Depression, Angststörung und Co.: Wohin kann ich gehen? Diese Adressen helfen konkret

Psychische Erkrankungen sind kein Sonderfall. Wenn die Belastung zu groß wird, gibt es viele Hilfen – sogar ohne lange Warteliste!

Wenn das Knie schmerz oder der Kopf brummt, wissen wir genau, an wen wir uns wenden müssen. Und zumindest beim Hausarzt müssen wir nicht lange auf einen Termin warten. Doch wenn die Psyche belastet ist, sieht das oft ganz anders aus.

Es ist längst kein Tabu mehr, eine Psychotherapie zu machen. Prominente reden offen darüber, es wird immer bekannter, dass niemand „verrückt“ ist, der eine Therapie braucht oder wünscht. Immerhin sind laut Aussagen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) jedes Jahr 27,8 Prozent der Menschen in Deutschland von einer psychischen Erkrankung betroffen und etwa die Hälfte aller Menschen erlebt im Laufe seines Lebens zumindest einmal eine Depression, Angststörung oder andere psychische Erkrankung. Somit zählen seelische Belastungen nicht zur Ausnahme, sondern sind ein normaler, häufiger Bestandteil des menschlichen Lebens.

Lebensberatungsstelle hilft gegen Wartezeiten

Und doch gibt es noch immer viel zu wenige Therapieplätze, weil zu wenige Kassensitze zur Abrechnung freigegeben werden. Deshalb sind die Wartezeiten oft lang, sie betragen laut Bundespsychotherapeutenkammer durchschnittlich vier bis fünf Monate. Zur Überbrückung sind häufig Termine in einer Lebensberatungsstelle oder, für Kinder und Jugendliche, in einer Erziehungsberatungsstelle hilfreich. Dort arbeiten ausgebildete psychosoziale Fachkräfte, die zwar noch keine Therapie anbieten können, aber stabilisierende und klärende Beratung im Angebot haben. Kostenlose Anlaufstellen in der Region (z. B. von der Diakonie, Caritas und AWO) sind beispielsweise über den Online-Beratungsführer dajeb.de zu finden.

Beratungsstellen sind generell die richtige Adresse, wenn es nicht unbedingt um eine psychische Störung (oder nur mit leichten Symptomen), sondern eher um die Klärung schwieriger Lebensfragen und -situationen geht. Hier kann auch eine Seelsorge gute Dienste leisten. Seelsorge ist eine geistliche Beratungsform, bei der neben bekannten Beratungstechniken zusätzlich Aspekte des Glaubens einbezogen werden. Die Beziehung zu Gott kann in den Prozess integriert werden, auch das Gebet kann zu einem seelsorgerlichen Gespräch dazugehören. In vielen Kirchengemeinden gibt es Seelsorgeangebote, zudem lassen sich Adressen in Verzeichnissen wie cstab.de oder acc-deutschland.org finden.

Bei Krankheit hilft Psychotherapie

Wenn hingegen die Belastung Krankheitswert bekommt, ist auf Dauer Psychotherapie zu bevorzugen. Krankheitswert bedeutet, dass die Symptome (z. B. Ängste, starke Niedergeschlagenheit, ausgeprägte Antriebslosigkeit) so stark sind, dass sie die Funktionsfähigkeit im Alltag deutlich einschränken oder drohen, dies bald zu tun.

Psychotherapeutinnen und -therapeuten sind unter therapie.de oder über die Psychotherapeutenkammer des Bundeslandes (z. B. „Psychotherapeutensuche Psychotherapeutenkammer NRW“ in eine Suchmaschine eingeben) zu finden. Hilfreich sind auch die sogenannten Terminservicestellen der Bundesländer. Dort können Betroffene sich melden und bekommen dann einen ersten Kontakt zu einer therapeutischen Praxis vermittelt. In den sogenannten Sprechstunden können sie überprüfen, ob die „Chemie“ zum Therapeuten stimmt – wenn nicht, dürfen sie selbstverständlich wechseln. Klientinnen und Klienten sollten hier nicht zögern – wie bei körperlichen Symptomen dürfen sie erst einige Ärzte „testen“, bis sie den richtigen gefunden haben.

Versichertenkarte reicht

Psychiaterinnen und Psychiater sind übrigens Ärztinnen und Ärzte, die auf die Behandlung psychischer Erkrankungen spezialisiert sind. Sie bieten jedoch keine ausführliche Therapie an, sondern meistens nur gelegentliche Gespräche und Medikation. Dies kann anfangs oder zur Überbrückung sinnvoll sein, ersetzt jedoch keine gründliche Therapie.

Übrigens, ein häufiger Irrtum: Für den Besuch bei einem Psychotherapeuten braucht man keine Überweisung – die Versichertenkarte reicht völlig aus.

Bei besonders schweren psychischen Belastungen kann es sein, dass eine ambulante Behandlung, beispielsweise einmal pro Woche, nicht ausreicht. Dann kann eine Behandlung in einer psychiatrischen Klinik sinnvoll sein. Auch das kann in einer ambulanten Therapie geplant werden.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin (neuewege.me).

„Mein Kind schwänzt die Schule“ – Experte rät: Ruhe bewahren!

Wenn der Sohn nicht mehr zur Schule möchte, ist das oft nur ein Symptom, sagt Experte Michael Felten. Das Problem sollte man an der Wurzel packen.

„Vor kurzem habe ich erfahren, dass mein Sohn (15) regelmäßig die Schule geschwänzt hat. Ich habe Angst, dass er seinen Abschluss so nicht schafft. Gespräche über das Thema wehrt er immer ab. Was kann ich tun?“

„Mein Kind ist ein Schulschwänzer“ – das zu realisieren ist für Eltern meist ein Schock. Schließlich ist der Schulbesuch ja nicht nur Pflicht, sondern auch ein bedeutsamer Faktor im jugendlichen Reifungsprozess – und eine wichtige Vorbereitung aufs Berufsleben. Tröstlich mag sein: Sie sind nicht allein! Pubertät, Lernunlust, Schulverweigerung – das müssen Jahr für Jahr tausende Eltern durchstehen. Doch Jugendliche kann man kaum noch zwingen. Vielmehr muss man ihnen dabei helfen, selbst zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen.

Mobbing oder Hochbegabung?

Mögliche Gründe fürs Schule-Schwänzen gibt es viele: Mobbing oder Stress mit der Clique, eine familiäre Beziehungsstörung oder berufliche Aussichtslosigkeit – vielleicht auch „nur“ anhaltende Überforderung oder aber die Langeweile eines Hochbegabten. Man müsste also genauer wissen: Seit wann existiert das Problem, in welcher Form und in welchem Ausmaß? Was sagt Ihr Sohn selbst dazu? Wie waren seine bisherigen Schulerfahrungen? Was sind seine Pläne, was seine Wünsche für die Zukunft? Nicht zuletzt: Wie ist Ihre familiäre Situation, die Beziehung zwischen Sohn und Eltern?

Eltern sollten versuchen, nicht panisch zu reagieren, sondern die „Ordnungswidrigkeit“ als Symptom anzusehen. Als eine Art Notlösung, eine Revolte, einen Hilferuf aus vermeintlicher Sackgasse. Dann fällt es leichter, ungünstige Erstgefühle wie Ärger oder Hilflosigkeit hintanzustellen. Ganz wesentlich ist jetzt nämlich, dass Sie wieder miteinander ins Gespräch kommen. Versuchen Sie, mit Ihrem Sohn gemeinsam auszuloten, wie sich das Problem angehen lässt, wo Auswege liegen könnten. Gleichzeitig ist es günstig, das Blaumachen zu erschweren: ihn zur Schule bringen oder Abholdienste durch Mitschüler arrangieren, sich regelmäßig mit dem Klassenlehrer austauschen und bei Erkrankung Arbeitsaufträge organisieren. Das kann man auch schriftlich vereinbaren – mit Aussagen über Belohnungen oder Sanktionen.

Mentor kann helfen

Man hat übrigens gute Erfahrung damit gemacht, wenn bei problematischen Entwicklungen im Jugendalter ein nichtelterlicher Erwachsener mithilft. Er muss Sicherheit und Reife ausstrahlen und der strauchelnde Jugendliche müsste ihm ein persönliches Anliegen sein bzw. werden (der Familienpsychologe Steve Biddulph nennt das „Mentor“). Vielleicht haben Sie das Glück, dass ein Lehrer bereit und in der Lage ist, Ihren Sohn eine Zeit lang besonders unter seine Fittiche zu nehmen, etwa ein früherer Grundschullehrer, den er noch in unbelasteter Erinnerung hat.

Dieser Mentor könnte mit Ihrem Sohn seine Stärken sowie berufliche Perspektiven durchsprechen – und ihm anbieten, ihn im nächsten halben Jahr besonders zu unterstützen. Das kann durch regelmäßige Begleitung, Kontrolle seiner schulischen Arbeiten oder auch in kleinen Lerngesprächen geschehen. Oder gibt es einen Onkel oder Opa (oder sonstigen vertrauenswürdigen männlichen Freund der Familie), der diese Mentorenrolle übernehmen kann? Ein solcher Mentor dürfte sich natürlich von ersten Rückschlägen nicht aus der Bahn werfen lassen, sondern müsste eine Weile dicht am Ball bleiben. Ich kenne jedenfalls zahlreiche Jugendliche, die innerhalb kürzester Zeit wie umgedreht waren, wenn sie sich erst einmal von einem vernünftigen externen Älteren verstanden, in ihren Potentialen ermutigt und sinnvoll unterstützt fühlten.

