Soziologieprofessor sagt: Diese drei Dinge machen eine gesunde Beziehung aus

Laut Aaron Antonovsky braucht es drei Stellschrauben für eine gute Partnerschaft. Paarberaterin Ira Schneider sagt, wie sie sich in der Praxis umsetzen lassen.

Mitten im Alltag zwischen all den Aufgaben bleibt die Partnerschaft die klitzekleinste Zelle unserer Gesellschaft. Wenn diese kleine feine Zelle gesund bleibt und munter ist, dann ist das Resultat eine pure Freude. Paare in gesunden Partnerschaften schöpfen aus einer besonderen Kraftquelle. Ich finde es spannend, dass es beispielsweise nachgewiesen ist, dass sie seltener krank werden oder auch beruflich erfolgreicher sind. Doch wie kann eine solche nachhaltig blühende und gesunde Partnerschaft gestaltet werden? Wie gesund ist unsere Beziehung? An welchen Stellschrauben können wir drehen, wenn es nicht so gut läuft?

Antanovskys Theorie

Ich stelle mir die Fragen für meine eigene Partnerschaft, aber auch im Kontext unserer Paarberaterarbeit. Vor allem aber stelle ich sie mir immer wieder neu. Von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt sind andere Herangehensweisen passend. Vor einigen Jahren bin ich auf Aaron Antonovsky, einen Gesundheitssoziologen aus dem 20. Jahrhundert, gestoßen. Immer wieder entdecke ich, wie sich seine Definition von Gesundheit auf die unterschiedlichsten Paardynamiken übertragen lässt. Er behauptet, dass für die Gesundheit ein Dreiklang bestehend aus Bewältigbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit notwendig sei.

Wie können wir unseren Alltag bewältigen? Wie können wir einander verstehen? Wie können wir tiefe Sinnhaftigkeit erleben? Für uns bedeutet das konkret: Wie können uns diese Parameter helfen, Bedürfnissen nach Spaß und Abenteuer, nach emotionaler Nähe und gegenseitiger Anteilnahme und gemeinsamer Ausrichtung zu begegnen? Hier geht es vor allem um die Prophylaxe, also darum, gesund zu bleiben. Seine Definition scheint mir sehr einleuchtend, da er Komponenten nennt, die wir unkompliziert innerhalb unserer Partnerschaften einbauen können und die uns zugleich einen bunten Gestaltungsspielraum eröffnen.

1. Alltag muss schaffbar bleiben

Den Alltag zu regeln – das bestimmt bei den allermeisten Paaren sowieso die Kommunikation: Wie lange dauert deine Sitzung? Wann holst du die Kleine ab? Brauchen wir noch Bananen? Es gibt tausend Dinge zu klären. Sind wir in der Lage, unseren Alltag zu bewältigen? Die Frage mag banal klingen, denn wenn es klappt, dann denken wir gar nicht groß darüber nach. Wenn es allerdings nicht gelingt, die täglichen Anforderungen des Lebens gemeinsam zu meistern, dann ist das eine stetige Quelle der Unzufriedenheit und ruft zahlreiche Konflikte hervor: Ich hatte dich doch gebeten … Warum kannst du nicht einmal …? Siehst du denn nicht, dass ich fürchterlich im Stress bin?

Die Partnerschaft kann schweren Schaden nehmen, wenn Lasten ungleich verteilt sind, man den Eindruck hat, sich nicht aufeinander verlassen zu können oder einer von beiden sich dauerhaft überfordert fühlt. Deshalb ist es so wichtig, hier miteinander im Gespräch zu bleiben: Beim anderen nachfragen, sich gegenseitig unterstützen, einander überraschen mit kleinen Gesten der Zuwendung, einander trösten, sich austauschen und etwas von den alltäglichen Erlebnissen preisgeben. Statt sich von dem tückischen Alltag überwältigen zu lassen, können wir ihn durch unsere tiefe Verbindung und unser Füreinander-da-Sein zusammen bewältigen. So viele Herausforderungen zerren an uns. Auf der Arbeit, in der Ausbildung, in der Kindererziehung oder auch in der Familie.

In der Praxis: Eheabend

Bei uns sieht das ganz praktisch so aus, dass wir einander von unseren täglichen Erlebnissen berichten und gemeinsam unsere Verpflichtungen wie Haushalt, Termine, Einkauf besprechen. Zu Beginn unserer Beziehung fand vor allem die Anteilnahme über das täglich Erlebte völlig automatisch statt, da wir uns extra verabredeten, um einander zu sehen und uns auszutauschen. Doch als wir zusammenzogen, merkten wir schnell: Jeder braucht erst mal Zeit für sich und das ist gut und okay. Dann müssen wir uns nun gemeinsam in der Wohnung verabreden. Wir wollen up to date in den Prozessen und Erlebnissen des anderen sein. Dabei helfen uns folgende tägliche Fragen, gemeinsam den Alltag zu bewältigen: Wie war dein Tag? Wie geht es dir? Welche Absprachen stehen noch an?

Um im Alltag sowohl mit den Absprachen zufrieden zu sein als auch emotional verbunden zu sein, haben wir seit einigen Jahren einen festen Eheabend und einen festen Abend für Terminabsprachen. Genau an diesen Stellen ist Raum, die genannten Bedürfnisse zu äußern, wie zum Beispiel Spaß und Abenteuer bewusst einzubauen, in den Kalender zu schauen und zu überlegen: Wo und wann könnten wir einen Ausflug machen?

2. Wir müssen einander verstehen

In all unseren Bemühungen, den Alltag gemeinsam zu meistern, werden wir an Grenzen stoßen. Eine Grenze ist unsere Unterschiedlichkeit. Wir verstehen oft nicht, warum unser Partner Dinge auf diese Weise tut oder auch nicht tut. Statt dem anderen unfaire Motive zu unterstellen oder schnell mit mehr oder minder gutem Rat beizustehen, ist es hilfreich, nach dem Wozu und nach dem Warum zu fragen. Warum handelt sie so? Kennt er oder sie diese Gewohnheiten woandersher? Helfen ihm oder ihr diese Handlungen in anderen Momenten weiter? Die Handlung als Strategie zu erfassen, ist der Schlüssel. Was braucht er eigentlich? Was für ein Bedürfnis steckt hinter der Handlung? Nachfragen lohnt sich, denn häufig steckt mehr dahinter, als wir denken. Unsere Erinnerungen und Erfahrungen prägen und begleiten uns und finden Ausdruck in unserem Alltag.

In der Praxis: Das Kuchen-Beispiel

Hier ein kleines Beispiel: Mein Mann und ich geraten immer wieder aneinander, wenn es ums Essen geht. Ihm ist wichtig, dass ein Stück Kuchen mehr oder weniger genau geteilt wird. Es geht für ihn um Gerechtigkeit. Zu Hause wurde unter den Geschwistern immer fair geteilt. Ich hingegen öffne den Kühlschrank und bediene mich an dem, was da ist. Es würde mich nicht stören, wenn er das auch tun würde. Dann kauft man halt einen neuen Kuchen.

Kein großes Ding, aber durchaus spannend, wenn man mal genauer draufschaut. Es bedurfte einiger Gespräche, um zum Kern des Problems durchzudringen. Meine Rücksichtslosigkeit fand mein Mann oftmals ärgerlich. Dass ich ihm auch einfach das ganze Stück überlassen konnte, hat er wiederum als großzügig empfunden. Für mich galt lange die Einstellung: Was weg ist, ist weg. So kannte ich es von zu Hause. Inzwischen verstehen wir den anderen und können schmunzeln. Mein Bruder kam zur Welt, da war ich 16. Mein Mann hingegen ist mit zwei Schwestern großgeworden. Beide Erfahrungen des Aufwachsens gingen mit verschiedenen oder in meinem Fall vielmehr mit wenigen Regeln einher. In unseren Elternhäusern herrschten unterschiedliche Kulturen zum Umgang mit Essen und vor allem zum Teilen von Essen. Das musste ich erst lernen und lerne es immer noch.

3. Die Beziehung muss Sinn haben

Aber in einer Beziehung geht es nicht nur darum, den Alltag zu meistern und einander zu verstehen – mindestens genauso wichtig für unsere seelische Gesundheit ist es, dass wir unser Tun und Sein als sinnhaft erleben. Gemeinsam zu träumen, tiefe Wünsche auszusprechen und in die Zukunft zu schauen, verschafft ein Gefühl von Sinnhaftigkeit. Wir schauen etwas Größerem als unserem Alltag entgegen. Wir begreifen tiefer, weshalb wir die Dinge tun, die wir tun, und richten uns gemeinsam aus.

