Warum die Gesellschaft dringend Väter braucht

Väter spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung ihrer Kinder. Warum sie aber nicht wie Mütter sein müssen und was wirklich wichtig ist, erklärt Hannsjörg Bachmann.

Seit ca. 50 Jahren wird gezielt über Väter geforscht. Diese Forschung zeigt auch, dass vieles von dem, was Väter ausmacht, in der Vergangenheit oft nur geringe Chancen hatte, sich zu entfalten und gelebt zu werden. In dem traditionellen Familienmodell wurde Vaterschaft meist auf das indirekte Engagement als Versorger der Familie reduziert. Andere Vater-Kompetenzen waren in diesem Modell wenig gefragt.

Dass Väter auch noch andere Qualitäten in sich tragen, haben erst die neuen Familienmodelle richtig sichtbar gemacht. Sie geben den „neuen“ Vätern viele Möglichkeiten, sich auch direkt in der Familie zu engagieren – in der Beziehung zu den Kindern und in der Partnerschaft. Persönliche Erfahrung und Forschung zeigen, wie wertvoll, wohltuend und inspirierend Väter und diese Form ihres fürsorglichen Engagements für die Familie sind. Indem Väter sich so einbringen, setzen sie viele innovative Prozesse in der Familie in Gang. Diese Entwicklung gelingt am besten, wenn sie von Beginn an in enger Abstimmung mit der Partnerin erfolgt – in gemeinsamer Elternschaft. Lohnend ist diese Entwicklung aber auch dann, wenn sie erst mit zeitlicher Verzögerung erfolgt. Viele Väter sind überrascht davon, wie fundamental sich ihre Sicht auf das Leben und die Gesellschaft verändert, wenn sie sich auf die Sicht ihres Kindes einlassen.

Die aktuellste Übersicht zu allen entwicklungspsychologischen Aspekten der Väterforschung findet sich in dem Buch von Lieselotte Ahnert, dessen Titel ich als Überschrift für diesen Artikel gewählt habe. Ich beschränke mich hier auf einige wenige Aspekte, die ich für besonders relevant halte.

Eine eigenständige Vater-Kind-Beziehung suchen und finden

Väter sind keine Mütter. Sie sind, wie sie sind – anders. Und das ist gut so. Von dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul stammt die Aussage: „Man kann nicht von Müttern lernen, wie man ein guter Vater wird.“ Jeder Vater wird für sich selbst herausfinden (müssen), was Vatersein für ihn bedeutet und wie er es authentisch leben kann. Das Vorbild des eigenen Vaters kann überzeugen, es kann vielleicht aber auch dazu herausfordern, einen anderen Weg zu suchen. Anregend ist es auf jeden Fall, sich mit anderen Vätern über die eigenen Erfahrungen auszutauschen.

Unterschiedlichkeit als Gewinn. Väter gestalten die Beziehung zu ihrem Kind auf ihre eigene Art und Weise – oft ganz anders als die Mütter. Auch wenn Mütter und Väter die gleichen Werte vertreten, wirkt sich diese Unterschiedlichkeit überall aus (beim Sport, beim Spiel, dem Umgang mit Schulproblemen, bei kleineren oder auch größeren Krisen im Leben der Kinder). Diese Unterschiedlichkeit von Mutter und Vater, Feinfühligkeit bei beiden vorausgesetzt, ist für die Kinder kein Problem, sondern ein großer Gewinn. Sie erleben so sehr konkret, wie verschieden Menschen sind, wie unterschiedlich sie mit allem umgehen und dass es nur sehr selten „richtig“ oder „falsch“ gibt. Über die Mütter finden die Kinder oft eher einen Zugang zur emotionalen Welt, über die Väter häufiger zur Welt der Gedanken und Vorstellungen, zur mentalen Welt.

Weichenstellung mit Langzeitwirkung. Die Entscheidung des Vaters, eine eigenständige Beziehung zu seinem Kind zu suchen, gehört zu den wichtigsten Weichenstellungen in der Familie. Optimalerweise erfolgt sie schon in den Wochen um die Geburt herum. Sie trägt dann wesentlich dazu bei, dass der Vater im emotionalen Zentrum der Familie bleibt und dass er sich zusammen mit seinen Kindern weiterentwickelt, Vater und Kind „wachsen“ gemeinsam. Die Familie entwickelt sich „um beide Elternteile herum“.

Zu unserer Realität gehört, dass viele Väter diese Weichenstellung verpassen – nur vorübergehend oder auch auf Dauer. Oft fehlt ihnen in ihrer Umgebung einfach ein Vater-Vorbild, das diese Form des Vaterseins authentisch vorlebt. Für einen Richtungswechsel ist es nie zu spät – Nachlernen ist auch im fortgeschrittenen Alter durchaus möglich.

Väter und ihre Eigenarten

Feinfühlige Väter? Väter bringen alle Voraussetzungen mit, um zu ihrem Kind eine eigenständige, lebendige Beziehung aufzubauen. Wir wissen heute, dass Väter genauso feinfühlig sein können wie Mütter – manchmal sogar noch feinfühliger. Auch zwischen Vätern und Kindern kann sich eine sichere emotionale Bindung entwickeln – als stabiles Fundament für das ganze Leben. Väter vermitteln ihre Liebe und Akzeptanz auf ihre eigene Art, unverwechselbar. Dann erleben sie – oft mit großem Erstaunen – dass sie von ihren Kindern bedingungslos geliebt werden. Es entsteht eine tiefe Vertrauensbeziehung. Viele Väter erleben diese emotionale Erfahrung als tiefes Glück.

Väterliche Feinfühligkeit ist in jedem Lebensalter gefragt, nicht nur im Säuglings- und Kleinkindalter, auch danach, im Schulalter, in der Adoleszenz, in der Beziehung zu den erwachsenen Kindern. Es geht um die Fähigkeit und den Willen des Vaters, sich in die Welt des Kindes hineinzuversetzen, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und so gut wie möglich zu verstehen. Und gleichwürdig mit dem Kind umzugehen.

Gleichwürdig meint, Tochter und Sohn so zu behandeln, wie man als Erwachsener auch selbst behandelt werden möchte. Diese innere Haltung verändert auch das Zuhören und Reden des Vaters. Das Kind spürt unmittelbar, ob der Vater mit echtem Interesse zuhört oder nur flüchtig, und wie er mit ihm redet – bewertend, kommentierend, kritisierend, bevormundend – oder ob er ein Gespräch ermöglicht, in dem sich Kind und Vater öffnen können. Wenn ein Kind immer wieder, an guten und schlechten Tagen, die Erfahrung macht, dass es vom Vater gesehen, gehört und verstanden wird, verinnerlicht es tief, dass es bei ihm sicher aufgehoben ist und dass es so, wie es ist, geliebt und wertgeschätzt ist.

Bemerkenswert ist, wie unmittelbar diese neue Qualität des Zuhörens und Redens die Familienatmosphäre und die Beziehung zwischen Kind und Vater in eine positive Richtung verändert. Ich zitiere ein 8-jähriges Mädchen, dessen Vater sich ohne Wissen des Kindes entschlossen hatte, eine neue Gesprächskultur in die Familie zu bringen und mit dem Kind so respektvoll zu reden wie mit Erwachsenen: „Vater, es gefällt mir, wenn du so anders mit mir redest.“

Gegenüber und Modell. Mit Mutter und Vater als verlässlichem, feinfühligem Gegenüber erlernen Kinder schon früh, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen, einzuordnen und zu benennen. Alle Gefühle, auch die für die Eltern „herausfordernden“ (wie Wut, Ärger, Angst …), sind erlaubt. Sie werden nicht negativ bewertet – Gefühle sind einfach da; sie sind, wie sie sind. Die Kinder lernen, in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben. Sie entwickeln Selbst(wert)gefühl und Empathie. Die Interaktion mit dem Kind berührt und aktiviert auch bei Vater und Mutter viele bislang wenig bekannte Emotionen und hinterlässt oft tiefe Spuren in ihrer Seele.

Väter mit Defiziten im „seelischen Fundament“ und/oder biografischen Brüchen. Nicht alle Väter haben eine „glückliche“ Kindheit erlebt und in ihren Familien konstruktive Beziehungsmuster kennengelernt. Oft waren die eigenen Eltern – trotz bester Absicht – nicht in der Lage, ihrem Kind ein stabiles seelisches Fundament mitzugeben. Dass ihnen etwas Wesentliches fehlt, entdecken diese Väter häufig erst im Erwachsenenalter, wenn Lebenskrisen darauf hinweisen, dass es gravierende Leerstellen in ihrem seelischen Fundament gibt.

Ein aktuelles Interview in der ZEIT (Nov. 23) mit Lance Armstrong und Jan Ullrich zeigt eindrucksvoll, dass selbst tiefgreifende existenzielle Krisen, wie beide sie über viele Jahre erlebt haben, nicht das letzte Wort haben müssen. „Nachlernen“ ist auch dann noch möglich. Besonders gute Lehrmeister sind – neben den psychotherapeutischen Fachleuten – oft die eigenen Kinder. Lance Armstrong sagte: „Ich selbst habe in meinen dunkelsten Momenten nur an meine Familie gedacht … vor allem an meine Kinder. Ich wollte, dass sie ihren Vater respektieren können. Ich wollte ihr Bild von mir nicht zerstören, das war meine größte Furcht – und mein Antrieb, mich nicht aufzugeben.“

Zum Nachlernen gehört, die Verantwortung für das eigene Leben mit allen Brüchen voll zu übernehmen – und dies auch gegenüber den Kindern zu artikulieren, verbunden mit der Aussage „Es tut mir leid“. Kinder sind dann meist sehr bereit für einen Neuanfang.

Die Partnerschaft bereichern

Oft liegt der Fokus beim Vatersein auf der Beziehung zum Kind. Genauso wichtig ist es, gleichzeitig auch die Dynamik der Paarbeziehung im Blick zu haben. Denn die Veränderung, die mit der Vaterschaft verbunden ist, betrifft immer das gesamte Familiensystem, auch die Partnerschaft. Es gilt die alte Weisheit: „Wenn es beiden Eltern als Paar gut geht, geht es gewöhnlich auch dem Kind gut.“ Forschungsergebnisse zeigen eindeutig, dass sich Väter besonders gerne in ihrer Vaterschaft engagieren, wenn sie auch mit ihrer Partnerschaft zufrieden sind.

Gleichberechtigte Partnerschaft. Für viele Väter ist es heute selbstverständlich, dass sie sich an den vielen Tätigkeiten beteiligen, die nötig sind, um den Alltag in der Familie gut zu bewältigen. Die im Haushalt und bei der Kinderbetreuung anfallenden Aufgaben werden möglichst „gerecht“ verteilt.

Weniger selbstverständlich ist es – oft betrifft das die Väter –, sich auch ebenso aktiv in die Prozesse einzubinden, die mit der inneren Struktur der Familie zu tun haben, also mit dem, was die Familie im Kern zusammenhält: der Qualität der Beziehungen – zu sich selbst, zu der Partnerin, zu den Kindern –, der Art der Kommunikation, dem Umgang mit Konflikten, der feinfühligen Begleitung der Kinder in den Höhen und Tiefen des Alltags. Diese Bereiche kann man nicht aufteilen; wünschenswert ist, dass beide Partner hierfür gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Emotionale Sprachfähigkeit. Von großer Relevanz ist, dass beide Partner sprachfähig sind bzw. werden – nicht nur auf der Ebene der Fakten, des Wissens, des Verstandes, des Alltäglichen, sondern vor allem auch auf der emotionalen Ebene – im Austausch über Gefühle wie Freude, Dankbarkeit, Sorgen, Zweifel oder Ängste. Eine Begegnung beider Partner von Herz zu Herz gibt es eben nur auf dieser emotionalen Ebene. Hier entsteht Verbundenheit, Nähe und Vertrautheit.

