Vater sein – Hirnforscher erklärt: Das brauchen Kinder von ihren Vätern
Vater sein ist nicht nur eine Aufgabe oder eine Rolle, sondern eine innere Haltung. Star-Hirnforscher Gerald Hüther erzählt im Interview, warum Kinder von ihren Vätern bedingungsloses Interesse brauchen.
Im Kindergarten und der Grundschule werden Kinder mehrheitlich von Frauen betreut. Sind Männer verzichtbar geworden?
Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um sich zu orientieren. Da Frauen und Männer unterschiedlich sind, fehlt ein wesentliches Gegenüber für eine gesunde Rollenbildung, wenn kein Mann da ist. Jungen und Mädchen müssen aber ein inneres Bild von dem entwickeln, was männlich und was weiblich ist. Mannsein lerne ich eben nicht aus dem Internet, dem Fernsehen oder aus Büchern. Und wenn die Kinder keinen Mann erleben, wachsen sie mit einem echten Erfahrungsdefizit auf.
Vater sein – eine besondere Bedeutung
Hier kommt besonders der Vater ins Spiel. Worin sehen Sie die Bedeutung von Vätern?
Wir haben zwei verschiedene Geschlechter und eine bestimmte Erfahrungswelt für Frauen und Männer in unserer Gesellschaft. Und die einzige Notwendigkeit, die ich als Hirnforscher sehe, ist, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen mit vielfältigen Menschen zu machen. Es gibt eine ganze Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass Väter und Mütter unterschiedlich auf Kinder reagieren und ihnen damit auch andere Möglichkeiten bieten. Wenn zum Beispiel ein Kind auf dem Spielplatz von der Schaukel fällt, nimmt die Mutter das Kind auf den Schoß, tröstet es und setzt es dann woanders hin. In die Sandkiste zum Beispiel, wo es nicht mehr runterfallen kann.
Bei Vätern beobachtet man häufiger, dass sie das Kind nehmen, es trösten und es wieder zurück auf die Schaukel setzen. Und das ist eine völlig andere Erfahrung für ein Kind. Nämlich, dass es ein Problem gab, aber dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es vermeidet, sondern dass man sich dem Problem stellt. Es mag sein, dass Männer das leichter können, und so mag es eine ganze Reihe von anderen Dingen geben, die ein Vater dem Kind besser vermitteln kann. Und das gilt eben nicht nur für Jungs, die natürlich ein männliches Vorbild brauchen, sondern das gilt in gleicher Weise auch für Mädchen. Auch Mädchen brauchen ihre Väter.
Was macht für Sie einen richtig guten Vater aus?
Ich fürchte, dass es keine richtig guten Väter gibt, sondern dass jeder Vater versuchen kann, es so gut wie möglich zu machen. Und es gibt Väter, die sich selbst darüber bewusst sind, dass sie für ihre Kinder ein Rollenmodell bieten. Kinder lernen von Vorbildern, und Jungs lernen von ihrem Vater, was männliche Identität bedeutet und bekommen damit einen Maßstab und eine Orientierung, die ihnen oftmals für das ganze Leben lang bedeutsam ist. Das war und ist aber nicht immer gegeben. Daher wäre es gut, wenn Väter sich noch stärker darüber bewusst würden, welche bedeutsame Rolle sie spielen und wie sehr ihr Vorbild ihre Kinder auf ihrem Weg prägt.
Aber nicht nur die Jungs, sondern die Mädchen in gleicher Weise. Denn wir sehen auch in vielen Studien, dass Mädchen ihre spätere Partnerwahl sehr stark unter dem Einfluss der Erfahrungen treffen, die sie mit ihrem eigenen Vater gemacht haben. Manche suchen sich einen, der so ähnlich ist wie der Vater, andere suchen einen, der sich in ihren Augen sehr stark von ihrem Vater unterscheidet. Väter sind also Rollenmodelle für Söhne, wie sie als Väter leben. Und Töchter sollten an ihrem Vater sehen können, wie ein Mann wertschätzend mit einer Frau umgeht und was man von einem Mann erwarten sollte. Und sie leben vor, wie Partnerschaft aussieht.
Anspruch und Wirklichkeit
Als Vater versuche ich natürlich, meine Sache gut zu machen. Trotzdem scheitere ich oft genug an meinen Ansprüchen. Ich möchte liebevoll sein und doch reagiere ich über. Was kann ich tun, um ein besserer Vater zu sein?
Vielleicht ist es hilfreich, erst mal zu fragen, weshalb es so oft nicht gelingt. Das hat etwas mit Affekten zu tun, die wach werden, wenn man als Vater mit bestimmten Verhaltensweisen des Kindes konfrontiert wird. Das kann wie ein Trigger wirken, der im eigenen Gefühlsleben bestimmte Emotionen und Affekte erzeugt, die so stark sind, dass man plötzlich nicht mehr Herr seiner Handlungen ist. Und dass man plötzlich in dieser übererregten Situation – neurobiologisch nennen wir das Frontalhirndefizit – kopflos reagiert.
Aus dem Affekt heraus tut man Dinge, die man sonst nicht machen würde. Das passiert vor allem dann, wenn man in engen emotionalen Bindungen steht. Also mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner. Was notwendig wäre, um nicht im Affekt zu reagieren: Zählen Sie erst mal bis zehn und dann denken Sie nochmal kurz nach und dann handeln sie. Wer sofort aus dem Affekt heraus handelt, kann nicht umsichtig und liebevoll mit seinem Kind umgehen. Das wären die praktischen Tipps.
