„Traut euch was zu“ – Familien-Redakteurin macht Ansage an die Papas

Väter sollten sich viel mehr in die Erziehung ihrer Kinder einbringen, findet Family-Redakteurin Bettina Wendland. Aber auch die Mütter sieht sie in der Pflicht.

„Mein Mann lässt mir zum Glück freie Hand.“ Dieser Satz einer Mutter in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder hat mich ziemlich geschockt. Da freut sich eine Mutter darüber, dass sie ihre Ideen unbehelligt von ihrem Mann umsetzen kann. Nur ein Einzelfall?

Eine andere Mutter schreibt in ihrem Blog darüber, dass sie ihre Tochter schon in der Kita angemeldet hatte, aber hin- und hergerissen war, ob das das Richtige sei. Sie schildert ihr Abwägen, Gespräche mit Freundinnen, schlaflose Nächte – ihr Mann (den sie offensichtlich hat) kommt bei diesen Überlegungen nicht vor. Kann natürlich sein, dass er im Blog nicht erwähnt werden möchte. Aber im Mama-Blog-Universum scheint auch nicht so wichtig zu sein, was der Papa meint …

Oft ist Papa nur die Nr. 2

Kürzlich haben wir auf Facebook einen Artikel geteilt, in dem sich ein Vater darüber beklagt, dass seine Tochter lieber von Mama im Kindergarten abgeholt wird. Daraufhin kam es zu einer Diskussion: Ist Mama deshalb bei Kindern die Nummer 1, weil Papa sich aus Unsicherheit oder Bequemlichkeit zurückhält? Oder liegt es an den Müttern, die den Vätern zu wenig zutrauen und meckern, wenn sie etwas anders machen?

Natürlich sind nicht alle Väter, Mütter und Kinder gleich. Aber ich habe den Eindruck, dass oft beides stimmt: Väter lassen sich schnell verunsichern, wenn das Baby oder Kind auf sie nicht genau so begeistert reagiert wie auf die Mama. Aber es ist nun mal so, dass Mama oft Bezugsperson Nr. 1 ist, Papa „nur“ Nr. 2. Sich dann aber zurückzuziehen und Mama machen zu lassen, ist genau die falsche Reaktion. „Jetzt erst recht!“ – das würde ich mir von Vätern wünschen: Jetzt erst recht kuscheln! Jetzt erst recht die Windel wechseln! Jetzt erst recht trösten! Jetzt erst recht vom Kindergarten abholen!

Mütter: Lasst die Väter machen!

Und die Mütter? Die sollten den Vätern auch mal das Feld überlassen. Nicht erst, wenn sie nicht mehr können. Nicht nur dann, wenn Papa es genau so macht wie Mama. Vielleicht muss dann manches intensiver diskutiert werden. Aber auch Papas haben das Recht und die Pflicht, bei Erziehungsfragen mitzuentscheiden! Der Mama freie Hand zu lassen, klingt erst mal gut, ist meines Erachtens aber der falsche Weg!

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

„Bei Papa darf ich das“ – In diese Erziehungsfalle sollten Eltern nicht tappen

Papa erlaubt alles, was Mama verbietet? Das kann zum echten Problem werden, sagt Erziehungswissenschaftlerin Melanie Schüer.

„Mein Mann reagiert nachgiebiger als ich. Wenn ich etwas verbiete, erlaubt er es. Schadet das den Kindern? Was können wir tun?“

Dass Eltern nicht in allen Erziehungsfragen gleicher Meinung sind, ist völlig normal. Dennoch ist es wichtig, dass Sie sich über wesentliche Fragen austauschen und eine gemeinsame Linie finden. Denn wenn Sie als Mutter etwas verbieten und Ihr Mann genau das erlaubt, werden Sie als Eltern für Ihr Kind unglaubwürdig. Das Kind wird dadurch geradezu provoziert, die Eltern gegeneinander auszuspielen – nicht aus böser Absicht, sondern weil es so Dinge erreichen kann, die es sich wünscht. Das schwächt aber die Verlässlichkeit der Eltern und den Zusammenhalt untereinander – und der ist eine unverzichtbare Grundlage für ein gutes Familienleben.

Kleine Ausnahmen sind nicht schlimm

Bei Großeltern ist das etwas anderes – Kinder können schon recht früh verstehen, dass bei Oma und Opa andere Regeln gelten. Wenn aber zu Hause die Regeln ständig wechseln, dann bekommen Kinder den Eindruck, dass die Regeln nicht ganz so wichtig sein können. Natürlich müssen auch Eltern nicht in allen Angelegenheiten gleich handeln. Wenn der Papa mal etwas erlaubt, was Sie eher verboten hätten, was aber keine große Bedeutung hat oder im Alltag kaum vorkommt, ist das kein Drama. Zum Beispiel: Der Papa ist mit den Kindern unterwegs und kauft ihnen ein Eis, obwohl es bald schon Abendessen gibt. Oder: Es ist Wochenende und der Papa bringt die Kinder etwas später ins Bett als sonst. Solange das Ausnahmen bleiben – halb so wild. Wenn aber bestimmte Konflikte häufiger auftreten oder es um konkrete Regeln im Familienalltag geht (zum Beispiel Medienzeiten), dann wird es schwierig, wenn die Eltern nicht an einem Strang ziehen.

Reden hilft

Wichtig ist, unterschiedliche Haltungen dann nicht als persönliche Kränkung zu verstehen. Ihr Mann wird seine Gründe haben. Das können zum Beispiel eigene Erfahrungen sein oder eine andere Prägung. Dennoch sollten Sie ihn bitten, mit Ihnen über diese unterschiedlichen Ansichten zu sprechen. Das sollte nicht vor den Kindern und unter Zeitdruck geschehen, sondern zu zweit und in Ruhe. Fragen Sie Ihren Mann, warum er anderer Meinung ist als Sie – hören Sie aufmerksam zu und respektieren Sie seine Ansichten. Erklären dann auch Sie, weshalb Sie bestimmte Grenzen wichtig finden und versuchen Sie, einen Kompromiss zu finden – eine Vereinbarung, hinter der Sie beide stehen und die Sie dann auch geschlossen durchsetzen können.

Beratungen vermitteln neutral

Sollte Ihr Mann trotzdem immer wieder besprochene Grenzen nicht durchsetzen, gilt es herauszufinden, woran das liegt: Fehlt ihm die Energie dafür? Wenn ja, was könnte er ändern? Früher schlafen gehen, mehr Bewegung, frische Luft, ein Gesundheits-Check-Up? Ist er der Meinung, die Grenzen, die Sie setzen möchten, seien eigentlich unwichtig? Oder gibt es Probleme in der Beziehung zu seinen Kindern? Wenn Sie zu zweit nicht weiterkommen, scheuen Sie sich nicht, ein Gespräch in einer Erziehungsberatungsstelle zu vereinbaren. Tatsächlich ist es oft sehr hilfreich, wenn eine neutrale Person zuhört und vermittelt. Denn diese hat eine ganze andere Perspektive und kann dadurch wertvolle Impulse geben. Sollte Ihr Mann sich weigern, können Sie auch erst einmal für sich allein einen Termin vereinbaren. Adressen finden Sie unter dajeb.de.

Melanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin und Gesundheitsberaterin. Sie bietet Beratungen für Eltern von Babys und Kleinkindern mit Schrei- und Schlafproblemen sowie für Schwangere an (neuewege.me).

Recht auf Bildung versus Angst ums Kind: Darum sind Kinderrechte umstritten

Kinderrechte im Grundgesetz – was sollte man da schon gegen haben? Eine Menge, finden Kritiker. Wir zeigen, was dafür spricht – und was dagegen.

In Deutschland gibt es seit Jahren eine Diskussion darüber, ob die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollen. Die Befürworter sehen darin unter anderem die Chance, das Kindeswohl zu stärken und die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungen rechtlich abzusichern. Die Kritiker befürchten vor allem, dass die Rechte der Eltern zugunsten des Staates eingeschränkt werden. Wir haben zwei Menschen, die sich für Kinder und Familien engagieren, gefragt, welche Haltung sie vertreten.