Viele Frauen wünschen sich, dass ihre Männer auf diesem Sektor zusätzliche Kompetenzen erwerben. Sie erleben „emotionale Spracharmut“ als schmerzhafte Leerstellen – in der Partnerschaft ebenso wie in der Vater-Kind-Beziehung und der Beziehung der Männer zu sich selbst. Viele Männer und Väter nehmen dieses Defizit gar nicht wahr.

Ein exzellenter Führer in das Land der emotionalen Sprachfähigkeit ist das Buch „8 Gespräche, die jedes Paar führen sollte“ der US-amerikanischen Paartherapeuten und -forscher John und Julie Gottman. Mütter und Väter, die sich auf diesen Weg begeben, verändern nicht nur ihr eigenes Leben, sie beeinflussen und bereichern auch das Leben ihrer (kleinen und großen) Kinder, die Paardynamik und das ganze Familiensystem.

Einige persönliche Anmerkungen

Optimal ist es, wenn dieser Schritt zum „neuen“ Vatersein zu Beginn der Familienphase erfolgt. Meine eigene Biografie zeigt, dass es aber auch später noch möglich ist, sich auf einen neuen Weg zu begeben. Ich habe viele meiner wichtigen persönlichen Weichenstellungen in diesem Bereich erst in der zweiten Lebenshälfte vollzogen. Der Rückblick auf die in den Jahren zuvor verpassten Möglichkeiten war und ist oft schmerzhaft. Gleichzeitig gab es in dieser zweiten Lebensphase einen großen Zugewinn an lebendigen Beziehungen; ich hätte es mir vorher nie so vorstellen können – in den ganz nahen Beziehungen (zu mir selbst, meiner Frau, zu unseren erwachsenen Kindern plus Schwiegerkindern, zu unseren Enkelkindern), aber auch darüber hinaus. Die „Familienwerkstatt“ und auch das Vater-Tochter-„Familien leben“-Buch gäbe es ohne diese Erfahrungen nicht.

Prof. Dr. Hannsjörg Bachmann, geboren 1943, war 20 Jahre lang Leiter einer Kinderklinik in Bremen. Er machte Ausbildungen bei Jesper Juul und Karl-Heinz Brisch und ist Mitbegründer der „Familienwerkstatt im Landkreis Verden e. V.“.

Erschöpfung in der Familie? 4 Tipps für mehr Resilienz

Das Familienleben ist häufig erschöpfend. Warum das so ist und wie Familien zu neuer Stärke finden, erklärt der Psychotherapeut Jörg Berger.

Erschöpft zu sein ist anders als müde oder erholungsbedürftig. Wer müde ist, schläft ein paar Nächte und fühlt sich wieder fit. Wer Erholung braucht, verbummelt ein Wochenende oder genießt einen Urlaub. Dann ist der Akku wieder geladen. Doch Erschöpfung geht tiefer. Man schläft und bleibt müde. Man ruht und wird nur antriebslos. Der Akku bleibt leer. Wer müde und erholungsbedürftig ist, kann es sich außerdem erklären: Vielleicht waren die Nächte schlecht oder ein Infekt hat den nächsten abgelöst. Oder einer steigt wieder in den Beruf ein und die Kinderbetreuung fällt aus. Das kostet Kraft. Doch wenn die Belastung nachlässt, kommt auch die Energie wieder. Das ist bei Erschöpfung anders. Man ist in normalen Lebensphasen k. o. und fragt: „Warum bin ich so erschöpft?“

Dann gibt es offenbar immer Dinge, die zu viel Energie kosten. Das betrifft erschreckend viele Menschen. Die Sozialforschungsgesellschaft Forsa hat 2019 im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse 1.000 Eltern mit Kindern unter 18 Jahren befragt. Über ein Drittel der Eltern hat angegeben, unter Erschöpfung und Burnout zu leiden. Etwa genauso viele haben auch Gereiztheit, Nervosität, Müdigkeit und Schlafstörungen erlebt. Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht es nicht anders, wie die Befragung „Jugend in Deutschland“ 2022 zeigte: Von den 1.000 repräsentativ ausgewählten jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren berichteten 45 Prozent von Stress, 35 Prozent von Antriebslosigkeit und 32 Prozent von Erschöpfung. In der Forsa-Umfrage wurden gestresste Eltern auch gefragt, was ihnen helfen würde. Sie wünschen sich vor allem zweierlei: mehr Zeit (70 Prozent) und innere Gelassenheit (72 Prozent). Hier können vier Strategien ansetzen, die aus der Erschöpfung führen.

1. Den Selbstwert stärken

Selbstwert und Energie hängen eng zusammen. Menschen, die sich wertvoll fühlen, spüren Energie in ihrem Körper. Sie können sich auf den Augenblick einlassen, genießen ihre Lieben und ihre Aufgaben. Und sie können über sich lachen und nehmen selbst Dinge, die schiefgehen, gelassen. Wer sich dagegen oft hinterfragt, kritisiert und schuldig fühlt, hemmt sich bis in sein körperliches Energielevel hinein. Er nimmt Dinge schwer und persönlich. Wer über Erschöpfung nachdenkt, sollte daher zuallererst am Selbstwert ansetzen: einander ermutigen, einander vertrauen und zutrauen, geräuschlos vergeben, auch das annehmen, was unvollkommen ist.

Aber macht das nicht selbstbezogen und rücksichtslos? Im Gegenteil, Annahme und Ermutigung machen korrigierbar. Wer sich wertvoll fühlt, bei dem kommen Signale an: „Ups, damit fühle ich mich nicht wohl.“ – „Wolltest du nicht noch …?“ – „Ich glaube, du bringst XY gerade in eine unangenehme Situation.“ Wer sich einer Korrektur verschließt, hat meist das Gefühl, nicht zu genügen und dass es ohnehin nie gut genug ist.

Selbstwert brauchen wir vor allem, wenn wir uns gegen das Zuviel wehren, mit dem fast jede Familie zu kämpfen hat. Es ist schrecklich überfordernd, was wir alles wissen, können, tun, leisten, haben und schaffen müssen. Aber müssen wir das wirklich? Vieles nicht. Gerade Verpflichtungen gegenüber Verwandten, Freunden und Bekannten, gegenüber Institutionen wie Kindergarten, Schule, Verein und Kirche können wir überprüfen: Müssen wir wirklich alles tun, was von uns erwartet wird? Wo nicht, können wir lernen, uns fröhlich zu schämen. Doch wer sich wertvoll genug fühlt, kann Erwartungen enttäuschen. Ich könnte eine lange Liste mit Punkten schreiben, in denen ich hinter dem zurückbleibe, was man von einem gebildeten, rücksichtsvollen und engagierten Menschen erwartet. Wo das sichtbar wird, schäme ich mich. Manchmal lassen es mich andere auch spüren, dass sie mehr von mir erwarten. Das lässt mich nicht kalt. Es kränkt, es schmerzt. Aber niemals würde ich mir die Freiheit nehmen lassen, so zu leben, wie es mir entspricht und wie es auch denen guttut, die ich liebe. Dann schäme ich mich lieber fröhlich.

2. Gefühle und Konflikte willkommen heißen

Kennen Sie den Gedanken: „Auch das noch!“, wenn wir es mit Gefühlsausbrüchen oder Konflikten zu tun bekommen? Etwa bei einem Wutausbruch unserer Kinder, einer Sinnkrise unseres Partners oder einem Streit? Doch wenn wir so reagieren, offenbart das: Unser Leben ist so voll, dass für Gefühle und Konflikte keine Kraft mehr da ist. Schon Bücher über berufliche Zeitplanung empfehlen: „Planen Sie in Ihren Arbeitstag Zeit für unvorhergesehene Dinge ein, denn die kommen immer. Wenn Sie den ganzen Tag bereits verplant haben, bringt Sie alles, was unerwartet kommt, unter Druck.“ Was für die Arbeit gilt, trifft in ähnlicher Weise für unser Privatleben zu.

Für Gefühle und Konflikte etwas übrig zu haben, ist schon deshalb entlastend, weil sie sich nicht verhindern lassen. Es gibt aber noch einen besseren Grund. Gefühle tragen viel Energie in sich: Sie brechen aus, reißen uns mit, sie bewegen oder überwältigen uns. Wo wir unsere Gefühle und die unserer Lieben bekämpfen, versiegt eine Energiequelle. Wo wir Gefühle dagegen verstehen, liebevoll beantworten und deren Energie in eine gute Richtung lenken, erhöht sich unser Energielevel. Auch die unvermeidlichen Konflikte können wir unter diesem Gesichtspunkt betrachten: Wo wir verstehen, worum es geht und einen guten Kompromiss finden, setzen wir Motivation und Kraft frei. Das Gegenteil wäre der ungelöste Konflikt, in dem wir uns gegenseitig blockieren, beschneiden, zensieren und das Leben eng machen, damit an dieser Stelle nicht schon wieder ein Streit ausbricht. Das macht nicht nur gereizt und traurig. Es lähmt unsere Lebenskräfte, die wir doch für unseren Alltag brauchen.

3. Energieräuber ausladen

Nichts greift tiefer in unser Nervensystem als das, was sich in unseren Beziehungen abspielt. Hier erneuert sich unsere Kraft, hier verlieren wir sie. Menschen ermutigen uns zu einem Leben, wie es uns entspricht. Menschen versuchen, über uns zu bestimmen und uns zu verbiegen. Für unseren Kräftehaushalt ist es daher entscheidend, wen wir in unsere Nähe lassen und wem wir emotionale Macht über uns geben.

Sozial eingestellte und gläubige Menschen sind großzügig gegenüber den Eigenarten anderer Menschen. Sie übernehmen Verantwortung für das Gelingen von Beziehungen, zur Not einseitig. Sie suchen im Zweifelsfall den Fehler bei sich. Doch manchmal ist das schädlich. Denn wenn andere sich unfair oder ausnutzend verhalten, brauchen wir eine starke Liebe, die den Schwächen anderer Grenzen setzt. Sie stellt andere vor die Wahl: „Möchtest du eine liebevolle, gesunde Beziehung mit mir leben? Oder bestehst du darauf, dich weiterhin unfair zu verhalten? Dann aber ohne mich.“

Nur wer fair und vertrauenswürdig ist, darf in unsere Nähe kommen. Viele Beziehungen sind gesetzt: Verwandtschaft, Nachbarn, Kollegen. Doch wir bleiben frei darin, wie viel Zeit wir mit jemandem verbringen und ob wir uns öffnen. Auch in einer oberflächlichen Beziehung, die sich auf das unvermeidliche Miteinander beschränkt, kann man freundlich, wertschätzend und hilfsbereit sein. Christlich geprägte Menschen erinnere ich manchmal daran, dass selbst Feindesliebe keine seelische Nähe erfordert. Beispiele für Feindesliebe in der Bibel sind beten, ein Kleidungsstück überlassen, etwas zu trinken oder etwas zu essen geben. Das alles ist möglich, ohne einen bösen oder schädlichen Menschen in sein Leben zu lassen. Manchmal spreche ich mit Menschen auch über die Frage, wie sozial man sein muss. Denn wenn sich jeder von schwierigen Menschen abwenden würde, blieben sie ja ganz allein. Doch man sollte das Potenzial schwieriger Menschen nicht unterschätzen, sich auf eine gesündere Beziehung einzulassen. Die Motivation dafür entsteht aber erst, wenn es nicht mehr genug Personen gibt, die sich unfair und ausnutzend behandeln lassen. Wenn das schwierige Verhalten Ausdruck einer psychischen Erkrankung ist, schenkt man einer Person besser in einem kleinen Netzwerk Gemeinschaft – alles andere überfordert oft.