In der Praxis: Wochenende mit Realitätsabgleich

Da für uns die Sinnhaftigkeit einen besonders hohen Stellenwert hat, haben wir dafür ein kleines Ritual entwickelt. Wir nehmen uns regelmäßig eine Auszeit, fahren übers Wochenende weg und schauen auf unser Leben. Es ist eine Zeit, in der wir das, was wir täglich tun, mit unseren Zielen, Träumen und Wünschen abgleichen. Es ist beispielsweise ein Traum von uns, immer wieder Menschen mit Gottes Liebe zu erreichen, ihnen zu zeigen, dass Gott in jedem Mangel an ihrer Seite ist. In unserer Auszeit fragen wir uns, welche Rolle dieser Traum in unserem Alltag spielt. Wo sind wir da einzeln und als Paar unterwegs? Wer könnte unsere Unterstützung brauchen? Sich das bewusst zu machen, verändert wieder unsere Gestaltung des Alltags und räumt Zeit ein für das, was uns wichtig ist.

20 Minuten reichen

Ich bin überzeugt, dass die drei Parameter von Antonovsky eine Menge darüber aussagen, wie wir gemeinsam unterwegs sind. Die Bewältigbarkeit richtet dabei den Blick auf die tagtäglichen Erlebnisse. Die Verstehbarkeit versucht das Handeln und Sein des anderen anzunehmen, zu erforschen und auszuhalten, dass es anders ist als das eigene. Die Verstehbarkeit erinnert uns auch daran, dass wir einen langen Lebensabschnitt ohne unseren Partner durchlebt haben. Und die Sinnhaftigkeit träumt und malt ein Bild der Zukunft.

Was benötigt ihr gerade? Ist einfach ein intensiverer Austausch über das Alltagsgeschehen dran? Tut es euch vielleicht gut, euch über Vergangenes und Aspekte aus der Herkunftsfamilie auszutauschen? Oder wünscht ihr euch neue gemeinsame Träume und Visionen für die Zukunft? Denn zack, da ist er, der gute, liebe, nervige, mühsame, manchmal bunte und gemütliche, manchmal nicht vor To-dos enden wollende Alltag. Aber eine kleine Frage und 20 Minuten Zeit zum Durchatmen können schon genügen. Und plötzlich sind wir überrascht von den Antworten unseres Gegenübers und erleben wieder ein abenteuerliches kurzes Gespräch, emotionale Nähe oder merken, wie unser Zusammensein ein gemeinsames Ziel verfolgt.

Ira Schneider ist Lehrerin für Englisch und Theater und Paarberaterin (Euer-Paarcoaching@web.de). In ihrer Freizeit ist sie gerne kreativ und hat einen kleinen Onlineshop unter dem Label murmel.design. Unter „ira.schneider_“ ist sie auf Instagram zu finden. 

Mit dem Wohnzimmer-Trick stärkt Mutter Stefanie den Kontakt zu ihren Teens

Familie Diekmann will für ihre Teenager da sein und trotzdem Freiraum lassen. Ihnen gehört jetzt ein eigener Raum.

Es war in irgendeinem Vortrag. Ein Satz ist mir tief ins Herz gerutscht: „Unser Verhalten als Eltern lässt den Heranwachsenden oft nur eine Wahl: fliehen. Das Haus verlassen. Ganz weit weg!“ Weil wir keine wilde Musik, hysterisches Gekicher oder unendliche Duschorgien ertragen.

Eigenes Wohnzimmer statt dunkler Park

Wir beschließen als Eltern, uns den neuen Bedürfnissen zu stellen und den Teenagern einen sicheren Ort zu ermöglichen. Sie brauchen einen Platz ohne Elternblicke, kritische Kommentare und Fragen – aber nicht im dunklen Park oder in fremden Partykellern. Einen Platz, wo es einen Kühlschrank gibt, eine Möglichkeit zum Filmegucken und einen Haufen Matratzen und Schlafsäcke für Übernachtungspartys. Und so wird aus einem Arbeitszimmer unter dem Dach ein zweites Wohnzimmer.

Erst bin ich skeptisch, ob ich schlafen kann, wenn die sechs gackernden Mädels sich nachts Spiegeleier braten oder ein Konsolen-Tanzspiel spielen. Ich schlafe tatsächlich wenig, aber genieße das späte Frühstück am Mittag mit den jungen Damen. So bekommen wir viel mit, ohne zu bohren. Je älter die Teens werden, umso öfter starten ihre Besuche mit Kochaktionen, zu denen wir eingeladen werden und beim Essen in gute Gespräche kommen. Einmal kommt nachts unsere Tochter zu uns und braucht Hilfe, weil der Liebeskummer der Freundin zu arg ist.

Weinflaschen im Rucksack

Das ist unser Gedanke bei dem eigenen Rückzugsort: Die Jugendlichen können sich erproben, wir sind aber greifbar und zeigen mit der investierten Nervenkraft unseren Rückhalt. Auch die ersten „Weinproben“ sind so in unserer Nähe, auch wenn unsere Teens denken, wir hören das Klirren der Flaschen im Rucksack nicht. Viel zu oft verlieren Eltern und Teens den Kontakt zueinander. Wir wollen den Kontakt halten und so Nähe in turbulenten Zeiten ermöglichen. Das zusätzliche Wohnzimmer kann das fördern.

Übrigens haben wir diesen Grundgedanken auch in unserem Gemeindehaus umgesetzt. Jeder Jugendliche, der wollte, bekam einen Schlüssel und war eingeladen, jederzeit (besonders nachts) dort Zeit zu verbringen. Das Vertrauen, dass die jungen Menschen sorgsam mit den Räumen sind, haben sie nie missbraucht. Nicht selten wurde dort abends gekocht oder gespielt. Bis sie auf das Matratzenlager in unserem Wohnzimmer Nr. 2 fielen und ich beruhigt „nicht-schlafen“ konnte.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei inzwischen erwachsenen Kindern.

Kaum erwachsen, schon verschuldet? So helfen Sie Ihrem Kind aus der Schuldenfalle

Mit Anfang 20 klafft eine Lücke zwischen Konsumanspruch und finanzieller Realität. Laut dem Statistischen Bundesamt belaufen sich die durchschnittlichen Schulden 20-25 Jähriger auf 8.800 Euro. Wie Sie ihrem Kind helfen können, einen soliden Haushalt auf die Beine zu stellen.

„Unsere Tochter (22) wohnt in einer eigenen Wohnung und macht eine Ausbildung. Sie hat bisher immer gesagt, dass sie mit ihrem Geld auskommt. Jetzt hat sie aber zugegeben, dass ihr Konto 2.000 Euro im Minus ist. Mein Mann möchte, dass wir die Schulden begleichen und uns das Geld in Raten zurückzahlen lassen. Ich wäre dafür, dass wir das Nötigste für sie einkaufen, sie aber selbst sehen muss, wie sie aus den Schulden rauskommt. Was ist der bessere Weg?“

Die Begleitung der Kinder ist ein spannendes Thema, auch wenn sie bereits erwachsen sind. Als Eltern das Beste für sie zu wollen, ist bestimmt eine gute Idee – doch was ist das Beste? Unser Anliegen als Eltern ist es ja, dass die Kinder in der Lage sind, auf eigenen Beinen zu stehen und ihr Leben selbstständig zu managen, oder?

Verschuldete Jugendliche bei der Problemlösung einbinden

Ihre Tochter ist mit 22 Jahren und einer eigenen Wohnung schon ein deutliches Stück auf dem Weg der Selbstständigkeit vorangekommen. Daher wäre meine erste Überlegung, sie ins Boot zu holen. Ist es überhaupt ratsam, dass Sie das Problem für Ihre Tochter lösen? Wie wäre es, wenn Sie mit Ihrer Tochter erst einmal klären, ob sie selbst schon eine Lösung gesucht hat? Interessant wäre zu fragen, was dabei hilfreich war und was nicht funktioniert hat.

In diesem Zusammenhang sollten Sie gemeinsam mit Ihrer Tochter herausfinden, wie es zu der Kontoüberziehung gekommen ist. Es ist wichtig, die Ursache zu kennen und zu verhindern, dass man erneut in die Situation kommt, von einem Minus auf dem Konto überrascht zu werden. Es ist zum Beispiel ein Unterschied, ob sich die Situation aus einem Einmaleffekt (z. B. Autoreparatur oder Anschaffungen) ergeben hat oder einfach die laufenden Kosten die Einnahmen übersteigen. Hier wäre es hilfreich, sich einen Überblick zu verschaffen. Alle vorkommenden Zahlungen eines Jahres sollen bekannt sein. Darüber hinaus gibt es außerordentliche Ausgaben, für die es vorzusorgen gilt. So können Überraschungen vermieden werden.

Finanzvorsorge: Rücklagen und Kredite bilden

Vorbeugen bedeutet auch, die Rücklagenbildung für Sonderausgaben zu berücksichtigen. Am besten so rechtzeitig, dass der Betrag bei Bedarf auch zur Verfügung steht. Die Alternative wäre ein Kredit. Kredite sind eine Herausforderung. Das Geld wird ausgegeben, bevor es verdient worden ist. Daher soll bei einem Kredit beachtet werden, dass die Laufzeit dem Zweck entspricht. Ein Kredit für Reparaturen oder Urlaub darf nur maximal so lange laufen, bis der nächste Urlaub oder die nächste Sonderausgabe ansteht. Und ein Kredit für Anschaffungen soll die Nutzungsdauer der Anschaffung nicht überdauern. Auch ein Kredit ist eine Art zu sparen. Ein Zurücksparen. Und egal, ob der Betrag aufs Sparkonto geht oder die Rate für den Kredit bezahlt werden muss, der Betrag muss am Ende in das monatliche Budget passen.