 

Pro: „Kinder müssen in den Fokus gestellt werden.“

Arche-Gründer Bernd Siggelkow plädiert dafür, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, damit vor allem benachteiligte Kinder stärker gehört werden.

Kinderrechte gehören ins Grundgesetz, denn die dortige Verankerung macht daraus eine moderne, zukunftsorientierte Verfassung und setzt gleichzeitig ein Zeichen, welche Bedeutung Kindern und Jugendlichen und deren Belangen in Deutschland beigemessen wird. Natürlich möchte ich als Gründer und auch Leiter einer Kinder- und Jugendeinrichtung die Rechte der Eltern innerhalb ihrer Familie nicht beschneiden. Unsere Kinder sind aber keine kleinen Erwachsenen, und deswegen sollten und müssen ihre Rechte gestärkt werden.

Passus reicht nicht

Ein immer wiederkehrendes Gegenargument ist der Hinweis, dass Kinder bereits durch ihr Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Artikel 2 Absatz 1 im Grundgesetz geschützt seien. Dieser Passus reicht aber bei weitem nicht aus. Das hat auch damit etwas zu tun, dass hier nicht ausdrücklich ausgesprochen wird, welche spezifischen Rechte Kinder in Deutschland haben, etwa dass ihr Wohl bei sämtlichen Maßnahmen, die sie betreffen, vorrangig zu berücksichtigen ist und dass Kinder in solchen Fällen beteiligt werden müssen. Es besteht daher ein enormer Bedarf, die bereits bestehenden Kinderrechte im Grundgesetz zu stärken.

Lernen wie zu Omas Zeiten

Kinder müssen in unserem Land endlich in den Fokus gestellt werden, denn die einzigen Ressourcen, die wir in Deutschland haben, sind unsere Kinder. Wir in den Archen treffen täglich auf Kinder und Jugendliche, die in fast allen Belangen benachteiligt werden. Das sind Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, denn sie kommen zumeist aus prekären Familienverhältnissen. Viele unserer Kinder sind nicht einmal mehr in der Lage, ihre Schulaufgaben zu machen, denn es fehlt an Tablets und Laptops. In den Schulen ohne einflussreiche Förderkreise gibt es zudem kein Geld für zeitgemäße Technik. Die Kinder lernen wie zu Omas Zeiten.

Keine Lobby

Keiner beschwert sich darüber, denn diese Kinder haben keine Lobby. Auch scheitern viele Kinder in den Schulen schon an einfachen Herausforderungen, wie zum Beispiel dem Lesen und Schreiben. Der Lehrkörper richtet sich nach den Schülerinnen und Schülern, die ohne Probleme dem Lehrstoff folgen können. So haben wir es später mit hunderttausenden jungen, funktionalen Analphabeten zu tun. Menschen also, die nicht wirklich lesen und schreiben können.

Nie im Restaurant

Würden Kinderrechte im Grundgesetz verankert sein, könnten Eltern und Kinder den Staat verklagen, weil der seiner Ausbildungspflicht nicht nachkommt. Ich könnte jetzt zahlreiche weitere Punkte aufzählen, aber dafür reicht bei weitem der Platz nicht. Doch eine weitere Sache brennt mir noch auf der Seele. Viele unserer Arche-Besucher, auch die älteren Jugendlichen, waren noch nie in einem Restaurant, noch nie in einem Theater oder Kino. Urlaub, zum Beispiel eine Auslandsreise – davon dürfen unsere Kinder nur träumen. Und so wachsen sie Jahr für Jahr außerhalb unserer Gesellschaft auf.

Vor einige Wochen schenkte ein langjähriger Arche-Unterstützer einem 17-jährigen Mädchen für deren Familie einen Gutschein für einen Restaurantbesuch. Das Mädchen war sehr verunsichert und fragte mich: „Du Bernd, was muss ich damit machen, muss ich das jetzt irgendwo anmelden?“ Sie war noch nie in einem Restaurant. Das Mädchen kann übrigens sehr gut lernen und macht gerade Abitur, eine Ausnahme unter den Kindern der Arche. Aber sie wusste nicht, wie man außerhalb ihrer vier Wände essen geht. So etwas macht mich sehr traurig. Wenn ich könnte, würde ich rechtliche Schritte gegen den Staat einleiten, weil er hunderttausende Jugendliche einfach vergisst. Kämpfen wir gemeinsam für mehr Rechte unserer Kinder!

Bernd Siggelkow ist Vater von sechs Kindern. Er ist Gründer und Leiter des Kinderhilfswerks Arche, das in Deutschland, Polen und der Schweiz an 28 Standorten Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen fördert und unterstützt.

 

Kontra: „Nicht abschätzbare Folgen“

Rebekka Hofmann sorgt sich, dass eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz Folgen für die Freiheit und Verantwortung der Eltern haben könnte.

Kinderrechte ins Grundgesetz – könnte dies ein Türöffner sein, das bisher ausgewogene Verhältnis zwischen der grundlegenden Verantwortung von Eltern und der Wächterfunktion des Staates zulasten der Familien zu verändern?

Verantwortung der Eltern

Als Mutter von drei Kindern, geht es mir – hier spreche ich stellvertretend für viele Eltern – um die Pflicht und Verantwortung zur Erziehung meiner Kinder, der ich mit meinem Mann persönlich nachkommen möchte. Meines Erachtens gibt mir der Artikel 6 in unserem Grundgesetz die Freiheit und auch die Rechtsgrundlage dazu, und so hinterfrage ich die Notwendigkeit zur Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz. Auch Experten einzelner Juristenverbände weisen eindringlich darauf hin, dass die Wächterfunktion des Staates gegenüber Eltern, die ihre Pflichten und ihre Verantwortung – aus welchen Gründen auch immer – nicht wahrnehmen können oder wollen, bereits jetzt verfassungsrechtlich abgesichert ist. Deren Umsetzung muss eher durch Veränderungen von Rahmenbedingungen verbessert werden als durch eine Ergänzung von Kinderrechten. Deutschland sollte auch nicht aufgrund der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 mit Ländern verglichen werden, in denen bisher nicht einmal Menschenrechte geachtet werden und Kinder aus diesem Grund ganz offensichtlich dringend erweiterten, rechtlichen Schutz benötigen.

Keine Krippenpflicht

Die Forderung, „die Lufthoheit über den Kinderbetten zu erobern“, die Olaf Scholz 2002 angesichts des Ausbaus der Kinderbetreuung geäußert hat, lässt mich aufhorchen und ahnen, dass es beim Thema Kinderrechte um weit mehr geht als darum, ein gefährdetes Kindeswohl demnächst zuverlässiger abwenden zu können. Ein Beispiel: Wir haben unsere Kinder aus Überzeugung in den ersten drei Lebensjahren zu Hause betreut und sehen diese Freiheit in Zukunft gefährdet. Denn ein so genanntes Kinderrecht auf Bildung könnte die Einführung einer KiTa- oder sogar Krippenpflicht zur Folge haben. Werden wir Eltern uns dann als „Bildungsverweigerer“ unserer Kinder verantworten müssen? Wie viel Freiheit und Mündigkeit werden uns in den Entscheidungen für die Belange unserer Kinder noch zugestanden? Welche Erziehungsfehler sind noch tolerierbar und als rein menschlich begründet anzusehen? An welchem Punkt gelten Eltern als verantwortungslos, und wer entscheidet darüber?

Einfluss des Staates

In Norwegen sind Kinderrechte schon länger gesetzlich verankert. Neben den positiven Folgen resultiert daraus leider auch die Zunahme von Inobhutnahmen durch die Kinderschutzbehörde Barnevernet, und es wird vermehrt in Familien eingegriffen und Kinder aufgrund nicht oder kaum nachvollziehbarer Gründe von ihren Eltern getrennt.

Hier geht es nicht um die von der UN geforderten Grundrechte für Kinder, die bereits in unserem Grundgesetz verankert sind, sondern um die zum jetzigen Zeitpunkt für uns nicht abschätzbaren Folgen, die ein weiter verstärkter Einfluss des Staates mithilfe der Kinderrechte auf das Familienleben in unserem Land haben könnte. Dass dann auch intakte Familien durch ein gezieltes Aushebeln der Elternrechte betroffen sein könnten, ist nicht auszuschließen. Das sehe ich problematisch.