Michael Felten hat 35 Jahre als Gymnasiallehrer gearbeitet, jetzt ist er in der Lehrerweiterbildung tätig. Neben Erziehungsratgebern veröffentlichte er zahlreiche Beiträge zu Bildungsfragen. eltern-lehrer-fragen.de

Lena wagt eine zweite Schwangerschaft – obwohl die erste traumatisch war

Nach einer Frühgeburt will Lena Bischoff nie mehr schwanger sein. Doch in ihr wächst der Wunsch nach einem zweiten Kind.

Nachdem mein Sohn in der 33. Schwangerschaftswoche zu früh auf die Welt kam, konnte ich mir lange Zeit kein weiteres Kind vorstellen. Ich war ziemlich traumatisiert und erschüttert von den Erlebnissen und einfach nur froh, dass es meinem Sohn gut ging. Ich wollte nicht noch einmal eine Schwangerschaft durchstehen, war sie doch von Anfang an geprägt von Ängsten und Zweifeln. Gerade da ich nun schon ein Kind zu Hause hatte, wollte ich nicht in die Situation kommen, zwischen zwei Kindern hin und hergerissen zu sein.

Und trotzdem erwachte in mir der leise, zaghafte Wunsch, es noch einmal zu versuchen. Wir genossen die Zeit mit ihm und fanden es schön, ein Kind in unserem Leben zu haben. Und was, wenn es diesmal gut gehen würde? Was, wenn ich eine schöne Schwangerschaft erleben würde oder gar eine natürliche Geburt? Was, wenn der kleine Sohn zum großen Bruder werden würde? Je näher der zweite Geburtstag unseres Sohnes rückte, umso stärker wuchs der Wunsch einer erneuten Schwangerschaft in mir. Umso mehr rückten auch die Erinnerungen und Erlebnisse in den Hintergrund. Meinem Mann ging es ähnlich. Noch einmal. Dachten wir uns. Noch einmal wagen. Noch einmal aufbrechen.

Ein Lied gibt Lena Kraft

Ich musste in dieser Zeit des Ringens immer an das Lied „Ich brech‘ noch einmal auf“ von Cae Gauntt denken, das mich ermutigte. Denn ich war, wie im Lied beschrieben, auf der Suche. Auf der Suche nach dem richtigen Weg. Als Christin war ich auf der Suche nach Gottes Antwort auf unseren Wunsch. Ich wusste, ich würde ihn brauchen, wenn wir es wagen würden. Ich wusste, allein konnte ich es nicht schaffen. Aber ich wollte es schaffen. Mut und Angst. Mein Dauerthema.

Aber es war definitiv an der Zeit für einen Mutausbruch. Mein starker Wunsch zeigte mir das. Und wie es in dem Lied heißt: „Ich lass zurück, was mich hält und ich geh … und die Frage, wie und wo es weitergeht, wird zum Gebet“. Natürlich ist das Lied nicht auf meine Situation zugeschrieben worden, aber ich sah es als mein Mutmachlied an, denn ich hatte Sehnsucht und ich wollte den Weg gehen. Und das nicht allein.

Risikoschwangerschaft

Und entgegen meiner Erwartung wurde ich sofort schwanger, nachdem wir den Entschluss gefasst hatten. Ich bin sehr dankbar dafür, denn ich weiß nicht, ob ich meine Meinung nicht doch geändert hätte, wenn es lange gedauert hätte. Wir freuten uns sehr.

Die Schwangerschaft war geprägt von Vorsorge und Kontrolle. Ich war in mehrfacher Hinsicht risikoschwanger, und die Klinik und mein Arzt wollten mich engmaschig kontrollieren. Das tat mir gut und gab mir Sicherheit. Natürlich hätte es im Ernstfall nicht wirklich helfen können, aber dennoch brauchte ich für das Aufrechterhalten meines Mutausbruches diese medizinische Bestätigung.

Furcht ist omnipräsent

Ich dachte immer wieder an Gottes Zusage: „Fürchte dich nicht!“ Es war wie eine Stimme in der Nacht, wie eine kleine Erinnerung im stressigen Alltag, immer wieder kam ein leises, kleines „Fürchte dich nicht!“ in meine Gedanken gehuscht und ließ mich aufatmen. Ich wollte vertrauen. Ich wollte mutig sein. Ich wollte Zuversicht haben. Und doch fürchtete ich mich. Immer wieder. Immer mehr.

Von Woche zu Woche spitzte sich mein schlechtes Gefühl zu. Ich betete und fragte mich, wie ich die Wochen, diese hoffentlich vielen, vielen Wochen überstehen sollte, wenn mein Mutgerüst schon am Anfang zu wanken begann. Ich betete. Meine Gebete sind meistens „Bitte, Gott“ oder „Danke, Gott“. Und ich vertraue darauf, dass er versteht. Dass er mich kennt.

Eine Enttäuschung wird zum Segen

Am nächsten Tag hatte ich wieder einen dieser vielen Vorsorgetermine. Ich war etwas erschüttert, als man mir sagte, dass mein Arzt krank sei, aber die Vertretung mich sehen würde. Ich hatte Vertrauen in ihn, war er doch vor der Schwangerschaft sorgfältig von mir ausgesucht worden. Ich konnte mich schlecht darauf einlassen, mir von einem anderen Arzt eine Meinung geben zu lassen. Ich war in dieser Zeit sehr abhängig davon, was die mir vertrauten Schulmediziner zum Kind in meinem Bauch sagen. Mein eigentlich gesundes Bauchgefühl hatte sich von meiner Angst in den Hintergrund drängen lassen. Und in Zeiten, in denen man sein Kind noch nicht dauernd spürt, fiel es mir schwer, zuversichtlich zu bleiben.

Ich saß etwas geknickt im Behandlungszimmer und wartete auf die Vertretung. Herein kam eine junge Ärztin, selbst Mutter von zwei Söhnen, einfühlsam, empathisch, freundlich, zugewandt. Der erste Arzt, der mich in diesen 16 Wochen fragte, wie es mir seelisch ging. Dem Baby ging es bestens, aber sie sah meine Vorgeschichte und fragte, ob ich Hilfe hätte und wie ich durch die Wochen käme.

Entscheidender Tipp

Augenblicklich musste ich weinen. Ich merkte, wie viel sich in mir angestaut hatte, wie sehr ich mich immer zusammenriss – für meinen Mann, meinen Sohn und mich. Ich sagte, dass ich es aktuell nicht mehr gut schaffen würde. Sie gab mir eine Nummer einer Hebamme, die geschult war in „Emotioneller Erster Hilfe in der Schwangerschaft“. Das kannte ich bis dahin nicht. Es klang aber gut.

Ich rief an und sprach mit einer freundlichen Frau, die aufmerksam zuhörte, mich gut spiegelte und reflektierte und versprach, vorbeizukommen. Dieser Anruf war die beste Entscheidung in meiner Schwangerschaft. Fortan begleitete mich diese vom Himmel geschickte Hebamme in allen meinen Ängsten, Freuden, alten Lasten, neuen Sorgen und Herausforderungen. Sie wurde wichtig für unsere ganze Familie.

Die Hebamme hilft

Sie fing nicht nur mich auf, sie sah auch meinen Mann und meinen Sohn. Sie spürte Stimmungen – ich konnte ihr nichts vormachen. Sie schaffte es, dass ich mir selbst authentisch begegnen und meine vorherige Schwangerschaft aufarbeiten konnte. Dass ich Frieden damit fand und versöhnt wurde mit meiner Geschichte. Es kamen bereits vergessen geglaubte Gefühle hoch, die ich ernsthaft angehen und auflösen konnte. Geblieben ist die Freude über meinen Erstgeborenen, die große Dankbarkeit für sein Leben, seine Gesundheit, seinen Charakter, der uns täglich bereichert.

Neues Vertrauen

Es gab eine Zeit, in der ich richtige Panik durchlebte, was an uns allen zehrte. Diese Hebamme war neben meinem Mann und meiner Familie wie ein Anker für mich, ein Lichtblick, eine kleine Rettungsweste, an die ich mich klammerte. Sie wusste genau, was ich wann brauchte, sei es ein Gespräch, medizinische Ratschläge, Hebammenwissen oder eine Ganzkörpermassage, um mich wieder zu erden. Sie half mir, hinter meinem Mutausbruch zu stehen, mich auf das Baby zu freuen, Vorfreude überhaupt erst zuzulassen und dem kleinen Menschen in meinem Bauch den Platz in unserer Mitte einzugestehen, den er verdient hatte.

Sie half uns, gemeinsame Rituale zu entwickeln, um Kontakt zum Babybruder aufzunehmen und den Großen mit einzubinden. Sie gab mir Sicherheit und Vertrauen in meine eigenen Instinkte zurück. Ich begann am Ende der Schwangerschaft sogar zu träumen, mir Wünsche einzugestehen, mich auf die Geburt vorzubereiten und es für möglich zu halten, dass es diesmal anders kommen würde.

Eine tolle, schöne Geburt

Und es wurde belohnt. Nicht nur durch einen wundervollen zweiten Sohn, sondern auch durch eine tolle, schöne Geburt, die mich mit vielem versöhnte, mir einen großen Frieden schenkte und mir ein erholsames, entspanntes Wochenbett erlaubte, wo wir alles sacken lassen konnten und uns fallen ließen. Es flossen Tränen der Freude und Erleichterung, der Anspannung und der Entspannung. „Ich brech’ noch einmal auf“.

Ich wünsche jeder Schwangeren, die traumatisiert ist, schwere Erlebnisse hatte oder einfach Angst hat, so eine Begleitung. In vielen Ländern in Europa finden sich Hebammen mit dieser Zusatzqualifikation (emotionelle-erste-hilfe.org). Die Leistungen werden komplett von der Kasse übernommen. Die Hebamme hat uns allen diese Monate erleichtert und ist uns die erste Zeit mit zwei Kindern immer mit viel Herz und Liebe zur Seite gestanden.