Noch einmal zurück zu Ihrer Tochter. Nachdem das Gespräch mit ihr stattgefunden hat, sollten auf der einen Seite die Sachfragen geklärt worden sein, aber auch, ob und in welcher Form eine elterliche Unterstützung für Ihre Tochter willkommen ist. Ihr die Entscheidung zu überlassen, bedeutet, ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Und eine Begegnung auf Augenhöhe hilft Ihrer Tochter, selbstständig zu werden. Trauen Sie ihr ruhig etwas zu! Fehler sind in Ordnung, solange man daraus lernt.

Carsten Gutknecht-Stöhr ist Bankfachwirt und Paarberater.

Gemeinsames Plumpsklo: So ärmlich lebte Familie Oelschläger in der DDR

Die Windeln trockneten sie überm Esstisch und heizten mit Kohleofen. Erinnerungen an die erste eigene Wohnung von Ute und Jörg Oelschläger in der DDR.

Herbst 1984: Wir beziehen stolz unsere erste eigene Wohnung im Erdgeschoss einer früheren Mühle, direkt am Mühlteich. Das dreistöckige Wohnhaus ist auf Bruchstein gegründet und nicht unterkellert. Uns gehören eine beheizbare Wohnstube mit ca. 20 m2, eine Küche und ein weiteres Zimmer, beide zusammen bringen es auf rund 7,5 m2. Das ist ein Riesenfortschritt. Bisher wohnten wir zu dritt in den sieben unbeheizten Quadratmetern meines Kinderzimmers.

Klo ohne Heizung

Verheiratete ohne Kind hatten in der DDR kaum eine Chance, eine Wohnung zu bekommen. Mit Baby stieg diese geringfügig. Um einen der begehrten Wohnungsbezugsscheine auf dem Amt zu ergattern, brauchte man entweder Beziehungen oder viel Eigeninitiative, um Eingaben zu schreiben oder ständig auf Behörden vorzusprechen. Als wir diese anderthalb Zimmer angeboten bekamen, hatten wir keine Chance, nein zu sagen, wohl wissend, dass einem Einzug viel Arbeit vorausgehen würde.

Wir hatten diese Wohnung nicht für uns allein. Zwei Zimmer, die von unserem Flur abgingen, gehörten einer alten Dame, der ehemaligen Hausbesitzerin. Sie wohnte bei ihren Kindern über uns, kam aber zum Schlafen herunter. Unsere Toilette befand sich im Eingangsbereich des Treppenhauses, und wir teilten sie uns mit der Nachbarin. Es handelte sich um ein sogenanntes PC (Plumpsklo) mit undichtem Fenster und ohne Heizung. Die darunter liegende Grube war undicht und durchfeuchtete die Wände dieser Hausseite. Unsere vier Fenster öffneten zwar zur Teichseite, die lud aufgrund der Wasserqualität aber nicht gerade zum Lüften ein.

Baumaterial war Mangelware

Nach der ersten Begehung stand fest, dass Elektrik, Wasser- und Abwasserleitungen neu verlegt und der lose Putz durch neuen ersetzt werden musste. Da Baumaterial Mangelware war, war ich oft zeitig früh am öffentlichen Fernsprecher in der Postfiliale und telefonierte die Baustoffversorgungen nach Material ab. Beim Putzabschlagen rieselte ein Fachwerkbalken aus der Wand, und wir standen in der Küche der freundlichen Nachbarin.

Dank der Hilfe von Freunden und unserer handwerklich begabten Eltern konnten wir endlich einziehen, als unsere Tochter ein halbes Jahr alt war. In das Schlafzimmer passte unser dreitüriger Schrank mit Aufsatz, unser Bett, ein Kinderbett und später noch eine Wiege. Bei offener Schranktür blieb kein Durchgang. Auch unsere Küche war ein Wunderwerk der Raumnutzung. Rechts von der Tür waren ein Glutos-Herd (Kohleofen mit Kochfläche), ein Gasherd, ein Minihandwaschbecken und zuletzt der totale Luxus: eine elektrische Duschkabine. Sie reichte an der Stirnseite bis an das Fenster heran.

Alles eng

Direkt unter dem Fenster war noch Platz für die Schleuder (später ein beliebter Besuchersitz) und daneben schloss sich die Spüle an. Diese ließ sich nur auf der rechten Seite öffnen, denn unmittelbar davor stand die halbautomatische Waschmaschine. Nahtlos folgten noch 1,50 m Küchenzeile mit Kühlschrank. In der Zimmermitte stand der Tisch mit zwei Stühlen an den Stirnseiten. Um etwas aus den unteren Küchenteilen zu entnehmen, musste der Tisch vor den Herd und danach zurückgeschoben werden. Im Winter benutzten wir eine Fünffachleine vom Fenster zur Tür. Da trockneten die Windeln bei Ofenhitze über uns und dem eventuellen Gast.

Im Wohnzimmer gleich links neben der Tür stand ein kleiner Dauerbrandofen, der Unmengen Braunkohlebriketts verschlang. Er warf die meiste Wärme an den ihm gegenüberliegenden alten Nussbaumschrank. Bei Einhaltung des Mindestabstandes zum Ofen war hinter dem Schrank gerade noch Platz für eine Liegefläche von zwei mal zwei Metern. Sie fungierte wahlweise als Couch, Kinderspielfläche oder Gästebett.

Rote bemalte Wasserrohre

Der Fußboden war kalt und trotz Teppich kaum als Spielplatz geeignet. Ein Laufgitter half bedingt. Im Wohnzimmer war noch Platz für eine Kommode, einen zweitürigen Schrank und einen ausziehbaren Tisch mit vier Stühlen. Abstellmöglichkeiten wie Dachboden oder Vorratskammer gab es nicht.

Der praktischen Enge haben wir versucht, mit Farbtupfern individuelle Gemütlichkeit zu geben. Zur weißen Wand bekamen die Türrahmen und Fenster eines jeden Zimmers eine andere Farbe. Grün im Schlafzimmer, Braun im Wohnzimmer und Rot in der Küche. Die Aufputzabwasserrohre in kräftigem Rot waren vielleicht nicht üblich, aber ein Blickfang, genau wie ein roter Gästehocker.

Dankbar für den heutigen Luxus

Diese erste eigene Wohnung haben wir geliebt, auch wenn wir unter der Enge oft gelitten haben. Familienveränderungen forderten ständige Anpassung. Ein Jahr nach unserem Einzug wurden uns Zwillinge geboren. Erst 1987, kurz vor der Entbindung von Kind Nr. 4, konnten wir in eine größere Wohnung umziehen. Und auch die war von Anfang an wieder zu klein …

Unser Trautext, Psalm 128, hat sich über die Jahre mehr als erfüllt. Wir wurden immer getragen und versorgt. Dankbar sitzen wir heute im eigenen Haus und haben so viel Platz wie nie. Die Türen halten wir noch immer offen, so wie schon damals in der Enge. Ein Teil der alten Holzmöbel hat alle Umzüge überlebt und erinnert uns an die Anfänge. Die Kinder sind aus dem Haus und Kindeskinder werden geboren. Wir bekommen Solarstrom vom Dach, Wärme von der Sonne oder aus dem Kamin. Das ist Luxus. Global betrachtet waren wir schon 1984 privilegiert und sind es heute noch viel mehr. Dessen sind wir uns bewusst, und dafür sind wir dankbar.

Ute Oelschläger ist verheiratet und Mutter von sechs erwachsenen Kindern. Sie ist Hausfrau mit floristischem Minijob und Zeit für kreative Hobbys und lebt in Borsdorf bei Leipzig.

Abitur oder Ausbildung? Eltern fragen sich: „Was passt zu unserem Kind?“

Expertin Corinna Kühne meint: Eine Frage entscheidet darüber, ob Jugendliche weiter die Schule besuchen oder eine Ausbildung anfangen sollen.

„Bald steht die Entscheidung an, ob unser Sohn nach der Sekundarstufe 1 eine Berufsausbildung startet oder in die Sekundarstufe 2 geht, um das Abitur zu machen. Von den Noten steht er so dazwischen. Wie können wir eine gute Entscheidung treffen?“

Sie schreiben, dass Ihr Sohn von den Noten „dazwischen steht“. Er hat also wahrscheinlich gerade so die schulischen Voraussetzungen für den Besuch der Sekundarstufe 2. Für viele Familien ist es in dieser Situation selbstverständlich, dass ihr Kind Abitur (oder Matura) machen soll.

