Beiträge

Leider ist es vorbei …

Wenn die Lockerungen der Corona-Einschränkungen ein Vermissen auslösen

„Sag mal, ist das immer noch dein Corona-Ansatz?“, fragt mich meine Freundin und zeigt auf meinen dunkel schimmernden Haaransatz. Viele Frauen, die ihre Haare färben, haben in der Zeit des Covid-19-Lockdowns besonders darunter „gelitten“, dass die äußeren Möglichkeiten zur Pflege eingeschränkt waren. Lächelnd musste ich in den sozialen Medien von den Dramen lesen, die Stars und Sternchen wegen ihres nachwachsenden Haaransatzes durchleiden mussten. Und ich gehöre tatsächlich dazu. Meine blond gesträhnten feinen Haare wurden zu einer Art persönlichem Tagebuch: Je länger die Herausforderung uns alle beschäftigte, desto dunkler wurde mein Ansatz.

Als meine Freundin auf meinen Scheitel deutete, wurde mir bewusst: Ich komme nicht dazu, mich wieder in den normaler anmutenden Alltag einzufügen. Ich habe Wochen und Monate damit gerungen, dass mein Leben sich durch Einschränkungen und familiäre Kraftakte verändert – und nun trauere ich um meine Corona-Rituale? Es ist, als möchte ich mit diesem Ansatz festhalten, dass ich einen neuen Rhythmus gefunden habe.

Ich habe zum Beispiel viel bewusster gelesen, viel bewusster geschlafen und bin viel bewusster in den Tag gestartet: manchmal schon sehr früh. Wir haben als Familie mehr gespielt, den Sonntag zusammen mit einem Ausflug gestaltet, uns zu Mahlzeiten verabredet, damit der Tag nicht ganz strukturlos wird. Immer mehr gewann ich meine kleinen neuen Rituale sehr lieb.

Und nun: Ich kann und muss wieder zum Frisör, ich könnte in die Stadt zum Eiscafé schlendern und sogar Freunde treffen. Ja, nun habe ich wieder Termine. Und das fordert mich sehr. Ich suche nach Entschuldigungen, warum mein Haupthaar so verwahrlost ist, und erinnere mich auf einmal an das Volk Israel, von dem die Bibel berichtet. Erst brauchte ich ganz viel Nähe und Unterstützung und Gottes väterlichen Rat, um mich auf diesen Lockdown einzulassen und meinen eigenen Rhythmus zu finden. Und nun: Während die Welt wieder bummeln geht, jammere ich wie das Volk Israel. Nach einer schweren Zeit in Ägypten stapfen sie durch die Wüste und wollen zurück. Zurück, weil sie sich an die positiven Seiten in der Sklaverei erinnern. Während ich mir durch meine nicht geschnittenen Haare fahre, wird mir plötzlich bewusst: Ich kann es auch heute schaffen. Ich kann es heute mit Gottes Unterstützung wieder schaffen, mich in meinen Alltag einzufinden.

Gute Rituale kann ich wie kostbare Errungenschaften im neuen Heute einbetten und selbst bestimmen, was mich antreibt und meine Zeit ausfüllt. Ich bin nicht überfordert mit einer Krise. Ich brauche einfach einen inneren Schritt in meinem Tempo. Ich bin in das ungewohnte Zuhausebleiben gegangen und werde diesen Schritt mit Gott zusammen auch wieder in meinen Alltag schaffen. Ja, und ganz sicher auch zum Frisör.

Stefanie Diekmann, Gemeindereferentin

Glückliche Tiere statt Algenpulver: So arbeitet der Landmetzger

Thorsten Gerlach ist der letzte von ursprünglich sechs Metzgern in seiner Region. Täglich kämpft er gegen EU-Richtlinien und Billigfleisch aus Wurstfabriken.

Von Rüdiger Jope

Es ist 6:03 Uhr. Ich steuere das Auto durch die Nebelschwaden im Oberbergischen Land. Der Nachrichtensprecher erklärt, dass in Deutschland jedes fünfte geborene Schwein nicht einmal den Schlachthof erreiche. Deren Haltung mache sie so krank, dass Millionen Tiere frühzeitig notgetötet werden. Ursache dafür seien auch Billigpreise im Handel. Wenige Minuten später parke ich im gefühlten dunklen Nichts vor einem Schaufenster mit der Aufschrift „Landmetzgerei Gerlach“. Im Hinterhof klopfe ich an eine silberne Stahltür. Sie öffnet sich. Im gleißenden Licht posiert kurzärmlig mit Schürze und einem Messer in der Hand Metzgermeister Thorsten Gerlach. Ich trete in einen bis oben hin weiß gekachelten Raum. An Stahlhaken hängen ein großes Stück Rotwild und ein Wildschwein. Letzterem steckt – wie mir der Meister später erklärt – als Zeichen der Ehrfurcht und Dankbarkeit vor dem Leben noch ein Tannenzweig als letzter Biss im Maul.

Unglaublich fingerfertig

Gerlach schwingt präzise die Klinge. Mit etwas Abstand schaue ich stumm der unglaublichen Fingerfertigkeit des 40-Jährigen zu. Innerhalb von wenigen Minuten hat er den Tieren das Fell über die Ohren gezogen. Kollege Ingo rollt das rohe Fleisch am Deckenhaken zum Zerteilen in den Nachbarraum. Thorsten greift zum Dampfstrahler. Nicht zum letzten Mal verschwinde ich an diesem Tag in einer Wassernebelwolke. Mich fröstelt. An einer Kaffeetasse wärme ich meine Finger. Thorsten steckt seine linke 4,5-Finger-Hand in eine Art Kettenhemdhandschuh. Mit chirurgisch genauen und flinken Schnitten wird auf einem Brett das Rotwild zerteilt.

Wurst nach alter Väter Sitte

„Wie wird man Metzger?“, frage ich. Gerlach lacht und sagt: „Eigentlich wollte ich Gärtner werden. Doch meine Eltern sagten: ‚Nein! Du wirst Metzger! Schwein gegessen wird immer!‘“ Als Zehnjähriger fegt er beim Fleischer auf der anderen Straßenseite den Hof, hilft beim Schlachten, lässt sich in das Geheimnis der Wurstmacherei einführen. Thorsten bleibt unbeirrt dran. Der abwertenden Aussage eines Lehrers in der 8. Klasse, dass man für diesen Beruf nur „blöd, stark und wasserdicht“ sein müsse, setzt er Qualität, Wissen, Technologie und Tradition entgegen. „Wir machen hier noch Wurst nach alter Väter Sitte.“ Ich sehe, rieche und schmecke an diesem Tag: Landmetzgersein ist nichts für Hohlköpfe. „Qualitätswurst hat etwas mit Bildung zu tun“, schiebt er beim Wurstteigkneten energisch nach und bedauert, dass sein Beruf total verkannt sei.

Wurstmachen ist Kopfkino

Inzwischen ist er am „Kuchenbacken“. In eine motorisierte Schüssel, den Kutter, kippt er grobe Brocken Fleisch vom Rind und Schwein. Dazu fügt er Eisbrocken. Diese verhindern das Gerinnen des Eiweißes, halten die Temperatur niedrig und sorgen für weniger Wasser in der Wurst. Während der Kutter vor sich hin lärmt, eile ich dem Metzger nach in den Nachbarraum. Es riecht nach Paprika, Salz und Pfeffer. Thorsten stellt mit der Waage die richtige Gewürzmischung für die Fleischwurst zusammen. Ein Rezeptbuch sehe ich nicht. Er grinst und sagt: „Betriebsgeheimnis. Wurstmachen ist Kopfkino!“ Die Mischungsverhältnisse für seine mehr als 130 Sorten Wurst hat er im Kopf. Gurgelnd und schmatzend verschlingt der Kutter die Aromen. Thorsten schiebt mit seinen kräftigen Armen die wabbelnde cremige Masse, die inzwischen mehr nach Pudding als nach Fleisch aussieht, vom Rand in die Mitte der Maschine. Die Messer hacken gierig nach. Anschließend landet ein Teil des Bräts in Formen. „Das gibt Fleischkäse.“ Den größeren Teil jongliert er freihändig einmal quer durch den Raum in den Trichter der Wurstfüllmaschine.