Von Lena Bischoff

Fremdverliebt: Zum Hochzeitstag bekommt Sina einen Liebesbrief – vom falschen Mann

Aus dem Nichts verliebt sich Sina Wendel [Pseudonym] in einen Vater aus der Kita. Plötzlich steht ihre Ehe vor dem Abgrund.

Es ist ganz plötzlich passiert. Ein Bekannter aus der Kita kommt zu Besuch und reißt mich aus dem Trott der Gefühle. Die sprichwörtlichen Schmetterlinge toben durch meinen Bauch, völlig unerwartet und ungewollt. Warum er? Warum trifft es mich so? Mir wird schnell klar: Er verkörpert all das, wonach ich mich zutiefst sehne. Die Zeit, die er sich für seine Kinder und auch für mich nimmt. Die tiefgreifenden Fragen, die er stellt. Die Art, wie er das ausspricht und mit Begeisterung tut, was ihm in den Sinn kommt. Er springt in eine Lücke meines Herzens und öffnet dort einen Raum der Sehnsucht.

Als ich mich in den Mann aus der Kita verliebe, gleicht meine Ehe eher einer Fahrt durch ein Industriegebiet als durch blühende Landschaften. Unsere beiden Kleinkinder brauchen viel Aufmerksamkeit und Geduld, manchmal mehr, als mein Mann und ich zu geben haben. Außerdem sind wir beide beruflich und ehrenamtlich sehr gefordert. In unseren Gesprächen und in der körperlichen Beziehung zueinander kämpfen wir ständig mit Ampeln und Staus, kurzum: Unsere Ehe läuft nicht mehr richtig rund.

Er erwidert die Gefühle

Nach der Begegnung mit dem anderen Mann möchte mein Herz unbedingt in dieser neuen, schönen Landschaft weiterfahren, doch mein Verstand erkennt die Gefahr und bremst mich. Nach einer Woche Schlaflosigkeit gestehe ich ihm, dem Bekannten, meine Gefühle – mit der Bitte um Abstand. Er empfindet auch etwas für mich, wie er unumwunden zugibt. Damit bringt er alles ins Rollen und treibt mich nach und nach fort aus meinem vertrauten Leben. Ich erfahre etwas, das ich so bisher nicht kannte – eine zweigeteilte Liebe in mir: erfrischendes Verliebtsein auf der einen Seite, tiefe Verbundenheit auf der anderen. Auf der Geisterfahrt meines Herzens entferne ich mich immer mehr von meinem Mann und allem, was mir bislang wichtig war: meinem Glauben, meinen Freunden und meinen Kindern. Denn trotz des Versuchs, Abstand zu halten, kommt es immer wieder zu zufälligen Zusammentreffen, die mir sehr nahe gehen. Ich verzweifle an der Macht, die mich mit aller Wucht gepackt hat und mich unwillkürlich in Richtung Ehebruch zieht.

In unserer Kleinstadt weiß jeder fast alles über den anderen. Ich bete und flehe und weiß keinen anderen Weg als den der Ehrlichkeit: Ich beichte das Verliebtsein meinem Mann, den ich eigentlich schonen wollte. Er reagiert verletzt und wütend. Ich bin getroffen von seiner großen Distanz mir gegenüber und der Distanz, die ich von nun an zum Anderen in aller Konsequenz halten soll. Der tägliche Kampf gegen den Wunsch, ihn wiederzusehen, mit ihm zu reden, ihm zu schreiben oder auch nur an ihn zu denken, beginnt. Jeder Tag erscheint mir wie eine Schlacht, die all meine Kraft kostet. Fast alles andere um mich herum weicht der Auseinandersetzung mit mir selbst in dieser Phase des Fremdverliebtseins.

Liebesbrief vom falschen Mann

Doch das innere Loslassen braucht wesentlich mehr Zeit als angenommen. Immer wieder gibt es Rückschläge durch unvermeidliche Begegnungen in der gemeinsamen Kita. Ein ständiges Auf und Ab. Dabei bin ich mir bewusst, dass mein Handeln weitreichende Konsequenzen für sieben andere Menschen hat. Denn der andere Mann ist sogar bereit, mit mir ein neues Leben anzufangen. Was ich nicht wusste: Die innerliche Trennung von seiner Partnerin hatte schon vor unserer Begegnung stattgefunden. Mein Mann spürt die Entfremdung zwischen uns als Ehepaar deutlich und ist im Alltag schnell gereizt. Mir wird ebenfalls alles zu viel: die Eifersucht und der Vertrauensverlust meines Mannes, das auf mich gerichtete Verliebtsein des Anderen und meine eigene Sehnsucht und Angst. Ich bin am Ende meiner Kräfte. In all diesem Durcheinander, das ich anrichte, hilft mir mein Glauben. Der christliche Glaube erzählt mir, dass Gott mich auch jetzt noch liebt. Nicht nur als brave Kirchgängerin, als Vorzeigemama oder Ehefrau. Ganz neu lese ich die Passagen in der Bibel. Jesus hört zu, verurteilt nicht gleich. Auch die Psalmenbeter leiden mit mir, wenn ich einfach nur traurig bin. Dafür bin ich unendlich dankbar und erfahre eine neue Tiefe des Glaubens, die mir zuvor verschlossen war.

Der Höhepunkt des Fremdverliebtseins ist zugleich der Tiefpunkt unserer Ehe. An einem Sommertag sehe ich den anderen Mann durch Zufall allein in der Stadt. Er umarmt mich und spricht davon, dass er meine innere Einsamkeit sieht, die mein Mann nicht erkennen kann. Am nächsten Morgen erhalte ich einen Liebesbrief zum Hochzeitstag, allerdings vom falschen Mann. Mein Ehepartner erfährt nichts von dem Treffen und dem Brief, aber er ahnt es instinktiv. Es kommt zu einem riesigen Streit mit meinem Mann, der zu tiefen Verletzungen auf beiden Seiten führt. Unser Vertrauen ineinander hat einen heftigen Schlag abbekommen. Ich erkenne, dass es so nicht weitergehen kann und beschließe deshalb, dass meine Kinder nach den Ferien die Kita wechseln werden. Der Wechsel klappt mit nur einem Anruf, meine Kinder werden beide zusammen in meiner Wunschkita aufgenommen. Was für eine Erleichterung in dieser schwierigen Situation!

Schleichende Besserung

Die dringend notwendige Behebung der Ursachen erfolgt schleichender. Uns wird bewusst, dass mein Fremdverliebtsein aufzeigt, was sich in den letzten Monaten und Jahren in die falsche Richtung entwickelt hat. Im verflixten siebten Jahr unserer Ehe sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir desillusioniert voreinander stehen. Farblos und langweilig erscheint uns der geliebte Mensch, alles andere ringsherum wirkt lebendiger. Mein Mann und ich brauchen beide Zeit, um uns gegenseitig ein „Ja“ wieder neu zusprechen zu können.

Bewusst suche ich die Nähe zu meinem Mann und gebe dafür die Kinder öfter bei den Schwiegereltern ab. Er ist zwar gekränkt, es hilft ihm jedoch, dass ich mit dem anderen nicht geschlafen habe. Ich erkenne mehr denn je, dass wir nur Hand in Hand alles andere in unserem Leben bestehen können: vom Ehrenamt über die Hausarbeit bis hin zur Kindererziehung. In einer Gesprächstherapie nimmt unser eingeschlafener Ehemotor schließlich langsam wieder Fahrt auf. Oft stotternd, grummelnd, holprig, doch der Dialog ist wieder da.

Froh über das „Nein“

Unser gemeinsames Navigationssystem, die Bibel, trägt mich und meinen Mann durch die schwierigsten Zeiten am Abgrund. Sie zeigt Grenzen auf und macht deutlich, dass Ehebruch einfach falsch ist und nichts Gutes bringt. Mein Mann hält an unserem Eheversprechen fest, es trägt ihn in all den Zweifeln an mir. Gleichzeitig lerne ich auf dieser Irrfahrt meine inneren Schätze neu kennen. Durch kreative Methoden wie Gedichte schreiben, in der Bibel zeichnen und ein Dank-Tagebuch führen kann ich einige Lebensthemen aufarbeiten.

Mittlerweile bin ich froh, dass ich dieses kleine „Nein“ dem Anderen gegenüber immer wieder ausgesprochen habe und die Krise überwunden ist. Es ist zum Symbol meiner Stärke, meiner Treue zu mir selbst, zu all meinen Werten und zu meinem Glauben geworden. Ich verstehe, warum Verzicht eine grundsätzliche Lebenskunst ist, die alle Religionen lehren und die jeder Mensch irgendwann lernen muss. Ich habe mich dafür entschieden, das Unperfekte in meinem Mann anzunehmen und er in mir. Wir sind wieder gemeinsam unterwegs und können dank unserer Gegensätzlichkeit viele Schwierigkeiten auf unserem Weg besser meistern. Zusammen setzen wir voll Zuversicht und neuer Freude unseren Weg fort.

Unter dem Pseudonym „Sina Wendel“ beschreibt die Autorin ihre Erfahrungen zum Fremdverliebtsein auch in einem Blog. Neben Tagebucheinträgen und Heilmitteln hat sie dort auch viele Gedichte zum Thema veröffentlicht. fremdverliebt.wordpress.com

Unterschiedliche Wünsche beim Sex? So finden Sie eine gemeinsame Lösung!

Unser ganzes Leben prägt, was für Vorstellungen wir von Sex haben. Aber: Wir müssen nicht so bleiben, wie wir sind, sagt Sexualberaterin Dr. Ute Buth.