Schon mehrfach wurde diese Thematik in unseren Regierungen debattiert. Und es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein. Deshalb möchte ich ermutigen, wachsam zu bleiben und genau hinzuschauen, welche Bestrebungen den Familien und damit auch den Kindern in unserem Land wirklich dienen.

Rebekka Hofmann hat mit ihrem Mann drei Kinder. Sie ist Mitgründerin von Nestbau e.V.. Der Chemnitzer Verein informiert, berät und unterstützt Eltern, die ihre Kinder in den ersten drei Jahren gern selbst betreuen wollen.

 

Die Hintergründe

Vor gut 30 Jahren, im November 1989, wurde die UN-Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet. In den Jahren darauf haben – bis auf die USA – alle Mitgliedsländer der Vereinten Nationen diese Konvention für sich ratifiziert.

Zu den Kinderrechten gehören: das Recht auf Gleichheit, auf Gesundheit, Bildung, Spiel und Freizeit, freie Meinungsäußerung und Beteiligung, Schutz vor Gewalt, Zugang zu Medien, Schutz der Privatsphäre und Würde, Schutz im Krieg und auf der Flucht sowie besondere Fürsorge und Förderung bei Behinderung.

Engagierte Organisationen

Seit Jahren gibt es nun in Deutschland das konkrete Bestreben, die Kinderrechte auch im Grundgesetz zu verankern. Dafür engagieren sich besonders Organisationen wie UNICEF Deutschland, der Deutsche Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Deutsche Liga für das Kind.
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die aktuelle Legislaturperiode enthält im Kapitel „Familie“ die Formulierung: „Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern. Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen. Über die genaue Ausgestaltung sollen Bund und Länder in einer neuen gemeinsamen Arbeitsgruppe beraten und bis spätestens Ende 2019 einen Vorschlag vorlegen.“

Bisherige Formulierung

Diese Arbeitsgruppe hat bis Oktober 2019 verschiedene Optionen erarbeitet, wie die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden können. Dabei geht es im Wesentlichen um eine Ergänzung des Artikels 6. Darin heißt es bisher: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“

Neuer Entwurf

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat daraufhin einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, folgenden Absatz im Artikel 6 zu ergänzen: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Dieser Entwurf geht den Befürwortern nicht weit genug, den Kritikern geht er zu weit. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis hier eine Lösung gefunden wird.

Bettina Wendland

„Hilfe, mein Partner ist langweilig!“ – Drei Dinge braucht Ihre Beziehung jetzt

Der Partner erzählt immer nur das Gleiche und der Sex bietet auch keine Highlights mehr? Dafür hat Psychotherapeut Jörg Berger drei einfache Lösungen.

Darf es folgende Szenen in einer Liebesbeziehung geben? „Wie war dein Tag?“ – diese Frage und das anschließende Ritual hat Lisa mit in die Beziehung gebracht. Auch heute hat Daniel gefragt, wie der Tag war, und Lisa erzählt, was sie gemacht und erlebt hat. Daniel schweift mit den Gedanken ab. Denn so sehr unterscheidet sich Lisas Tag heute nicht von dem gestern, und vermutlich auch nicht vom morgigen. Natürlich interessiert sich Daniel für Lisas Gefühle und Erlebnisse. Oder im Tiefsten doch nicht?

Nach dem Gottesdienst sind Susanne und Rainer eingeladen, ein schöner Nachmittag liegt vor den Freunden. Susanne nippt an ihrem Espresso, den die Freundin nach dem leckeren Mittagessen gereicht hat. Auf irgendein Stichwort hin setzt Rainer zu einem Vortrag an, wie wenig sozial er unsere Marktwirtschaft findet. Schon wieder, denkt Susanne, denn Rainers Gedanken zu diesem Thema hat sie schon so oft gehört. Und es sind auch immer ähnliche Gedanken, die andere dann beisteuern. Jedes Thema erschöpft sich eben irgendwann. Susanne lobt die Buchsbäumchen, die in geschmackvollen Terrakottatöpfen sitzen. Doch Rainer wacht über die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Er stupst den abgelenkten Freund am Arm, macht eine charmante Bemerkung und kommt wieder auf sein Thema zurück. Das kann doch nicht sein, denkt Susanne, dass ich mich an meinem freien Tag in Gesellschaft meiner besten Freunde langweile. Aber ihr fällt nichts ein, um die Situation für sich zu retten.

Auch im Sex gibt es Gewöhnung

Lasse ist müde von einem langen Tag, aber Karen hat angedeutet, dass sie heute für Sex offen wäre. Lasse wägt ab. So oft hat Karen ja nicht Lust, eigentlich müsste er die Gelegenheit nutzen. Außerdem würde es Karen irritieren, wenn er keine Lust hätte, sie würde sich fragen, warum. Und gerade auf diese Frage würde Lasse nur ungern antworten. Ihr Sex folgt einem vertrauten Ablauf. Es gibt nur diesen einen, mit dem sich Karen erstens wohl fühlt und zweitens zum Höhepunkt kommt. Klar, es ist immer noch schön und man kommt sich schließlich auch nahe dabei. Aber es ist eben nicht mehr so, dass Lasse für dieses Erlebnis alles andere stehen und liegen lassen würde.

Weder Daniel, Susanne noch Lasse haben sich mit ihrem Gefühl der Langeweile anvertraut. In nahen Beziehungen ist Langeweile ein Tabu. Zu Recht, finde ich, denn es gibt kaum eine Rückmeldung, die niederschmetternder ist, als dass sich der andere im eigenen Beisein langweilt. Wenn mich meine Frau überkritisch, einschüchternd, dominant oder unangepasst fände, damit käme ich zurecht, zur Not auch, wenn sie mich für ängstlich, peinlich oder nachgiebig halten würde. Aber langweilig? Das liegt ganz knapp neben: nicht mehr liebenswert.

Würde ich jemandem raten, sich dem Partner mit Gefühlen der Langeweile zu offenbaren? Wohl nur, wenn ich überzeugt wäre, dass die Beziehung einen heilsamen Schock braucht. Häufiger rate ich Partnern, den Gründen für die Langeweile auf die Spur zu kommen und diese zu beseitigen.

Verzichten Sie auf zu viele Reize!

Ob Sie etwas berührt, liegt natürlich an den Reizen, die Sie aufnehmen – zum Beispiel in einem Gespräch oder einer gemeinsamen Aktivität. Es liegt aber auch an Ihrer Fähigkeit, sich berühren zu lassen. In der Psychologie spricht man von Erlebnisfähigkeit. Mit zwei einfachen Methoden können Sie Ihre Erlebnisfähigkeit steigern.

Fasten und Verzichten
Alles, was uns einen intensiven Kick gibt, verringert unsere Wahrnehmung für die zarten Reize. Deshalb dürfen wir uns nicht zu oft einen Kick geben. In Suchtkliniken muss man Abhängige oft wochenlang überzeugen, dass auch ein Leben ohne Suchtmittel seinen Reiz hat. Im häufigen Rausch hat sich ihre Erlebnisfähigkeit so verringert, dass ein abstinentes Leben für sie tatsächlich langweilig ist – bis sich ihre Erlebnisfähigkeit wieder neu ausbildet. Wo suchen Sie sich Ihren Kick, wenn Sie sich leer und unbefriedigt fühlen? Die Antwort darauf könnte ein Schlüssel zu einer vertieften Erlebnisfähigkeit sein – sie müssen nur ab und zu verzichten.

Tempo rausnehmen
Je schneller unser Leben ist und je mehr Eindrücken wir ausgesetzt sind, umso mehr leidet unsere Erlebnisfähigkeit. Aktivitäten reduzieren, Verantwortung abgeben, Pausen, in denen Sie nichts tun, Sonntagsruhe und stille Zeiten dagegen erneuern Ihre Erlebnisfähigkeit.