In Gesprächen merke ich jedoch oft, dass Eltern dabei nicht primär ihr Kind mit seinen Interessen und Begabungen im Blick haben. Das kann zum einen daran liegen, dass viele Mitschülerinnen und Mitschüler Abitur machen werden, sie selbst Abitur gemacht haben oder die Gesellschaft ihnen suggeriert, dass man eigentlich nur mit Abitur richtige berufliche Chancen habe. Andere Eltern wollen, dass ihre Kinder einen Abschluss erreichen, den sie selbst nicht geschafft haben. Sie projizieren ihre unerfüllten Ziele auf ihre Kinder. Letztendlich ist es auch die einfachste Entscheidung, da man sich keine Gedanken über Alternativen machen muss.

Was braucht er für den Traumberuf?

Das sind jedoch alles keine guten Gründe, die Sekundarstufe 2 zu besuchen. Wichtig für diese Entscheidung ist neben der schulischen Qualifikation der Berufswunsch. Die Teenager setzen sich bereits ab der 7. oder 8. Klasse damit auseinander, welche Interessen, Fertigkeiten und Begabungen sie haben und lernen unterschiedliche Berufsfelder kennen. Auch ein Betriebspraktikum kann eine wichtige Entscheidungshilfe sein.

Wenn Ihr Sohn schon genaue berufliche Vorstellungen hat und er für seinen „Traumberuf“ das Abitur benötigt, sollte er diesen Weg auf jeden Fall gehen. Dabei muss ihm klar sein, dass der Weg zum Abitur mit harter Arbeit verbunden ist. Es gibt Kinder, die sich dieser Herausforderung gern stellen und an ihr wachsen, die bereitwillig ihre Aufgaben erledigen, für Klassenarbeiten lernen und Referate vorbereiten. Wenn Ihr Sohn zu diesen Kindern gehört, kann der Weg zum Abitur ebenfalls genau der richtige sein. Es kann aber auch sein, dass die Schule für ihn schon lange eine Qual ist und mit Druck und negativem Stress verbunden ist. Dann ist es eher an der Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen.

Keine Angst vor Ausbildung

Begleiten Sie Ihr Kind, indem Sie Gesprächsbereitschaft zeigen und sich für seine Überlegungen interessieren. Sollte er Interesse an einem Ausbildungsberuf zeigen, unterstützen Sie ihn darin. Insbesondere wenn sie merken, dass ihm Schule keinen Spaß macht und er lieber etwas Praktisches machen möchte. Ich habe schon oft erlebt, dass insbesondere Jungen zunächst einen Beruf erlernen und zu einem späteren Zeitpunkt das Abitur machen, weil sie noch studieren möchten.

Eine gute Alternative für Kinder, die „dazwischen stehen“, kann auch der Erwerb eines Fachabiturs auf einem Berufskolleg sein (ähnlich der Fachmittelschule in der Schweiz). Dies umfasst sowohl einen schulischen als auch einen praktischen, berufsbezogenen Teil. Dieser Weg ist dadurch sehr abwechslungsreich und für viele Jugendliche motivierend.

Corinna Kühne ist Abteilungsleiterin für die Jahrgangsstufen 8-10 an der Matthias-Claudius-Schule in Bochum. 

Sorgenkind: „Mama, ich bin mal wieder dabei, mein Leben an die Wand zu fahren!“

Hochbegabt, gemobbt und depressiv: Ihr Erstgeborenes ist ein echtes Sorgenkind. Ehrliche Einblicke einer Mutter.

Dieser Artikel erzählt von unserem Erstgeborenen. Wobei mir wichtig ist zu betonen, dass der Begriff „Sorgenkind“ nur eine Seite unserer Geschichte darstellt. Unser Sohn ist auch oder vor allem ein toller Kerl! Blitzgescheit, fantasievoll, kreativ und begeisterungsfähig. Als Ältester hat er mit seinem Wissensdurst und seinen sprudelnden Ideen wertvolle Weichen für unser Familienleben gestellt.

Aber was heißt überhaupt Sorgenkind? Sorgenmachen gehört doch zum Elternsein dazu, genauso wie Lachen, Streiten und Pausenbrote. Jedes Kind ist mal ein Sorgenkind, zumindest phasenweise. Ein chinesisches Sprichwort lautet: „Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel der Sorge über deinem Kopf kreisen, aber du kannst verhindern, dass sie Nester bauen.“

Sorgenkinder sorgen allerdings dafür, dass diese Vögel sehr penetrant werden. Sie kreisen ausdauernd und dicht über elterlichen Köpfen. Manchmal dringt kaum noch die Sonne durch ihre Flügel, und der Kampf gegen ihre Nester ist schwer. Aber natürlich haben alle Eltern die berechtigte Hoffnung, dass diese Plagegeister im Laufe der Jahre ihren Radius immer weiter ziehen und schließlich ganz verschwinden.

Hochbegabtes Schreibaby?

Ich habe mit einigen Sorgenkind-Eltern gesprochen – beruflich und privat. Die Palette ist bunt. Sie reicht von chronischen Krankheiten über Verhaltensauffälligkeiten und massiven Lernproblemen bis hin zu vielfältigen psychischen Problemen wie sozialen Ängsten, Essstörungen, Selbstverletzung …

Mein Mann und ich allerdings starteten jung und völlig sorglos in unser Abenteuer Familie. Zwar wurden wir überrascht von den Komplikationen rund um die Geburt, aber als wir unseren Sohn in den Armen halten durften, waren wir überzeugt, vor uns liege nun ein Weg voller Harmonie und Freude. Dieser Weg war leider sehr kurz, denn unser Kind entpuppte sich als Schreibaby. Wer das selbst erlebt hat, kennt alle Facetten elterlicher Erschöpfung und Verzweiflung.

Als Kleinkind erlebten wir ihn aufgeweckt und neugierig, aber auch weiterhin unruhig und zu heftigen Wutausbrüchen neigend. Aufgrund seiner guten Sprachentwicklung äußerte schon früh jemand in unserem Umfeld den Verdacht der Hochbegabung. Tatsächlich interessierten ihn Gleichaltrige wenig, stattdessen brachte er sich schon im Kindergartenalter selbst das Lesen bei. Bücher wurden seine besten Freunde.

Ausgegrenzt und gemobbt

Die starke Diskrepanz zwischen sozial-emotionaler und kognitiver Entwicklung wurde immer deutlicher. Wie schon im Kindergarten fiel er auch bald in der Schule durch seine Unruhe und sein Verhalten auf. Wir suchten Rat bei Fachleuten und ließen ihn eine Klasse überspringen. Das half nur kurz. Er blieb ein Problemschüler – ging ungern hin, war unterfordert und überfordert zugleich und eckte häufig an. Unsere Hoffnung, dass es auf dem Gymnasium besser werden würde, erfüllte sich nicht. Es kamen Ausgrenzung und Mobbing hinzu. Unser Sohn litt und wir mit ihm. Wir taten, was wir konnten, um ihn zu trösten und zu stärken. Eine neuerliche Diagnose ergab neben der Hochbegabung auch Anzeichen von ADHS und dem Asperger-Syndrom. Aber irgendwie passte er in keine Schublade. Die vorgeschlagenen Medikamente und Therapien überzeugten uns nicht.

In den Pubertätsjahren entspannte sich die Lage erstaunlicherweise. Unser Sohn wurde ruhiger, seine sozialen Fähigkeiten reiften. Er fand einen netten, kleinen Freundeskreis, der Schulbesuch wurde weniger verhasst. Die letzten beiden Schuljahre waren unbeschwert wie nie zuvor. An seinem Abiball hörte ich zum ersten Mal aus dem Mund eines Lehrers: „Sie haben einen tollen Sohn!“ Er ahnte sicher nicht, welch Balsam das für mein Mutterherz war.

Depression nach Liebeskummer

Nun schien alles rundzulaufen. Er bekam seinen Traumstudienplatz in unserer Stadt, spielte in einer Jugendband und erlebte seine erste Liebe. Wie waren wir erleichtert und dankbar! Wir hatten unser Kind mit Gottes Hilfe durch eine schwierige Kindheit begleitet, und nun wurde es erwachsen und es war an der Zeit, Schritt um Schritt loszulassen.

Der erste Liebeskummer setzte unseren Hoffnungen ein jähes Ende. Unser Sohn rutschte in kürzester Zeit in eine Depression. Er zog sich von seinen Freunden zurück, ging nicht mehr zu den Vorlesungen und schmiss schließlich sein Studium. Auch uns ließ er nicht mehr an sich heran. Unser Drängen, professionelle Hilfe anzunehmen, stieß auf taube Ohren. Er war seit Kurzem volljährig und bestand darauf, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Nach einigen schweren Wochen überraschte er uns schließlich mit der Nachricht, er habe sich für ein Psychologiestudium beworben und eine Zulassung in einer anderen Stadt erhalten. Wir schluckten unsere Bedenken hinunter und halfen ihm bei Zimmersuche und Umzug. Dann war es so weit – unser erstes Kind verließ das Nest.