Tom und Lena (Namen verändert und Fall verfremdet) sind noch nicht so lange verheiratet. Für Tom ist es die zweite Ehe. Seine erste Frau ist vor wenigen Jahren gestorben. Seit der Hochzeit kreisen beide um die Frage: Wie leben wir unsere Sexualität so, dass sie für beide zufriedenstellend ist? Tom hat Sex in seiner ersten Ehe als besonders erfüllend erlebt, wenn sie dabei eine bestimmte Position einnahmen. Lena jedoch mag diese überhaupt nicht.

Anfangs traute sie sich kaum, dies zu sagen, schließlich war er doch der Erfahrenere von beiden. Auch wollte sie den Beginn ihrer gemeinsamen Sexualität nicht verkomplizieren und gleich zu Anfang rummeckern. Sie hoffte, dass sich dies mit der Zeit geben würde, spätestens wenn sie ihre Sexualität miteinander erst einmal richtig entdeckt hatten. Nach und nach jedoch wurde ihr klar, dass Tom jedes Mal darauf hinwirkte, dass er in genau jener Position zum Höhepunkt kam. Schließlich kommen sie in die Beratung: Über die sexuellen Begegnungen berichten sie von häufigen „Abstürzen“ und regelrechtem Streit. Lena fühlt sich für seinen Höhepunkt benutzt und dadurch fremdgesteuert.

Was ist die sexuelle Lerngeschichte?

Die Entstehung der sexuellen Lerngeschichte lässt sich am Beispiel einer zunächst leeren Computerfestplatte verdeutlichen. Jeder Mensch hat sie zu Beginn des Lebens mitbekommen. Tom und Lena mögen ein besonders anschaulicher Fall sein, aber man muss nicht zum zweiten Mal verheiratet sein oder Erfahrungen mit vorherigen Partnern gemacht haben, um auf die Platte zu schreiben. Jeder Mensch hat seine ganz einzigartige und persönliche sexuelle Lerngeschichte. Sie beginnt bereits, wenn wir als Babys im Mutterleib heranwachsen und setzt sich über die Kindheit und Teenager-Zeit bis ins Erwachsenenalter fort. Sie endet erst mit unserem Tod, auch wenn die aktive Sexualität für manche Menschen eventuell schon früher keine Rolle mehr spielt. Und sie besteht auch bei Menschen, die Sex gar nicht aktiv ausleben.

Sexualität ist eine besonders intensive Form der Kommunikation, die nonverbal und verbal stattfinden kann. Und die größtmögliche Nähe, die man zu einer anderen Person haben kann. Lebenslang wirken sich unzählige Faktoren auf die sexuelle Lerngeschichte aus. Alles, was nur im Entferntesten mit Sexualität oder auch Beziehungen zu tun hat, speichern wir ab und setzen es in Relation zu Vor- und Folgeerfahrungen. Wir bilden uns unsere Meinung. Wir weben gleichsam lebenslang einen hochkomplizierten individuellen Orientteppich rund um dieses Thema. Bereits im Mutterleib nehmen wir Mutter, Vater, andere Menschen und auch deren Beziehung zueinander wahr.

Als Kleinkind lernen wir, in Beziehung zu anderen Menschen zu stehen. Wir entdecken unsere Geschlechtlichkeit und die anderer Menschen. Wir erleben, wie offen oder verschlossen das Gespräch über Sexualität geführt wird. In Menschen, die uns begegnen, haben wir unfreiwillige und unbewusste Lernobjekte und Lebensmodelle. Wie wir uns im Laufe unseres Lebens positionieren, ist komplex und höchst individuell.

Mentale Festplatte lässt sich nicht löschen

Selbstverständlich gehört die Sexualaufklärung mit in dieses Webmuster unseres ureigensten Teppichs. Sogar dann, wenn sie scheinbar nicht stattgefunden hat. Denn auch das konsequente Schweigen zum Thema Sexualität spricht Kindern gegenüber eine laute und deutliche Sprache: „Darüber spricht man nicht!“ Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der Werbung und anderer visueller Reize wie Fotos und Filme.

Im Laufe der eigenen Entwicklung wird die Festplatte mit Wissenswertem, Erfahrungen und Entscheidungen beschrieben. Oder anders gesagt: Unser Gehirn speichert all dies ab und verwebt es in unzähligen neuronalen Verschaltungen. In der IT ist es gar nicht so einfach, gespeicherte Daten komplett zu löschen oder zu überschreiben. Das Formatieren der Festplatte reicht nicht. Häufig können Fachleute selbst nach einem unvorhergesehenen Crash vieles wiederherstellen. Ungleich komplexer verhält es sich mit unserer mentalen „Festplatte“. Wir können ja keine Bereiche dieses internen Speichers markieren und aus unserem Blickfeld verbannen oder gar löschen, zum Beispiel, wenn sie nicht mehr zu den eigenen Wertvorstellungen passen. Wir können nur umlernen, neue Erfahrungen abspeichern oder im Bild des Webteppichs neue Fäden einweben. Auch deshalb ist es unerlässlich, die eigene sexuelle Lerngeschichte verantwortungsvoll zu gestalten.

Neue Lerngeschichte schreiben

Tom ist frustriert. Er hat zunehmend den Eindruck, dass Lena nicht auf seine Wünsche eingehen möchte. Inzwischen funktioniert es anders aber gar nicht mehr. Besonders ist die Situation des Witwers: Für Tom ist es wichtig, die Trauer über den Tod seiner Frau und die damit erloschene Sexualität zu verarbeiten.

Doch Tom und Lena müssen nicht bei alten Erfahrungen stehen bleiben. Sie haben die Chance, eine neue gemeinsame Lerngeschichte zu schreiben. Die partnerschaftliche Sexualität trägt das Potenzial in sich, dass sie im Laufe der Zeit erfüllender wird. Doch nur wenn es beiden ein Anliegen ist und sie bereit sind, auf ihr Gegenüber einzugehen.

Wenn verlassene Trassen zuwachsen

Sobald Frauen und Männer die Grundprinzipien der sexuellen Lerngeschichte verstanden haben, können sich Türen in neue Lebens- und Lernbereiche hinein öffnen. Das Paar ist dem Erlebten nicht mehr hilflos ausgeliefert. Dabei ist es ratsam, nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen. Auf Basis dieser Erkenntnisse können die Partner schauen, welches Verhalten sie langsam und schrittweise neu prägen möchten.

Vielleicht könnte Lena dann feststellen, dass sie es gerne hat, wenn sie an bestimmten Stellen sanft von Tom berührt wird. Vielleicht würde dann Tom spüren, dass es ihn selbst erregt, wenn er merkt, dass Lena Gefallen an seinen Berührungen findet. Wenn Tom nicht darauf fixiert bleibt, auf eine bestimmte Weise Sex zu erleben, dann können Bereiche, die nicht mehr bedient werden, im Laufe der Zeit gleich einer verlassenen Bahntrasse mitunter zuwachsen. Die Prägung an sich aber bleibt im Gehirn angelegt. Wichtig ist, nicht frustriert aufzustecken, falls sich manche Prägungen als stark oder unveränderbar herausstellen. Stattdessen gilt es, den eigenen Handlungsspielraum wahrzunehmen und in dem Bereich gestalterisch voran zu gehen, wo eine Entwicklung möglich ist.

Neue Strecken anlegen

Vielleicht gibt es in einer bestimmten Lebensphase gute Gründe, nicht mehr so viel Zeit aufs Vorspiel zu verwenden, weil jederzeit ein Kind um die Ecke biegen könnte. Die vormals gebahnte Trasse beginnt schmaler zu werden. Irgendwann besteht die Gefahr aber nicht mehr, doch wenn das Paar die neuen Freiräume nicht auszuloten beginnt, wird es noch auf der eingefahrenen bisherigen Trasse unterwegs sein.

Neue Strecken wollen und können angelegt werden. Das gilt für Paare, die noch wenig Erfahrungen miteinander gemacht haben, aber genauso auch für Paare, die schon lange miteinander unterwegs sind. Tom lernt in der Beratung, seine Trauergefühle zu verarbeiten. Für Lena ist es hilfreich, die vorhandenen Muster zu durchschauen. Beide sammeln jetzt neue Erfahrungen miteinander. Tom erfährt, dass auch andere Berührungen lustvolle Gefühle in ihm hervorrufen. Lena lernt, dass sie nicht für Toms Gefühle verantwortlich ist. Sie darf sich an ihren eigenen lustvollen Gefühlen freuen und diese erstmals bewusst beachten und ausloten. Tom wiederum lernt, sich ein wenig zurückzunehmen und sich an Lenas neuen Impulsen zu erfreuen, die auch für ihn frischen Wind in die gemeinsame Intimität bringen.

Lena muss sich nicht länger anstrengen, um Tom aus der Reserve zu locken und sie muss keine Angst mehr haben, dass ihre Grenzen überschritten werden. Sie sind auf einem guten Weg, ihre gemeinsame sexuelle Lerngeschichte positiv weiterzuschreiben.

Keine Scheu vor Hilfe!

In dem Verstehen der eigenen geprägten Geschichte, können wir ab heute neue Weichen stellen, hin zu einer sinnerfüllten Sexualität. Es sollte uns nicht belasten oder beschämen, wenn wir Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter aufsuchen, die uns in diesem Prozess helfen. Große Schiffe brauchen auch mitunter einen Lotsen. Wer sein Ziel nicht kennt, erreicht es nicht. Wer sein Ziel kennt, es aber nicht erreicht, steht letztlich vor dem gleichen Ergebnis.

Daher sollten wir die Scheu ablegen und uns aufmachen, das gute Land einzunehmen, das uns mit der Sexualität gegeben ist.