4. Glück ist analog

Als Werkzeug ist die digitale Welt unendlich nützlich, als Lebensform erschöpft sie uns. Denn einerseits überreizt sie, andererseits schneidet sie uns von dem ab, was Kraft gibt: Berührungen, persönliche Begegnungen, in der Natur sein, etwas mit den Händen tun, die Welt mit allen Sinnen erfahren, die Wohltat des Nichtstuns genießen, in der Langeweile erleben, wie sich kreative Kräfte entfalten. Was einem schon der gesunde Menschenverstand sagt, können Studien präziser fassen. In der BLIKK-Medien-Studie 2017 wurden zum Beispiel über 5.000 Familien zum Umgang mit digitalen Medien befragt. Gleichzeitig wurde die Gesundheit und Entwicklung von Kindern untersucht. Das Ergebnis: Die Nutzung digitaler Medien begünstigt Schlafstörungen, Fütterstörungen, motorische Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Sprachentwicklungsstörungen, Konzentrationsstörungen und anderes. Je früher der Mediengebrauch einsetzt und je intensiver er ist, desto ausgeprägter sind die Effekte. Sowohl für die betroffenen Kinder als auch für Eltern, die sich Sorgen machen, sind die Folgen des Medienkonsums kraftraubend. Ins Positive gewendet liegt hier ein großes Potenzial für Wohlbefinden. Es gibt zwar den Sog in die digitale Welt und oft auch einen sozialen Druck. Doch wir bestimmen, inwieweit wir dem nachgeben. Je glücklicher wir in der analogen Welt sind, desto leichter wird es.

Wenn ich erschöpfte Menschen begleite, wünschen sie sich nichts mehr, als wieder Kraft zu haben. Um dann so weiterzumachen wie bisher? Lieber nicht. Denn Erschöpfung hat eine Botschaft, die uns etwas Wichtiges zu sagen hat. Wir haben uns von dem abschneiden lassen, was uns Kraft gibt. Wir haben den falschen Menschen oder Dingen Macht über uns gegeben. Wer die Botschaft hört und beherzigt, wird seine Erschöpfung feiern. Denn sie führt auf einen Weg, der das Leben leichter und glücklicher macht. Sie bringt mehr in Übereinstimmung mit dem, was einem wirklich wichtig ist.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (psychotherapie-berger.de/family).

Wenn Jugendliche nur noch chillen wollen – Tipps für Eltern

Teenager und Jugendliche hängen gern ab und treiben ihre Eltern damit in den Wahnsinn. Was tun? Chillen lassen oder antreiben? Pädagogin Sonja Brocksieper gibt Tipps.

Mit Beginn der Teenagerjahre erleben viele Eltern, dass sich die Verhaltensweisen ihrer neugierigen und aktiven Kinder, die sich gern zu gemeinsamen Aktivitäten einladen ließen, verändern. Chillen und Abhängen werden zur Lieblingsbeschäftigung. Jugendliche lassen sich zu den liebgewonnenen Familiengewohnheiten immer weniger motivieren. Das Engagement für die Schule und das ein oder andere Hobby werden vernachlässigt. Manche Eltern empfinden ihre größer werdenden Kinder regelrecht als faule Mitbewohner, die kaum noch etwas auf die Reihe bekommen. Je nach Ausmaß führt diese Faulheit in vielen Familien zu Auseinandersetzungen und Diskussionen.

Antriebslose Jugendliche

Zunächst muss man hervorheben, dass das Abhängen der Teenager ein normaler Entwicklungsschritt ist. Die Jugendzeit ist eine Zeit enormer Veränderungen. Am auffälligsten ist das bei der körperlichen Entwicklung, aber auch seelische Umbrüche prägen diese Zeit. Viele Teenager erleben – aufgrund hormoneller und neurologischer Veränderungen – große emotionale Schwankungen. Gerade war noch alles wunderbar und einen Moment später geht die Stimmung in den Keller. Die Pubertät ist eine anstrengende Zeit des Zweifelns, der Unsicherheit und der Suche nach dem eigenen „Ich“. Dazu kommt, dass sich der Biorhythmus im Jugendalter ändert und sich die Melatonin-Ausschüttung verschiebt. Morgens kommen sie nicht aus dem Bett, tagsüber sind viele antriebslos und abends werden sie später müde. Auch ernsthafte körperliche Beschwerden können Begleiterscheinungen in der Pubertät sein: Kopf- und Gliederschmerzen, Schwindel, Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen, Müdigkeit oder nervöse Erregbarkeit sind nicht selten die Folgen.

Bei vielen Teenagern gehen die Schulleistungen in der siebten bis neunten Klasse etwas nach unten. Der Kopf und das Herz sind mit wichtigeren Themen beschäftigt als Vokabeln und Geschichtsdaten. Das Gehirn ist in dieser Zeit eine regelrechte Baustelle, sodass es vielen Jugendlichen schwerfällt, sich mit abstraktem Wissen, das mit der eigenen Gefühlswelt wenig zu tun hat, zu beschäftigen. Viel spannender ist die Frage, wie man sich im eigenen Körper wohlfühlen kann, wie man bei den Jungs oder Mädchen in der Klasse oder Jugendgruppe ankommt und wie sich die Freundschaften untereinander entwickeln. Nicht selten erleben Teenager hier auch Stress, Enttäuschung oder Zurückweisung, was Zeit zur Verarbeitung braucht. Und natürlich nagt es auch an der Teenagerseele, wenn man ständig in der Schule das Feedback bekommt, dass die Leistungen nicht so brillant sind. Im Grunde wissen sie, dass mehr Lernen helfen könnte, aber dafür fehlt die Energie.

Gesunde Selbstfürsorge

Um all die Veränderungen zu verarbeiten, brauchen viele Jugendliche Zeiten für sich. Sie ziehen sich zurück und hängen in ihrem Zimmer ab, weil sie schlichtweg eine Verschnaufpause für ihre Seele und ihren Körper brauchen. Und solange das kein Dauerzustand ist, sollten Eltern ihren Kindern diese Erholungszeiten zugestehen. Zeiten des Rückzugs, in denen ein Teenager den ganzen Nachmittag auf dem Bett verbringt und keinen sehen will, sind eine gesunde Selbstfürsorge. Auch das lange Ausschlafen am Wochenende ist eine wichtige Oasenzeit für die Heranwachsenden.

Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass Eltern bei dauerhafter Lethargie und völliger Passivität genauer hinsehen. Wird aus einzelnen Chill-Phasen ein Dauerzustand, in dem die Stimmungslage des Jugendlichen kippt, sollten Eltern das Gespräch suchen. Bei aller Erholung ist es wichtig, dass Jugendliche gleichzeitig motiviert werden, ihren Platz im Leben einzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. Ein Mindestmaß an schulischem Einsatz, Mithilfe im Haushalt, Bewegung und Kontakt zu Gleichaltrigen sollte in dieser Lebensphase im Blick bleiben und von den Eltern liebevoll gefördert werden. Dabei ist es wenig hilfreich, wenn wir unseren Teenagern Vorwürfe machen. Sätze wie „Du hängst nur rum“, „Du machst ja gar nichts mehr“ oder „Jetzt geh doch mal an die frische Luft“ sollte man lieber vermeiden. Stattdessen können Eltern mit einer empathischen Haltung deutlich mehr erreichen: „Ich verstehe, wenn dir gerade alles zu viel wird. Ich finde es okay, wenn du morgen ausschläfst. Samstagnachmittag musst du dich dann bitte um das Badputzen kümmern.“

Manchmal ist es für Eltern auch gut, sich an die eigene Jugendzeit zu erinnern, in der man selbst genervt war, wenn man von den Eltern angetrieben wurde, endlich den Müll aus dem Zimmer zu räumen. Besonders dann, wenn der Tonfall nicht respektvoll oder wertschätzend war. Viele Reibungspunkte können Eltern vermeiden, wenn sie in der Kommunikation mit ihren Kindern eine Haltung des Respekts einnehmen und nachfragen, wie es ihnen geht.

Aus der Abhäng-Phase rauskommen

Aus der Gehirnforschung wissen wir, dass mit etwa 15, 16 Jahren eine deutliche Entwicklung der neurologischen Reife stattfindet. Etwa ab diesem Alter wächst die Fähigkeit, umfassend zu reflektieren, Einsicht zu bekommen und komplexe Entscheidungen zu treffen. Spätestens ab diesem Alter sollten Eltern ihre Anforderungen an ihre jugendlichen Kinder Schritt für Schritt steigern. Bleiben Jugendliche in dieser Abhäng-Phase stecken, können sie sich zu Konsumenten entwickeln, die wenig lebensfähig werden und es dann später schwerer haben, die Alltagsherausforderungen zu bewältigen.

Nicht selten können Übergangsphasen Fallstricke sein, sodass es gut ist, diese Phasen gut vorzubereiten und zu planen. Nach dem Schulabschluss inklusive Prüfungszeit lassen viele junge Leute mit gutem Recht erst mal ihre Flügel hängen. Jugendliche sollten auch genießen dürfen, wenn sie einen wichtigen Lebensabschnitt geschafft haben. Je nach Persönlichkeit ist es sogar ratsam, dass sie nicht sofort in der üblichen Tretmühle weitermachen. Dennoch ist es auch wichtig, diese Zeit der Pause klar zu begrenzen, damit Faulenzerei kein Lebensmotto wird, sondern Kraft für Neues freisetzen kann.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und leitet gemeinsam mit ihrem Mann die team-f Regionalarbeit im Rheinland. sonja-brocksieper.de

Lazy Parenting: Erstmal beobachten und abwarten

Ist mit meinem Kind alles in Ordnung? Müssen wir zum Arzt, zur Therapeutin oder zur Erziehungsberatung? Familienberaterin Daniela Albert rät: Erstmal beobachten!

Mein Lieblingssatz beim Kinderarzt lautet: „Einfach nur beobachten!“ Diese drei Worte, die viele Eltern zur Verzweiflung bringen, sind Musik in meinen Ohren. Sie entbinden mich nämlich davon, in irgendeiner Weise reagieren zu müssen. Sie ersparen mir gefühlte 1.000 Telefonate, um Termine bei Fachärzten zu bekommen, und lange Wege von A nach B, um etwas abklären zu lassen. Und sie ersparen mir Sorgenspiralen, die sich entwickeln, wenn das Kind etwas hat, das abgeklärt werden muss.