EU-Regelungsirrsinn regt auf

Auf dem Stahltisch daneben steht ein Eimer mit gewässertem Naturdarm. Gekonnt schiebt Thorsten den hauchdünnen und hochelastischen Darm auf den Auslass. Per Fuß betätigt er einen Hebel. Die Wurstmasse schießt in die Hülle. Flink bindet er jeweils die Enden zu. Gleichmäßig reiht er eine Wurst an die andere. Die 28 Exemplare landen danach in einem Kessel bei 71 Grad. Jede Stunde muss er nun die gemessene Kerntemperatur in einem Heft dokumentieren. Meine Wozu-Frage kommentiert er knurrend mit einer abwinkenden Handbewegung: „Die EU-Verwaltung muss ja auch noch beschäftigt werden.“ Zwischen Schweigepausen, Wasserdampf und hektischen Telefonaten schlägt mir eine gehörige Portion Frust entgegen. Es ist ein scheinbarer Irrsinn. Statt stärker die Wurstfabriken zu maßregeln, zu kontrollieren, statt die Tiertransporte über tausende von Kilometern zu unterbinden, trägt man mit EU-Verwaltungsvorschriften die Nachhaltigkeit der Ortsmetzgereien zu Grabe.

Tierarzt statt Schlachter

Von ursprünglich sechs Metzgern im Umkreis von zehn Kilometern ist Gerlach der Letzte seiner Art. So darf der Landwirt, der sein Tier zum Schlachten bringt, nicht mehr den Schlachtraum betreten. „Was für ein Unsinn. Der ist Tag und Nacht mit dem Vieh zusammen, trägt die gleichen Keime wie sein Tier.“ Brach sich früher eine Kuh im Stall oder auf der Weide ein Bein, wurde der Metzger gerufen und machte dem Leid vor Ort ein Ende. „Heute muss das Tier vom Arzt eingeschläfert werden und wandert anschließend in den Abfall“, kommentiert er den ökonomischen Schwachsinn. Süffisant schiebt er nach: „Dafür schuften dann in Wurstfabriken wie bei Wilke schlecht bezahlte Hilfskräfte 14 Stunden am Stück.“

4 Euro statt 6 Cent

Dass die Ausgebeuteten keinen Blick für Qualität und Hygiene haben, hält er für verständlich. Hier sieht er vor allem den Kunden in der Pflicht, der „als König mehr Verantwortungsbereitschaft zeigen müsse“. Doch leider verhält der sich nach jedem „Skandal nur 48 Stunden königlich. Zwei Tage nach dem Empörungseffekt packt er sich dann wieder das billige Massenfleisch, die günstigste Wurst auf den Teller.“ Ich frage nach: Ist das legal? „Ja, die arbeiten alle innerhalb der gesetzlichen Vorschriften. So ist es erlaubt, Wurst mit Algenpulver zu strecken. Da würde mich das Kilogramm Wurst in der Herstellung 6 Cent kosten. Ich nehme jedoch Schweinefleisch. Das schlägt mit 4 Euro zu Buche. Das bin ich aber meinem Gewissen und meinen Kunden schuldig!“ Einen Ausweg aus dem Dilemma „billig, billiger, am billigsten“ sieht er nur im Abbau der Subventionen in der Landwirtschaft.

Lehrling gesucht

Wieder greift er zum Wasserschlauch. Die Maschinen werden gereinigt. In das Rauschen hinein witzle ich: Eigentlich ein Job für den Lehrling, oder? Thorsten zieht die Augenbrauen hoch. Fünf Jahre ist er schon auf der Suche. Er stöhnt resigniert. „Die wissen alle um ihre Rechte, aber wenn ich denen einen Besen zum Stroh auffegen in die Hand drücke, bleiben die am nächsten Tag weg.“

Glückliche Tiere schmeckt man

Mich fröstelt. 2 Grad. Wir stehen im Kühlraum, dem Parkplatz für drei Rinderhälften. Drei Wochen hängen diese hier ab. Während der Reifung wird durch die Trocknung der pH-Wert gesenkt. Das macht das Fleisch geschmackvoll und aromatisch. Thorsten lässt mich fühlen. Das Fleisch hat eine unterschiedliche Konsistenz. Er erklärt: „Links ist eine Kuh, die habe ich als Lohnarbeit für einen Landwirt geschlachtet. Diese hätte ich nicht gekauft. Die rechte Kuhhälfte stammt von einer glücklichen Kuh. Die habe ich vor Ort ausgewählt.“ Ich hauche mir in die Hände. Doch bevor ich meine verwunderte Frage stellen kann, steckt der zweite Meister seinen Kopf in den überdimensionierten Kühlschrank: Die Wurstabfüllmaschine ist ausgefallen. Der Elektriker muss her. Thorsten greift zum Smartphone. Der Elektriker fragt nach: Ist sie nass geworden? Thorsten lacht schallend: Wir sind hier in einer Metzgerei!

Die Rinderhälfte wird an einem silbernen Haken hängend in Schwebebahnmanier in den nächsten Raum kutschiert. Den Bullen zu zerlegen, erspart Thorsten die Muckibude. Gerlach zerteilt das „glückliche Stück Vieh“. Er sieht, ob ein Tier ein gutes Leben hatte. Dafür klappert er nachmittags Höfe und Ställe in zehn Kilometern Umgebung ab. Er ist überzeugt: Nur ein glückliches Tier schmeckt! Wild aus einem Gatter in Neuseeland hält er für überflüssig. Die Regionalität gibt nur eine bestimmte Menge her. Seine Essensempfehlung lautet: „Essen Sie maximal 2–3 Mal die Woche Fleisch, dafür Qualität!“

Geschmackssymphonie für den Gaumen

Ein Gewürzvertreter steht in der Tür. Ein Anhänger mit neun Stück Rotwild zum Zerteilen in Auftragsarbeit wird entladen. Der Elektriker hat den Kurzschluss beseitigt. Der Laden braucht Nachschub an Schnitzeln. Ich fülle mir die Kaffeetasse auf, wärme meine Hände an der Keramik. Thorsten kommt mit frischen Brötchen die Treppe runter. Er angelt aus dem dampfenden Kessel eine Fleischwurst. Meine Lippen erleben eine Geschmacksexplosion. Diese wiederholt sich am Abend bei meinem Sohn: „Papa, die Wurst ist sooooo lecker!“ Handwerk macht eben den Unterschied. Dies kann ich auch beim nächsten Arbeitsgang studieren, riechen und schmecken. Aus der nun wieder brummenden Wurstfüllmaschine wabert Wildsalami. Echte Handarbeit ohne Farbstoffe, ohne künstliche Aromen, denn „es soll so schmecken, wie es ist“.

Qualitätswurst wird grau

Nebenbei erklärt mir der Meister, dass Qualitätswurst nicht farbstabil bleibt, sondern grau wird. Warmer Dampf beschlägt in einem Kessel Bergsalami. Nach dem Räuchern wird die Wurst getrocknet. Der Vorgang dauert acht Wochen. Mit Schnellbindern und Trockenmitteln ließe sich der Vorgang beschleunigen, doch dies ist nicht der Anspruch des Wurstmachers. „Wenn die Salami noch nicht reif ist, muss der Kunde auch mal drei Wochen auf ein Qualitätsprodukt warten“, erzählt der Meister und füllt nebenbei Nüsse in den wieder lärmenden Kutter. Die nächste Salami wird. Dann kosten wir die Wildbratwurst. Geschmackssymphonie, die Zweite. Zum Vegetarier wird man hier nicht.