Wenn sich Ihre Erlebnisfähigkeit steigert, dann hören Sie vielleicht tatsächlich einen Moment nicht zu, wenn Ihr Partner über ein „langweiliges“ Thema spricht. Aber Sie spüren vielleicht, wie schön es ist, zusammenzusitzen, wie attraktiv Ihr Partner ist, wenn er so engagiert spricht, wie viel Dankbarkeit und Liebe in Ihrem Herzen aufkommen, wenn Sie an das gemeinsame Leben denken. Lasses Sex mit Karen mag einem eingespielten Ablauf folgen, gleich ist die sexuelle Begegnung aber nie. Es liegt auch an Lasses sexueller Erlebnisfähigkeit, ob er das Besondere jeder Begegnung wahrnehmen und auskosten kann.

Unehrlichkeit provoziert Langeweile

Als junger Therapeut habe ich mich gefragt, was denn wäre, wenn ich einen Menschen, den ich begleite, langweilig fände. Immerhin verbringe ich in manchen Therapien 20, 40 oder mehr Stunden mit einem Menschen. Wenn ich mich langweilen würde, könnte ich das dann verbergen? Oder würde ich versuchen, den anderen loszuwerden? Peinliche Fragen. Zum Glück habe ich festgestellt: Kein Mensch ist langweilig. Jede Lebensgeschichte ist spannend. Jede Person ein Kosmos von einzigartigen Wahrnehmungen und Möglichkeiten, der nie auszuloten ist. Ich langweile mich also tatsächlich nie in einer Therapiestunde? – Doch.

Manchmal geschieht es in der Anfangsphase einer Therapie, dass meine Gedanken abschweifen, dann denke ich daran, was mich aus der Stunde zuvor noch beschäftigt oder was ich noch organisieren muss. Das geschieht allerdings nur, wenn Menschen eine Fassade aufgebaut haben, ihre wahren Gefühle nicht zeigen und ihre wirklichen Gedanken nicht aussprechen. Stattdessen spielen sie eine „gute Patientin“ oder einen „guten Patienten“, sie verhalten sich, wie sie glauben, dass ich es erwarte. Oder sie führen ein Pseudogespräch mit mir – sie reden, ohne etwas von sich preiszugeben. Diese Fassade ist natürlich das erste Thema in der Therapie. Wenn die Person dann hinter der Fassade hervortritt, wird es spannend.

Seien Sie ehrlich!

Sie wollen Ihre Liebe wieder aufregender machen? Dann schockieren Sie den anderen doch einmal damit, was Sie wirklich denken und fühlen. (Ausnehmen würde ich hier nur Gefühle und Gedanken, die den Selbstwert des anderen zu stark angreifen.) Das lädt auch Ihren Partner zur Echtheit ein. Interessieren Sie sich dafür, was sich unter der Oberfläche verbirgt: „Warum beschäftigt dich das Thema eigentlich?“ – „Wie geht es dir mit diesem Erlebnis?“ Mit solchen Fragen könnte Daniel Lisas Bericht über ihren Tag unterbrechen. Er darf dabei nur nicht kontrollierend oder kritisch klingen. Lisa wird dann wahrscheinlich mehr von sich zeigen. Echtheit macht die Liebe spannend. Führende Paartherapeuten wie Michael Lukas Möller oder David Schnarch sind außerdem überzeugt, dass Echtheit das beste Mittel ist, um eine Paarbeziehung immer wieder erotisch aufzuladen.

Lassen Sie Themen los!

Wohl jeder Mensch hat ein paar ungelöste Lebensthemen, um die er immer wieder kreist, ohne weiterzukommen. Ein unbewusster emotionaler Sog lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf das ungelöste Thema. Es braucht nur ein bestimmtes Stichwort, und eine unbestimmte Traurigkeit steigt wieder auf oder eine Empörung kocht hoch über Missstände, die zwar traurig sind, aber das eigene Leben gar nicht betreffen. Ein immer gleicher Weltschmerz, immer gleiche Zweifel oder eine immer gleiche Empörung langweilen irgendwann auch das geduldigste Gegenüber.

Seine tiefen, konflikthaften Lebensthemen kann keiner selbst auflösen. Doch Sie können als Paar pragmatisch damit umgehen und vereinbaren, dass Sie bestimmte Themen beiseiteschieben, sobald diese wieder aufkommen. Wer neugierig ist, kann das Thema in eine Seelsorge oder professionelle Beratung einbringen, um zu schauen, was sich dahinter verbirgt. Das Ergebnis dann mit dem Partner zu teilen, ist natürlich wieder interessant. Warum sich Rainer wieder und wieder über Ungerechtigkeit ereifert, wäre für Susanne inzwischen spannender als das Thema selbst.

Kann die Liebe je langweilig werden? Ja, auch Langeweile gehört zum Alltag der Liebe. Kann die Liebe ihren Reiz verlieren? Niemals. Paare, die über ihre Erlebnisfähigkeit wachen, authentisch bleiben und immer wieder loslassen, was sie gefangen nehmen könnte, finden in der Liebe eine unerschöpfliche Quelle schöner Gefühle und überraschender Augenblicke.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.

Pädagogin verrät: So steigern Sie das Selbstbewusstsein Ihrer Teenie-Tochter

Vielen Teenagern fehlt das Selbstvertrauen. Genau hier können Eltern sie unterstützen, sagt Diplompädagogin Sonja Brocksieper.

„Unsere Tochter (13) ist total schüchtern und wirkt oft verunsichert. Ich habe das Gefühl, dass sie gar kein Selbstvertrauen hat. Wie können wir sie stärken und unterstützen?“

Die Teenagerjahre sind oft von Unsicherheiten und Selbstzweifeln geprägt, und Eltern sollten in dieser Phase sowohl das Wertgefühl ihres Kindes stärken als auch ein gesundes Selbstvertrauen vermitteln. Denn genau genommen müssen wir zwischen diesen beiden Begriffen „Selbstwertgefühl“ und „Selbstvertrauen“ unterscheiden.

Selbstwertgefühl ist nicht gleich Selbstvertrauen

Für ein gesundes Selbstwertgefühl braucht Ihre Tochter zunächst die Gewissheit, dass sie eine wertvolle Persönlichkeit ist, die um ihrer selbst willen geliebt wird, und das unabhängig von dem, was sie leistet. Nehmen Sie Ihr Kind als ganze Person ernst, mit all ihren Meinungen, Empfindungen und ihrem Temperament. Das bedeutet, dass Sie Ihrer Tochter vermitteln: „Du bist okay so, wie du bist. Und auch wenn ich nicht immer mit allem einverstanden bin, was du tust, bist du geliebt und angenommen.“ Wenn ihre Tochter oft schüchtern wirkt, ist das erst mal okay. Nicht jeder steht gerne im Mittelpunkt und hat das Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen. Sprechen Sie Ihrer Tochter zu, dass dieser Wesenszug okay ist und sie sich nicht verbiegen muss.

Selbstvertrauen ist dagegen etwas ganz anderes. Es ist das Wissen um die eigenen Fähigkeiten und Begabungen. Und dieses Vertrauen in die eigenen Stärken kann Ihre Tochter entwickeln, wenn Sie ihr etwas zutrauen. Jedes Kind bringt ein Potenzial mit, das man lobend hervorheben und bestärken kann. Überlegen Sie gemeinsam mit Ihrer Tochter, was sie richtig gerne macht, was sie auszeichnet und besonders macht. Eine gute Schulnote in einem bestimmten Fach, ein gelungenes Musikvorspiel, Erfolg im Sport – all das kann gefeiert werden.

Ermutigen Sie Ihr Kind!

Nutzen Sie dafür die Macht der Worte. Diese haben eine nicht zu unterschätzende Kraft. „Du schaffst das.“ „Ich bin stolz auf dich.“ „Probiere es ruhig aus. Wenn es nicht klappt, helfe ich dir.“ Solche Sätze haben eine starke Wirkung und fördern das Selbstwertvertrauen Ihres Kindes. Wenn ein Kind dagegen ständig hört, was alles nicht gut läuft, dann entwickelt es schnell ein einseitiges Bild von sich selbst. „Pass bloß auf!“ „Das musste ja schiefgehen.“ „War ja klar, dass du die Mathearbeit verhaust.“ All das sind negative Botschaften, die das Selbstvertrauen schwächen. Schaffen Sie stattdessen eine Atmosphäre der Ermutigung.