Früher war ich da anders. „Einfach nur beobachten!“ hieß für mich, dass mich jemand nicht ernst nimmt. Es kann doch nicht sein, dass mein Kind dauernd Husten und Infekte hat und es keinen tieferliegenden Grund dafür gibt. Den müssen wir doch finden, dachte ich, denn von „Einfach nur beobachten!“ geht das doch nicht weg. Ich hatte damals das Glück, einen Arzt in der Familie zu haben, den ich um Rat fragen konnte – meinen Schwiegervater. Tatsächlich – und zu meinem anfänglichen Entsetzen – schloss dieser sich oft genug der Einschätzung des Kinderarztes an. Es ist nämlich, so musste ich lernen, tatsächlich total normal, dass Kindergartenkinder alle paar Wochen einen Infekt haben und im Winter quasi durchgehend husten. Man kann das wirklich „einfach nur beobachten“.

Vermeidbarer Stress

Auch im Kindergarten hörte ich diesen Satz das eine oder andere Mal, wenn ich Erzieherinnen auf schwierige Situationen ansprach. Oder wenn ich die Rückmeldung bekam, dass mein Kind die Schere oder den Stift noch nicht richtig halten würde oder Wörter falsch aussprach. Dank meines Schwiegervaters war ich das Beobachten schon gewohnt und konnte es besser aushalten.

Im Laufe der Jahre als Mutter habe ich gelernt, dass „Einfach nur beobachten!“ meiner Persönlichkeit viel mehr entspricht, als ich von mir, einem eher ängstlichen Gemüt, gedacht hätte. Ich bin nämlich nicht nur ein bisschen ängstlich, wenn es um meine Lieben geht und sorge mich oft um sie – ich bin auch faul. Ich mache mir nicht gern Arbeit, wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass sie es auch wert ist. Und als Arbeit – und zwar eine ziemlich ungeliebte – empfinde ich alles, was man bei Kindern abklären oder behandeln lassen muss. Ich habe keine Lust, Nachmittage in Facharztpraxen, bei Ergotherapeuten oder Bewegungsangeboten zu verbringen, nur um etwas zu therapieren, was vielleicht auch von allein weggegangen wäre.

Versteht mich nicht falsch: Es gibt Dinge, die kann man nicht „einfach nur beobachten“, sondern muss sie gut abklären oder behandeln lassen. Das gilt sowohl für medizinische Fragen als auch wenn es um die kindliche Entwicklung geht. Meine Erfahrung ist jedoch, dass das viel seltener vorkommt, als wir Eltern annehmen. Oft sind wir es nämlich, die darauf drängen, dass Untersuchungen schneller gemacht werden oder bei vermeintlich zu langsam vollzogenen Entwicklungsschritten therapeutisch nachgeholfen wird. Wir machen uns und unseren Kindern dabei Stress, der vermeidbar gewesen wäre. Denn viele Dinge lösen sich in Wohlgefallen auf, wenn man sie einfach nur beobachtet. Die meisten Kinder lernen tatsächlich, auf der Linie zu schneiden, den Stift richtig zu halten, die Füße gerade zu stellen. Und sie werden irgendwann auch seltener krank – ohne dass wir etwas unternehmen.

Beobachten und Abwarten statt planen

Den Grundsatz „Einfach nur beobachten!“ habe ich längst in meine gesamte Erziehungsphilosophie übernommen. Wenn bei uns Schwierigkeiten auftreten, habe ich nicht mehr den Anspruch, sie sofort zu lösen:

  • Die Geschwister streiten sich? Ich schaue erst mal, ob sie es allein regeln.
  • Mein Kind kommt mit einer Lehrerin nicht auf Anhieb klar? Wir warten mal ab, wie sich das entwickelt.
  • Ein Kind hat Schwierigkeiten, Wörter richtig zu schreiben? Vielleicht spielt sich das mit der Zeit von selbst ein.

Mein Kind wird seinen Weg schon gehen. Ich muss sein Leben nicht planen. Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass es genügend – und vor allem die richtigen – Hobbys hat, wie es seine Zeit verbringt und mit wem. Mein Kind hat sich mit einem Kind angefreundet, das ich für einen nicht so guten Umgang halte? Einfach mal beobachten, ob die Freundschaft hält und ob das Kind wirklich einen negativen Einfluss auf meins hat.

Mein Kind hat keine Lust auf Sport oder Musikinstrumente? Dann muss ich nicht nach einem Hobby suchen, das passt, sondern kann abwarten, ob sich etwas findet.

Eigene Lösungen finden

Diese Haltung, sich erst einmal faul zurückzulehnen und nicht einzugreifen, in der Hoffnung, dass sich die Dinge von allein regeln, ist nicht nur für uns gut. Tatsächlich ist sie auch das Beste, was unseren Kindern passieren kann. Schon Jesper Juul, der verstorbene Autor und Familientherapeut, feierte „faule Eltern“. Nicht solche, die ihre Kinder tatsächlich vernachlässigen, auf keinen Fall! Aber die, die nicht jedes Mal in Aktion treten, wenn es scheinbar Grund dafür gäbe. Indem wir uns zurücknehmen und abwarten, geben wir unserem Kind den Raum, sich selbst zu entwickeln, eigene Lösungen zu finden, allein zu entdecken, wer es ist und was es will. Und letztlich überträgt sich auch unsere Gelassenheit auf unsere Kinder, wenn wir „Einfach nur beobachten!“ zum Leitstern unserer Erziehung machen.

Manchmal fällt mir das immer noch nicht leicht. Gerade mit größer werdenden Kindern, die viel Zeit ohne mich verbringen, habe ich Angst, dass Sachen schiefgehen können, wenn ich sie auf die leichte Schulter nehme. Medienkonsum „einfach nur beobachten?“ Bei „falschen Freunden“ immer noch cool bleiben und abwarten? Über Ausdrucksweisen, die ich furchtbar finde, hinwegsehen? Aushalten, dass sie nichts für die Schule tun?

Hier fühle ich mich manchmal wieder wie am Anfang meiner Reise als Mutter. Meinen Schwiegervater kann ich leider nicht mehr um Rat fragen, er ist inzwischen verstorben. Aber mir hilft der Glaube daran, dass Gott mir auch zuhört – und ich glaube, auf die meisten meiner Sorgen antwortet er: „Einfach nur beobachten – ich kümmere mich um den Rest.“

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kaufungen bei Kassel und bloggt unter: eltern-familie.de

Von wegen „Krönchen richten“: Warum manche Probleme Zeit brauchen

Was kommt nach dem Hinfallen? Manche Hindernisse im Leben brauchen etwas Zeit, damit man sie gut bewältigen kann.

Seit einigen Jahren schon pflege ich eine innige WhatsApp-Freundschaft mit einer lieben Freundin und damit das moderne Äquivalent einer herkömmlichen Brieffreundschaft. So viele Nachrichten sind über die Wochen und Jahre hin- und hergeflogen, dass wir einander, unsere Familien und Lebensumstände sehr gut kennenlernen konnten. Wir teilen die fröhlichen und die traurigen Momente des Alltags, die Kuriositäten und die Banalitäten des Lebens. Aber auch unsere Sorgen und unseren Kummer, unsere Erleichterungen und unsere Höhenflüge. Trotz der räumlichen Distanz ist über die Jahre hinweg eine herzliche Nähe entstanden, Vertrautheit und damit Vertrauen gewachsen.

Wenn ich so zurückblicke, dann gab es aber auch jede Menge zu erzählen, zu verarbeiten und zu sortieren: die Coronajahre, die in so vieler Hinsicht eine Grenzerfahrung für unsere Familien waren. Schulsorgen, Kindersorgen, Jobsorgen, kleine und große Herausforderungen, tiefe Trauer und manchen Ärger – der ganz normale Alltagswahnsinn ganz normaler Familien. Es gab und gibt jede Menge zu bewältigen und so gehen, stolpern, fallen wir durch unsere Leben und haben das Glück, einander davon auf die Mailbox quatschen zu können.

Keine Zeit zum Wundenlecken

Noch etwas fällt mir beim Zurückschauen, aber auch beim Umschauen in meiner nächsten Umgebung auf. Ist die eine Hürde genommen, die Herausforderung gewuppt, das Tal durchquert, dann schütteln wir uns kurz und traben zur nächsten. Das Leben, vor allem das Leben mit vielen lässt einem kaum eine Pause für langes Wundenlecken, gründliche Reflexionen und ordentliches Verdauen der Ereignisse. Und wir selbst bestehen auch nicht darauf, wie sollten wir auch? Zum einen traben Alltag und Leben ebenfalls munter weiter, längere Haltestellen sind nicht vorgesehen. Zum anderen ist menschliche Funktionstüchtigkeit ein hoher Wert in unseren Breiten.

Es gibt eine allseits beliebte Postkarte zu diesem Phänomen, zu finden auf jedem Spruchpostkartenständer in Supermärkten und Geschenkelädchen: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“, heißt es dort kunstvoll gelettert und gern mit Krönchen verziert. Diese Spruchweisheit ist meines Erachtens eine hübsch getarnte Variante des althergebrachten „Reiß dich am Riemen! Stell dich nicht so an, weiter geht‘s!“. Die Karte bringt auf den Punkt, was ich von mir erwarte: Ich lasse mich durch nichts unterkriegen, habe alles im Griff. Wenn ich falle, stehe ich einfach wieder auf und mache unbeirrt weiter. Denn ich bin ja nicht aus Zucker, kein Weichei, und wenn etwas dumm gelaufen ist, mache ich einen Haken dran.

Grenzen ignoriert

Diese Philosophie lässt sich auf nahezu alle Lebensbereiche anwenden, ganz gleich, ob simple Alltagsherausforderung oder echter Ausnahmezustand, ob kleine Kränkung oder veritable Grenzerfahrung. Eine Postkarte für alle Anlässe. So ein Motto, auch wenn es auf eine Postkarte passt, verlangt sehr viel von meinem Herzen und Hirn, meinem Körper und meinem Geist. Es verlangt vor allem, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen und die Begrenztheit der eigenen Ressourcen zu ignorieren. Du darfst zwar fallen, aber nur, um gleich wieder aufzustehen und den Stolperstein möglichst schnell hinter dir zu lassen. Wir haben alles in der Hand und zwar mit festem Griff. Vielleicht nicht die Ereignisse, aber doch uns selbst.

Das ist ein fataler Irrtum. Eine Postkartenweisheit, die eine Beschaffenheit der menschlichen Seele suggeriert, die der einer Teflonpfanne gleicht und an der alle Herausforderungen abperlen, ohne gravierende Spuren zu hinterlassen. Eine verlockende Illusion hat sie außerdem im Gepäck. Die Idee von Kontrolle, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Wir gestatten uns selten bis nie, innezuhalten und zuzugeben: „Das war einfach zu viel. Ich weiß nicht mehr weiter, heute nicht und morgen aller Wahrscheinlichkeit auch nicht. Ich brauche dringend eine Pause, die letzten Wochen waren herausfordernd. Dieser Kummer hat mein Leben für immer verändert. Mit dieser Schuld muss ich leben. Dieses leidige Thema holt mich immer wieder ein.“ Selbst Trauernden wird häufig nur eine begrenzte Zeit zugestanden, bevor sie sich und ihre Emotionen wieder im Griff haben sollen.