Ruhe im Hochsitz

Dann heißt es wieder Reinigen. Akribisch. Die Feuchtigkeit kriecht mir inzwischen aus jedem Reißverschluss. Es ist bereits früher Nachmittag. Nach dem Wurstmachen verschlägt es Thorsten hinter die Theke im Laden oder er entspannt auf dem Hochsitz. Dort, im Warten auf den nächsten Bock, kommt er zu sich selbst. Er genießt diese Stille, hat das Staunen nicht verlernt. „Statt zu schießen, lasse ich auch mal eine Sau oder ein Reh einfach laufen, aus purer Freude an der Schöpfung.“ Das reizt mich zu einer letzten Frage: „Was begeistert dich an deinem Job?“ Ich schaue in ein müdes, aber strahlendes Gesicht. Wie auf den Abzug gedrückt schießt es mir entgegen: „Wenn Tiere in guten Produkten weiterleben und so gut wie nichts zurückbleibt! Ich will den Schöpfer im Umgang mit seinen Geschöpfen und ihrer Verarbeitung ehren.“

Von Tag zu Tag

Ich habe keine Ahnung, wie es im Corona-geplagten Europa aussieht, wenn Sie diese Zeilen lesen werden. Im Moment ändert sich alles von Tag zu Tag. Ständig gibt es neue Vorschläge und Initiativen. Immer geht es um die Frage, wie viel Lockerungen verantwortbar sind und welche Abstandsregelungen bleiben müssen oder verschärft werden sollen. Natürlich ist es noch viel zu früh, ein Fazit zu ziehen, aber vielleicht ist ein Zwischenruf angebracht.

Drei Dinge, die ich für die Zeit nach Corona behalten will:

1. Vor Corona war es nicht so wahnsinnig cool, das Wochenende in den eigenen vier Wänden zu verbringen. Jetzt ist es plötzlich ganz wichtig, zu Hause zu bleiben. Dabei empfinde ich es als großes Privileg, dass zu Hause noch jemand ist. Und dass ich gerne mit diesen Menschen zusammen bin. Familie ist cool!

2. Zurzeit haben wir so gut wie keine Termine mehr. Schule, Musikunterricht, Gemeindesitzung – alles fällt aus oder findet online statt. Wir haben uns als Familie mehr Zeit für gemeinsame Mahlzeiten genommen als vor der Corona-Krise und merken, was für ein Wert das ist: gemeinsam kochen und essen, Nahrung genießen, miteinander im Gespräch bleiben. Das sind Dinge, die zählen.

3. Social Distancing ist gerade ein ganz wichtiger Wert. Dem Nachbarn die Hand zu schütteln, ist tabu. Es wäre ähnlich schlimm, wie seinen Hund zu erschießen. Wir hätten letztens gern mal unsere Verwandtschaft in Süddeutschland besucht. Ging nicht! Ich möchte mich nach Corona auch an das erinnern, was ich jetzt vermisse: Zeit mit Freunden, mit den Eltern und Geschwistern verbringen, mit meiner Frau übers Wochenende wegfahren, einen Gottesdienst mit zweihundert Leuten feiern und anschließend viele in den Arm nehmen.

Christof Klenk ist Family-Redakteur und lebt mit Maren, Lena, Alva und seiner Frau Christina in Witten.

„Wie sollen wir das alles schaffen, Papa?“ – Vater einer Großfamilie erzählt vom Corona-Alltag

500 Gramm Nudeln für sieben Esser, vier Videokonferenz-Programme und Zelten im Garten. Großfamilie Hullen erlebte die Zeit des Lockdowns als besonders anstrengend – und außerordentlich bereichernd.

Wie werden wir uns einmal an diese Corona-Zeit zurück erinnern? Wie werden wir diese absonderlichen Monate bewerten, als in Deutschland Tausende starben, noch viel mehr in wirtschaftliche Nöte gerieten und das komplette öffentliche Leben zusammenbrach? Ich traue es mich fast nicht zu sagen, aber: Ich habe die Zeit genossen, all den Herausforderungen zum Trotz, mit denen unser Großfamilienhaushalt zu kämpfen hatte.

Fünf Kinder zu bespaßen

Wir haben eine Tochter in der siebten Klasse, Zwillingsmädchen in der fünften Klasse und zwei Jungs im Kindergarten, drei und sechs Jahre alt. Fünf quirlige Kinder also, darunter ein hyperaktiver Autist, die wir plötzlich ganztags beschulen, betreuen und bespaßen mussten. Sieben gute Esser, die bekocht werden wollten in einer Zeit, wo es weder Mehl, noch Nudeln, noch Klopapier zu kaufen gab. Der Lockdown führte uns an unsere Grenzen und eröffnete uns neue Räume. Aber der Reihe nach.

Sommerlager-Laune

Als am Freitag, 13. März, die Schulschließungen verkündet werden, kommen unsere drei Mädchen freudestrahlend von der Schule nach Hause. Für sie ist klar: „Wir haben Corona-Ferien!“ Auch ich bin sofort in Sommerlager-Laune: Die Aussicht auf ein paar unverhoffte freie Tage lässt uns direkt Pläne schmieden. Wir könnten einige Spaßbäder abklappern, Bekannte besuchen und ein paar Räume renovieren. Wenige Tage später ist klar: Daraus wird nichts.

Anfangs hochmotiviert

Die ersten Wochen des Homeschoolings bringen wunderschöne kreative Ergebnisse hervor und uns an den Rand der Verzweiflung. Die Mädchen stürzen sich hochmotiviert auf ihre Aufgaben. Ein Aufsatz in Religion über vier Seiten? „Es hat halt so viel Spaß gemacht“, verkündet Amelie (13). Und die beiden Fünfklässlerinnen Aurelia und Valentina machen aus schnöden Buchrezensionen epische Kunstwerke mit 13 Seiten. Ich ringe mit mir: Soll ich sie bremsen, damit sie sich ihre Kräfte besser einteilen? Oder sollte man diese fröhlichen Lern-Anfälle fördern, weil der Spaß an der Sache wichtiger ist als jedes Kosten-Nutzen-Kalkül?

Die Entscheidung wird uns abgenommen. Als die Mädchen merken, dass immer mehr Aufgaben eintrudeln, weicht die Begeisterung schierer Panik: „Wie sollen wir das alles schaffen, Papa?“, stöhnen sie, während der Drucker die Arbeitsblätter dutzendweise ausspuckt. Es ist offensichtlich, dass auch ihre Lehrer hochmotiviert bei der Sache sind.

Homeschooling + Homeoffice = Homekatastrophing

Ich bin auch Lehrer und ebenfalls sehr motiviert, das Beste aus der Fernbeschulung herauszuholen. Und da man als Lehrer sowieso einen guten Teil der Arbeit zu Hause am Schreib- oder Küchentisch erledigt, sollten ein paar zusätzliche Stunden Heimarbeit eigentlich kein Problem sein, denke ich.

Ich denke falsch. Statt Home-Officer bin ich Bürokaufmann („Papa, kannst du Englisch ausdrucken?“), Nachhilfelehrer („Ich verstehe die Mathe-Aufgabe nicht!“ – „Was genau verstehst du denn nicht?“ – „Alles!“), IT-Fachkraft („Wir müssen Zoom installieren, gleich startet unsere Videokonferenz!“), Publikum („Ich lese dir mal meine Geschichte vor, ja?“), Erzieher („Hör auf, deinen Bruder zu hauen!“) und Kinderpfleger („ABPUUUTZEN!“). Dazu kommt, dass jeder Einkauf plötzlich Stunden dauert, weil man ein halbes Dutzend Supermärkte abklappern muss, bis man hier sechs Rollen Klopapier, dort ein Kilo Mehl und nirgends Hefe ergattern kann. Ich stelle fest, dass alle Supermärkte davon überzeugt sind, dass 500 Gramm Nudeln für eine siebenköpfige Familie eine haushaltsübliche Menge darstellen.