5 Fragen für Paare, die ihre Sexualität weiterentwickeln möchten:

  • Sprechen Sie über eure individuellen Lerngeschichten. Wie wurde über Sex in Ihrer jeweiligen Herkunftsfamilie (nicht) gesprochen? Welche Schlüsse haben Sie als Kind und Jugendliche daraus gezogen?
  • An welches Mal miteinander können Sie sich noch besonders gut erinnern? Warum ist Ihnen gerade dieses Mal in Erinnerung geblieben?
  • Was empfinden Sie nach wie vor als besonders schön? Wo würden Sie sich gerne von Gewohntem trennen oder entfernen?
  • Was würden Sie gerne (erneut) ausprobieren? Wo könnten Sie neue Bahntrassen anlegen, wo alte reaktivieren?
  • Gibt es negative oder schwierige sexuelle Erfahrungen aus der Vergangenheit, die Ihre Partnerschaft belasten? Bleiben Sie nicht allein damit, sondern suchen Sie sich qualifizierte Hilfe.

Dr. med. Ute Buth ist Fachärztin für Frauenheilkunde, zertifizierte Sexualberaterin und Weißes Kreuz Fachberaterin. Die Buchautorin u. a. von „Frau sein – Sexualität mit Leib und Seele“ leitet die Beratungsstelle „herzenskunst“ in Bochum.

„Hätte am liebsten losgeheult“ – Stefanie besucht mit Sohn Daniel (15) Holocaust-Überlebende in Israel

Stefanie und Daniel Böhmann waren in Israel zu Gast bei Shoa-Überlebenden. Jetzt haben sie einen Auftrag: gegen das Vergessen.

Ich hatte in den letzten Monaten oft den Eindruck, dass Daniel, unser 15-jähriger Sohn, und ich in zwei unterschiedlichen Welten leben: Er hat seine Sicht der Dinge, seine Ausdrucksmöglichkeiten und „Minuten“, in denen er mir unendlich fern scheint. Da ist es nicht so einfach, verbindende Elemente zu finden. Doch ein Thema ist uns beiden wichtig: die Versöhnungsarbeit in Israel. Vor fünf Jahren waren wir das erste Mal mit Ebenezer Deutschland, einer Organisation, die Juden bei ihrer Rückkehr nach Israel hilft und Versöhnungsarbeit leistet, in Israel. Wir haben Überlebende in Altenheimen oder in ihrem Zuhause besucht. In diesem Jahr haben wir nun schon zum dritten Mal als Familie dieses faszinierende Land bereist. Dieses Mal haben wir so viel Gastfreundschaft erlebt und durften in so viele unterschiedliche Haushalte Einblick nehmen, dass wir die ganzen Eindrücke erst mal sortieren müssen. Da hilft Daniel und mir das Schreiben.

„Weil ich Israel liebe“

Eine der ersten Begegnungen fand in Jerusalem statt. Wir waren bei einer deutschen Journalistin zum Shabbatessen eingeladen. Ihre Mitbewohnerin in der WG ist Jüdin und fragte Daniel, warum er ausgerechnet in Israel sei. Daniel antwortete von ganzem Herzen: „Weil ich Israel liebe.“ Mehr Worte brauchte es nicht. Die Mitbewohnerin war beeindruckt und erzählte es am nächsten Tag ihrer Schwester: „Hey, gestern Abend war hier ein 15-jähriger Deutscher, der Israel liebt.“ Zuhören und da sein ist eine der wichtigsten Brücken, die zur Verständigung beitragen.

Als ich Daniel fragte, was er an Israel so liebt, schrieb er Folgendes auf: „Israel ist ein Land, das besonders in Deutschland durch die Medien mit Vorurteilen belegt ist. Solche Vorurteile hatte ich auch bei meinem ersten Besuch. Doch als ich hier ankam, habe ich die Wahrheit über Israel gesehen, gerochen und gespürt. Sei es, durch die Altstadt in Jerusalem zu laufen und in die Läden reinzuschauen, die Gewürze zu riechen oder mitzubekommen, wie es ist, wenn mir auf dem Markt irgendjemand versucht, etwas anzudrehen. Das würde mir nie so in Deutschland passieren.

Gerade freitags vor dem Beginn des Shabbats versuchen sich auf dem Shuck (Markt) hunderte Menschen einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, um noch pünktlich vor Shabbatbeginn zu Hause zu sein. Da pulsiert das Leben. Wenn man nur ein bisschen aus den Städten herausgeht, dauert es nicht lange, bis man vom Flachland in eine wunderschöne Hügellandschaft kommt und gerade im März über die schönsten wilden Alpenveilchen, Mohn und grüne, saftige Wiesen staunen kann.“

„Du hast mein Herz gewonnen“

Aber es ist nicht nur das Land, das uns als Familie fasziniert, es sind auch die Menschen. Wir sind hier, um die Geschichten der Menschen zu hören, vor allem derjenigen, die den Holocaust überlebt haben. Als die 99-jährige Edith, die immer noch acht Sprachen sprechen kann, nach einer Stunde Gespräch meine Hand hält und mir sagt: „Steffi, du hast mein Herz gewonnen“, hätte ich am liebsten losgeheult. Diese Frau trauert immer noch um ihre Eltern und Verwandten, die in Auschwitz ermordet wurden. Und doch werde ich als fremde Deutsche mit einem wunderbaren Abendessen empfangen. Und mir wird mit so viel Offenheit und Wärme begegnet, dass ich tief beschenkt ins Hotel zurückfahre.

„Wir sind es, die etwas tun müssen“

Nach dem Besuch bei Regina Steinitz, einer anderen Überlebenden, schreibt Daniel: „Da sitzt eine 91-jährige Frau und berichtet über Dinge, die sie in meinem Alter erlebt hat, bei denen ich mir nicht mal nach genauester Schilderung ausmalen kann, wie viel Leid sie erlebt hat und noch mit sich trägt. Regina Steinitz ist für mich ein Vorbild. Ein Bundesverdienstkreuz ist ihr vollkommen egal. Das Einzige, was sie möchte, ist, dass Menschen die Shoa nicht vergessen und Menschen sich als Menschen begegnen und auch so behandeln. Nicht nur einmal ist sie an dem Abend außer sich und hat uns manchmal sogar angebrüllt, dass wir es sind, die etwas tun müssen gegen das Vergessen.

Mit Sorge blickt sie auf den Antisemitismus, den es immer noch gibt und der eher zu- als abnimmt. Immer noch versuchen Menschen, Juden für Leid verantwortlich zu machen. Immer noch wird ein Unterschied zwischen Menschen gemacht und Rassismus gelebt. Ich kann mir nur ausmalen, was es mit so einer besonderen Person macht, wenn sie erneut mit Ausgrenzungen konfrontiert wird. Doch, was ihr besonders zu schaffen macht, ist, dass sie ihr Leben nicht mehr mit ‚meinem Zwi‘, wie sie ihren vor zwei Jahren verstorbenen Mann nennt, verbringen kann.“

„Sie sind für mich Vorbilder“

„Genauso geht es Gerda Büchler. Schon öfter habe ich ihre Geschichte gehört und gelesen, doch sie fasziniert mich immer wieder. Obwohl sie Mitte 90 ist und nach der Flucht vor den Nazis neun Operationen brauchte, damit ihre im Schnee erfrorenen Füße wieder halbwegs normal zu gebrauchen waren, sagt sie: ‚Ich mache alles, damit man nicht vergisst.‘ Selbst in diesem hohen Alter hat der Einsatz gegen das Vergessen für sie Priorität. Dabei geht es ihr nicht um ihre Geschichte, sondern darum, dass man davon erfährt, was mit dem jüdischen Volk gemacht wurde. Und dass Menschen wie wir aktiviert werden, sich gegen Völkermord und das Vergessen einzusetzen.

Diese beiden Damen sind für mich Vorbilder und gehören zu den stärksten Menschen, die es zurzeit auf dieser Welt gibt, da sie in ihrem hohen Alter noch immer erzählen und lächeln können, trotz dessen, was ihnen widerfahren ist. Sie geben nicht auf, haben ein Ziel vor Augen und halten daran fest.“

So fliegen wir tief beeindruckt und mit einem Auftrag zurück nach Hause. Wir bereiten einen weiteren Austausch für Jugendliche und Lehrer vor, damit weitere Brücken gebaut werden zwischen den Völkern, Vorurteile durch Begegnungen abgebaut werden und wir unseren Auftrag ausführen können: Dazu beizutragen, dass die Shoa nicht vergessen wird und Menschen sich als Menschen kennenlernen und begegnen können. Was für ein besonderes Geschenk, diesen Auftrag als Mutter und Sohn auf dem Herzen haben und teilen zu können, denn Daniel will mit einem Klassenkameraden an dem Austausch teilnehmen.

Stefanie und Daniel Böhmann leben in Hamburg.

Albanierin und Deutsche zugleich: So lebt Ira ihre interkulturelle Beziehung

Ira Schneider (geb. Kaca) ist in Norddeutschland groß geworden, ihr Mann David auch. Trotzdem fragen sie sich manchmal: Sind wir eigentlich ein interkulturelles Paar?

Sind wir nun ein interkulturelles Paar oder nicht? Wir können die Frage eigentlich gar nicht so schwarz oder weiß beantworten. In unserem Alltag spielt sie meist keine Rolle, aber dann sind da diese Momente, in denen wir einen anderen, ich nenne es mal: Kosmos beschreiten. Eine andere Welt mit völlig anderen Verhaltensweisen und Werten und vor allem Kommunikationsweisen, die uns manchmal staunen lassen, aber auch kurz in unserer Kosmos-Vorstellung erschüttern. Da wären Situationen wie diese:

Wir sind im Sommerurlaub in Albanien und sitzen in der Küche meiner Tante. Ein kleiner Mückenstich nervt und ich kratze kurz an meinem linken Arm. Es sind höchstens drei Sekunden, aber meiner Tante ist es nicht entgangen. Besorgt, panisch – ja, schon fast hysterisch, zumindest für mich, die ich in Norddeutschland geboren und sozialisiert bin – erwähnt meine Tante, dass ich dringend Zitronensaft auf die Stelle schmieren sollte. Dankend lehne ich ihr Angebot ab, da mich der Stich nicht stört und ich auch keine Lust verspüre, mich jetzt weiter damit zu beschäftigen.