Dellen im Krönchen

Meiner bescheidenen Erfahrung nach melden sich aber Altlasten und Gebrochenheiten in schöner Regelmäßigkeit in Form von Stolpersteinen zurück, über die man dann nicht einfach hinweggehen kann. Wer zu lange immer weiter macht, brennt aus. Auf manchen Schmerz gibt es ein lebenslanges Abo, manche Fehler suchen mich immer wieder heim. Nicht alles, was dir widerfährt, wird wieder gut. Du merkst es spätestens dann, wenn der eigene Körper protestiert, weil das Weitermachen nach dem Fallen die einzige Zielrichtung ist und er lieber in die andere Richtung will. Oder liegen bleiben möchte, nur für ein Weilchen. Du fällst, du stehst auf, richtest dein Krönchen und gehst weiter, aber wie? Hinkend und lahmend? Mit zusammengebissenen Zähnen, weil die Teflon-Beschichtung der Seele in Wirklichkeit nicht allzu haltbar ist und sich die Kratzer nur mit viel Mühe ignorieren lassen?

Ich denke allerdings nicht, dass wir nun dringend Postkartenmotive bräuchten mit Lebensweisheiten wie: „Hinfallen, liegen bleiben, noch tiefer einbuddeln und im Jammertal heimisch werden.“ Das wäre kaum eine praktikable Lösung. Und ich wünsche wirklich niemandem ein Leben zusammengekauert in Ausweglosigkeit. Aber zwischen „sich einrichten im Jammertal“ und „beharrlich weitermachen, als wäre nie etwas gewesen“ darf es Rastplätze geben, Seitenstreifen und Ruhebänkchen: eine Weile neben dem Weg sitzen bleiben und die eigenen Glieder und Umstände sortieren. Möglichkeiten finden, um anzuhalten und sich um dringende Bedürfnisse zu kümmern. Auftanken und ausruhen in dem Wissen, dass ich weder die Ereignisse noch mich selbst immer im Griff haben kann und muss. Zeit zum Weinen und Zeit, Frieden zu schließen. Zeit, Atem zu holen und Zeit, still zu werden, weil das Leben zu laut ist.

Hin und wieder vergessen wir im Strudel der Ereignisse, dass wir Menschen sind und nicht Gott. Menschen müssen und können nicht immer funktionieren, weitermachen und unverdrossen weitergehen. Manchmal hat das blöde Krönchen so viele Dellen, dass man es beherzt in die Ecke schmeißen oder gegen einen Regenhut eintauschen darf. Als Menschenkind bin ich wertvoll und geliebt, auch wenn ich ein Weilchen nicht weiterzugehen vermag. Ich darf stolpern, ich darf hinfallen und mich dann getrost an die Seite setzen, um zu klagen, Kraft zu sammeln, Haare zu raufen und Hilfe zu erbitten.

Klagen und Haareraufen

Oft finde ich Trost in der Bibel. Die Psalmen Davids gehören zu meinen liebsten Texten. Sie sind in gewisser Weise sehr viel menschenfreundlicher als unsere Postkartenweisheiten. Vielmehr sind sie ein wahrer Schatz für beanspruchte Menschenherzen, die dringend eine Pause brauchen. Dort findest du eine wortgewaltige Fülle an Gezeter und Gejammer, an Klagen und Haareraufen. Du findest aber auch Rufe nach Hilfe und Vergebung. Lieder der Zuversicht und des Vertrauens auf Gott, der weiß, dass seine Menschenkinder in schöner Regelmäßigkeit fallen, nicht zuletzt über ihre eigenen Füße, der Zuflucht ist und sichere Burg. Die Psalmen besingen nicht, wie man sich am Riemen reißt oder die Zähne zusammenbeißt.

Ich mag sie, weil sie Gott mitten hinein ins allermenschlichste Leben holen, meinen Gott, der mich tröstet und hält, wenn es mich umgehauen hat. Der Psalmist hat offenbar überhaupt keine Hemmungen, sein Straucheln und Fallen Gott entgegenzusingen, seine Bedürftigkeit nach Zuwendung, Trost und Hilfe. Genau das möchte ich mich häufiger trauen. Wenn das Leben mich zu Fall bringt, muss ich nicht sofort weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Ganz praktisch darf ich Termine streichen und das Tempo rausnehmen. Ich darf Nein sagen, wenn es mir zu viel wird. Früh zu Bett gehen und spazieren, traurig sein und mir ratlos die Haare raufen, solange es eben dauert. Wenn ich dann so weit bin, wenn die Kraft wiederkehrt, wenn die Tränen getrocknet und die Sorgen sortiert sind, dann kann ich mich auf den Weg machen. Vielleicht sind die ersten Schritte wacklig und unsicher, langsamer und suchender. Aber ich gehe, in meinem Tempo. Die nächste Herausforderung kommt bestimmt. Wo ein Weg, da auch Hürden. Vielleicht brauchen wir eine Postkarte, die uns erinnert: „Hinsetzen, zu Kräften kommen und mit Gott und lieben Freunden quatschen!“

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und arbeitet als Lehrerin und Schulseelsorgerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Nierstein am Rhein und bloggt unter: 7geisslein.com

Bedürfnisse von Eltern und Kindern ausbalancieren

Bei der „Bedürfnisorientierten Erziehung“ stehen die Kinder im Fokus. Doch auch die Bedürfnisse der Eltern zählen. Therapeutin Melanie Schüer gibt Tipps, wie Eltern und Kinder zufrieden bleiben.

Babys nah am Körper tragen, nach Bedarf stillen, Matratzenlager als Familienbetten … all das ist zurzeit bei jungen Eltern längst keine Ausnahme mehr, sondern gehört immer häufiger zur Normalität im Alltag mit Säuglingen und Kleinkindern. Seit einigen Jahren orientieren sich immer mehr Eltern am Ansatz der sogenannten „Bedürfnisorientieren Erziehung“. Diese Denkweise schenkt der Eltern-Kind-Beziehung besonders viel Beachtung. Körpernähe, Tragen, Einschlafbegleitung beziehungsweise gemeinsames Schlafen sind dabei wichtige Elemente. Die Bedürfnisorientierte Erziehung geht davon aus, dass Babys und Kleinkinder immer einen legitimen Grund für ihr Verhalten haben, denen bestimmte Bedürfnisse zugrunde liegt, und nie weinen oder quengeln, um ihre Eltern zu „ärgern“ oder „Grenzen auszutesten“.

Die Angst vor dem Verwöhnen

Tatsächlich ist ein Verständnis im Sinne von „Passt auf, der will nur schauen, wie weit er gehen kann!“ oder „Wenn ihr auf jedes Weinen reagiert, tanzt sie euch bald auf der Nase herum!“ und damit eine Angst vor dem „Verwöhnen“ noch weit verbreitet. Jedoch geht das an der Realität vorbei.

Wichtig dabei ist aber, zu verstehen: Eltern, die kindliche Bedürfnisse erkennen und erfüllen, verwöhnen nicht. Sie nehmen ihre Kinder ernst und geben ihnen eine wichtige Erfahrung mit auf den Weg: Nämlich, dass sie ernst genommen und liebevoll umsorgt werden. Das ist eine wichtige Basis für die Entstehung von Urvertrauen und Beziehungsfähigkeit.

Natürlich kann man Kinder „verwöhnen“ oder „verweichlichen“, doch das bedeutet etwas ganz andres:

  • wenn Kindern ständig Aufgaben abgenommen werden, die sie schon selbst ausführen könnten
  • wenn Kindern der Eindruck vermittelt wird, dass nur ihre Bedürfnisse zählen und sich die ganze Welt um sie dreht
  • wenn Kindern nie Frust oder die Erfahrung der Folgen ihres Handelns zugemutet werden

Die 7 Kernpunkte der bedürfnisorientierten Erziehung

Konkret betont die bedürfnisorientierte Erziehung sieben wesentliche Elemente:

  • Birth Bonding: Direkt nach der Geburt sollte Augen- und Körperkontakt zwischen Mutter und Kind ermöglicht werden.
  • Stillen statt Flaschennahrung (Stillen nach Bedarf, ca. ein bis vier Jahre lang, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu stärken)
  • Häufiges Tragen des Babys nah am Körper
  • Schlafen in der Nähe des Babys (z.B. Familienbett, Beistellbett)
  • Rasches Reagieren auf das Weinen des Babys
  • Verzicht auf Schlaftrainings, die „(allein) weinen lassen“ beinhalten
  • Balance zwischen den elterlichen und den kindlichen Bedürfnissen

Wünsche oder Bedürfnisse?

Die Balance zwischen kindlichen und elterlichen Bedürfnissen ist Teil der sieben Kernelemente der bedürfnisorientierten Erziehung. Und doch kann der starke Fokus auf die Bedürfnisse des Kindes dazu führen, dass Eltern sich selbst aus den Augen verlieren. Insbesondere dann, wenn Ansprüche wie natürliche Ernährung, windelfreie Erziehung, Familienbett usw. hinzukommen. Eine weitere Schwierigkeit: Die Begründer der Bedürfnisorientierten Erziehung, das Ehepaar Sears, erwähnen zwar den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen, führen dies aber nicht weiter aus. So ist nicht klar, was das Problem ist: Steht hinter dem fünften Aufstehen nach einem liebevollem Einschlafritual mit Kuscheln und Vorlesen ein Bedürfnis nach Nähe, das wir auf keinen Fall verweigern dürfen? Muss ich das Bedürfnis meines Kleinkindes nach Selbstbestimmung erfüllen, wenn es sich weigert, seine Zähne zu putzen? Was zählt mehr, wenn die Mutter abstillen will, das Kind aber nicht?

All das sind nicht nur knifflige Fragen, sondern ganz schnell auch Auslöser für Streitigkeiten zwischen Elternteilen. Und das ist oft eng verbunden mit der großen Angst, etwas falsch zu machen und damit die Eltern-Kind-Bindung zu gefährden oder dem Kind anderweitig zu schaden. Wichtig ist dabei, dass das Bedürfnis, das sich hinter dem Verhalten verbirgt, oft einem größeren Thema entspricht, z.B. „Selbstbestimmung“ oder „Nähe“. Wenn das klar ist, können Eltern schauen: Wie können wir diesem Bedürfnis auf andere Weise gerecht werden, auch wenn wir in dieser Sache etwas durchsetzen müssen – wie: „Die Zähne müssen geputzt werden, damit dein Mund gesund bleibt. Aber du darfst selbst bestimmen, ob vor oder nach dem Lesen. Und wenn du willst, darfst du auch meine Zähne putzen.“

Risiko Eltern-Burn-out

Eigene Bedürfnisse zurückzustellen, auch deutlich mehr als in anderen Lebensbereichen, gehört zum Elternsein dazu. Wenn das Baby nachts Koliken hat, tagsüber wegen Trennungsängsten ständige Nähe sucht oder das Kind zehnmal am Tag erbricht – all das sind Erfahrungen, die Eltern nur bewältigen können, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen.

Aber: Dass die eigenen Bedürfnisse kaum noch zählen, sollte nie zum Dauerzustand werden. Nach einigen Tagen, spätestens Wochen, in denen nur zählt, was das Kind braucht, spüren Eltern immer mehr Anzeichen für einen leeren emotionalen Akku. Gereiztheit, depressive Verstimmungen, Schlafprobleme, körperliche Schmerzen … Vieles kann uns zeigen: Achtung! Me-Time ist kein Luxus, sondern dringend nötig!