Arbeiten bis zwei Uhr nachts

Und schließlich benötigen auch unsere kleinen Jungs viel Aufmerksamkeit, vor allem unser autistischer Konstantin (6). Darum verschiebt sich meine eigene Unterrichtsvorbereitung weit in die Nachtstunden, vor zwei Uhr komme ich nicht ins Bett. Merke: Wer meint, Homeoffice und Kinderbetreuung ließen sich gut miteinander verbinden, der hat beides nicht verstanden.

Technik zehrt an den Nerven

Besonders die technische Seite des Homeschoolings ist nervenzehrend. Die von vielen Schulen genutzte Lernplattform moodle bricht unter dem massiven Ansturm zusammen, ist in den ersten Wochen kaum benutzbar. Die Lehrer meiner Kinder suchen Alternativen, in kurzer Folge werden zwei Lernplattformen und vier verschiedene Videokonferenz-Programme benutzt, die auf den Smartphones der Kinder installiert werden müssen – und die mal mehr, mal weniger, mal gar nicht funktionieren. Wie viel Stress, Frust und Leidensdruck verspüren wohl all die Schülerinnen und Schüler, die keine Unterstützung durch technik-affine Eltern haben?

Ein Wochenplan muss her

Nach der ersten, chaotischen Woche beschließen wir, mehr Struktur in unseren Corona-Alltag zu bringen. Jeden Sonntagabend machen wir Familienrat. Während die kleinen Jungs schlafen, reflektieren wir die Höhepunkte der letzten Tage, thematisieren Probleme (Dauerthema: der stets ausbaufähige Küchendienst) und planen die nächste Woche. Es gibt nun vormittags fixe Lern- und Pausenzeiten. Die warmen Mahlzeiten werden festgelegt, sodass wir nicht jeden Tag entscheiden müssen, was es wohl zu essen gibt. Und mit großer Freude überlegen wir uns besondere Aktionen: Fahrradtouren, Bastelnachmittage, Spiele- oder Filmabende, Wellness-Kuren mit selbstgemachter Gurkenmaske bei Kerzenschein im Wohnzimmer, Vorlese-Abende, Übernachtungen im Garten, Raclette-Abende, Arbeitseinsätze … Hier erfahren wir eine unglaubliche Bereicherung unseres Familienlebens! So viele schöne und intensiv genutzte Stunden mit meinen Kindern habe ich wohl in den letzten zehn Jahren zusammen nicht erlebt!

Die intimste große Feier

Zu den Höhepunkten gehört auch unser 20. Hochzeitstag. Bislang hatten Katharina und ich unsere Hochzeitstage eher unspektakulär mit einem abendlichen Restaurantbesuch begangen. Was nun? Wir ergreifen den Stier trotzig bei den Hörnern. Oma und Opa, mit denen wir in einem Haus wohnen, werden ganz förmlich per Karte eingeladen – „um festliche Garderobe wird gebeten“. Den ganzen Tag bereiten Katharina und ich in der Küche ein opulentes Drei-Gänge-Menü vor, das Wohnzimmer wird leergeräumt und in einen Ballsaal umfunktioniert, wo wir nach dem Dinner erst den Hochzeitstanz reaktivieren und dann mit den Kinder zu einem fröhlichen Rumgehopse übergehen.

Schön war‘s. Und skurril. Es war der erste Hochzeitstag, den wir richtig groß gefeiert haben. Und dabei war es gleichzeitig die intimste große Feier, die wir jemals ausgerichtet haben.

Rasenmähen, Wischen, Fensterputzen

Ob es den Familienrat und die Wochenpläne auch nach Corona noch geben wird, weiß ich nicht. Eine Aktion werden wir aber auf jeden Fall beibehalten: das Arbeitsamt. Diese Aktivität wurde aus der Not geboren: Da unsere fünf Kinder die Wohnung schneller verwüsten, als man hinterherräumen kann, haben wir irgendwann alle anfallenden Arbeiten auf Post-Its notiert und mit Sternchen versehen. Dann wetteifern alle darum, so viele Arbeiten wie möglich zu erledigen, um mit den gesammelten Sternchen begehrte Preise (Film aussuchen, Snack bestimmen, mehr Handyzeit etc.) zu ergattern. Das ist eine absolute Win-Win-Win-Situation. Die Wohnung wird sauber, viele „Das-müssten-wir-irgendwann-mal-anschrauben“-Arbeiten werden erledigt und die Kinder lernen nebenbei Rasenmähen, Wischen und Fensterputzen.

Was wird mir also in Erinnerung bleiben? Neben dem Gefühl der Bedrohung und der Sorge um meine Lieben möchte ich vor allem an die schönen Seiten denken: An die Wochen ohne unzählige Termine, an das etwas spätere Frühstück, an das Zusammenwachsen als Familie. Und daran, dass wir alle hoffentlich gesund aus dieser Krise herausgekommen sind.

Behüte dein Herz!

Nicht selten komme ich mir gerade so vor wie ein Kaktus: Um mein Herz zu schützen, fahre ich Stacheln aus. Fein, stark und mit Widerharken. Ganz unterschiedlich können diese sein: Ich bin empört, ich schweige oder ich gehe in den wortreichen Gegenangriff. Wann ich stachelig werde? Ach, beim vollen Biomülleimer, dem fragenden Blick meines Sohnes, einer anklagenden Mail, einem Post mit schönen Fingernägeln. Irgendwie sehr schnell und sehr oft.

Diese Pandemie macht etwas mit uns allen. Mit mir. Ich sollte mich aber nicht nur um Finanzen und Wirtschaft sorgen, sondern die Aufforderung Gottes ernst nehmen: „Behüte dein Herz!“ Mein Herz braucht gerade einen Schutzraum im Rahmen der Lockerungen in der erlebten Krise. Ich will näher hinsehen: Wie geht es mir damit? Was sind meine ausgefahrenen Stacheln? Wo sind sarkastische Untertöne über Freunde, Fremde oder Politiker in meinen Alltag eingezogen? Wo habe ich das Gefühl, nicht gesehen zu werden? Wo ist der Ton in meiner Familie rauer geworden? Wen halte ich auf Abstand? Von wem bin ich verletzt worden?

Ja, ich fühle mich wirklich wie ein hormongesteuerter Teenager, der seine empfindsame Seele mit Stacheln schützt, um nicht verletzt zu werden. Überall lese ich von Lockerungen und dabei schnürt sich mein Herz mir zu. Ich befürchte, diese Zeit nicht gewinnbringend genutzt zu haben, mich nicht genug über die Chancen gefreut zu haben. Ich habe jeden Tag überlebt. Mehr nicht. Und vor allem nicht weniger!

Ich schütze mich, weil mir viel auffällt, was ich NICHT lebe und schaffe. Dabei brauche ich gerade jetzt jemanden, der sagt: Trau dich wieder in deinen Familienalltag. Mach dich locker, wenn noch kein Rhythmus zu erkennen ist und ihr als Familie derzeit um 16.00 Uhr Mittag esst. Mach dich locker, wenn du genervt vom Schulwiedereinstieg bist. Mach dich locker, wenn du die Präsenz deines Mannes nicht immer feierst.