Manchmal lässt sich aber auch Kritik im Umgang mit Kindern nicht vermeiden. Hierbei sollten Sie sich vor Augen führen, wie vernichtend manch kritische Äußerung sein kann. Vor diesem Hintergrund sollten Sie Kritik möglichst in Maßen, behutsam und besonnen äußern. Und je mehr ein gutes Polster an Wertschätzung und Anerkennung vorhanden ist, desto eher wird die Kritik auf offene Ohren stoßen.

Schwächen sind normal

Übrigens sollte jede Form der Ermutigung und des Lobes angemessen und realistisch sein, damit Kinder kein falsches Selbstbild entwickeln. Jedes Kind hat Schwächen und Begrenzungen, die nicht ignoriert werden sollten. Erzählen Sie von Ihren eigenen Schwächen und Ihrem Umgang damit. Solche persönlichen Erfahrungen können Ihrer Tochter helfen, mit ihren eigenen Misserfolgen selbstsicher umzugehen. Je besser das Selbstwertgefühl eines Kindes ist, desto leichter können Kinder motiviert werden, an ihren weniger starken Seiten zu arbeiten.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F. sonja-brocksieper.de

„Kann so nicht weiterleben“ – Wie Model und Mutter Mirja du Mont ihre Lebenskrise überstand

Mirja du Mont wollte es im Beruf und in der Familie allen recht machen. Dann kam der Zusammenbruch. Im Interview erzählt sie, wie sie zurück ins Leben fand und was sie anderen Müttern rät.

Mirja, nach der Trennung von deinem Exmann Sky du Mont hast du dir selbst sehr viel Druck gemacht. Warum?

Ich wollte mir selbst und meinem Ex beweisen, dass ich keinen Mann brauche, um mich zu finanzieren. Ich wollte zeigen, dass ich stark bin, alle meine Jobs machen kann und zusätzlich auch die Kinder und den Haushalt unter einen Hut bekomme. Dabei stand mir mein Perfektionismus zusätzlich im Weg. Ich sah all die Perfektion in den sozialen Medien, die falschen Fassaden der anderen, und ich wollte mir und der Welt beweisen, dass ich auch alles kann. Und das nicht nur irgendwie, sondern richtig gut. Aber der Druck und die Termine lagen alle viel zu eng. Es war viel zu viel.

Wie sah das konkret aus?

Es gab den Punkt in meinem Leben, an dem ich zeitgleich drei verschiedene Fernsehshows hatte: Dance dance dance, die Reportage bei VOX „6 Mütter“ und meine eigene Show bei Channel24. Die Fernsehproduktion bei VOX begleitete mich zusätzlich jeden Tag und zu all den anderen Shows. Auch am Wochenende. Es war permanenter Stress. Zusätzlich versorgte ich die Kinder, kochte abends vor und machte mir selbst viel Druck. Ich wollte meine Arbeit wirklich gut machen, denn ich arbeite sehr gerne, bin gleichzeitig gern Mama und liebe mein Leben. Ich hatte nicht mal Hilfe im Haushalt, weil meine Mama auch immer alles alleine geschafft hat und ich es nicht mag, wenn andere für mich arbeiten müssen.

Plötzlich taub

Das kann nicht lange funktionieren. Was ist passiert?

Morgens war ich im Möbelgeschäft und hatte sehr viel eingekauft. Als ich zu Hause ankam, stellte ich fest, dass der Fahrstuhl kaputt war und ich alles alleine in den vierten Stock schleppen musste. Als ich das geschafft hatte, überkam mich plötzlich eine unendliche Müdigkeit. Ich hätte am liebsten den ganzen restlichen Tag verschlafen. Aber meine Freundinnen hatten abends für uns einen Tisch reserviert und ich hatte mich auf sie gefreut. Also fuhr ich hin. Doch schon während des Termins spürte ich, dass es mir eigentlich zu viel ist und ich lieber schlafen würde.

Als ich nach Hause fuhr, passierte es plötzlich: Mein Ohr ging zu, als würde man an einem Regler drehen und es ausschalten. Ich erschrak, aber hatte die Hoffnung, dass es am nächsten Morgen schon weitergehen würde.

Aber am nächsten Morgen war nicht alles gut?

Ich wachte auf und es durchzuckte mich. Ich lag auf meinem gesunden Ohr, daher hörte ich gar nichts. Nicht mal den Baustellenlärm vor meinem Fenster. Ich dachte, ich sei taub geworden. Als ich ein paar Sekunden später begriff, dass es doch nur das eine Ohr war, beruhigte mich das nicht viel weniger.

Ich fuhr ins Krankenhaus. Dort stellte man fest, dass ich einen Riss im Innenohr hatte und Hörflüssigkeit ausgelaufen war. Ich hatte dadurch Schwindelstörungen und als Folge dessen Sehstörungen. Und das ein ganzes Jahr lang. Ich konnte nicht mehr raus gehen, nicht einkaufen gehen. Nichts. Meine ganze Welt drehte sich einmal um 180 Grad. Dazu kam eine große Angst. Was, wenn das nie mehr aufhört? Was, wenn irgendwann mein anderes Ohr auch betroffen sein könnte?

Das klingt nach einer schrecklichen Phase …

Als ich meine Eltern besuchte, erlebte ich einen Knackpunkt. „Ich kann so nicht weiterleben“, sagte ich gegenüber meinem Papa. Ich war absolut körperlich und psychisch am Ende. Meine Eltern trösteten und hielten mich. Ich wusste in dem Moment: Ich bin geborgen. Diese Liebe hat mir viel Kraft gegeben.

Ich bekam kurz danach Psychopharmaka aufgrund der großen Angststörung, die ich entwickelt hatte. Ich hatte Angst, essen zu kochen, Angst, vor die Tür zu gehen und einiges mehr. Diese Medikamente vertrug ich allerdings so schlecht, dass ich in eine Klinik kam.

Kein Iron Man

Wie bist du wieder gesund geworden? Wo hast du Hilfe gefunden?

Meine Familie ist sehr eng, hier helfen wir uns alle gegenseitig. Meine Kinder waren mir auch eine große Hilfe, weil sie so viel Verständnis zeigten. Ich dachte in dem Moment, dass es vielleicht auch etwas Gutes ist, dass sie sehen, dass Mama nicht nur Iron Man ist mit 80 Armen und 50 Beinen und alles immer kann. Dass Mama auch mal schwach sein darf und Hilfe braucht.

In der Zeit meiner Krankheit starb meine sehr liebe Freundin. Sie war mir ein leuchtendes Vorbild, denn sogar am Ende ihres Lebens, als sie kaum noch konnte, sagte sie immer wieder zu mir: „Das Leben ist wunderschön“. Ihr gegenüber empfand ich es als unfair, dass ich hier die Leidende war. Ich starb ja nicht an meiner Krankheit. Dadurch habe ich mich zusammengerissen.

Wie fühlte sich das für dich an, dass andere dir geholfen haben?

Ich wusste, dass ich es alleine nicht schaffen werde und war dankbar für all die Hilfe. Auf der anderen Seite empfand ich viel Scham. Ich wollte nicht, dass jemand weiß, wie es mir tatsächlich geht. Später schrieb ich aus diesem Grund mein Buch. Ich wollte lieber selbst meine Geschichte erzählen, damit Betroffene sehen können, dass man wieder gesund werden kann.

In ihrem Buch erzählt Mirja du Mont ihre Geschichte ausführlich. Cover: adeo

In ihrem Buch erzählt Mirja du Mont ihre Geschichte ausführlich. Cover: adeo

„Jetzt mache ich auch mal zwei Wochen gar nichts“

Was hat sich durch diese Lebenskrise in die verändert? Was machst du jetzt anders als vorher?

Ich habe gelernt, Nein zu sagen und meine Grenzen zu ziehen. Das konnte ich früher überhaupt nicht. Ich entschuldige mich sogar immer noch, wenn ich mal etwas absagen muss. Da habe ich noch etwas Lernstoff vor mir. Ich mache keine Jobs mehr gleichzeitig, sondern nur noch nacheinander. Und das Wichtigste: Jetzt mache ich auch mal zwei Wochen gar nichts. Früher war ich sogar im Urlaub auf Achse.

Was hat dir Kraft gegeben?