Doch bevor ich mich versehe, hat meine Tante die Zitrone geteilt und meine beiden Arme komplett mit Zitrone eingerieben. Ich sitze da und frage mich irritiert, was da gerade passiert ist. Überall finde ich Fruchtfleisch an meinen Armen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder doch etwas ärgerlich sein soll. Also entscheide ich mich für ein tiefes Schmunzeln. Humor war doch immer schon die beste Strategie mitten in meinen zwei Welten, mitten in meinem Dazwischen.

Übergriffig und liebevoll

Ich blicke zu meinem Mann, der offensichtlich verwirrt ist, aber in sich hineingrinst. Da sitzen wir nun in der Küche meiner Tante, in Albanien, in der Hauptstadt Tirana. Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber meine Familie kommt aus einem Land, aus einer Kultur, die so anders ist als das, was unseren Alltag ausmacht. Diese zitronenfruchtfleischige Mückenstich-Milderungs-Aktion, die ich vielleicht als Grenzüberschreitung wahrnehme, scheint nun mal ein Zeichen tiefer Liebe und Fürsorge zu sein. Ich bin scheinbar nur nicht ganz empfänglich dafür.

Immer wieder erlebe ich meine Familie – ich nenne das Kind beim Namen – als übergriffig und fühle mich überwältigt. Dann frage ich mich, ob meine Abgrenzungsfähigkeiten mangelhaft sind, ich vielleicht übertreibe oder ob das, was ich als hysterisch empfinde, legitim ist und ich die Situation falsch einschätze. Fakt ist: Die albanische Mentalität gliedert sich in kollektivistischen Denkstrukturen. Es ist eine Kultur, die in klaren familiären Hierarchien und Rollen denkt. Ehre und Würde steht dem zu, der sich aufopferungsvoll für seine Familie einsetzt. Dabei dürfen die selbstlosen Taten mit ausladendem Pinselstrich dargestellt werden, denn es herrscht Konsens, dass dies keine Angeberei ist, sondern die gute Norm. Je nachdem, wie lange ich in so einem Sommerurlaub verweile, mutiere ich. Ich passe mich dieser Art des Umgangs an, obwohl sie anfangs Befremden bei mir auslöst, denn ich merke: Irgendwie mag ich es, irgendwie bin ich das auch.

Kein Streit, nur ein Telefonat

Ein immer wieder irritierendes und zugleich spannendes Erlebnis für meinen Mann: Telefonate zwischen mir und meinen Verwandten. Diese finden natürlich auf Albanisch statt. Mein Mann hat ein kleines stolzes Bilderwörterbuch und kann schon Sätze sagen wie: „Die Zeitung ist für Opa.“ Da hört’s dann aber auch auf. Ihm ist nicht nur die Sprache fremd, sondern auch die Lautstärke und das emotionale Engagement, mit der meine Verwandten und ich miteinander verhandeln. Da geht es mit viel Temperament zur Sache. Fast nach jedem Telefonat mit meiner albanischen Familie muss ich meinem Mann erst mal erklären, dass es sich nicht um einen Konflikt handelte, sondern ein Austausch über ganz banale Dinge stattfand.

Mir kommt eine weitere Situation in den Sinn. Neulich hat sich mein Schwiegervater einen neuen Schreibtisch gekauft. Es ist eins dieser fancy Teile, an denen man stehen kann und die sich hoch- und runterfahren lassen. Dafür hat er mir seinen wunderschönen großen Schreibtisch aus Holz geschenkt. Mein Mann hat diesen an einem Samstag abgeholt.

Gebrauchter Schreibtisch: Hip oder Schrott?

An jenem Samstag telefonierte ich mal wieder mit meiner Oma. Sie fragte, was wir am Wochenende so machen würden. Begeistert erzählte ich, dass ich den alten Tisch von meinem Schwiegervater erhalte. Meine Oma war geschockt, dass mein Schwiegervater mir seinen alten Tisch gibt, statt mir einen neuen zu schenken. Ich bin direkt in eine verteidigende Haltung gegangen und habe die liebevolle Geste meines Schwiegervaters betont, der für mich zu den großzügigsten Menschen gehört, die mir bisher begegnet sind.

Erst in der Reflexion danach konnte ich es nachvollziehen. Wenn ich mir die wenigen Mittel und die völlig anderen Lebenszustände meiner Großeltern anschaue, dann beginne ich die Empörung meiner Oma zu verstehen. Altes auf Flohmärkten kaufen – das ist in Albanien kein Hipster-Lifestyle, sondern wird einem niedrigeren gesellschaftlichen Status zugeordnet. Hinzu kommt, dass Geschenke und Großzügigkeit in der albanischen Kultur einen besonderen Stellenwert haben. Meine Oma denkt sich: Warum verschenkt man etwas Altes, wenn man etwas Neues und Gutes schenken könnte? So komme ich wieder an den Punkt, dass mein Kosmos ein völlig anderer ist als der meiner albanischen Familie.

Jede Familie hat ihren eigenen Kosmos

Aber solche Feststellungen machen sicher nicht nur Paare, deren Familien aus unterschiedlichen Ländern stammen. Ich bin davon überzeugt, dass jede Familie ein Stück weit ihren eigenen kleinen Kosmos lebt, den es zu bereisen und zu erforschen gilt. Wenn ich mir diese Situationen zwischen Zitronen, Telefonaten und alten Möbeln anschaue, dann stelle ich fest, dass sich verschiedene Themen herauskristallisieren: Grenzen, Kommunikation oder auch der Umgang mit Materiellem und Geld.

Sind wir nun interkulturell? Wir kommen ins Gespräch miteinander über diese Themen und stellen fest: Wir sind auf einer Welle. Wir finden Einigung und spüren Verbindung. Wir spüren eine gemeinsame neue Familienmentalität und -identität. Unser Alltag ist nicht davon bestimmt, dass meine Familie woanders herkommt. Wenn es darum geht, wie wir uns organisieren, wie wir miteinander lachen und streiten, wie wir einander unsere Herzen ausschütten, dann spielen die zwei Kulturen fast keine Rolle.

Albanisch – und doch deutsch

Ich spreche Deutsch besser als Albanisch. Manches albanische Wort fehlt mir aber im Deutschen, weil es keine direkte Übersetzung gibt. Zum Beispiel das Wort ,,ta gzofsh“, was so viel heißt wie: „Mögest du es feiern.“ Das sagt man zum Beispiel, wenn der andere ein Geschenk bekommt oder gerade eine gute Note geschrieben hat und man daneben steht und die Anteilnahme und Freude darüber ausdrücken möchte. Definitiv ein Wort, das ich gerne öfter sagen würde.

Ich stelle fest, dass ich doch oft sehr – wie soll ich es sagen – deutsch ticke. Und noch während ich es ausspreche und schreibe, widerstrebt es mir. Denn wenn es darum geht, andere Menschen herzlich zu umarmen, mit dem Herzen auf der Zunge ungestüm Wertschätzung auszusprechen oder Gastfreundschaft zu leben, meldet sich doch wieder die Albanerin in mir. Dann weiß ich genau, woher ich diese Gewohnheiten und Schätze habe. Das Schöne ist, dass ich sie in unsere Familie hineintragen darf.

Ira Schneider ist Lehrerin mit den Fächern Darstellendes Spiel und Englisch. Außerdem ist sie Paarberaterin (Euer-Paarcoaching@web.de). In ihrer Freizeit ist sie gerne kreativ und hat einen kleinen Shop und Blog auf Instagram unter: ira. schneider_

Entspannung statt Stress: Drei Fragen sollten sich Eltern zum Sonntag stellen

Für Eltern ist der Sonntag oft alles andere als entspannend. Was helfen kann, sind gute Absprachen, meint Vierfach-Mama Melanie Schmitt.

Sonntagmorgen in Hessen. Karl hat die süßesten, kugeligsten Augen, die man sich vorstellen kann. Wenn man ihn anschaut, bekommt man meistens ein strahlendes, herzerwärmendes Lächeln geschenkt. Gerade ist Karl von Spielschachteln, Spielkarten, Spielfiguren und anderen Brettspielelementen umgeben, die er großflächig um sich verteilt hat. Es sieht nicht so aus, als würde Karl demnächst dazu in der Lage sein, dieses Chaos planvoll wieder rückgängig zu machen. Da müssen wohl die Eltern ran. Vielleicht denken sie bei der Sortierarbeit manchmal an das Märchen vom Aschenputtel – nur dass keine Tauben angeflogen kommen, um zu helfen.

„Happy Sunday“ steht auf der Postkarte, schwarze Buchstaben vor zart sprießenden Blüten: „Mach das Beste aus diesem Tag: Lebe, lache, liebe, lese, lerne, spiele, träume! Sei einfach in jedem Moment glücklich!“ Oha – das wird ja ein herausfordernder Sonntag. Das mit dem Leben, das kriege ich hin: einatmen, ausatmen, läuft. Aber der Rest? Welche Blüten treibt der Sonntag in gewöhnlichen Familien?

"Happy Sunday" steht auf einer Karte.