Ich schütze mich mit Stacheln und ersehne dabei so sehr, dass jemand in mein Herz spricht und es wagt, mich zu sehen. Ich bin so froh, dass ich nicht stachelig bleiben muss. Denn das macht mich einsam und zickiger, als ich sein möchte. Ich male mir aus, wie Gott mich umarmt und sich nicht in die Flucht stacheln lässt. Wie gut!

Ich kann mit dieser Vorstellung spüren, dass die gerade erlebten Lockerungen Veränderungen wie alle sind und Kraft kosten. Immerhin schaffe ich es, den Impuls zu unterdrücken, die drängelnden Senioren an der Kasse scharf anzuzischen und stattdessen zu zwinkern. Ein kleiner Anfang – aber für mich heute ein Schritt, mein Herz zu behüten.

Stefanie Diekmann, Gemeindereferentin

Von der Bühne in die Quarantäne: „Mein Sohn versteht die Welt nicht mehr“

Statt eines Vortrags vor 7.000 Menschen warteten auf Patrick Knittelfelder 14 Tage Quarantäne. Mit seiner Frau konnte er sich nur durch die geschlossene Tür hindurch unterhalten.

Ein tolles Leben. Fast wie ein Vorzeigeleben. Nach außen kann es sich auf jeden Fall sehen lassen, siehe mein Profil bei Instagram: Hocherfolgreicher Volksschulschwänzer, schwerer Legastheniker, Firmengründer, Leiter der HOME Mission Base, Hotels, Immobilien & Restaurants, Autor. Vielleicht sollte man noch glücklicher Ehemann, beschenkter Vater und Vortragsredner dazu schreiben. Wobei man den Redner besser weglässt, denn damit ging das Drama los.

Einer baute eine Arche

Seit Wochen denke ich an eine Geschichte aus der Bibel. Da heißt es, die Leute aßen und tranken, gingen ihren Geschäften nach. Sie heirateten, zeugten Kinder. Auf heute übertragen: Sie pflegten ihre Insta- und Facebook-Profile, vertrauten auf eine wachsende Wirtschaft, freuten sich auf Champagner und die nächsten Festspiele. Nur einer baute – mitten in den Bergen – eine Arche. Und dann kam der Regen. Oder fast noch blöder: Es kam ein winzig kleines, nanometerkleines bescheuertes Virus. Und vieles was ich hatte, was meine Identität, meine Unternehmerpersönlichkeit ausmachte, ist nicht mehr, hängt am seidenen Faden oder ist von Staatshilfe abhängig.

130 Mitarbeiter in Kurzarbeit, 20 entlassen

Einer hat eine Arche gebaut. Doch das war nicht ich. Einer war vorbereitet und mich hat es von hinten erwischt. Noch vor knapp zwei Monaten zwei Hände voll florierende Firmen mit 150 Mitarbeitern. Jetzt 130 von ihnen in Kurzarbeit und 20 entlassen. Und seit sechs Wochen nur Ausgaben und so gut wie keinen Cent Umsatz.

Und trotzdem lebe ich. Bin immer öfter wieder gut drauf und fest davon überzeugt, dass es ein höheres Wesen gibt, das es nicht nur gut, sondern sogar sehr gut mit mir und uns allen meint. Dass es einen Gott gibt, der einen Plan hat. Und in dem Plan darf auch so etwas Blödes wie Corona vorkommen. Und nein, es ist keine Strafe Gottes. Genauso wenig wie damals AIDS, genauso wenig wie der große Tsunami eine Strafe war. Auch kein Erdbeben und kein Hochwasser. Auch nicht Tschernobyl. Und doch bin ich mir sicher: Gott will mir, Patrick, und uns allen ganz klar etwas sagen. Aber was?

Leben am Limit

Vor acht Wochen war die Welt noch schön und gut. Das heißt in meinem Fall: Ich habe ein Leben am Limit geführt. Auf mich selbst und meine Familie bezogen. Viel zu lange schon. Auf der einen Seite die Firmen mit all den täglichen Herausforderungen, die zehn Hotel und Restaurants mit sich bringen. Dazu noch einige Immobilien. Nicht die kleinsten an Größe und Sorgen. Auf der anderen Seite die Leitung eines der spannendsten kirchlichen Aufbruchprojekte. Jüngerschaftsschule (ein Ort, an dem man christliches Leben in Freiheit und Schönheit von Grund auf lernt), Medienhaus, Gebetshaus, eine Suppenküche für Menschen am Rande der Gesellschaft, ein wunderschöner Buchladen mit Café mitten in der Altstadt von Salzburg, Studios und einiges mehr. Eine wunderbare Familie und sogar noch ein paar Freunde. Und immer das Gefühl, überall ein bisschen zu wenig zu geben.

Riesiger Kongress

Dann noch diese große Konferenz in Deutschland. Über 7000 Menschen in einer Halle. Die mit Abstand allergrößte Halle, in der ich jemals sprechen würde. Ich reiste mit 20 meiner Mitarbeiter an. Im Hinterkopf den fixen Plan, mir gleich danach ein, zwei Wellnesstage in einem tollen Spa zu nehmen. Ganz alleine. Sehr ersehnt. Quasi eine Belohnung für den Kongress. Für die letzte stressige Zeit. Für das Viel-zu-viel der letzten Tage. Ach was, gleich für die letzten Jahre …

Konferenz abgebrochen

Dann ist es so weit: Ich stehe in der riesigen Halle, meinen Vortrag scharf und spitz vorbereitet. Soundcheck hinter mir. Dopamin, Testosteron und was weiß ich noch alles mit höchster Ausschüttung. Doch dann wie aus dem Nichts: Alle Sprecher sofort in einen Raum wegen Corona-Gefahr. Notfallplan. Halle geleert, Kongress beendet, alles zu. Rückreise isoliert, von Polizei und Gesundheitsamt zu Hause erwartet. Der Absonderungsbescheid nach dem Seuchengesetz noch in der Nacht zugestellt, 14 Tage Quarantäne. Alles ist sehr aufregend, die Polizei vor der Haustür. Ja, so war das damals. Vor ein paar Wochen. Da konnte man sich das noch leisten. Der erste Verdachtsfall in Salzburg.

14 Quadratmeter für 14 Tage

Meine Frau Dagmar richtet das Gästezimmer her. Wir begrüßen uns nur aus der Ferne. Mein Sohn Moritz, vier Jahre alt, versteht die Welt nicht mehr. Der Papi ist da und doch nicht da. Ja, genau. Da und doch nicht da. Was bin ich eigentlich? Da oder eigentlich weit weg von mir? Die ersten Tage und Nächte sind nicht gut. Gar nicht gut. Sehr viel besser sollte es auch nicht werden. Da sitze ich auf 14 Quadratmetern für 14 Tage. Vier Schritte in die eine Richtung, fünf in die andere. Die Polizei winkt mehrmals täglich vor dem Fenster. Ich sitze brav in meinem Zimmer. Meine Familie kümmert sich um mich, so gut es geht. Adrenalin und Dopamin sind immer noch da. Auf der Bühne konnten sie nicht heraus. In meinem Zimmerchen auch nicht. Und langsam keimt der Verdacht: Da kommt ein dickes Ende.

Gute Ratschläge überall

So viele schreiben mir, Freunde, Partner, Unbekannte. Jeder Zweite freut sich für mich: So schön, jetzt hast du so viel Zeit für fromme Gebete und Ruhe und, und, und … Am liebsten würde ich den Nächsten, der mir so einen Tipp gibt, eigenhändig erschlagen! Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so leere, zähe Zeit in meinem Leben gehabt zu haben.

Meine Büroarbeit geht weiter, so wie das Leben draußen weitergeht. Damals zumindest noch. Damit ist sie endlich da, die Ablenkung, die vieles leichter macht. Videocalls, E-Mails, Briefings, fast jeden Tag Interviews. Ja, noch vor ein paar Wochen war ein Verdachtsfall eine spannende Geschichte für die Medien. Bald ist das Adrenalin verdunstet, die Interviews sind alltäglich, die Polizei ist zu nett und die Arbeit Routine.

