zeit zu geben, auf mich zuzukommen. Auch liegt es in meiner väterlichen Verantwortung, Lebensqualität in die Familie zu bringen.

Eine Erkenntnis, die alles verändert

Ein Artikel, der eigentlich nichts mit Patchwork zu tun hatte, veränderte meine Sichtweise grundlegend. Es ging um die Herausforderungen, mit denen Pflege- und Adoptivkinder konfrontiert sind. Oft fühlen sich diese Kinder in ihren neuen Familien fremd. Sicher, die Prägung von klein auf ist entscheidend, aber auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Studien zeigen, dass leibliche Kinder eine natürliche Neigung haben, nonverbale Signale besser zu verstehen. Viele Pflegeeltern sind sich dessen nicht bewusst, wodurch die Kinder sich fehl am Platz fühlen. Da sie scheinbar nicht in das familiäre Gefüge, die gestellten Anforderungen passen, kämpfen sie ständig damit, Erwartungen zu erfüllen. Diese Erkenntnis hat mich zum Umdenken bewegt. Ich verstand, warum so mancher Konflikt entstanden ist.

Die härtesten Momente sind und bleiben jene, in denen ich scheitere und an meine Grenzen stoße. Manchmal wähle ich die falschen Worte, bin zu pedanktisch, wo Gelassenheit angebracht wäre, und zögere, wenn Handeln gefragt ist. Was soll ich sagen: Wir sind Menschen, und Fehler gehören dazu, auch wenn sie schmerzen. Vergebung ist dabei der Schlüssel – das beinhaltet auch, meine Kinder um Entschuldigung zu bitten, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Ebensowichtig ist es, mir selbst zu vergeben.

Patchwork-Papa zu sein ist ein Weg, der sich lohnt. Es ist eine ganzheitliche Aufgabe, herausfordernd und erfüllend. Als wir letztes Jahr Weihnachten mit unseren Kindern feierten und in die Runde fragten, wofür wir besonders dankbar sind, anworteten alle einstimmig, dass wir eine tolle und starke Familie sind. Jede Anstrengung, jede schlaflose Nacht, jeder Muskelkater vom Kinder-in-den-Schlaf-Schaukeln, jede Träne und der einelne Moment sind lohnenswert.

Bejamin Funk lebt mit seiner Frau Alexandra unf sechs Kinddern im Nordosten Israels.