Nachdem das Orkantief Karl durchs Wohnzimmer gewirbelt ist, beginnt das Katastrophenschutzteam Mama und Papa mit den Aufräumarbeiten. Auch für Karls Eltern ist Sonntag, so wie für den Rest des Landes. Sie haben unter der Woche einiges um die Ohren gehabt, sind dementsprechend erholungsbedürftig. Niemand hat Lust, die Spiele zu sortieren, aber es muss ja irgendwie sein. Außerdem wartet Karls Schwester Mathilda darauf, endlich auf den Spielplatz zu gehen. Sie hat sich schon das geliebte Sommerkleid angezogen, das sie von ihrer Cousine geerbt hat. Der Kalender zeigt Februar. Ganz normaler Wahnsinn also. Und der Kalender signalisiert eben nicht nur Februar, sondern auch Sonntag: Ruhetag, Erholungstag, Familientag.

Drei Fragen sollten sich Familien stellen

Ich sehe in der Sonntagsgestaltung drei besonders neuralgische Punkte:

1) Ruhe oder Unternehmung?

Sofa oder Spielplatz? So ruhig oder so erlebnisreich wie möglich? Wonach steht wem gerade der Sinn? Wie so oft ist es wichtig, die eigenen Bedürfnisse bewusst wahrzunehmen und sie zu äußern, statt zu erwarten, dass der Partner sie erfühlen müsste. Genauso wichtig ist es, nach den Bedürfnissen des anderen zu fragen. Auf dieser gemeinsamen Grundlage wird es leichter, eine Tagesplanung zu überlegen, in der verschiedene tagesaktuelle Bedürfnisse Platz finden. Am nächsten Sonntag kann das schon ganz anders aussehen.

2) Gemeinsam oder getrennt?

Eine immer wiederkehrende Sonntagsfrage ist auch, wie viel individuelle Zeit Eltern und Kinder sich nehmen können und wollen – und sich gegenseitig ermöglichen. Besteht die Erwartung, dass alle zusammen sind? Können wir uns als Elternpaar gegenseitig Freiräume schaffen? Diskutieren beide Elternteile die Kleidchenfrage mit Mathilda? Oder ist es okay, wenn ein Elternteil sich rauszieht, um joggen zu gehen? Wer geht zum Gottesdienst und wer bleibt mit den Kindern zu Hause oder in der Kinderbetreuung? Geht ein Elternteil mit dem Schulkind ins Museum, ohne Krabbelkind, oder kommt ein getrenntes Programm am Sonntag nicht in Frage? Was ist mit Verabredungen? Ist der Sonntag ein reiner Familientag oder offen für Freunde? Gute Absprachen, die immer wieder neu getroffen werden müssen, können Freiräume schaffen und Frustrationen vermeiden.

3) Tradition oder Innovation?

Die gesellschaftliche Ausgestaltung des Sonntags hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. In der Kindheit vieler heutiger Eltern war der Sonntag ein Familientag, an dem es undenkbar war, sich mit Freunden zu verabreden. Auch Kindergeburtstage wurden unter der Woche gefeiert und eher nicht an einem Sonntag. Das ist anders geworden. Die Traditionen und Rituale aus der eigenen Kindheit, sprich: aus den Herkunftsfamilien der Eltern, spielen eine große Rolle darin, wie wir uns die Sonntagsgestaltung vorstellen – oder eben gerade nicht wünschen.

Gottesdienst, Kaffeetrinken, Oma besuchen, spazieren gehen: Viele Erwartungen, die wir mit dem Sonntag verknüpfen, sind Muster, die wir übernommen haben. Auch hier lohnt es sich, genau hinzusehen und sich auszutauschen: Wie war es früher? Wie ging es uns damit? Was wünschen wir uns für unsere Familie? Was bedeutet das für die Freundschaften unserer Kinder? Wer sich von den Kindheitssonntagen erzählt und seine Ideale hinterfragt, kann Erwartungen besser greifen und realistischer mit dem Partner abstecken.

Gemeinsam Sonntagsmix festlegen

Ausflug oder Ausruhen? Verwandte besuchen oder Freunde einladen? Zeit für sich allein oder gemeinsam mit der Familie? Gottesdienst oder Gammeln auf dem Sofa? Die Möglichkeiten sind so vielfältig wie die Familienmitglieder. Die Bedürfnisse sind so unterschiedlich wie das Alter und wie die Anspannung der vergangenen Woche.

Wie an allen anderen Tagen in der Woche ist es auch in Sachen Sonntag hilfreich und heilsam, einmal genau hinzuschauen, welche Bedürfnisse hinter den Vorstellungen stecken, die wir uns von unserem Familienleben machen. Und diese Bedürfnisse möglichst klar und vollständig zu äußern. Was sind unsere Sonntagsideale? Wie kann der Sonntag ein Tag bleiben oder werden, auf den sich alle freuen? Wenn wir unsere Bedürfnisse nun besser kennen, wie wäre es dann, wenn alle Familienmitglieder, je nach Alter, reihum einen Sonntag planen dürfen? Mit einem abgesprochenen Budget und einem überschaubaren Zeitrahmen?

Sonntag ist eine Entscheidung

Der Sonntag ist ein Tag, der herausstechen soll aus dem Klein-Klein der anderen Tage. Viel können wir dazu selbst beitragen, indem wir überlegen, wie wir diesen Tag gestalten, aber auch, indem wir uns bewusst dafür entscheiden, vieles nicht zu tun, was wir sonst unter der Woche tun. Als Eltern gibt es auch am Sonntag eine Menge Dinge, die sich nicht aufschieben lassen. Nahrung, trockene Klamotten und frische Windeln lassen sich nicht auf den Montag verschieben.

Doch ich kann mich grundsätzlich dafür entscheiden, am Sonntag eben nicht noch schnell eine Maschine Wäsche anzuschalten, auch wenn das in wenigen Minuten erledigt wäre. Ich kann mich dafür entscheiden, nach der Rettung der Spielesammlung nicht auch noch zu saugen. Ich kann mich dafür entscheiden, nicht den ganzen Tag für andere verfügbar zu sein und das Handy am Sonntag auf Flugmodus stellen, zumindest für eine Weile. Wer dieses Vorhaben am Samstagabend in seinen Status stellt, vermeidet Irritationen bei den Mitmenschen. Ich kann mich dafür entscheiden, zu akzeptieren, dass selten alle in der Familie einen super Tag haben werden, nur weil Sonntag im Kalender steht. Ich kann mich dafür entscheiden, dass es einmal in der Woche nicht um Optimierung geht.

Der Sonntag kann ein Glanzlicht im Alltag sein

Ich will dem Sonntag die Chance lassen, ein Glanzlicht im Alltag zu sein. Denn ich habe längst gemerkt: Ein bewusst erlebter Sonntag, der anders schimmert als die restlichen Wochentage, ein Sonntag, der einen gewollten Akzent setzt im Alltagstrott, gibt dem Leben Halt und Rhythmus. Damit der Sonntag glänzen kann, gebe ich mir Mühe, mir manches zu verkneifen, was noch zu erledigen wäre, und gelassen das hinzunehmen, was trotz Sonntagsheiligkeit in einer Familie dennoch zu erledigen ist. Ich versuche, genau hinzuschauen und weder mich noch meine Familie damit zu überfordern, dass ich den Sonntag überfrachte mit überzogenen Erwartungen. Ich streiche alles durch auf der Sonntagspostkarte, bis da steht: „Happy Sunday! Sei einfach.“

Ein Hoch auf alle Eltern

Karl und Mathilda sind mein Neffe und meine Nichte. Sie erinnern mich regelmäßig daran, wie ich noch vor Kurzem selbst an einem Sonntag keinen Moment die Augen schließen konnte, ohne fürchten zu müssen, dass ein Kleinkind das Bad flutet. Ein Hoch auf alle Eltern, die auch am Sonntag von morgens bis abends und nachts verfügbar sind, damit ein kleiner Mitmensch Versorgung, Geborgenheit und Zuwendung erfährt! Ein Hoch auf alle Eltern von Schulkindern, die auch sonntags vergessene Referate unterstützen und Rücken kraulen!

Möget ihr an jedem Sonntag ein paar Minuten finden, in denen ihr wenigstens ein Auge mal ein bisschen schließen könnt. Seid gewiss: Je älter die Kinder werden, desto eher wird es möglich, Zeit für sich zu haben, desto schwieriger wird es aber auch, die vielfältigen Bedürfnisse aller zu vereinen. Die Sonntagsfrage stellt sich also immer wieder aufs Neue und beweist, was wir schon lange ahnen: Das Beständigste an Familie ist ihre stete Veränderung.

Melanie Schmitt lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im waldreichen Taunus und gönnt sich nun manchmal nachträglich sonntags die Pausen, die sie vor ein paar Jahren dringend gebraucht hätte.

Mutter fragt sich: „Wie stille ich richtig ab?“

Wann ist die Zeit gekommen, das Kind abzustillen? Und wie können Mütter sich emotional darauf vorbereiten? Pädagogin Isabelle Bartels gibt praktische Tipps.

„Meine Tochter (10 Monate) ist mein drittes und wahrscheinlich letztes Kind. Ich überlege, sie bald abzustillen. Aber es fällt mir schwer, weil es dann ein endgültiger Abschied vom Stillen sein wird. Wie finde ich für mich und mein Kind den richtigen Zeitpunkt?“

Ich verstehe die Frage gut, denn mir ging es ganz ähnlich: Ich habe beim Stillen immer wieder diesen exklusiven Moment und die körperliche Verbindung mit dem Kind zelebriert! Diese Momente erinnern uns an die Symbiose, die wir mit unserem Kind hatten, als es noch in unserem Bauch war. Mir hat es geholfen, mir bewusst zu machen: Diese besondere Verbindung zu unserem Kind ist immer da. Auch wenn sie nach dem Abstillen nicht mehr unmittelbar sichtbar ist.