Ruhe – und doch nicht ganz

Moment mal – war da nicht meine große Sehnsucht nach Erholung? Nach Wellness und Spa, nach Rastmachen, Buch und Zeitung lesen, Ausschlafen … Das habe ich doch nun alles! Eigentlich. Da spreche ich so gerne davon, dass man nicht das Opfer seiner Umstände ist. Dass man sich überall zurechtfinden kann. Wie wichtig ein strukturierter Tag ist. Wie man seine Zeit nutzen kann. Da wird mir klar, wie weit ich eigentlich von dem entfernt bin, was ich predige. Stattdessen gerate ich ins Wanken und in tiefe Traurigkeit.

Tiefe Gespräche

Jeden Abend sitze ich in meinem Zimmer. Meine Frau sitzt auf dem Gang. Wir sprechen. Ganz anders als sonst. Es sind Gespräche auf Distanz und doch so nah. Vielleicht so nah wie schon lange nicht mehr. Das sind meine Anker. Jeden Tag. Die Zeiten, wo die Traurigkeit weicht. 14 Tage sind lang, länger, als ich gedacht hätte. Die Gespräche tun gut. Langsam ist das Ende in Sicht, die letzten Tage ziehen sich.

Lektion gelernt

Das Zimmer wird irgendwie kleiner. Ich auch. Meine Erwartungen an die Zukunft werden kleiner. Vielleicht gesünder. Ich freue mich über Bäume, die zu grünen beginnen. Das war nie mein Thema, jetzt aber doch. Und all die Leute die mir schreiben: Warum tun sie das? Mögen sie mich? Ich meine, mögen sie mich wirklich? So schlecht sind die Tipps auch wieder nicht. Vielleicht brauche ich einfach nur Zeit für mich. Habe ich genau das verlernt in den letzten Jahren? Familie, Firmen, Dienste, alles war wichtiger als ich selber. Ich habe die Lektion gelernt. In letzter Sekunde. Gerade noch.

Fünf Tage Freiheit

Der erste Tag in Freiheit. Die auflagenstärkste Zeitung hat ein Team geschickt, um mich auf den ersten Metern zu begleiten. Redakteur, Fotograf und Kameramann sind da. Sorry, bitte noch 15 Minuten warten! Wir haben gerade unser »Morning Prayer«, Gott, meine Mitbewohner und ich.

Fünf Tage in Freiheit, dann plötzlich der Lockdown in Österreich. In Salzburg noch einmal schärfer. Und der Lockdown sieht wirklich nach Lockdown aus: Alles ist zu, alles geschlossen. Fast alles steht still. Hektische Krisengespräche überall. Was sollen wir tun? Was wird geschehen? Unsere offizielle Kirche beauftragt uns, „Kirche in die Wohnzimmer“ zu bringen. Hektisch bauen wir aus den Studios aus, was wir glauben zu brauchen, richten neue Studios ein. Vier Stunden später riegeln wir uns ab. Selbstgewählte Quarantäne, um Fernsehen in Krisenzeiten machen zu können. Zwei Tage später ist unsere Quarantäne nicht mehr freiwillig. Massive Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land. Jeden Tag müssen wir der Polizei erklären, dass wir keine Versammlung sind, sondern mit 47 Menschen abgeriegelt unter einem Dach leben, um Kirche in die Wohnzimmer zu bringen. Die Menschen essen und trinken, sie heiraten, zeugen Kinder, machen Geschäfte und ein paar bauen eine Arche. Diesmal bin ich mit dabei.

Jeden Tag streamen

Gefühle, Stimmungen, Kämpfe und Ringen. Fragen, warum das Ganze geschieht und wann es endlich vorbei ist. Es ist wieder dasselbe Programm wie in meiner Quarantäne. Aber diesmal es geht deutlich besser. Statt 14 sind es nun 3000 Quadratmeter. Statt allein sind wir 47 und ich habe meine Lektionen gelernt. Jeden Tag reifen wir, jeden Tag streamen wir, jeden Sonntag machen wir Fernsehen und Radio, manchmal streiten wir, meist versöhnen wir uns wieder und kämpfen gemeinsam weiter.

Berufliche Grundlage weggebrochen

Vieles wird sich ändern. Lineares Denken vor, in und nach der Krise wird nicht ausreichen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir unmittelbar vor einer großen Veränderung stehen. Meine berufliche Grundlage ist binnen weniger Tage weggebrochen. Salzburg lebt hauptsächlich von Gästen aus dem asiatischen Raum, den USA, Deutschland und Italien. Unser Geschäftsmodell braucht eine Richtungsänderung. Meine finanzielle Zukunft braucht eine Richtungsänderung. Die halbe Welt braucht eine Richtungsänderung!

Wir können das!

Das ist für mich gleichzeitig Sorge und Hoffnung. Wer und vor allem wie sollen wir diese Neuausrichtung und Umgewichtung, diesen Paradigmenwechsel vollziehen? Von wo kommen neue Ideen, neue Projekte, neue Wertschöpfung? Die Antwort lautet: Von dir und von mir! Wir brauchen ein Klima, eine Umgebung, in der wir beginnen, etwas zu riskieren, unsere Zukunft in die Hand nehmen und die Komfortzone verlassen.

Patrick Knittelfelder leitet ein Unternehmen mit rund 150 Mitarbeitern in Salzburg und Graz in den Bereichen Hotellerie, Gastronomie und Immobilien und ist Geschäftsführer der »HOME Mission Base Salzburg«, wo er mit seiner Familie und 40 jungen Erwachsenen lebt.

Der Artikel erschien zuerst im Buch „Hoffnung – Zuversicht in Zeiten von Corona“ bei SCM Hänssler.

Kinder begleiten – auch nach dem Lockdown

„In den letzten Wochen habe ich viel über mein Limit agiert. Meine eigenen Kinder waren mir zu viel, zu fordernd“, schreibt Melanie in unsere Messenger-Gruppe, die derzeit eine Kleingruppe unserer Gemeinde ersetzt. „Mir gab Homeschooling den Rest!“, gibt Paul zu. „Ich habe meine Söhne noch nie so angebrüllt wie bei den Matheaufgaben!“ Während wir uns noch jammernd austauschen, fragt Sibel: „Aber ist es nicht auch so: Wir haben ohne fremde Einwirkung von außen mal erlebt, wie wir als Familie sind! Ich habe immer mehr Stolz auf uns als Team empfunden.“ Alle stimmen zu, und es wird klar: Die Familien werden sich durch Schule und Kita-Starts wieder verändern. Eltern können in dieser Veränderung bewusst Begleiter bleiben. Was brauchen Kinder jetzt?

Kinder entwickeln sich zu selbstbewussten und seelisch stabilen Erwachsenen, wenn ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse befriedigt werden. Nur wenn sie sich sicher und geborgen fühlen, wächst ihre seelische Stärke und ihr Vertrauen in sich und ihre Umgebung. Die Kraft sich zu lösen, Entdeckerfreude, Mut und positive Grundgedanken kommen von selbst, wenn ein Kind sich angenommen und geliebt fühlt.