Ich glaube, dass es eine höhere Kraft gibt. Ich kann es nicht betiteln und weiß auch nicht, was es ist, aber ich habe das Gefühl, dass meine verstorbene Oma und meine geliebte Freundin auf mich aufpassen. Das und natürlich meine Familie und Freunde.

Immer noch Tinnitus

Hat die Krankheit noch Nachwirkungen?

Ich lebe inzwischen mit Dauertinnitus. Viele Menschen haben das in Deutschland und viele nehmen Schlaftabletten. Wenn man das Geräusch und die Krankheit nicht akzeptiert, dreht man durch. Der Tinnitus ist dein Kumpel, er ist immer da. Es gibt schlimmere Sachen im Leben. Wenn man den Tinnitus akzeptiert, kann man damit leben.

Wie kann man sich Tinnitus vorstellen? 

Der Tinnitus ist ein Piepen und ein Rauschen, wie ein Radio ohne Frequenz. Und er ist so laut, als würde man direkt neben dem Radio sitzen. Früher konnte ich damit nicht einschlafen, man hört immer, dass man krank ist und das ist sehr schwer.

Wie lebst du damit?

Mein Papa sagte mal zu mir: „Es ist nur ein Ohr, Mausi. Was machen Menschen, die nicht sehen können?“ Das veränderte mein Denken. Am Anfang brauchte ich jemanden, der mich bemitleidet, und dann jemanden, der mir in den Arsch tritt.

Zu guter Letzt: Wie lebst du Familie, was ist dir wichtig?

Empathie und Respekt anderen Menschen gegenüber sind wichtige Werte für mich. Schon in den kleinen Alltagsdingen. Dass man alten Menschen im Bus seinen Platz anbietet zum Beispiel. Mir ist es auch wichtig, dass unsere Kinder sich nicht beleidigen. Ich liebe Menschen und das Leben, daher wünsche ich mir weniger Hass und mehr Liebe.

Die Fragen stellte Priska Lachmann.

Trauere ich richtig? Nicole erkärt, warum sie um ihre sterbende Katze mehr weint als um ihren Mann

Nicole Schenderlein hat schon viele Tode erleben müssen. Und dabei gelernt: Es gibt keine falsche Trauer.

Die Katze stirbt. Nach einer menschlichen Volljährigkeit ist unser Stubentiger am Ende seines Lebens angekommen. Das war zu erwarten. Sie ist alt. Und trotzdem wirft es mich aus der Bahn. Ich schlafe nicht, esse wenig und weine fast mehr als nach dem Suizid meines Mannes und dem Tod meines Vaters, um nur die letzten zwei Toten meines Lebens zu nennen. Ich bin erst knapp über vierzig und habe schon so viele Todesfälle erlebt; da müsste ich doch ein dickeres Fell haben. Oder?

Man könnte doch meinen: So ist das Leben, am Ende gehört das Sterben dazu. Irgendwann müssen alle Abschied nehmen. Und all die weiteren Floskeln, die man so von sich gibt, wenn ein Lebewesen zum letzten Mal seinen Odem aushaucht. Ist halt so. Punkt.

Trauern ist wie Liebeskummer

Ja und nein. Dieser pragmatische Umgang mit dem Tod kann eine Variante sein, wie wir als sterbliche Wesen damit umgehen: Akzeptanz. Und weiter geht’s. Es ist aber nicht die allgemeingültige Variante. Denn allgemeingültig, das gibt es nicht beim Trauern.

Für mich ist der bald nahende Tod unserer Katze nicht nur ein Fakt, den ich akzeptieren muss. Es ist Liebe, die nicht mehr gelebt werden kann. Wenn ein Mensch oder ein Tier stirbt, zu dem wir eine Bindung haben, erleben wir Liebeskummer. Nur ohne dieses: „Liebt er oder sie mich vielleicht doch noch?“ Denn das tut er oder sie. Meistens. Doch die Liebe wird getrennt. Die Bindung gekappt. Und das für immer.

Akzeptanz ist nicht immer eine Lösung

Mit sachlicher Akzeptanz kommen wir da nicht weit. Zumindest nicht auf Dauer. Sachliche Akzeptanz funktioniert so lange, bis es uns selbst betrifft. Wenn ein Bekannter stirbt oder ein Promi oder ein Verwandter, den ich kaum gesehen habe in meinem Leben, fehlt mir die Bindung. Hatte ich eine liebevolle Beziehung zu dieser Person? Nein? Dann ist das kein Problem mit der Akzeptanz.

Und das ist auch gut so. Man stelle sich vor, wir würden bei jedem Menschen, der stirbt, diesen Schmerz erleben. Diese unerwiderte Liebe auf ewig. Zumindest fühlt es sich so an, auch wenn wir an ein Leben nach dem Tod glauben und auf ein Wiedersehen in der Ewigkeit hoffen. Hier in unserem irdischen Leben, in unserem Alltag zwischen Zähneputzen, Arbeit und Älterwerden entsteht plötzlich eine Lücke, die sich nicht mehr füllen lässt. Auch wenn manche es versuchen.

Menschen trauern unterschiedlich

Unsere Katze ist nicht das erste Tier, von dem ich mich verabschieden muss. Vor einigen Jahren musste ich unseren ersten Hund einschläfern lassen. Bis ich wieder eine Fellnase in mein Leben ließ, dauerte es mehrere Jahre. Ich brauchte Zeit, um die Liebe loszulassen und Platz zu schaffen in meinem Herzen für einen anderen Hund.

Als meine Eltern ihren Hund verloren, kam gleich wenige Wochen später ein neuer ins Haus. Eine Hündin, die bis heute ab und zu mit „er“ angeredet wird. Weil die Rolle des Hundes im Leben von ihr übernommen wurde. Meine Mutter bereut das heute ein wenig. Sie liebt ihren jetzigen Hund und möchte ihn nicht mehr hergeben. Trotzdem wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur einfach einen Hund vermisst. Sondern den Hund, der gestorben war. Hund ist eben nicht gleich Hund. Auch wenn der Lebensrhythmus mit Gassi-Gehen und Füttern und Streicheln und Spielen wieder da ist.

„Trauer verträgt keine Beurteilung“

Darüber habe ich etwas die Nase gerümpft. Aus der Distanz. Denn auch wenn ich es traurig fand, dass der erste Hund gestorben war, hatte ich nicht dieselbe Bindung zu dem Tier wie meine Eltern. Trotzdem habe ich es mir angemaßt, darüber zu urteilen, wie sie trauern sollten. Weil ich es anders gemacht hatte.

Für meine Eltern funktionierte das so aber nicht. Sie handelten aus ihrem Erfahrungsschatz heraus: Als pragmatische Menschen versuchten sie, die Lücke praktisch zu füllen. Und haben neue Erfahrungen damit gemacht. Dass ich das verurteilte, half ihnen nicht. Und mir auch nicht.

Trauer verträgt keine Beurteilung. Denn Beurteilung trennt. Zusätzlich zum Tod. Da haben wir schon ein geliebtes Wesen verloren und werden innerlich noch von Menschen verlassen, die unsere Art des Trauerns nicht gutheißen. Also müssen wir doppelt trauern. Weil der Tod nicht nur eine Beziehung gekappt hat, sondern auch noch lebende Beziehungen stört.

Spielarten der Liebe

Klar darf man urteilen. Aber man sollte es nicht. Denn wer möchte schon freiwillig noch mehr Verlust erleben? Weil wir Liebeskummer haben, brauchen wir genau das Gegenteil: Wir brauchen mehr Liebe. Und genauso, wie es verschiedene Arten gibt, Liebe auszudrücken, gibt es verschiedene Arten, verstorbene Liebe zu zeigen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, sie zu be- und verurteilen. Sondern sie auszuhalten, uns hineinzudenken, uns vielleicht sogar inspirieren zu lassen.

In der Wohnung meiner Schwiegermutter hängen sehr viele Fotos von ihrem Sohn. Meinem verstorbenen Mann. Und Fotos von ihrem verstorbenen Mann. Es gibt kaum einen Raum, in dem es nicht eine Erinnerung gibt. Sie geben ihr Halt. Sie bekräftigen ihre Liebe, die auch nach dem Tod weitergeht.