Me-Time ist kein Luxus

Dieser Satz kann Eltern kaum oft genug gesagt werden. Wir denken doch oft still und heimlich: „Solange die Kinder glücklich sind, geht’s mir auch gut. Das passt schon. Irgendwann sind sie ja groß.“ Das Problem ist nur: Kinder spüren deutlich, wie es ihren Eltern geht. Und wenn es den Eltern schlecht geht, dann leiden früher oder später auch die Kinder darunter.

„Euer Alltag ist ihre Kindheit“, sagte die Autorin Nicola Schmidt und das bedeutet eben auch: Die elterliche Erschöpfung, Überforderung, permanente Stressbelastung – all das ist Teil dessen, was die Kinder später als „meine Kindheit“ in Erinnerung behalten werden. Natürlich bedeutet das nicht, dass Kinder keine Probleme mitbekommen sollten. Im Gegenteil, sie dürfen wissen, dass nicht immer alles einfach ist und auch Eltern mal zu kämpfen haben. Gerade so lernen sie auch den Umgang mit Stress und Schwierigkeiten. Aber eben das nur, wenn Eltern genau das angehen: Einen guten Umgang mit den Herausforderungen des Alltags zu verfolgen. Und das geht nur, indem sie auch eigene Bedürfnisse absolut ernst nehmen und ihnen Priorität einräumen.

Die „Spätestens-Regel“

Dazu ist es sinnvoll, erst einmal zu sammeln, bei welchen Aktivitäten ich als Elternteil auftanken kann – beispielsweise Schwimmen, in die Sauna gehen, wandern. Dann wird überlegt:

  • Wie oft würde ich das gern machen?
  • Wie oft könnte ich es im aktuellen Alltag womöglich schaffen, Zeit zu finden, wenn ich es wirklich versuche, einzubauen?
  • Wann mache ich das aber spätestens wieder, wenn ich es vorher wegen Krankheiten, Problemen der Kinder o.ä. aufgeschoben habe? (z.B. nach drei Wochen)
  • Was lasse ich dafür auch mal liegen?

Mini-Oasen

Zeitaufwändige Me-Time-Aktivitäten funktionieren im Alltag oft höchstens alle 1-2 Wochen. Umso wichtiger ist es, auch kürzere Möglichkeiten zur Erholung zu finden, z.B.

  • das Hören von Entspannungsmeditationen, Musik oder von einem Hörbuch
  • ein Telefonat mit einer vertrauten Person
  • ein leckeres Essen nur für mich selbst oder als Paar, wenn die Kinder schlafen
  • ein kleiner Spaziergang oder eine halbe Stunde Sport

Bedürfnisse der Eltern: Paar-Zeit

Die Paarbeziehung zu pflegen ist ein ganz wichtiger Teil der elterlichen Bedürfnisse. Auch das hat für die Kinder wesentlichen Vorbild-Charakter und stellt die Familie auf Dauer auf ein stabiles Fundament. Hier hilft es, sich für einmal pro Woche einen Paarabend vorzunehmen für gute Gespräche, Filme, Spiele o.ä. Auch leckeres Essen oder ein Wein können dazu gehören. Wenn die Abende noch mit Einschlafbegleitung gefüllt sind, kann für eine Weile auch eine Paar-Zeit 1-2 mal im Monat reichen – dann aber gern etwas länger, zum Beispiel mit Unterstützung von lieben Menschen, die auf die Kinder aufpassen. Natürlich geht das auch tagsüber, wenn die Kinder abends nur von ihren Eltern in’s Bett gebracht werden mögen.

Kindern Grenzen kommunizieren

Um diese Balance zwischen Eltern-Bedürfnissen und Kind-Bedürfnissen zu erreichen, ist es wichtig, dass die Kinder erfahren: Was ich will und brauche, ist wichtig. Und was meine Eltern wollen und brauchen, ebenfalls! Gemeinsam suchen wir nach Kompromissen.

Deshalb ist es gut, wenn Eltern ihren Kindern auch aufzeigen, wo ihnen selbst etwas wichtig ist oder zu viel wird. Kinder dürfen mitbekommen, dass auch Eltern Pausen brauchen, respektvoll behandelt werden wollen und traurig, verärgert oder frustriert sein können. Und, dass auch ein “Nein” liebevoll sein kann – weil zum guten Elternsein eben auch eine gute Selbstfürsorge zählt. Das können und sollten Eltern dann auch formulieren, zum Beispiel:

„Ich sehe, dass du gern noch bleiben möchtest. Das verstehe ich – du hast gerade viel Spaß auf dem Spielplatz. Aber weißt du, ich bin heute auch verabredet, mit Pia. Und es ist mir wichtig, sie zu treffen. Deshalb müssen wir jetzt los. Aber wenn du magst, können wir übermorgen wieder hierherkommen und dann mehr Zeit mitbringen!“

Melanie Schüer Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Autorin.

 

Sohn mit Tourette: „Mein Kind war mir peinlich“

Er rief unvermittelt „Heil Hitler“: Mit ihrem Tourette-kranken Sohn Florian ging Sabine Eisenmann regelrecht durch die Hölle. Ein Bericht.

Sabine Eisenmann (62) ist eine lebenslustige, attraktive Frau aus Aspach bei Stuttgart. Aber die Friseurmeisterin und ihr Mann Volker waren oft verzweifelt über Florian, ihren Erstgeborenen. Als Säugling litt er massiv unter Neurodermitis. Was danach kam, forderte die Eltern aber noch mehr heraus: Tourette. Mit acht, neun Jahren wurde Florian immer verhaltensauffälliger. Der Junge warf zunehmend mit obszönen Worten um sich, spuckte über den Tisch, beschimpfte Passanten aufs Übelste oder rief unvermittelt mit ausgestrecktem rechtem Arm „Heil Hitler!“ in der Fußgängerzone. „Mir war mein eigenes Kind peinlich und ich hatte massive Selbstzweifel,“ sagt die Mutter heute. Als der Kinderarzt ihr riet, sich bei der Erziehungsberatungsstelle Hilfe zu holen, war ein erster von vielen Tiefpunkten und Erschöpfungszuständen erreicht.

Hinzu kamen Querelen in der Ehe. Denn die Eltern waren unterschiedlicher Auffassung, wie mit Florian zu verfahren sei. Neben der Bibel las Mutter Sabine Erziehungsratgeber, um sich Hilfe zu holen. Denn die Aussetzer des Sohnes, der bald mit Max einen jüngeren Bruder hatte, bot auch in Kindergarten, Grundschule oder Sportverein immer wieder Angriffsflächen, erforderte Erklärungen, Rechtfertigungen und Entschuldigungen. Parallel kamen im Abstand von vier Wochen immer neue Tics hinzu, wie der Fachbegriff für diese Auffälligkeiten bei Tourette lautet – zum Beispiel das Ablecken von Schuhen oder Fassaden.

Horrortrip

„Solange wir nicht wussten, was Florian fehlt, war das wie ein Horrortrip,“ erinnert sich die Mutter, die tagsüber mit den Söhnen allein war, weil der Vater im Außendienst arbeitete. Das Schlimmste sei gewesen, dass sich Mutter und Sohn wechselseitig heimlich beobachteten. Denn intuitiv spürte der Zehnjährige, dass sein Verhalten die Mama stresste. Deshalb versuchte er, seine Tics unbemerkt von ihr auszuagieren. Sie wiederum observierte ihn umso lückenloser, um nichts zu verpassen.

Hilfreich in diesen schweren Jahren war, dass die erweiterte Familie, Freunde, Nachbarn und Gemeindemitglieder Florian nahmen, wie er sich gab, sodass hier keine zusätzlichen Konflikte wie Ausgrenzung, Rückzug oder Scham drohten. Der Terminkalender war mit Arztterminen, Untersuchungen und Besprechungen gefüllt, bei denen immer die Botschaft mitschwang, Florian sei nicht okay.

Dagegen wiederum half, dass Florians Lehrerin am Ende seiner Grundschulzeit den Eltern nahelegte, ihren Sohn trotz seiner Auffälligkeiten auf eine weiterführende Schule gehen zu lassen. Dadurch war für den Jungen der Weg frei, mit seinen Klassenkameraden zusammenzubleiben, die seine Marotten bereits kannten und ihn notfalls auch „beschützten“.

Stets „normal“ behandelt

Sabine Eisenmann hat über ihre Erfahrungen ein Buch verfasst mit dem eindrücklichen Titel: „Ficken, Fotze, Feuerfrei.“ Darin beschreibt sie, wie sie eines Tages mit Sohn und Ehemann in eine psychiatrische Einrichtung fuhr, in der Florian untersucht werden sollte. Schon auf der Hinfahrt sahen die Eltern auf dem Gelände Kinder mit Helmen, die sich selbst auf den Kopf schlugen oder die in Vorrichtungen fixiert waren. „Ich sagte zu Volker: ‚Egal, was die hier diagnostizieren und machen, hier lassen wir unseren Florian nicht.‘“ Als aber bereits zehn Minuten nach Beginn der Untersuchung und Befragung der Psychiater dem Zwölfjährigen „einen reinrassigen Tourette“ diagnostizierte und ihn mit Tabletten sedierte, war das für die Eltern wie ein Befreiungsschlag. „Endlich war klar, dass wir nichts falsch gemacht hatten.“ Und die Mutter war dankbar, dass die Nervenkrankheit nicht von weiteren Störungen überlagert war, die etwa die Motorik oder den Verstand einschränken.

Gern ließ der Arzt den Jungen wieder mit den Eltern nach Hause in dessen gewohnte Umgebung gehen, wo er seinen Platz hatte, anerkannt war und sich geliebt wusste. „Diese Normalität und Selbstverständlichkeit, die wir mit Florian in der Familie, der Nachbarschaft und in unserem Dorf lebten, hat immer alle überrascht und beeindruckt.“ Dies sei vermutlich vor allem das Verdienst von ihr und ihrem Mann gewesen, die Florian stets „normal“ behandelten und dasselbe auch von anderen erwarteten.

Regelmäßige Krisen mit Tourette

„Ich habe Florian in der Erziehung nichts durchgelassen, nur weil er vermeintlich krank gewesen ist oder es so schlimm hatte“, erklärt Sabine Eisenmann. Notfalls stellte sich der jüngere Bruder Max in der Clique schützend vor seinen Bruder und machte damit unmissverständlich klar, dass Florian dazugehört, egal, was er sagt und tut. Diese Haltung war mit ein Grund, weshalb sich die Mutter auch keiner Selbsthilfegruppe anschloss. „Ich wollte nicht ständig von Tourette sprechen müssen, wenn ich schon dauernd Florians Tics um mich hatte.“ Auch hätte ihr dieses Umfeld wohl die Hoffnung auf ein konventionelles Leben genommen, weil sie hier „von vielen schlimmen Entwicklungen hörte und las“.