Hochs und Tiefs im Studium

In den folgenden Wochen brodelten in mir die widersprüchlichsten Gefühle. Neben die Sorge, dass mein verletzliches Kind nun ganz allein in einer fremden Stadt zurechtkommen musste, mischte sich Stolz auf seinen Mut, trotz aller Hindernisse voranzugehen. Und obwohl ich ihn sehr vermisste, machte sich auch ein gewisses Gefühl der Erleichterung breit – gefolgt von typisch mütterlichen Schuldgefühlen. Doch unser Sohn fand sich erstaunlich schnell zurecht, genoss die neue Freiheit und reifte an der Selbstständigkeit. Er fand gute Freunde, das Studienfach begeisterte ihn. An dieser Stelle gäbe es nun zum zweiten Mal die Option für ein Happy End.

Tatsächlich aber konnten auch die guten Umstände nicht verhindern, dass die Depression ihn in Abständen immer wieder einholte. In diesen Phasen vernachlässigte er sein Studium, aber auch soziale und finanzielle Verpflichtungen, was zu zusätzlichen Problemen führte. Obwohl ich dankbar war, dass er mittlerweile darüber sprechen konnte, traf es mich doch bis ins Mark, wenn er am Telefon weinte: „Mama, ich bin mal wieder dabei, mein Leben an die Wand zu fahren!“

Für uns Eltern war es schwer, in diesen Momenten Hunderte von Kilometern entfernt zu sein. Wie oft haben wir ihn aus der Ferne und unter Tränen im Gebet in Gottes liebende und heilende Hände gelegt. Wie schon durch seine Schulzeit haben wir ihn auch durch dieses Studium hindurchgebetet. Er hat nach vielen zusätzlichen Semestern tatsächlich einen guten Abschluss geschafft.

Mann und Freunde helfen bei Sorgenkind

Wenn ich heute zurückschaue, staune ich, dass unsere Familie entgegen mancher Prognosen so gut durch diese Jahre gekommen ist. Sorgenkinder belasten und gefährden nicht selten die seelische Gesundheit und die Ehe der Eltern. Auch Geschwisterkinder leiden unter den Spannungen. Sie fühlen sich oft übersehen oder spüren den Druck, dass doch wenigstens sie gut funktionieren sollten.

In unserer Familie war wohl ich es, die am dichtesten dran war. Mir halfen vor allem mein Mann, der die Last mit mir teilte, aber auch offene Gespräche mit guten Freunden. Trotzdem gab es immer wieder Zeiten, in denen ich mich schwach, verzweifelt und hilflos fühlte – aber tatsächlich nie allein! Keine Lektion meines Lebens hat mich tiefer gelehrt, was es heißt, alle Sorgen auf Gott zu werfen und ihm zu vertrauen. Unser Sohn ist mittlerweile ein erwachsener Mann. Wir stehen in gutem Kontakt und sind dankbar, dass er an seinem Wohnort einen stabilen Freundeskreis und eine Gemeinde gefunden hat. Er hat gelernt, Depressionsschübe rechtzeitig zu erkennen und lässt sich professionell helfen. Allerdings gestaltet sich sein Berufsweg bisher noch eher holprig, und auch im Privaten läuft längst nicht alles rund. Die Vögel kreisen noch! Und wir Eltern leben weiterhin in der Spannung zwischen Sorge und Zuversicht. Und in der festen Hoffnung, dass alles in guten Händen liegt.

Die Autorin möchte anonym bleiben, um ihren Sohn zu schützen.

„Ich hab Angst, Papa!“ – Leidet mein Kind an einer Angststörung?

Dass Kinder Angst haben, ist normal. Aber welches Maß an Sorge gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu und wann sollten Eltern Hilfe holen?

Der neunjährige Ben (alle Namen geändert) fürchtet sich seit Beginn der Covid-Pandemie davor, allein zu seinem Freund zu laufen, obwohl dessen Haus um die Ecke liegt. Lana ist im zweiten Schuljahr und wagt nicht, in der Schule zu sprechen, weil andere Kinder sie auslachen könnten. Gian gruselt sich mit fünf Jahren davor, in seinem eigenen Zimmer zu schlafen oder nachts auf die Toilette zu gehen. Die elfjährige Julia hat so starke Angst davor, keine Luft mehr zu bekommen, dass ihre Eltern sie immer wieder von der Schule abholen.

Ängste begleiten unsere Kinder auf jedem Schritt ihrer Entwicklung. So sehr wir es ihnen wünschen würden, eine Kindheit ohne Furcht gibt es nicht. Aber warum spüren Kinder so starke Furcht? Welche Ängste sind normal in ihrer Entwicklung – und wann brauchen Kinder fachkundige Hilfe?

Warum gibt es Angst?

„Mama, warum muss es überhaupt Angst geben? Es wäre viel schöner ohne sie …“, fragte mich unsere jüngste Tochter verzweifelt, als sie sieben Jahre alt war. Als Biologin antwortete ich darauf: Wir Menschen sind eine sehr verwundbare Spezies. Uns schützen kein dicker Panzer, keine Reißzähne und keine Beine, die schneller als andere Tiere laufen können. Wir brauchen zum Überleben ein Frühwarnsystem.

Genau diese Funktion übernimmt die Angst. Unsere Sinne scannen die Umgebung permanent danach ab, ob uns etwas bedrohlich werden könnte. Dazu gehört neben körperlichen Gefahren auch das Risiko, dass wir andere falsch einschätzen oder uns selbst unangemessen verhalten, denn Menschen können nur in der Gruppe überleben. Aus diesem Grund sind soziale Ängste so ausgeprägt.

In der frühen Menschheitsgeschichte hatten vorsichtige Menschen eher die Chance zu überleben und Nachwuchs zu bekommen. Auch Kinder, deren Bindungssystem aktiviert wird von Ängsten, blieben nahe bei den schützenden Erwachsenen. So wurde die Angst tief in uns verankert.

Diese Kinderängste sind normal

Kinder durchlaufen verschiedene Ängste als Teil ihrer gesunden Entwicklung. Dazu gehören:

  • beim Säugling das Erschrecken bei lauten Geräuschen und die Angst, allein zu sein: So lebensbedrohlich, wie es früher für ein Baby gewesen wäre, schutzlos in die Nachbarshütte gelegt zu werden, fühlt sich auch heute noch das Alleingelassen-Sein an.
  • bei Babys ab 6 bis 8 Monaten das Fremdeln: Ab diesem Alter unterscheiden Kinder zwischen vertrauten Personen und Fremden, die ihnen Angst einflößen. So wird das zunehmend mobile Kind an seine schützen den Bezugspersonen gebunden.
  • ab dem Kleinkindalter die Furcht vor einer Begegnung mit Tieren wie Hunden, Schlangen, Spinnen: Als Menschen noch naturnäher lebten, hätte dies dafür gesorgt, dass Kinder sich zunächst an Erwachsenen oder älteren Kindern orientieren, bevor sie sich potenziell gefährlichen Tieren vorsichtig nähern.
  • als Kindergartenkind die Angst vor der Dunkelheit: Nachts waren Menschenkinder am sichersten in unmittelbarer Nähe ihrer Eltern und Verwandten. Hinzu kommt, dass Kinder ab diesem Alter die Fantasie entwickelt haben, sich ausmalen zu können, wie Einbrecher durchs Fenster klettern oder Monster unter dem Bett sein könnten.
  • ab dem Grundschulalter die Sorge, schulisch nicht mitzukommen oder von anderen Kindern ausgeschlossen zu werden: Den Schulkindern wird bewusst, wie wichtig es ist, die geforderte Leistung zu bringen und als Teil einer Gruppe funktionieren zu können. Auch Ängste vor Tod und Krankheit können in diesem Alter vermehrt auftauchen.

Häufige Angststörungen

Von einer Störung spricht man, wenn die Manifestationen der Angst so übersteigert sind, dass sie das alltägliche Leben der Kinder stark beeinträchtigen, schweren Stress und/oder ein längerfristiges Vermeidungsverhalten auslösen. Etwa 10 bis 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen durchleben eine Angststörung. Seit Beginn der Covid-Pandemie haben Ängste und Sorgen bei Kindern deutlich zugenommen: Im Herbst 2021 empfanden etwa 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen die Corona-Krise als „ziemlich oder äußerst belastend“, knapp 30 Prozent hatte ein Risiko für psychische Auffälligkeiten. Vor Corona waren es ca. 18 Prozent (COPSY-Studie 3). Angststörungen zeigen sich bei Kindern besonders häufig als:

Trennungsängste: Die Kinder fürchten sich davor, dass ihnen oder ihren Eltern etwas zustoßen könnte, während sie getrennt sind. Diese Störung kann auch zum Verweigern von Kindergarten oder Schule führen oder dem Ablehnen von Übernachtungen und Ausflügen ohne die Eltern.

Phobien: Wenn spezifische Situationen oder Objekte unangemessen starke Ängste auslösen, spricht man von einer Phobie. Kinder können Phobien entwickeln vor Tieren, Höhen, engen Räumen, Blut und Spritzen, Naturkatastrophen etc. Phobien treten intensiv und dauerhaft auf und hemmen das Kind in seiner Entwicklung.