Nach der Zeit der großen Nähe und der internen Familienzeiten brauchen Kinder nun Eltern, die Gestalter des Alltags bleiben. Kleinigkeiten, die Kinder im Alltag erleben, werden zu Erfahrungen und sind entscheidend für die Entstehung einer starken Persönlichkeit. Wenn Kinder Vernachlässigung, Abwertung, Beschämung oder körperliche Gewalt erfahren, ziehen sie zerstörerische Rückschlüsse über ihren Wert und verlieren mehr und mehr den Glauben an sich. Ein Kind erst zum Ende der Kitazeit abzuholen, um die beruflichen Herausforderungen zu stemmen, ist nicht das Problem, sondern wie die gemeinsame Zeit danach gestaltet wird. Unser Sohn Tarik hat mit fünf Jahren einmal sehr drastisch gesagt, was er von meinem wenig zugewandten Handeln hielt: „Du kannst mich im Kindergarten lassen. Du hast ja eh keine Zeit.“ Und bei näherem Hinsehen wurde mir klar: Wenn ich mein Kind beim Putzen, Telefonieren oder Einkaufen als störend empfinde, versteht es diese Grundhaltung als Information über seinen Wert.

Eine liebevolle und authentische Beziehung zum Kind ist wie ein guter Nährboden, um seine Anlagen und Talente weiterzuentwickeln. Fünf Ideen können helfen, diese Beziehung zu gestalten.

1 Liebe, Bindung und Nähe

Kinder spüren die Liebe und Nähe ihrer Eltern am stärksten über Körperkontakt, gemeinsames Kuscheln und regelmäßige bewusste Zuwendung und Blickkontakt. Bis heute lasse ich meine Hände über den Rücken meines schon erwachsenen Kindes kreisen, da ich es mir so bewusst angewöhnt habe, es anzusehen, zu berühren und so meine Nähe auszudrücken.

2 Verlässlichkeit und emotionale Sicherheit

Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit entsteht, wenn Kinder stabile Beziehungen erleben. Aber auch, wenn ihr Alltag weitgehend vorhersehbar ist und nicht permanent Überraschungen bereithält. Mir hat es geholfen, meine emotionalen Vulkanausbrüche mehr und mehr zu filtern. Ich übe bis heute, meinen Kindern eine Mutter zu sein, die verlässlich lacht über Situationen, verlässlich die Augenbraue hochzieht oder auch verlässlich den Kopf schüttelt.

Diese Verlässlichkeit wird in vielen Familien durch Rituale geschaffen. Rituale vermitteln durch ihren immer wiederkehrenden gleichen Ablauf, dass das Leben keine überfordernde Größe ist und die Herausforderungen zu bewältigen sind. Feste Gewohnheiten wie das tägliche Vorlesen vor dem Schlafengehen oder eine Runde „Wie war der Tag?“ beim Abendessen schaffen Vertrautheit und sorgen dafür, dass Kinder sich behütet fühlen.

3 Zeit und Aufmerksamkeit

Um Selbstbewusstsein entwickeln zu können, müssen Kinder gesehen und gehört werden. Sie brauchen den Austausch mit ihren Eltern, aber auch die Auseinandersetzung, die Reibung, das Lob, regelmäßige Rückmeldungen und Zuwendung. Das geht nicht nebenbei, auch wenn unser Tag oft keine Zeiträume für Gemeinsames ermöglicht. Wie wäre es, wenn ich meinen Sport online weitermache, um das Abendessen mit den Kindern entspannter zu erleben? „Mir tut es jetzt schon leid um die Spaziergänge, die wir in der Corona-Zeit jeden Tag gemacht haben“, seufzt Jan.

Wie wäre es, die zahlreichen Hobbys der Kinder und den vollen Wochenplan neu zu bedenken und Zeit zu haben zum Backen, Radfahren oder einfach auf dem Boden zu sitzen? Bis heute erlebe ich immer wieder die Überraschung, dass unsere Kinder zu reden beginnen, wenn ich mich ohne Ziel in ihr Zimmer setze. Einfach so. Ohne Auftrag. Ich bekomme für diese Investition an Zeit einen wertvollen Einblick in ihre Gedanken.

4 Orientierung durch Werte

Wie das soziale Miteinander funktioniert, erfahren Kinder von ihren Eltern. Mit der Rückkehr in soziale Gruppen, die nun und in den nächsten Wochen passiert, erlebt das Kind Werte, die von den Familienhaltungen abweichen können. Oft unbewusst überprüfen die Kinder die Haltungen ihrer Familie und bringen neue Themen, Schimpfwörter oder TV-Serien mit nach Hause. Hier ist es um der Orientierung willen wichtig, nicht weg zu sehen. Passt es zu uns als Familie, andere Menschen zu beschimpfen? Warum gehen wir anders damit um?

5 Glauben am Esstisch

Unsere Gespräche haben sich verändert. Wir reden nicht mehr so viel darüber, wer wann wo hingeht und warum. Wir checken stattdessen die Fakten von dubiosen Behauptungen in YouTube-Clips, schauen gemeinsam Musikvideos an, diskutieren über Armut und Ungerechtigkeit. Den Esstisch als Begegnungsraum auch nach Corona zu behalten, ist mein Wunsch, auch wenn mein Schulkind bald nicht mehr neben mir über seine Aufgaben jammert.

„Der Online-Kindergottesdienst war unser Sonntagsritual. Ich war so bewegt von den Gesprächen darüber mit den Kindern. So was gab es sonst nie!“, berichtet Britta. In Familien sind die Esstischzeiten wertvoller geworden. Der geteilte Schmerz über Homeschooling-Hilflosigkeit, das 1000-Teile-Puzzle, die Basteleien, die Post an andere oder eine Gebetsrunde hat viele Familien neu formiert.

Nur Mut!

Liebe Mitfamilien, bleiben wir einander nah, auch wenn wir uns nach Freiräumen sehnen! Wir haben es geschafft, eine Krise als Team zu bewältigen.

Ich empfinde es so, dass meine Kompetenz als Mutter in den Herausforderungen gewachsen ist. Ich habe eine Stärkung meiner Elternkompetenz wahrgenommen, im Umgang mit meinen Teenagern und jungen Erwachsenen. Ich lerne den Einfluss der Medien neu einschätzen und lasse mir wieder öfter von den Inhalten berichten. Ich halte Glaubenszweifel und Gebetsfrust aus und füge meine persönlichen Fragen ein.

Krise hin oder her – wir bleiben Eltern. Aus Liebe zu den Kindern werden wir aus den Herausforderungen Gutes ziehen. Wir bleiben dran!

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

 

Zwischen Nähe und Abstand

Innerhalb kürzester Zeit habe ich die Corona-Abstandsregeln verinnerlicht. So sehr, dass ich schon bei Filmszenen mit freundschaftlichen Umarmungen innerlich zusammenzucke. Schließlich ist Abstand halten das Gebot der Stunde. Und so eiere ich gemeinsam mit anderen durch den Supermarkt – immer vor der Herausforderung, in den maximal 2 Meter breiten Gängen 1,5 Meter Abstand zu wahren.

Corona verhindert Begegnungen. Verhindert Nähe. Verhindert geteilte Freude und geteiltes Leid. Paare dürfen nur zu zweit ins Standesamt. Die Feier mit Familie und Freunden fällt aus oder wird verschoben. Trauerfeiern finden ohne den Trost und die Umarmungen einer großen Trauergemeinde statt. Und Kindergeburtstage werden im Stil von „Dinner for One“ gefeiert: Mama, Papa und Geschwister müssen die Rollen von Oma, Opa, Freunden und Verwandten ausfüllen …

Corona trennt uns. Aber Corona bringt uns auch näher zusammen. An vielen Stellen erleben wir eine unerwartete Solidarität: Eltern zahlen Reitstunden weiter, obwohl ihre Kinder nicht reiten können, damit die Schulpferde weiter versorgt werden. Schüler und Studenten bieten Senioren an, für sie einzukaufen. An den Fenstern wird zeitgleich gesungen, es werden Kerzen angezündet und viele sprechen ein Gebet. Der Ton in dienstlichen Mails wird herzlicher, fürsorglicher: „Bleiben Sie gesund!“

Und viele Menschen finden kreative Lösungen: Videobotschaften für die Hochzeit, Trostkarten für die Beerdigung, digitale Gottesdienste … Oma skypt mit dem Enkel und er schickt ihr ein lustiges Video von seinem Hund.