Als Vater ein Vorbild zu sein, ist nicht immer leicht. Die Rollen im Beruf, in der Familie, in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Wie kann man das Mann- und Vatersein da leben?
Als Mann muss man sich über die verschiedenen Rollen bewusst sein. Die Gefahr ist groß, von der Gesellschaft verführt zu werden, irgendwelche Rollen spielen zu wollen, um Anerkennung zu bekommen. Es ist schlecht, wenn ein Mann, dem dieses Theaterspiel selbst nicht klar ist, Kinder erzieht, egal ob Jungs oder Mädchen. Wer das selbst nicht durchschaut, identifiziert sich dann auch allzu leicht mit seiner Rolle. Den Kindern so ein Rollenspiel vorzuleben, kann dazu führen, dass auch sie versuchen, irgendwelche Rollen zu spielen, und sich dabei selbst fremd werden.
Jetzt könnte man versuchen, diese Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, zu hinterfragen und sich nicht mit dieser Rolle zu identifizieren. Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, dann sage ich eben nicht: Ich bin Professor für Neurobiologie. Sondern: Ich bin Gerald Hüther, der sich auf irgendeine Art und Weise darum bemüht, im Leben zurechtzukommen. Das ist ein ganz anderes Selbstbild. Und dieses andere Selbstbild, dass ich, wie alle anderen, suchend und fragend unterwegs bin, wäre als Grundhaltung dann auch für die Kinder großartig.
Dadurch ist man nicht der Besserwisser und der Alleskönner, der die Kinder zum Objekt seiner Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen macht. Sondern man outet sich als einer, der auch nicht weiß, wie es geht. Man kann dem Kind auch offenbaren, dass man ein fehlbarer Mensch ist, der sich Mühe gibt und es versucht, so gut wie möglich zu machen. Hier ist der Erwachsene, ob Mutter oder Vater, nicht mehr die Führungsfigur, die das Kind erzieht und belehrt und ihm alles beibringt.
Solche Eltern werden ihr Kind in seiner ganzen Einzigartigkeit so annehmen, wie es ist. Sie werden nicht versuchen, aus diesem Kind etwas zu machen, wovon sie glauben, dass es darauf ankäme oder günstig wäre. Und das ist die wirkliche Definition von Liebe, nämlich das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Geliebten. Das halte ich im Augenblick für die wichtigste Botschaft, die wir an Väter weitergeben können: Kein Rollenspieler, sondern ein authentischer Mann zu sein. Natürlich brauchen Kinder auch Führung, Halt und Orientierung. Aber was sie nicht brauchen, ist jemand, der autoritär sagt, wie das Kind zu sein hat.
Vater sein – sich auf das Kind einlassen
Das setzt voraus, sich tief im Inneren auf das Kind einzulassen.
Richtig. Aber das fällt vielen Vätern schwer, weil sie eine andere Haltung erlernt haben. Nämlich, dass Väter bei kleinen Kindern noch nicht so wichtig sind und sie nicht gebraucht werden. Aber wenn man sich auf die Kinder einlässt, spürt man plötzlich, wie das Kind einen einlädt, in seine Welt zu kommen und alles mit zu entdecken. Die Welt, das Wohnzimmer, die Puppe, das Bett und auch den Papa, der mit kindlichen Augen betrachtet ganz anders ist.
Dann öffnet sich plötzlich nochmal auf eine neue Weise eine ganze Erfahrungswelt. Je öfter man diese Erfahrung macht, wie sehr sich das Kind darauf freut, dass der Papa jetzt da ist und es mit ihm etwas machen kann, desto stärker fühlt es der Papa. Dann macht er diese starke emotionale Erfahrung, dass er eigentlich ein toller Papa ist und dass er dadurch dem Kind eine ganze Menge schenken kann und dass er auch ganz viel von dem Kind bekommt.
Aus dieser wiederholt gemachten Erfahrung wird dann eine Haltung. Und die Haltung heißt, dass es toll ist, mit meinem Kind als Vater auf diese Weise verbunden zu sein. Das will ich auch aufrechterhalten. Das heißt, er kann später wieder arbeiten gehen. Diese Erfahrung geht nicht wieder weg und diese Haltung bleibt bestehen. So kann man das lernen und auch anderen Vätern weitergeben, sich auf diese Erfahrung einzulassen.
Gibt es für Sie ein Vorbild für Männer und Väter?
Jesus Christus. Wenn man wissen will, wie der moderne Mann aus neurobiologischer Sicht aussieht, sollte man sich an Jesus orientieren. Der Kern dieses Mannseins heißt: ein Liebender zu sein. Das ist das, was Jesus konnte. Er brauchte nicht andere, um sich selbst aufzubauen, musste nicht mit Klugscheißereien dauernd dazwischenreden und anderen erzählen, was sie zu tun und zu lassen haben. Er hatte etwas zu verschenken. Und er konnte sich um andere kümmern, sich hingeben, da sein und zuhören. Das können wir alle lernen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Family-Redakteur Marcus Beier.
Dr. Gerald Hüther ist emeritierter Professor für Neurologische Präventionsforschung und Autor vieler Sach- und Fachbücher. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Göttingen. gerald-huether.de