In Florians Pubertät erlebte die Familie regelmäßig Krisen. So drohte den Eltern nach fünf, sechs Jahren Dauerstress die Kraft auszugehen. Doch in ihrem Glauben schöpfte Sabine Eisenmann immer neue Kraft. Und da sie ohnehin Notizen über den Krankheitsverlauf gemacht hatte, reifte in ihr der Impuls, über das Erlebte ein Buch zu schreiben. „Das Buch hat uns geholfen, das Erlebte aufzuarbeiten.“ Die Lektüre berührt durch die intimen Einblicke, die die Autorin gewährt. Wenn etwa der Ehemann phasenweise damit haderte, lieber keinen Sohn gehabt zu haben als diesen oder das Liebesleben der Eltern über Jahre auf der Strecke blieb. Das Buch macht aber auch Mut, eigene Krisen anzunehmen – weil wir sie meistern können. Es ist auch ein Plädoyer gegen Segmentierung und für Verschiedenheit im Leben. Florian arbeitet übrigens seit Jahren in Zürich. Er hat eine Top-Position in der IT-Security bei einer Bank.

Leonhard Fromm ist Wirtschaftsjournalist und Diplom-Theologe. Der zweifache Vater lebt in Schorndorf bei Stuttgart.

Notärztin gibt Tipps: Kindernotfall – So reagieren sie richtig!

Kinder rennen, klettern, fahren Roller – und sie tun sich dabei weh. Wie reagieren Eltern richtig? Notärztin Dr. Katharina Rieth erklärt, was ein Kindernotfall ist und was man tun muss.

Infekte, Verletzungen und Krampfanfälle – das sind typische Beispiele für einen Kindernotfall. Besonders häufig sind Atemwegs- und Magen-Darm-Infekte. Diese können, gerade bei Babys, die durch die verlegte Nasenatmung schlechter trinken beziehungsweise durch ständiges Erbrechen und/oder Durchfall Flüssigkeit verlieren, zur Austrocknung führen und so zu einem Notfall werden. Auch Verletzungen, zum Beispiel durch Stürze oder Verbrühungen und Verbrennungen, können rasch zum Notfall werden, wenn innere Organe oder große Flächen betroffen sind. Krampfanfälle wirken auf Eltern besonders bedrohlich. Fieberkrämpfe treten typischerweise zwischen dem sechsten Lebensmonat und sechsten Lebensjahr auf, dauern zwei bis drei Minuten und hören von allein auf. Die Kinder haben offene Augen, einen starren Blick und zittern symmetrisch. Dauert der

Krampf länger, hört nicht von allein auf, tritt innerhalb von 24 Stunden mehr als einmal auf oder zeigt eine Asymmetrie, muss das dringend abgeklärt werden.

Woran erkenne ich einen Notfall?

Um einzuschätzen, ob ihr Kind wirklich kritisch krank ist, können sich Eltern am sogenannten „pädiatrischen Beurteilungsdreieck“ orientieren. Mit diesem Tool beurteilt man durch Hören, Sehen und Fühlen:

  • Den Allgemeinzustand: Lässt sich das Kind beruhigen? Ist es noch agil? Spielt und interessiert es sich noch? Lässt sich das Fieber zwischendurch senken und scheidet es noch gut aus? Dann heißt es oft Entwarnung! Schreit es schrill, ist apathisch, trinkt nicht mehr und fiebert unter Therapie weiter hoch auf, dann ab zum Arzt!
  • Die Atmung: Zeigt das Kind Luftnot, atmet es angestrengt, also schneller und flacher oder weniger als sonst? Macht es komische Geräusche bei der Ein- oder Ausatmung? Hustet es so stark, dass es nicht mehr in den Schlaf kommt? Dann besser früher als später zum Arzt.
  • Den Kreislauf: Ist das Kind blass-marmoriert, hat kalte Arme und Beine oder blaue Lippen? Dann handelt es sich um einen Notfall!

Was gehört in jede Hausapotheke?

Meine Top Five sind:

  • Kochsalz- und abschwellende Nasentropfen, um die Nasenatmung freizuhalten
  • Fiebersenkende und schmerzlindernde Mittel in Zäpfchen- und in Saftform
  • Verbandskoffer mit Wunddesinfektionsmittel, Verbänden/Pflaster und Pinzette
  • Antihistaminika in Tropfen-, Gel- und Saftform zur Bekämpfung allergischer Reaktionen oder Juckreiz
  • Mittel gegen Stuhlunregelmäßigkeiten wie zum Beispiel Kümmelzäpfchen, Milchzucker, Elektrolytlösungen

Sollten Eltern in einem Kindernotfall ihr Kind selbst ins Krankenhaus fahren?

Wenn man mithilfe des pädiatrischen Beurteilungsdreiecks zu dem Schluss gekommen ist, dass das Kind stabil genug ist, kann man problemlos selbst in die Klinik fahren. Dabei ist es generell von Vorteil, zu zweit zu fahren, damit sich eine Person ums Kind kümmern kann. Wenn das Kind gerade einen Fieberkrampf hatte oder etwas verschluckt hat, sollte man das Kind auf keinen Fall mit dem PKW selbst in die Klinik transportieren. Das Kind könnte auf der Fahrt nochmals krampfen und dabei erbrechen oder der verschluckte Gegenstand auf einer holprigen Fahrt doch noch in die falsche Röhre gelangen. Sind Atmung, Kreislauf und Allgemeinzustand oder Bewusstsein stark beeinträchtigt, sollte immer ein Notruf abgesetzt werden.

Dr. med. Katharina Rieth ist Kinderfachärztin, Intensivmedizinerin und Notärztin. Sie engagiert sich auf Social Media unter drrieth für Aufklärung und Prävention in Sachen Kinder- und Familiengesundheit und ist Buchautorin von „Fit für den Kindernotfall“.

Ich will mehr Sex! – So finden Paare einen gemeinsamen Weg

Wenn Liebespaare unterschiedlich stark ausgeprägte sexuelle Lust haben, kann das die Beziehung sehr belasten. Was hilft, damit die Lust nicht zum Frust wird?

„Wie oft habt ihr beide Sex?“ Als uns in einer anonymen Fragerunde bei einem Eheseminar diese Frage gestellt wurde, waren wir uns einig: Darauf geben wir keine konkrete Antwort! Garantiert keine Zahl – denn wem sollte das helfen? Anders Martin Luther, der einst frei heraus den Ratschlag gab: „In der Woche zwier, schaden weder ihm noch ihr, macht im Jahre hundertvier.“ Doch wir glauben, dass Sexualität sich nicht so verallgemeinern lässt. Es gibt kein Richtig oder Falsch in Praktiken oder Häufigkeit. Entscheidend ist, wie es beiden damit geht. Viel wichtiger als die genaue Zahl der Sexualkontakte ist die Qualität der Paarbeziehung. Allerdings bedingt sich beides oft: Paare, die in Befragungen eine hohe Beziehungszufriedenheit angeben, haben in der Regel häufiger Sex als Paare, die insgesamt unzufrieden sind.

Unzufriedenheit und Konflikte

Das Problem kennt fast jedes Paar: unterschiedliches sexuelles Verlangen und verschiedene Vorstellungen darüber, was eine angemessene Frequenz für Intimverkehr sei. Tendenziell beobachten wir mehr Interesse an Sex bei Männern. Das variiert aber von Paar zu Paar. Immer häufiger sind es auch Frauen, die sich mehr intime Aktivitäten erhoffen, während ihre Partner sich zurückziehen. Die Gründe sind vielfältig: Stress, Erschöpfung, medizinische Probleme, hormonelle Schwankungen, traumatische Vorerfahrungen, psychische Erkrankungen, häufiger Pornokonsum. Oft ist es eine Störung der Beziehungsdynamik insgesamt, Unzufriedenheit über die Qualität des gemeinsamen Lebens und mit dem gegenseitigen Umgang, die einem (oder beiden) die Lust rauben.

Die Kluft im sexuellen Begehren führt zu Unzufriedenheit und Konflikten. Schließlich ist Sexualität ein starker Motor und Teil der Identität. Wer immer wieder im Bett abgewiesen wird, entwickelt Frustgefühle und fühlt sich manchmal sogar persönlich abgewertet. Allerdings gerät auch die Person, die weniger Lust hat, unter Druck. Viele plagt ein schlechtes Gewissen, wenn sie nicht auf das Drängen des anderen eingehen. Sie fühlen sich möglicherweise auf ihren Körper reduziert und als Ehepartner ungenügend. Wenn dann Sex regelrecht eingefordert oder einzig aus Angst vor Ablehnung ertragen wird, hilft das der Liebe auf keiner Seite weiter.

Was sind gute Strategien, um mit diesen unterschiedlichen Bedürfnissen umzugehen?

Offen über Sex reden

Wer Probleme mit der Sexualität hat, sollte darüber reden, und zwar offen und mit der ehrlichen Absicht, die Sicht des anderen zu hören und zu verstehen. Vielen ist das Thema unangenehm und sie ziehen sich zurück oder attackieren einander auf anderen Ebenen. So halten sie den anderen auf Abstand, um sich dem eigentlichen Problem nicht mehr stellen zu müssen. Das verfestigt aber den Keil zwischen beiden.

Ein ehrliches Gespräch über unterschiedliche Wünsche, Bedürfnisse und sexuelle Gefühle hilft, einander wieder näherzukommen und möglicherweise auch die Gründe hinter der starken Lust oder Lustlosigkeit zu entdecken. Dabei ist wichtig: Man darf den anderen nicht angreifen oder Vorwürfe machen, sondern sollte ausschließlich die eigenen Gefühle und Erwartungen beschreiben. Währenddessen sollte der Partner einfühlsam und interessiert zuhören. Nicht selten führt allein schon diese offene Kommunikation dazu, dass sich etwas in der Paardynamik bewegt und sich Lösungen, mit denen beide gut leben können, finden lassen.

Forschungen weisen sogar darauf hin, dass Einfühlungsvermögen, aktives Zuhören und die Bereitschaft, auf den Partner einzugehen, sexuelles Verlangen fördern können.

Wichtig ist, dass sich das Gegenüber wertgeschätzt und geliebt fühlt: „Auch wenn du meine Sehnsüchte gerade nicht befriedigen kannst, liebe und achte ich dich.“ „Auch wenn mir deine sexuelle Energie manchmal zu heftig ist, glaube ich dir, dass du mich als Person liebst und es dir nicht nur ums Körperliche geht. Ich respektiere deine größere Lust und kann sie als Ausdruck deiner Leidenschaft für mich annehmen.“ „‚Nein, nicht heute‘ bedeutet nicht, dass ich dich nicht liebe. Es liegt nicht an deiner Attraktivität und deinem Wert.“

Zugegeben, das klingt idyllisch und manchmal ist es ein schmerzlicher Weg, bis Paare dahin kommen. Einige schaffen es nicht ohne therapeutische Hilfe. Die Moderation einer dritten Person und der neutrale, wohlwollende Blick von außen können hilfreich sein, um gute Lösungen zu finden.

Sex ist nicht alles

Wie steht es um die Paarbeziehung insgesamt? Paare, die Probleme im sexuellen Bereich haben, sollten viel Zeit in andere Aktivitäten investieren, die beiden guttun: gemeinsame Hobbys, Ausflüge, ehrenamtliches Engagement, sportliche Aktivitäten. Wer auf dem sexuellen Pfad so gar nicht weiterkommt, muss Druck rausnehmen. Es hilft nicht, wenn einer dem anderen permanent ein schlechtes Gewissen macht. Vielleicht ist es für den sehr bedürftigen Partner auch dran, Selbstbeherrschung zu lernen und sich bei der geliebten Person weniger auf den Körper als vielmehr auf die inneren Werte zu konzentrieren.