In meinem Haus gab es nach dem Suizid meines Mannes nur noch ein Foto von ihm. Eines mit ihm und meiner Tochter. Mehr brauchte und wollte ich nicht. Denn als seine Ehefrau war meine Beziehung zu ihm eine andere als die seiner Mutter zu ihm.

Schmerz folgt keinen Regeln

Bei einem Suizid ist die Trauer spezieller. Die Traurigkeit vermischt sich viel mehr mit Wut als bei anderen Todesfällen. Was bei mir zur Folge hatte, dass ich relativ kurz nach seinem Tod seine Kleidung aus dem Schlafzimmer geräumt und die Möbel darin umgestellt habe. Das wäre für meine Schwiegermutter nie in Frage gekommen nach dem Tod ihres Mannes. Sie hat lange gebraucht, bis sie sich von seinen Sachen trennen konnte. Beide Wege sind okay. Beides darf sein.

Fast fünf Jahre nach dem Suizid ist meine Schwiegermutter immer noch ein Teil meines Lebens. Weil wir unsere Arten der Trauer akzeptieren können, wie sie sind. Unterschiedlich. Denn Schmerz hat verschiedene Facetten. Schmerz folgt keinen Regeln. Weil auch Liebe keinen Regeln folgt.

Kein Platz für neue Liebe?

Trotzdem haben wir so etwas wie eine innere Richtschnur. Eine Einteilung in gut und böse. Eine unangenehme Angewohnheit von uns Menschen. Schwer wieder abzulegen. Ich dachte immer, dass man sich Zeit zum Trauern nehmen sollte. Was auch stimmt. Trauer braucht Raum. Was aber nicht bedeutet, dass da kein Platz mehr ist für etwas anderes.

Ein befreundeter Witwer erzählte mir einige Zeit nach dem Tod meines Mannes, dass er eine neue Liebe gefunden hatte. Ich freute mich. Es war zwei Jahre, nachdem meine Freundin und seine Frau gestorben war. Gleichzeitig hielt ich das für mich für ausgeschlossen. Nicht nur, weil ich mir Zeit zum Trauern nehmen wollte. Sondern weil kein Platz war für neue Liebe. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, das Chaos zu beseitigen, das mein Mann nach seinem Suizid hinterlassen hatte. Das hat mehrere Jahre gedauert. Bis heute.

Plötzlich verliebt

Ich wollte vor allem aber nicht wieder vertrauen. Ich wollte mich nicht mehr auf einen anderen Menschen verlassen müssen und dann verlassen werden. Tja. Und dann kam die Liebe. Wie sie eben so ist. Sie kam einfach so.

Einige Wochen nach dem Tod meines Mannes habe ich mich verliebt wie noch nie. Diese Liebe hat das Chaos nach dem Suizid überstanden. Mein Misstrauen. Gerede. Menschen, die mich verurteilt und verlassen haben. Eine Haussanierung in einer Pandemie. Diese Liebe ist nicht daran gestorben, sie ist gewachsen. Und hat mich unterstützt in meiner Trauer. Sie hat den Boden bereitet, mich der Wut und dem Schmerz zu stellen. Damit ich auch meinen ersten Mann wieder lieben konnte. Denn das tue ich immer noch. Ich habe nicht einen Menschen durch einen anderen ersetzt. Ich kann beide Lieben leben. Denn Liebe ist nicht exklusiv.

Liebe darf alles

Darf man sich also nach dem Tod einer zwanzigjährigen Beziehung wieder verlieben? Darf man die Wohnung mit Fotos von Toten vollhängen? Darf man alles wegwerfen, was einen mit den Toten verbindet? Darf man versuchen, dem Alltag von vorher wieder möglichst nahezukommen? Darf man alles verändern und wegziehen? Darf man sachlich und pragmatisch sein? Darf man emotional und aufbrausend sein? Trauer darf. Trauer darf das alles. Weil Trauer Liebe ist. Und Liebe ist wie Gott: nicht greifbar, nicht einzuteilen, größer und stärker, als wir erwarten, aber immer da.

Trauer darf alles, solange es Liebe bleibt. Dazu gehören auch Schmerz und Wut. Wut und Schmerz dürfen sein. Manchmal auch Jahre später. Weil sie dann erst genug Sicherheit haben, um sich zu zeigen. Alles hat seine Zeit. Trauer darf. Immer. Alles. Bis auf eins: ein Arschloch sein – aburteilen, pöbeln, Rache nehmen. Ich darf auf die Verstorbenen wütend sein. Auf Gott. Darüber, dass es den Tod überhaupt gibt. Aber ich darf diese Wut nicht an den Lebenden auslassen. Weder an anderen noch an mir selbst. Das wäre das Gegenteil von Liebe.

Dass meine Katze jetzt stirbt, macht mich wütend. Auf die Vergänglichkeit. Aber nicht auf die Katze. Weil ich sie liebe. Dieser Liebe versuche ich, Ausdruck zu geben in der letzten Zeit, die sie noch hat auf dieser Erde. Und das tut weh. Jedes Mal wieder, wenn jemand stirbt, den wir lieben. Weil diese Liebe einzigartig ist. Wie jeder von uns.

Nicole Schenderlein ist gelernte Journalistin und Bildhauerin (art.green-woman.de). Als Gründerin von „Blattwenden“ setzt sie sich für einen krea(k)tiven Umgang mit Suizid und Trauer ein: blattwenden.eu

Der kleine Justus kämpft gegen die Leukämie – Warum die Eltern die Hoffnung nicht aufgeben

Wie ein Kometeneinschlag trifft Familie Müller die Krebs-Diagnose ihres damals fünfjährigen Sohnes. Über Leid, Hoffnung und grenzenlosen Optimismus.

„Papa!“, jubelt Jussi und springt Andy in die Arme, als er an diesem Abend nach Hause kommt. Eine Minute später ist er schon wieder unterwegs, turnt über einen Sessel, robbt unter einem Stuhl durch, kippt seine Legokiste aus – krawumm! Der Siebenjährige ist schnell, laut, lebhaft. Mit seinen dunkelblauen Augen und den blonden Haaren sieht Justus, wie er richtig heißt, aus wie ein Lausebengel. Eine Ahnung davon, dass sein Kopf voller Streiche steckt, bekommt man, wenn man Jussi nur ein paar Minuten dabei beobachtet, wie er durch das gemütliche, großzügige Haus von Familie Müller tobt. Stillsitzen ist nicht Jussis Ding.

Im Frühjahr 2019 sieht das ganz anders aus: Jussi hat die Grippe und fühlt sich danach schlapp. Er ist sehr anhänglich, will lieber kuscheln statt spielen. Sein Schwimmkurs strengt ihn über die Maßen an, und zu Hause friert er noch so sehr, dass Mama Esther ihn in eine Decke wickelt. Nachwirkungen der Grippe, denkt sie. Das denkt auch der Kinderarzt, den die Familie erneut aufsucht, als Jussi zwei Wochen später immer noch merkwürdig blass aussieht und antriebslos ist.

„Ich wusste, dass irgendetwas im Busch ist“

Als der damals Fünfjährige nach weiteren zwei Wochen noch schlapp wirkt und über Druck an einem Auge klagt, sucht Esther wieder den Kinderarzt auf. Ein großes Blutbild wird gemacht. Weil die Arztpraxis einer Klinik angeschlossen ist, kommen die Laborwerte noch am selben Tag. „Ich wusste, dass irgendetwas im Busch ist, weil ich allein zur Ärztin reingehen und die Sprechstundenhilfe bei Jussi bleiben sollte“, erzählt Esther. Die Kinderärztin fängt an, von weißen Blutkörperchen zu sprechen. „Ich habe gleich gesagt: ‚Leukämie, oder?‘“, erinnert sich Esther. Ja, der Verdacht steht im Raum. Esther soll mit Jussi sofort in die Klinik.

Andy ist zu der Zeit dienstlich unterwegs. Er arbeitet als Jugendevangelist und ist auf einem Ferien-Festival, um jungen Menschen von Gott zu erzählen. Dass seine Schwester sich an diesem Tag für einen Besuch bei seiner Frau und den Kindern angekündigt hat, ist ein Segen, denn so kann sie Jussis drei Jahre älteren Bruder Noah von der Schule abholen, während Esther und Jussi in der Klinik sind.