So muss es weitergehen! Auch wenn Corona uns noch weiter in Atem hält: Lasst uns nicht in Schockstarre oder Jammern verfallen, sondern alles nutzen, was möglich ist. Lasst uns Briefe schreiben und Päckchen verschicken! Greift zum Telefon! Vernetzt euch in den sonst so oft gescholtenen sozialen Netzwerken. Und wenn der Spuk hoffentlich bald vorbei ist: Lasst uns gemeinsam feiern! Ganz ohne Abstand!

Bettina Wendland ist Redakteurin von Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

#socialdistancing – was daran gar nicht neu ist

„Mich nervt das so sehr ….“, nörgelt meine Freundin mir per Sprachnachricht ins Ohr. „Am Wochenende hier rumhängen. Sonst bin ich mit unendlich vielen Menschen unterwegs. Und nun sind wir zu viert als Familie. Das kann ich nicht!“

Das geforderte #socialdistancing stresst viele. Aber ich finde ja, es hat sich gar nicht viel verändert.

Saßen wir nicht vor #socialdistancing auch zu oft allein vor dem Tatort? Brauchten wir nicht zum Runterkommen auch vorher schon ruhige Auszeiten im Wald oder Park? Vielleicht haben wir sie uns nicht genommen: die Konzentration auf uns persönlich und enge Menschen um uns herum. Mein Eindruck ist: Wir sind schon vorher nicht darin geübt gewesen, uns nah zu sein …

Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Frau – ich hätte sie als Freundin bezeichnet. Sie erklärte mir, was für sie tiefe und echte Beziehungen sind und wieso sie nur ein bis zwei Freundinnen habe. Ich nicke lächelnd, innerlich irritiert und kann dem Rest des Gespräches kaum folgen. Ich bin also nicht für tiefe Gespräche zu haben, verdiene keine Auszeichnung „Freundin“.

Wenn mein Mann telefoniert, lacht er gern über den Austausch des Wetterberichtes mit vielen Menschen. Anderen einen Einblick in Fragen und Sorgen, in stürmische Gebete oder stumme Ratlosigkeit zu geben, haben wir irgendwie verlernt. Oder haben wir es schon länger einfach zugelassen, in #socialdistancing zu leben?

Derzeit tapsen wir mit unseren erwachsenen Kindern in eine ähnliche Falle. Wir versuchen trotz #socialdistancing uns nah zu bleiben und plaudern über gekochte Köstlichkeiten und über andere. Aber uns ins Herz blicken lassen? Puh. Das ist schwer.

Vor ein paar Jahren haben wir jeden Sonntag Menschen an unserem Tisch gehabt. Nach dem Essen haben kleine und große Menschen dann die Frage beantwortet: „Was war dir heute im Gottesdienst wertvoll?“ Es war eine unspektakuläre Runde und hat doch gutgetan. Innere Themen gemeinsam zu reflektieren, mag als pädagogischer Schnickschnack abgewertet werden. Ich werde gern dafür belächelt, bin aber aus Erfahrung überzeugt: Erst durch das Teilen von persönlichen Gedanken entsteht Nähe. Ich kann als Familie jeden Tag sechs Stunden Kniffel-Turniere erleben oder als Paar jeden Tag drei Stunden wandern – ohne einen Einblick in innere Gedanken verfliegt Nähe wie ein billiges Parfum.

So erzählen wir uns als Familie beim Chatten also: Was haben wir von der Predigt, die wir gestreamt haben, mitgenommen. Wir fragen: Was macht dir Sorgen? Auf was oder wen bist du gerade stolz oder ärgerlich? Wem kannst du bewusst Gutes tun? Was kannst du an dir beobachten?

Über die angeordnete Distanz können wir Sehnsucht nach Worten, Tränen und glucksendem Lachen bekommen. Nutzen wir die Chance!

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

 

 

#stayathome: Alte Themen neu entdeckt

Täglich lese ich Nachrichten von Bekannten, Freunden und Fremden, die mir Ideen präsentieren, wie ich die Corona-Zeit optimal nutzen könne: renovieren, sortieren, Sport machen, lesen, Sprachen lernen … Und mein Inneres verkrampft sich.

Ich stelle mir schon die Gespräche nach der Krise vor: „Und? Wie hast du diese Auszeit genutzt?“ Ich: „Ich habe gearbeitet. Es waren volle Tage, irgendwie wie immer.“

Mein Gegenüber wird mich mustern und ungläubig nachfragen: „Aber irgendwas musst du doch getan haben. Ich habe die gesamte Garage aufgeräumt und meine Todo-Liste geleert. Ich habe Nähen gelernt und per Video Sauerteig angesetzt. Und du?“ Ich: „Ich habe gemacht, was ich immer tue. Ich habe täglich versucht, Menschen zu ermutigen!“

Ja, ich weiß, jede Krise ist eine Chance: Homeoffice bedeutet auch weniger Zeiten im Stau. Kurzarbeit bedeutet auch Zeit für Omas Garten. Ich freue mich für jeden, der aktiv an Dingen arbeiten kann, die sonst unerledigt geblieben sind.

Ich sehe für mich auch viele davon, oh ja. Aber mein Tag ist damit ausgefüllt, die Ängste anderer zu mildern, Ideen zu entwickeln und Worte zu finden, damit Nähe entsteht. Ich bin ein Kümmerer. Nachts liege ich wach und spüre mein Herz klopfen. Spüre: Jetzt ist viel los in Familien, bei Selbstständigen. Ich möchte so gern aktiv sein und etwas tun. Mein Haus öffnen und Waffel-Feste feiern …

Das ist meine sehr dringende Todo-Liste. Ich entlarve meinen inneren Antreiber. Was bin ich wert, wenn ich weniger erledige? Weniger sichtbar arbeite und weniger Rückmeldungen bekomme? Die alte „Wer bin ich?“-Frage lugt um die Ecke. Jetzt haben Fragen Raum, die mich erinnern: Es geht um mich. Ich stoße auf alte Bitterkeiten, die durch unliebsame Erfahrungen ausgelöst wurden. Und ich nehme Sehnsüchte und Hoffnungen wahr.

Ich erlebe nach den ersten Tagen der Krise neu an mir, dass ich die Berichterstattung im TV nicht gut verarbeiten kann. Ich lasse mir die Sachlage von meinen Jugendlichen zusammenfassen. Dafür habe ich erstaunlich viel Essbares im Haus, was zu leckeren Dingen werden kann. Ich vermisse es, dass viele Menschen um mich herum sind und erkenne, dass ich mich selbst langweilig finde. Eine Erkenntnis, die mich trifft und beschäftigt.

In allem zu erleben, dass meine nahe Familie sich ebenfalls selbst neu entdeckt und andere Bedürfnisse hat, ist nicht überraschend. Wir stellen uns einander neu vor und suchen Gemeinsamkeiten. So darf ein gestreamter Krimi am Morgen sein, wie auch die Teezeit am Nachmittag. Wir üben täglich neu, im Gespräch zu bleiben.

Werden wir uns das irgendwann auch fragen: Was hast du innerlich sortiert? Wo bist du über dich erstaunt, erschrocken oder begeistert gewesen? Wie ging es dir mit alten Themen, die auf einmal wieder auftauchten?

Ich gehe heute noch sehr motiviert an meine Küchenschränke und halte es aus, dass in mir noch weitere Themen auf Sortierung warten. Ja, diese Krise hat viele Facetten: alte Themen und neue Herzenserkenntnisse.

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.