Mit anderen Müttern austauschen

Die aus meiner Sicht wichtigste Grundvoraussetzung für das Abstillen ist die innere Klarheit, dass Sie wirklich abstillen wollen – egal, wie alt Ihr Kind ist und was Ihr Umfeld darüber denkt. Deshalb ist es sinnvoll, sich zunächst bewusst zu machen, warum man abstillen möchte. Vielleicht haben Sie eigentlich noch Lust und Ihre Tochter auch, nur mehren sich langsam die Anfragen von außen, wie lange Sie sie denn noch stillen wollen. Das führt in Ihnen möglicherweise zu einer inneren Ambivalenz und könnte das Abstillen erschweren. In diesem Fall würde ich Ihnen empfehlen, sich mit anderen Müttern zu vernetzen, denen es ähnlich geht.

Vielleicht wollen Sie mehr Freiraum für sich haben und erlauben sich diesen Gedanken noch nicht so richtig. Vielleicht haben Sie zu Beginn der Stillzeit gedacht, dass Sie in Einvernehmen mit Ihrem Kind abstillen werden, und nun dauert es Ihnen doch zu lange. Ich möchte Sie ermutigen, dieses Gefühl anzunehmen und als natürlichen Teil des Abstillprozesses zu verstehen. Diese Unlust kann ein Zeichen sein, dass für Sie tatsächlich der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um abzustillen.

Nehmen Sie sich Zeit

Was auch Ihre Gründe sein mögen: Erlauben Sie sich, diesen Prozess in Ihrem Tempo zu durchlaufen, und nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen, um sich darüber klar zu werden.

Das natürliche Abstillalter für Kinder liegt zwischen zwei und sieben Jahren. Natürlich gibt es auch Kinder, die sich zu einem früheren Zeitpunkt selbst abstillen. Fakt ist: Falls Sie wirklich nicht mehr wollen, müssen Sie die Entscheidung für sich treffen. Wie Ihr Kind mit dem Abstillen klarkommt, hängt von Ihrer Klarheit und Begleitung ab.

Abstillprozess zelebrieren

Wenn für Sie klar ist, dass Sie abstillen wollen, habe ich noch einige Ideen, wie Sie den Abstillprozess begleiten können:

• Erzählen Sie Ihrem Kind von Ihrer Entscheidung und auch von Ihren Gefühlen. Lassen Sie beim Stillen die Tränen laufen, wenn sie kommen. Schreiben Sie einen Abschiedsbrief an das Stillen. Bitten Sie Ihren Mann, Sie ein letztes Mal beim Stillen zu fotografieren.

• Bieten Sie Ihrem Kind andere Beruhigungsalternativen an, wie Kuscheln oder einen Beruhigungssauger.

• Zelebrieren Sie die letzten Male, die Sie stillen. Sagen Sie Ihrem Kind, dass nun der Zeitpunkt des letzten Stillens gekommen ist, und stillen Sie dann bewusst ein letztes Mal.

Isabelle Bartels ist Pädagogin und familylab-Familienberaterin, lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ostwestfalen und bloggt unter isabellebartels.com.

Mutter Carina richtet Appell an Mamas: Redet ehrlich miteinander!

Carina Nill spricht offen über Freude und Frust des Mama-Seins. Das kostet sie Überwindung – und zahlt sich aus.

Meine Schwägerin erwartet ihr zweites Kind. Als ich bei der Verkündigung freudig frage, wie es war, es zu erfahren, ob der Schwangerschaftstest aufregend war und die Warterei bis dahin auszuhalten, antwortet mein Schwager irritiert und kühl: „Hä, ne – es war ja geplant!“ Mein Herz zieht sich leicht zusammen – wie schön wäre es, wenn es immer so einfach wäre.

Ich habe es so erlebt: Elternsein im Kopf und im Herzen beginnt schon, bevor man das eigene Baby im Bauch oder auf dem Arm trägt. Elternsein beginnt oft schon mit dem Kinderwunsch. Spätestens jetzt wachsen Vorstellungen, Vorhaben und Vorurteile … Und ja, es stimmt: Es verlangt viel Weisheit, mit diesen eigenen Ideen und denen im Familien- und Freundeskreis umzugehen – egal, ob in der Kinderwunschzeit, der Schwangerschaft, der Kleinkind- oder der Kindergartenkindphase.

Von Fehlgeburt bis Notkaiserschnitt alles erlebt

Aber die Zeit unseres Wunsches, Eltern zu werden, ist zu lange her, um bei meinem Schwager präsent zu sein. Und meine Schwägerin kam erst danach in unsere Familie. Sie erkennt mein Schlucken und zaghaftes Lächeln und fragt nach. Und ich erzähle – obwohl sie frisch schwanger ist. Ich erzähle, weil ich es immer schon erzählt habe. Ich erzähle, obwohl es mich manchmal alles kostet: Mut, Kraft, Ehrlichkeit. Aber ich erzähle auch, weil ich an diesem Mut anderer Frauen gewachsen bin und getröstet wurde.

Bevor wir unseren ersten Sohn bekamen, haben wir eine kleine Bandbreite der Möglichkeiten erlebt, die es auf diesen Wegen zu erleben gibt: Fehlgeburt, Eileiterschwangerschaft, Windei, Blutungen und Sorgen in der Schwangerschaft bis hin zum Notkaiserschnitt. Hoffnung und Enttäuschung, Schmerz und Wut, Fragen und Zweifel und neues Vertrauen.

Erzählungen anderer spenden Trost

Und ich habe es immer erzählt. Unter Tränen, hoffnungslos und hoffnungsvoll, Trost suchend oder Trost spendend. Es war mir immer eine Hilfe und ein Anliegen, dass unsere Freunde und Familie darüber Bescheid wussten. Viele waren zeitgleich schwanger. Manche erlebten schließlich ähnliches, und so war unsere Ehrlichkeit ein großer Gewinn. Und es war ein Segen, uns gegenseitig zu haben, voneinander zu wissen, miteinander zu fragen und zu verarbeiten.

Ich finde, dieser Mut, von unseren Erfahrungen zu erzählen, hat sich ausgezahlt. Ich war dankbar, vor meinen eigenen Verlusten von Frauen zu wissen, die ähnliches erlebt hatten, und mich bei ihnen verstanden zu fühlen. Hätten andere Frauen diese Realität, so schwer und herausfordernd sie ist, nicht mit mir geteilt, hätte ich mich oft einsamer und hilfloser gefühlt.

„Du dumme Mama“

Auch später, beim schmerzhaften Stillen, habe ich mich dankbar an eine Kollegin erinnert, die sich vor Jahren beim Stillen ihres Babys die Tränen wegwischte und gestand: „Das tut so weh!“ Und als mir der Große das erste Mal „Du dumme Mama“ vor die Füße knallte, war ich erleichtert, dass eine Mama aus dem Hauskreis schon vor Monaten das Gleiche (mit dem gleichen Entsetzen) zu berichten hatte.

Diese Erfahrung nehme ich durch die Jahre bis heute mit. Ich möchte all das Gute und Schöne, die vielen kleinen Freuden, die großen Entwicklungsschritte, Erziehungserfolge und Glücksmomente des Elternseins teilen: aufrichtig und unübertrieben. Aber ich wünsche mir auch, dass es erlaubt ist, in meinem Hier und Jetzt erschöpft zuzugeben, dass Junior immer noch nicht durchschläft, dass Zähneputzen zu einer choreografischen Meisterleistung werden muss oder dass ich ratlos Rat suche, weil die Streitereien zwischen den Brüdern einfach nicht aufhören.

Offen mit Versagen umgehen

Inzwischen gehen beide Jungs in den Kindergarten. Beim Abgeben am Tor frage ich mich gelegentlich, ob eigentlich andere Mütter auch schon 17 Nervenzusammenbrüche erleiden, bis sie hier ankommen. Natürlich teilt man seine Geschichten und seinen Alltag nicht mit allen, dennoch nicken wir Mütter uns scheinbar wohlwissend zu.

Auch unter Freunden kostet es mich oft alles, mir und anderen gegenüber einzugestehen, dass ich in vielem gern geduldiger, belastbarer und humorvoller wäre. Auch hier nehme ich oft unter Tränen meinen Mut zusammen und vertraue Freundinnen oder Familie – mit Kindern in unterschiedlichem Alter – meine Gegenwart an: Sorgen, Versagen, Unzulänglichkeiten und mein „Das wollte ich eigentlich anders machen“. Manchmal verändert es Freundschaften, wenn man erkennt, dass man unterschiedliche Erziehungsstile oder Ansichten hat – dann schmerzt diese Ehrlichkeit, zu der man sich durchgerungen hat.

Manchmal fühle ich mich nach so einer Offenbarung auch beobachtet oder bewertet. Aber manchmal ernte ich nach den ersten unverständlichen Blicken jüngerer Mütter ein paar Monate später ein seufzendes: „Jetzt weiß ich, was du meintest! Das war gut zu hören.“ Und dann bin ich froh, dass ich darüber gesprochen habe und nicht hinterher um Mitgefühl oder gute Ratschläge ringen muss.

Ehrlichkeit – ohne Angstmachen

Also doch: Obwohl es mich immer wieder so viel kostet, mich mit dem Teilen meiner Gegenwart verletzbar zu machen, ist es vielleicht das Kostbarste, was wir miteinander teilen können: aufrichtige Ehrlichkeit – ohne Angstmachen, aber auch ohne Schönreden. Ich jedenfalls bin dankbar für alle, die ihr „So ist es gerade“ miteinander teilen – egal, wer von uns gerade die (un-)realistischeren Vorstellungen hegt.

Carina J. Nill arbeitet als Kunst- und Lerntherapeutin und „künstlert“ Bilder und Bücher, z. B. „Count your Blessings: Mein kreatives Segen-Sammelbuch“. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei wunderbaren wilden Söhnen in Deizisau bei Esslingen.