Manche Paare gehen einander regelrecht aus dem Weg, um ja nicht in die Situation zu geraten, nach Sex gefragt zu werden. Da kann es helfen, zu vereinbaren, das Thema für eine gewisse Zeit ganz ruhen zu lassen und sich stattdessen bewusst auf andere Gemeinsamkeiten zu fokussieren. Manche brauchen diese Sicherheit, um wieder vertrauen zu können.

Die Lust auf Sex anregen

Oft leidet der Partner mit geringerer Libido darunter und würde eigentlich dem anderen zuliebe, aber auch für sich selbst gerne mehr sexuelle Intensität entwickeln. Die Forschung sagt: Menschen, die öfter Sex haben, empfinden auch ein höheres Maß an Lust auf Sex und wollen öfter intim werden. Ist Sex eine gute Erfahrung, möchte man sie häufiger machen.

Insofern könnten Partner, die eine geringere Libido haben, versuchen, sich in Stimmung zu versetzen. Eine Frau kann sich gedanklich auf Lust programmieren, indem sie im Lauf des Tages immer wieder bewusst ihre Geschlechtsorgane wahrnimmt, den Beckenboden durch Anspannen trainiert, hübsche Unterwäsche trägt, in der sie sich schön fühlt. Angenehme erotische Anspielungen des Partners, schmeichelnde Bemerkungen und zärtliche Berührungen im Alltag können luststeigernd wirken. Manchen hilft es, Termine für Sex zu setzen. Was für manche befremdlich klingt, hilft anderen, weil sie sich kontrolliert auf diese Paarzeit vorbereiten und intensiv darauf einstellen können.

Sich auf die unterschiedlichen Empfindungen einlassen

Es klingt ein bisschen verrückt, aber tatsächlich: Der Appetit kommt mit dem Essen. Befriedigender, lustvoller und erfüllender Sex steigert die Lust auf Wiederholung. Enttäuschende Erfahrungen beim körperlichen Zusammensein haben gegenteilige Wirkung. Das heißt auch: Der Partner mit der stärkeren Lusterfahrung sollte intensiver danach fragen, wie Sex für den anderen zu einem beglückenderen Erlebnis werden könnte.

Vor allem Frauen haben oft nicht spontan Lust auf Sex, können aber durch liebevolles Werben des Partners und durch erotische Berührungen, die sie mögen, dafür gewonnen werden. Hier ist Kommunikation besonders wichtig! Viele Partner wissen nämlich gar nicht, was sich für den anderen tatsächlich gut anfühlt und was der andere erotisch findet. Auch ändert sich das im Verlauf des Zyklus einer Frau stark. Während zum Beispiel in einem Stadium die Berührung der Brustwarzen elektrisiert, kann es an anderen Tagen wehtun und abschrecken. Ein bisschen ist Sex eben wie ein Tanz: Einer fordert auf, der andere lässt sich ein, beide finden in den Rhythmus und erst nach einigen Takten ist die Harmonie hergestellt.

Kompromisse aushandeln

Wenn die Erwartungen an die Häufigkeit der sexuellen Begegnungen stark abweicht, können Paare versuchen, Kompromisse auszuhandeln. Vielleicht hätte er gerne am liebsten täglich Sex, während ihr alle zwei Wochen vollkommen ausreichen. Wie wäre es, wenn die beiden sich zum Beispiel auf einmal pro Woche einigen? Dann sind die Parameter klar und beide können sich darauf einstellen und diese Begegnungen bewusst gestalten.

Sicher wird es nicht für alle die vollkommen zufriedenstellende Lösung geben. Einige körperliche oder hormonelle Ursachen sind zwar medikamentös behandelbar, aber manchmal kommt die Medizin an ihre Grenzen. Nebenwirkungen von Medikamenten hemmen teilweise die Lust und machen es schwer bis unmöglich, sexuelle Leidenschaft zu entwickeln. Auch psychische Belastungen wie Stress oder Depressionen können nicht einfach durch einfühlsame Kommunikation überwunden werden.

Aber auch solche Paare können Wege finden, wie sie einander dennoch nah bleiben: Zärtlichkeiten müssen nicht immer im Beischlaf enden, sorgen aber für die Ausschüttung von Glücks- und Bindungshormonen und stärken damit das Wohlbefinden. Alternative Formen von Intimität ohne Penetration können helfen, dass der lustbetonte Partner trotzdem auf seine Kosten kommt.

Marcus und Susanne Mockler – er ist Journalist, sie ist Paartherapeutin mit eigener Praxis und Vorsitzende der MarriageWeek Deutschland.

Enttäuschung: Wenn mein Kind nicht meinen Vorstellungen entspricht

Kinder entsprechen nicht immer den Erwartungen, die ihre Eltern an sie haben. Was können Eltern tun, damit daraus keine schädliche Dynamik von Enttäuschung und Ablehnung entsteht?

Über ein Thema in der Eltern-Kind-Beziehung wird wenig gesprochen und geschrieben: die Enttäuschung über das eigene Kind. Dabei kennen dieses Gefühl wohl die meisten Eltern mehr oder weniger stark. In manchen Momenten ist mir mein Kind vertraut und herzensnah. Aber je älter das Kind wird und je deutlicher die Persönlichkeit sichtbar wird, desto eher müssen wir uns dem Gefühl der Enttäuschung stellen.

Unerfüllte Wünsche

Aber darf ich als Mutter oder Vater überhaupt enttäuscht von meinem eigenen Kind sein? Vorsichtig formuliere ich eher: „Ich mache mir Sorgen“ oder „Ich verstehe nicht, warum …“. Ich wage es nur selten, meine Gedanken über meine innere Zerrissenheit zu teilen. In der Psychologie gibt es eine Sicht auf diese Irritation zwischen Eltern und Kindern. Die Definition des Begriffes Enttäuschung ist darauf zurückzuführen, dass die Betroffenen darunter leiden, dass ihre Wünsche oder Hoffnungen nicht in Erfüllung gegangen sind. Wenn die Wünsche der Eltern nicht erfüllt werden, entsteht bei ihnen Kummer und Enttäuschung.

Das sind oft kleine Alltagsmomente: So kann zum Beispiel ein Kind, das ständig die Nähe seiner Mutter sucht und an ihr klebt, für sie zur Herausforderung werden. Wenn sie ehrlich ist, eskaliert es schon in ihr, wenn sie spürt, dass das Kind sich im Raum näher zu ihr orientiert. Immer wieder bekommt sie Rückmeldungen, wie wichtig es sei, dass sie ihr Kind ermutigt, sich von ihr zu lösen. Sie gibt sich alle Mühe, hat aber das Gefühl, ihr anhängliches Kind lässt sich nicht darauf ein. Nach überstandenen Stresssituationen sammelt sich in ihr eine Mischung von Erschöpfung und Ratlosigkeit, die sie in ihrem mütterlichen Handeln lähmt. Das innere Bild ihres Kindes nimmt die Mutter mit zum nächsten Geburtstag, wo scheinbar alle Kinder miteinander spielen – ihr Kind aber auf ihrem Schoß wie festgeklebt ist. Das Bild verstärkt sich beim Besuch in der Stadtbücherei, wo das Kind jammert und keine Ruhe zum Verweilen hat. Das Gefühl der Verunsicherung und der inneren Abwehr klebt an dieser Mutter und lässt sie nicht los.

Die Enttäuschung ansehen

Die Dynamik der Enttäuschung kann vor allem dann zerstörerisch sein, wenn ich die Enttäuschung nicht bewusst wahrnehme, sondern verdränge. Sogar vor mir selbst fällt es mir oft schwer, ehrlich zu sein. Die inneren Enttäuschungsmomente führen dann mehr und mehr zu einer Distanz zum Kind. Diese Distanz spürt das Kind und wird dadurch noch mehr verunsichert.

Es können viele unterschiedliche Dinge sein, die bei mir als Mutter ein Gefühl der Enttäuschung auslösen: Mein Kind ist nörgelig oder unmusikalisch oder ängstlich oder unfreundlich oder unsportlich … Dabei ist es wichtig, meine Enttäuschung anzusehen und auszusprechen. Wenn ich wegsehe, machen mich die gesammelten Enttäuschungsmomente immer weniger liebesfähig. Enttäuschungen haben so viel mit meinen Hoffnungen, Wunschvorstellungen und Erwartungen zu tun. Bei Enttäuschungen handelt es sich um eine subjektive Wahrnehmung. Das bemerke ich allein dadurch, dass mein Mann ganz anders mit bestimmten Situationen umgeht.

Es ist wichtig, meine Emotionen, Erwartungen und Handlungen zu verstehen, um letztendlich meinen Frieden mit der Enttäuschung zu schließen: Ich wäre so gern verständnisvoll. Ich verstehe mein Kind nicht. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Als Christin hilft mir das Gebet: Je mehr ich meinen Kummer vor Gott ausbreite, desto mehr fällt mir mein „Ich“ auf. Ja, mein Kind ist vom Charakter und vom Handeln her anders, als ich es mir ausgemalt habe. Es geht hier aber tatsächlich um mich!

Eigene Erwartungen

Die Dynamik der Enttäuschung hat etwas mit meinem Bild von meinem Kind und von mir als Mutter zu tun. Die Enttäuschung fühlt sich so an, als würde ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht. Die ursprüngliche Erwartung war demnach höher als das tatsächliche Ergebnis. Aber die Beziehung zu meinem Kind ist keine abrufbare Investition. Sie ist ein offener Prozess voller Nähe- und Distanzübungen.

Wenn nun diese Dynamik der Enttäuschung erneut loslegen will, möchte ich mich hinterfragen: Die Entwicklung einer Persönlichkeit ist keine Gleichung: Liebe rein – Charakter raus. Situationen, die nicht meinen Erwartungen gerecht werden, sollten nicht immer als komplett negative Situationen gewertet werden. Ich darf versuchen, der Situation etwas Positives abzugewinnen und sie als Chance für mich und mein Kind zu betrachten. Ich möchte diese objektiv beurteilen und hinterfragen: Was will mir mein Kind mit seinem Verhalten mitteilen? Als Mutter kann ich Vorbild sein und einen Platz zum Austausch unserer Gefühle finden, um diese zu verarbeiten.

Mutige Schritte

Dabei verzichte ich auf negativ festlegende Gedanken und Aussagen über mich. Mich als Mutter an den Pranger zu stellen und mir Vorwürfe zu machen, belastet nicht nur mich, sondern auch die Nähe zum Kind. Um mich von meiner Enttäuschung zu lösen, gebe ich meine Vorstellungen, Hoffnungen und Wünsche ganz bewusst an Gott zurück. Ich bemühe mich um ein Miteinander mit meinem Kind, sodass es sich angenommen und geliebt weiß. Dabei können diese kleinen Übungen helfen:

  • Ich lächle mein Kind an, wenn es den Raum betritt.
  • Ich kommentiere das Spiel meines Kindes nicht.
  • Ich frage: Wie ging es dir in dieser Situation?
    Oder: Was schlägst du vor?

Vielleicht finden wir zusammen eine Idee für mutige Schritte. So lange übe ich mich darin, das Gute in meinem Kind zu sehen und zu benennen.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.