Ungenügende Leistungen werden zur Katastrophe

Soziale Ängstlichkeit: Kinder mit sozialen Ängsten fürchten übermäßig, sich zu blamieren, kritisiert zu werden oder in sozialen Situationen „Fehler“ zu machen. Sie fühlen sich gehemmt, wenn sie in der Schule im Fokus stehen und wagen kaum, sich zu melden. Oft reden sie wenig und leise, vermeiden Blickkontakt und fühlen sich anderen gegenüber unterlegen.

Prüfungs- und Leistungsängste: Kinder und Jugendliche fürchten sich davor, den Ansprüchen von anderen oder sich selbst nicht zu genügen. Oft zeigen sie ein rigides Lernverhalten, das mit Gedanken einhergeht wie: „Ich muss alles wissen!“, und interpretieren ungenügende Leistungen als Katastrophe. Viele zweifeln ihre eigene Leistungsfähigkeit stark an und glauben, dass Lernen allen anderen leichter fällt.

Generalisierte Angststörung: Bei dieser Störung wirken Kinder dauerhaft ernst und betrübt, leiden unter geringem Selbstwertgefühl und ausgeprägten Sorgen in vielen Lebensbereichen. Sie grübeln oft darüber nach, ob sie nicht einen Fehler gemacht haben, in der Schule nicht gut genug sind oder nicht genügend Freunde haben. Weitere Symptome können Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Erschöpfung, Reizbarkeit und Konzentrationsprobleme sein.

Bei Angststörung unbedingt Hilfe holen!

Als Eltern sollten wir bei ersten Hinweisen auf eine Angststörung unbedingt handeln und mit unseren Kindern eine erfahrene Fachperson aufsuchen. Ohne Behandlung kann es zu einem chronischen Verlauf kommen, bei dem das Leben des Kindes immer stärker von Ängsten dominiert und eingeschränkt wird oder weitere Ängste und Depressionen hinzukommen.

Angststörungen sind gut behandelbar, wobei die Erfolgschancen umso höher sind, je früher mit einer Behandlung begonnen wird. Es gibt unterschiedliche Therapie-Ansätze gegen Ängste, die unseren Kindern effektiv helfen. Dabei hat sich vor allem die kognitive Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen.

Wie helfe ich meinem Kind bei Angst?

Kindern hilft es, wenn sie ihre Ängste besser kennenlernen. Das gelingt, wenn sie offen über die Angst sprechen, ihr sogar eine Stimme und Gestalt verleihen, sie malen und beschreiben dürfen. Es gibt viele Kinderbücher, wie das Sach- und Mitmach-Buch „Huch, die Angst ist da!“, die zum Reflektieren einladen. Sie können sehr wertvoll sein, um ins Gespräch zu kommen und sich mit den Ängsten in der Familie auszusöhnen. Auch Lieder und Gebete sind hilfreich.

So lernen unsere Kinder: Die Angst besucht jeden von uns manchmal. Wenn wir sie annehmen, kann sie uns wie ein freundliches Wesen warnen und helfen, gut auf uns aufzupassen. Manchmal übertreibt unsere Angst aber auch und veranstaltet ein großes Kopfkino. Dann können wir lernen, sie weniger ernst zu nehmen, vielleicht sogar über sie zu schmunzeln.

Als Erwachsene begleiten

Wenn Befürchtungen zu einem riesigen, bedrohlichen Angstmonster anwachsen, gibt es viele Wege, sie wieder zu einem hilfreichen Begleiter zu zähmen: Atem- und Entspannungs-Übungen helfen Kindern bei akuten Angstwellen. Sicher gebunden und begleitet durch Erwachsene können sie erfahren, wie man für angsteinflößende Situationen einen Plan machen und sich ihnen in kleinen Schritten nähern kann.

So merken die Kinder: „Zusammen mit meinen Eltern konnte ich mich meiner Angst stellen und sie aushalten. Jetzt ist mein Angstmonster schon ein Stückchen kleiner geworden, mein Mut und mein Selbstvertrauen sind größer!“

So bringen Bens Eltern ihn nur noch bis zur Straßenecke, ab dort läuft er zu seinem Freund allein. Lana bespricht ihre Sorgen mit einem Kinderpsychologen und schafft es in der Schule schon, in einer Kleingruppe zu sprechen. Gian schläft jetzt in seinem Zimmer bei offener Tür ein, darf aber nachts ins Elternschlafzimmer schleichen und sich dort auf eine Matratze legen. Und Julia lernt bei der Atemtherapeutin, wieder tief durchzuatmen und sich auf ihren Körper zu verlassen. Auf ein Leben mit einer schützenden, hilfreichen Angst sind sie gut vorbereitet.

Ulrike Légé arbeitet als freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Basel. Zusammen mit Fabian Grolimund hat sie das Buch „Huch, die Angst ist da!“ (Hogrefe) geschrieben – es eignet sich für Kinder von 6 bis 11. 

Hilfe für Ukraine: Wir können nicht alles stehen und liegen lassen

Menschen (nicht nur) aus der Ukraine brauchen unsere Hilfe. Doch wie viel können wir ihnen geben? Ein Kommentar.

„Man muss doch etwas tun!“ – Dieser Gedanke ist wohl vielen in den letzten Wochen durch den Kopf geschossen. Angesichts des Leids in der Ukraine, angesichts der Menge an Geflüchteten spüren wir den dringenden Wunsch zu helfen. Und viele packen mit an: spenden Geld, Lebensmittel, Kleidung. Helfen an Sammelstellen, Spenden zu verladen. Fahren Hunderte Kilometer, um Hilfsgüter auszuliefern und Menschen mitzunehmen. Viele öffnen ihr Haus, ihre Wohnung, um eine Familie bei sich aufzunehmen.

Ich weiß nicht, was von all dem du schon gemacht hast. Ich kann nicht groß prahlen mit meinen guten Taten. Ja, ich habe gespendet. Ja, ich habe Dinge, die benötigt wurden, zu einer Sammelstelle gebracht. Ja, ich habe mitgeholfen, als an einem Wochenende 50 Menschen aus der Ukraine in unserer Gemeinde untergebracht werden mussten. Aber ich bin nicht mit einem Sprinter an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren. Ich habe keine Familie bei mir aufgenommen. Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen. Weil andere so viel mehr machen. Weil ich mein normales Leben weiterführe, während andere Menschen gerade alles verloren haben.

Komfortzone verlassen – ja, aber nicht um jeden Preis

„Wir müssen einfach mal unsere Komfortzone verlassen“, meint Britta, die sich über Tage intensiv bei der Unterbringung von Geflüchteten in unserer Gemeinde engagiert. Aber es ist auch klar: Diese Notaktion für ein Wochenende, das können wir leisten. Dauerhaft schaffen wir es nicht. Wir können ja nicht alles stehen und liegen lassen – unsere Kinder, unsere Jobs, unser Engagement in anderen Bereichen. Und so verbringe ich tatsächlich mit gutem Gewissen ein Wochenende damit, den Geburtstag meines Sohnes zu feiern. Weil er zwei Jahre lang kaum Highlights hatte in seinem Leben. Und weil das für ihn jetzt wichtig ist.

Es bleibt – wie so vieles – ein Spagat. Besondere Situationen erfordern einen besonderen Einsatz. Wir müssen immer wieder unsere Komfortzone verlassen. Aber wir müssen auch unsere Grenzen sehen – und unsere realistischen Möglichkeiten. Also: Augen auf und sehen, wo wir helfen können. Und dafür auch mal alles stehen und liegen lassen. Aber auch akzeptieren, was nicht geht. Und übrigens: Unabhängig davon, ob ich etwas tun kann oder nicht, hilft es mir, ein Gebet für die Menschen und Situationen an Gott zu richten.

Bettina Wendland ist Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

Gehörlose Mutter: So meistert Influencerin Christine ihren Alltag

Instagram-Influencerin und Mutter Christine Eggert ist gehörlos zur Welt gekommen. Ihr Alltag bewegt sich zwischen Ablehnung und Mutterstolz.

„Gebärdensprache ist die schönste Sprache“, schreibt die 30-jährige Christine Eggert auf ihrem Instagram-Profil. Und: „Ich bin stolz, taub zu sein. So, wie ich lebe, bin ich stolz.“ Die zweifache Mama aus dem kleinen Ort Hettstadt bei Würzburg hat auf Instagram fast 40.000 Follower. Auf ihrem Account „_chocosecret_“ postet sie täglich über Lifestyle-Themen wie Mode, Beauty oder Reisen – und über ihre Gehörlosigkeit.

Das war nicht immer so: Als sie 2014 ihren Account startete, verlor sie in ihren Posts kein Wort darüber, dass sie taub ist. Erst knapp vier Jahre später wagte sie das „Outing“: „Ich habe lange überlegt“, signalisiert Christine ihrer Freundin, die sie heute als „Übersetzerin“ eingeladen hat, auf Gebärdensprache. Grund zu zögern hatte sie: „In meinem Alltag habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Hörende zurückziehen, wenn sie mit uns Gehörlosen konfrontiert werden.“ Versucht sie Hörende, die sie nicht kennen, etwas zu fragen, komme es vor, dass sie einfach stehen gelassen wird. „Viele reagieren schockiert und gehen weg“, berichtet Christine. „Das ist typischer Alltag für mich: Viele geben sich überhaupt keine Mühe, mit mir zu kommunizieren.“

Vater lernte nie Gebärdensprache

Auch in ihrer Familie habe sie sich oft als Außenseiterin gefühlt, erzählt Christine. Ihre Eltern haben nicht gewusst, wie sie mit der Gehörlosigkeit ihrer Kinder umgehen sollen. Bis heute könne ihr Vater keine Gebärdensprache, ihre Mutter und ihre Schwester nur rudimentär. Auch ihr kleiner Bruder ist taub zur Welt gekommen, spreche aber mehr als sie, so Christine.

Ihre Befürchtung, auch ihre Instagram-Follower könnten sie wegen ihrer Gehörlosigkeit ablehnen, hat sich nicht bestätigt: „Einige haben sich sogar dafür interessiert, die Gebärdensprache zu lernen“, sagt Christine. Wir sitzen im hell und clean eingerichteten Wohn- und Esszimmer der Eggerts. Christines zweijähriger Sohn Levian schläft, Töchterchen Emilie ist in der Nachmittagsbetreuung ihrer Grundschule. Bevor sie Mama wurde, hat Christine eine Ausbildung zur Köchin gemacht. „Ich war sehr unsicher mit meiner Berufswahl und habe nur Party im Kopf gehabt, keine Ziele“, erinnert sie sich.

Während ihrer Ausbildung lernt sie ihren Mann Ringo kennen, der auch taub ist. Sie zieht nach Nürnberg, wo Ringo eine Arbeitsstelle gefunden hat – und drei Monate später ist sie schwanger. „Das war nicht geplant“, erzählt sie. „Es war eine harte Zeit, alles ging so schnell und wir mussten uns entscheiden, ob wir das Kind behalten wollen. Ich war erst 21 Jahre alt.“

Implantat oder nicht?

Ihr Gefühl habe ihr gesagt, dass ihr Kind hören können wird, sagt Christine. Als Tochter Emilie zur Welt kommt, ist sich der Arzt nicht sicher. Nach sechs Monaten wird bei Emilie unter Narkose ein Hörtest gemacht. Das Ergebnis: Emilie ist komplett gehörlos. „Ich war schockiert und konnte das erst nicht akzeptieren“, sagt Christine. „Ich wollte Emilie gleich Cochlea-Implantate einsetzen lassen, Ringo war erst skeptisch.“ Solche Implantate ermöglichen tauben Menschen das Hören und damit auch den Spracherwerb. Aber sollte ein Implantat mal einen Defekt haben, müsste Emilie wieder operiert werden.

Christine hat selbst ein Implantat auf einem Ohr. Die Erfahrung, die sie bei der Operation als Siebenjährige gemacht hat, hielt sie davon ab, ein zweites Implantat einsetzen zu lassen: „Es war ein Schock für mich, nach der Operation auf einmal mit einem Verband am Kopf aufzuwachen.“ Vor der Operation habe ihr niemand verständlich erklärt, was mit ihr geschehen würde.

Später sei sie natürlich überglücklich gewesen, als sie schließlich hören konnte, sagt Christine. Doch ihre Sprachentwicklung konnte sie nicht mehr aufholen: „Ich war sehr faul mit dem Sprechen“, sagt Christine. „Es war mir nicht so wichtig, besonders als 2002 die Gebärdensprache anerkannt wurde.“ Ohne ihr Implantat, sagt Christine, könnte sie nicht leben. Auch wenn sie es in der Tasche lasse, wenn sie allein zu Hause oder nur mit Gehörlosen zusammen ist.

Kindergarten für Hörgeschädigte ist keine Lösung

Durch Christines Wohnung schießen Lichtblitze: Ihr „Alarm“, der signalisiert, dass ihr Sohn aufgewacht ist. Wenige Minuten später machen sich alle auf den zwanzigminütigen Fußweg zu Emilies Schule. Mit ihrer pinkfarbenen Schultasche kommt Emilie durchs Schultor gerannt. Ein Erzieher ruft ihr etwas hinterher. Emilie dreht sich um: „In Ordnung!“ Sie versteht und spricht ausgezeichnet. Einziger Hinweis darauf, dass sie taub ist, sind die beiden Implantate, die man unter ihren langen, braunen Haaren erst auf den zweiten Blick sieht.

„Mit der Sprache hat sich Emilie als Kleinkind schwergetan. Sie hat nur mit Gebärdensprache kommuniziert.“ Als Emilie zwei Jahre alt ist, findet Christine Arbeit im Frühstücksservice eines Hotels. Die kleine Familie ist inzwischen aus Nürnberg weg- und zurück in die Nähe beider Eltern gezogen. „Ich habe Emilie im Kindergarten für Hörgeschädigte angemeldet, aber das hat nicht gut funktioniert“, erzählt Christine. „Zu Hause hat sie viel gebärdet, aber im Kindergarten und nach außen hin war sie sehr verschlossen.“

Glücklich in der Regelschule

Ein bilingualer Kindergarten in Würzburg war die Lösung: „Emilie konnte mit und ohne Gebärdensprache sprechen und war glücklich“, erinnert sich Christine. Heute geht Emilie in die Regelschule am Ort und hat dort einen Dolmetscher. „Sie spricht sehr gut und will nicht in die Schule für Gehörlose“, sagt Christine. „22 Kinder ihrer Schulklasse lernen durch sie sogar Gebärdensprache – ich bin sehr stolz auf sie.“

Nach der Nachmittagsbetreuung gehen Christine und ihre Kids regelmäßig zum Bäcker. So auch heute – Emilie führt an und hat ihren kleinen Bruder auf seinem Kinderfahrrad stets im Blick. Beim Bäcker bestellt sie für alle und vergewissert sich bei ihrer Mama auf Gebärdensprache, dass auch nichts fehlt.

Levian wächst zweisprachig auf

Wenig später geht’s zum Spielplatz. Auf dem Weg sieht Emilie immer wieder Freunde aus der Nachbarschaft, grüßt und winkt. „Emilie möchte nicht als Gehörlose wahrgenommen werden, sondern als Hörende“, sagt Christine. „In der Öffentlichkeit gebärdet sie nicht so gern und sie will ihre Haare lieber offen tragen, um ihre Implantate zu verstecken.“ Christine ist froh, sich früh für die Implantate für Emilie entschieden zu haben: „Freunde haben mich gewarnt, dass Emilie sich eines Tages ärgern könnte, aber so ist es nicht: Sie liebt ihre CIs und trägt sie von morgens bis abends.“

Genau wie Emilie hat auch Levian im Alter von einem Jahr zwei Cochlea-Implantate bekommen, denn auch er ist von Geburt an gehörlos. „Levian war ein Wunschkind“, erzählt Christine. „Wir hätten gern noch mehr Kinder gehabt, aber da nun auch Levian taub zur Welt gekommen ist und die CI-Operationen so anstrengend sind, haben wir uns gegen weitere Kinder entschieden.“

Wie Emilie wird Levian „zweisprachig“ aufwachsen. Vormittags kommt die Frühförderung ins Haus und bringt ihm bei, mit dem Mund zu sprechen. Für den Rest des Tages kümmern sich seine Eltern darum, dass er auch mit Mimik und Händen sprechen kann. „Bis jetzt hat er keine Lust zu sprechen, und er gebärdet noch wenig“, sagt Christine. „Er hört wie ein ganz normales Kind, aber er muss sich erst langsam an Töne gewöhnen und Geräusche kennenlernen.“

„Taubstumm“ ist eine Beleidigung

Dank CIs und der frühen Förderung werden Christines Kids nicht mit Situationen zu kämpfen haben, die für Christine zum Alltag gehören: Emilie und Levian werden beispielsweise problemlos ohne Dolmetscher beim Notarzt erklären können, was ihnen fehlt. „In Deutschland gibt es für Gehörlose noch sehr viele Barrieren“, sagt Christine. „Wir leben in einer modernen Zeit, und doch ist die Zeit in vieler Hinsicht zurückgeblieben.“ Rückständig sei etwa der Begriff ‚taubstumm‘: „Eine Beleidigung“, sagt Christine. „Schließlich sprechen wir sehr wohl – nur eben mit Gebärdensprache.“ Diese kennt übrigens auch Dialekte, in jedem Land gibt es andere Zeichen.

„Viele Unternehmen möchten keine gehörlosen Mitarbeiter einstellen, die nur mit Gebärdensprache sprechen können“, sagt Christine. „Dass sich Gehörlose viel besser auf ihre Arbeit konzentrieren, gerade weil sie nicht hören und daher weniger abgelenkt sind, sehen Firmen meist nicht.“ Als Christines Mann in der Corona-Krise seinen Job als Fensterbauer verlor und drei Monate lang arbeitslos war, wurde Christines Einkommen als Instagram-Influencerin dringend gebraucht. „Es war eine Unterstützung, aber allein davon können wir nicht leben“, sagt Christine. Sie könnte erfolgreicher sein, wenn sie die Gesichter ihrer Kinder auf den Fotos zeigen würde. Das komme für sie aber nicht in Frage: „Auf Social Media gibt es Menschen, die Hass verbreiten“, erklärt sie. „Meine Kinder zu zeigen, wäre mir zu unsicher.“ Inzwischen hat ihr Mann eine neue Arbeitsstelle gefunden, und der Familien-Rhythmus hat sich wieder eingependelt. „Familie ist das wahre Glück des Lebens“, schreibt Christine in einem ihrer Posts. Dieses Glück hat sie gefunden.

Nadine Wilmanns ist Lifestyle-Journalistin, -Fotografin und Modedesignerin. Auf ihrem Blog nadinewilmanns.com schreibt sie über Kreativität und Fotografie. Sie lebt in Metzingen und in London.

Ein Monatsgehalt für Strom in Beirut: „Es ist besser für unsere Kinder, wenn sie gehen“

Die Kinder von Raffi Messerlian verlassen den Libanon aus wirtschaftlichen Gründen. Der Vater trauert – und doch weiß er keine andere Lösung. Ein Interview.

Reverend Raffi, Sie leben in Beirut im Libanon. Nehmen Sie uns mit hinein in die Welt der Gerüche, Farben und Geräusche Ihres Heimatlandes.
Ich denke an die duftende Zeder, mit ihren Farben grün, weiß und rot, wie sie auf unserer Landesflagge abgebildet ist. Der Baum erinnert an eine lange Geschichte, über die auch die Bibel viel zu sagen hat. Auch der Duft von Kiefern ist typisch für den Libanon. Kirchenglocken, deren Klang sich mischt mit den Rufen der Muezzin von den Minaretten im Land, weisen auf die Werte im Libanon hin, wo Christen und Muslime Tür an Tür wohnen. Sie leben miteinander in einer einzigartigen Kultur.

Das ist die eine Seite des Landes. Es gibt auch die andere. Erzählen Sie von der wirtschaftlichen Situation im Libanon.
Der Libanon hat sehr große soziale, wirtschaftliche und finanzielle Probleme. Die krasse Inflation im Land führt dazu, dass die Menschen von Tag zu Tag ärmer und hoffnungsloser werden. Eins unserer größten Probleme ist, dass es uns an Strom fehlt. Vom Staat bekommen wir zwei Stunden Strom täglich. Alles andere müssen wir privat dazukaufen. Möchte ich für meine Familie 14 bis 16 Stunden Strom am Tag haben, habe ich meinen kompletten Lohn dafür ausgegeben. Dann ist für nichts anderes mehr Geld übrig. Das kann man sich vielleicht schwer vorstellen, wenn man in einem Land lebt, in dem es normal ist, 24 Stunden am Tag Strom nutzen zu können.

Menschen protestieren – ohne Sicht auf Besserung

Gegen diese Entwicklung haben Menschen in Beirut Ende 2019 protestiert.
Und seither ist es immer schlimmer geworden. Nach der Explosion am Hafen von Beirut im August 2020 gab es wieder verstärkt Proteste. Die Krise hat sich immer weiter zugespitzt und die Menschen verlieren den Mut. Im November 2019 hat mein Sohn Hovsep angefangen, davon zu sprechen, dass er wegen der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme keine Perspektive im Libanon für sich sieht.

Was sind stattdessen seine Pläne?
Hovsep möchte sein Studium beenden und das Land dann verlassen. Als Vater verstehe ich ihn, weil die Situation hier tatsächlich hoffnungslos und sehr schwer ist. Aber natürlich sind wir auch sehr traurig, wenn er unsere Familie verlässt. Ich kann es ihm nicht übel nehmen, weil der Libanon gefühlt alle 15 Jahre eine Krise durchmacht, die das Leben hier extrem unsicher macht. Von 1975 bis 1990 hatten wir Bürgerkrieg im Land. Nun ist es die wirtschaftliche Situation und eine korrupte politische Führung, die Leute daran hindert, ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu stillen.

Junge Menschen können keine Familie gründen

Die Situation verbessert sich nicht, wenn die jungen Leute abwandern.
Das nicht, aber sie finden hier im Land kaum Jobs, nachdem sie vorher ein kleines Vermögen in ihre Ausbildung gesteckt haben. Und selbst wenn sie einen Job bekommen, ist ihr Lohn im Verhältnis zum tatsächlichen Wert des Geldes so gering, dass sie sich davon kein Haus oder irgendwas leisten können, was ihnen ermöglichen würde, eine eigene Familie zu gründen. Manche sehen auch deswegen die Auswanderung als Perspektive, weil sie auf diese Weise ihre Familie, die im Libanon zurückbleibt, unterstützen können.

Wie ist es denn mit Ihrer Tochter? Wo lebt sie?
Meine Tochter Nayiry ist eine Woche nach ihrer Hochzeit in die Niederlande ausgewandert. Uns war klar, dass sie auswandern würde. Dazu muss man wissen: Wir leben auf dem Campus der Armenischen Kirche in Beirut, wo wir auch eine Schule betreiben. Unser Viertel ist sehr stark bevölkert. Es gibt auch viele arme Menschen dort, Afrikaner und vor allem syrische Flüchtlinge. Unsere Tochter hat einen Syrer geheiratet, der mit seiner Familie geflohen ist, als der Krieg dort begonnen hat. Unser Schwiegersohn wollte auf keinen Fall zurück nach Syrien, sollte die Situation sich so ändern, dass sie gezwungen wären, zurückzugehen. Deswegen war es ihm wichtig, einen europäischen Pass zu bekommen, und er hat eine gute Arbeitsstelle in den Niederlanden gefunden.

Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie darüber nachdenken?
Wir sind einerseits glücklich für sie, weil sie es geschafft haben, in ein stabiles Land zu ziehen und der Situation, die wir hier im Mittleren Osten haben, entkommen sind. Andererseits sind wir natürlich sehr traurig, weil wir uns sehr nahestanden und sie jetzt weg sind. Es ist auch völlig klar, dass sie nie mehr zurückkommen werden.

Kontakt zur Tochter über WhatsApp

Wie oft können Sie Ihre Tochter sehen?
Ich habe das Glück, beruflich viel reisen zu können. Deswegen kann ich sie alle paar Monate besuchen. Für meine Frau ist es unglaublich schwer. Sie vermisst sie sehr. Wir reden über WhatsApp miteinander. Natürlich wünschen wir uns, dass die Situation hier besser wäre und sie bei uns leben könnten. Das würde unser Leben reicher machen.

Sie sind Pastor. Haben Sie sich bei Gott über die Situation beklagt?
Ehrlich gesagt habe ich nicht mit Gott gehadert. Ich habe es ziemlich schnell so akzeptiert, wie es ist. Ich bete, dass Gott meine Kinder segnet, egal, wo sie sind.

Vielen Familien geht es ähnlich

Befinden sich viele Familien in einer ähnlichen Situation?
Ja, ich kenne viele Familien, deren Kinder auswandern. Wir haben alle dieselben Sorgen. Aber wir können uns auch damit arrangieren, weil wir wissen, dass es für die Zukunft unserer Kinder besser ist, wenn sie den Libanon verlassen.

Was sagen Sie jungen Menschen, die nach Perspektiven suchen?
Natürlich ermutigen wir sie, hierzubleiben. Aber ich versuche sie auch zu verstehen, wenn sie – wie meine Kinder – keine Hoffnung hier sehen, wo wir leben. Wenn sie reisen, geben wir ihnen mit auf den Weg, ihre christlichen Werte beizubehalten. Ich empfehle ihnen auch dringend, den Kontakt zu ihrer Familie aufrechtzuerhalten und in dem Land, in dem sie sind, ihre libanesischen Wurzeln nicht zu vergessen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Reverend Raffi Messerlian ist am 13. Februar 1968 geboren. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seine 24-jährige Tochter lebt in den Niederlanden, sein 21-jähriger Sohn noch im Libanon. Raffi Messerlian hat Pädagogik und Theologie studiert und arbeitet seit 1996 als Pastor in Beirut. Als Präsident des Jugendverbandes „World Christian Endeavor“, in Deutschland als EC-Verband bekannt, ist er auch international viel unterwegs.

Stefanie Ramsperger arbeitet als freie Journalistin und leitet die Öffentlichkeitsarbeit des Jugendverbands „Entschieden für Christus“ (EC). Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Hintergrund: Libanon

Die Weltbank hat die Situation im Libanon zu einer der weltweit zehn schwersten ökonomischen Krisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts erklärt. Die Inflation ist immens: Die libanesische Währung hat in den vergangenen Jahren 90 Prozent ihres Wertes verloren. Korruption und Unsicherheit prägen die politische Situation im Land. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Dass es an Strom mangelt, ist nicht nur ein Problem für Privathaushalte, sondern auch im öffentlichen Raum, wie zum Beispiel für Krankenhäuser.