Diagnose Leukämie

Es ist ein Freitagmittag, als Esther erstmals die Kinderonkologie im Kasseler Klinikum betritt. Es ist ruhig auf der Station. Weil Jussi als Notfall eingeliefert wird, kümmert sich sofort ein Onkologe um ihn. Sein Hämoglobin-Wert liegt bei 4,9 – lebensbedrohlich. Normal für Kinder seines Alters ist ein Hb-Wert zwischen 12 und 15. Dass Jussi viel zu wenige rote Blutkörperchen im Blut hat, erklärt auch seinen Augendruck. Nach einer weiteren Blutuntersuchung, Ultraschall, Herz-Screening und EKG bestätigt sich der Verdacht: Jussi hat Leukämie.

Die Diagnose trifft die Familie wie ein Kometeneinschlag. „Wenn du so etwas erfährst, funktionierst du einfach“, sagt Esther. „Du stehst so unter Adrenalin, da denkst du gar nicht viel.“ Sie klingt abgeklärt, wenn sie darüber spricht. Daran, dass ihr Kind sterben könnte, denkt sie keinen Augenblick, sagt Esther. Sie ist eine Pragmatikerin und Optimistin, genauso wie ihr Mann Andy. Als dieser von der Krankheit seines Jüngsten erfährt, befindet er sich inmitten von frohen Menschen in Ferienstimmung. In wenigen Minuten soll er ein Seminar geben und dabei Jesus verkündigen. Das Seminar findet wie geplant statt, die private Sorge merkt ihm niemand an. Danach zieht Andy sich zurück und kann die Tränen nicht unterdrücken. Für ihn ist es ein Segen, dass ein guter Bekannter, der damalige Vorsitzende des Gnadauer Verbandes, vor Ort ist, dem er sein Herz ausschütten kann. Danach fährt Andy heim zu seiner Familie.

90 Prozent Hoffnung

Die Ärztin erklärt Andy und Esther, dass Jussi unter einer Form von Leukämie leidet, die sehr gut erforscht sei und bei der Betroffene mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent wieder gesund werden. Das beruhigt die Eltern. Esther ist keine, die die Möglichkeit der schlechten zehn Prozent in den Fokus rückt. Sie sagt sich: 90 Prozent ist eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass alles wieder gut wird. Nie wollen sie und ihr Mann Andy fragen: „Warum wir?“, sondern immer: „Wie gehen wir damit um?“

An der Form von Leukämie, die bei Jussi diagnostiziert wird, erkranken in Deutschland jedes Jahr rund 500 Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren. 90 Prozent von ihnen leben nach fünf Jahren krankheitsfrei. Erkrankt ein Kind zum zweiten Mal, sinkt die Überlebensrate drastisch auf nicht einmal 40 Prozent.

Ein fast normales Leben

Die Krankheit wird mit Chemotherapie behandelt. Dabei bekommt das Kind Medikamente, die das Zellwachstum hemmen und die Krebszellen abtöten sollen. Jussis Therapie wird in drei Abschnitte eingeteilt. Er ist bei unserem Treffen kurz davor, die zweite Therapiephase abzuschließen, bei der er zu Hause wohnen und weitgehend normal leben und zur Schule gehen kann. Alle zwei Wochen steht ein Termin im Klinikum an. Danach werden seine Blutwerte regelmäßig kontrolliert, bis er 18 Jahre alt ist.

Jussi ist an diesem Winterabend besonders gut drauf, denn sein Stoffhund hat heute eine neue rote Mütze bekommen. „Dreimal darfst du raten, wie der heißt“, sagt er und hält das schwarzbraune Fellknäuel hoch. „Bello“ heißt er, aber eben nicht nur. Bello ist Akademiker: Doktor Bello bitte! Doktor Bello war von Anfang an in der Klinik dabei, ebenso wie Krankenschwester Hasi und der Papagei Bobo, Krankenwagenfahrer.

„Doktor Bello hat den Ärzten immer erklärt, was sie machen sollen“, erinnert sich Papa Andy. Einmal soll Doktor Bello draußen warten. Als Jussi aus dem Behandlungszimmer kommt, findet er Bello liebevoll auf eine Decke drapiert. Vor ihm steht ein Fressnapf mit einer echten kleinen Leberwurst in Folienverpackung, neben ihm liegt ein bisschen Hundespielzeug.

Dauerhaft auf der Kinderkrebsstation

Es sind kleine Episoden wie diese, die Müllers von der Zeit im Krankenhaus erzählen. Ein halbes Jahr lang ist Jussi nur mit kleinen Unterbrechungen dauerhaft auf der Kinderkrebsstation. „Das Personal wird zu deiner zweiten Familie“, sagt Andy. Sie hätten gute Gespräche geführt und auch viel gelacht. Natürlich habe es auch diese andere Seite gegeben, erzählt Esther, und schildert, wie sie einmal das Bild eines kleinen Mädchens auf einem Altar im Gang sieht. Oder wie ein krebskranker Junge kurz vor einer Operation erfährt, dass er möglicherweise einen zweiten Tumor hat. „In dem Fall können wir nichts mehr für ihn tun“, lassen die Ärzte die Eltern des Jungen wissen.

Auch für Esther und Andy ist die Zeit nicht nur wegen der Diagnose an sich eine Belastungsprobe: Jeden zweiten Tag wechseln sie sich ab, wer im Krankenhaus bleibt und wer sich zu Hause um Jussis Bruder kümmert. Die Nächte sind kurz, weil das Elternteil in der Klinik jede Stunde aufstehen muss, um dem Kind zu helfen, damit die Medikamentengabe reibungslos laufen kann. „Besonders am Wochenende langweilst du dich, weil nichts passiert“, sagt Andy. Er habe es gefeiert, als er den Infusionswagen dazu gebracht habe, nicht länger nervtötend zu quietschen.

Klinikclowns helfen gegen die Monotonie

Während der ersten Behandlungsphase muss die Umgebung keimfrei sein, weil das Immunsystem des kleinen Patienten komplett heruntergefahren ist. Daher sind die Spielmöglichkeiten begrenzt. „Du kannst nicht ununterbrochen vorlesen“, sagt Esther. Umso dankbarer ist sie für Abwechslungen im Klinikalltag wie den Klinikclown, das Sandmännchen, das die Kinder abends besucht, und den Erzieher, der auf der Station für alle Kinder da ist.

„Das Personal war cool“, sagt Andy. Gut informiert über das, was passiert, fühlen sich Müllers immer. Das ist wichtig, denn so sind sie auch auf das, was mit dem Kind passiert, vorbereitet: Es gibt Wochen, in denen die Medikamente für extreme Stimmungsschwankungen beim Kind sorgen. Andere Medikamente lösen Heißhungerattacken aus. Jussi verliert seine Haare.

„Die Krankheit ist eine Riesen-Scheiße“, sagt Andy, doch er und Esther suchen immer auch gute Momente. Weil Andys Mutter ebenfalls an Krebs erkrankt ist, hat auch sie keine Haare. Als Jussi seine verliert, solidarisieren sich die beiden Glatzköpfigen und die Oma setzt dem Enkel ihre Perücke auf. Andy lacht herzlich, als er sich an die Situation erinnert. Dass Esther und er sich diese positive Sicht aufs Leben erhalten können, empfinden sie als Geschenk. Dass auch Jussi ein geborener Optimist ist, hilft ungemein. Als Andys Mutter im Mai 2019 stirbt, sagt Bruder Noah: „Oma ist ja jetzt an Krebs gestorben, und Jussi hat ja auch Krebs …“ Jussi fällt ihm ins Wort: „Ja, aber ich habe doch einen ganz anderen Krebs!“

Wie ein kompletter Lockdown

Dass Jussi mit der eigenen Situation so optimistisch umgeht und dass er ein sehr unkomplizierter Patient ist, macht es auch den Eltern leichter. „Jussi hat das alles auch als Abenteuer erlebt“, meint Andy: „Er hat im Schwesternzimmer vor den Monitoren gesessen und war ganz in seinem Element, wenn er Sachen gesagt hat wie: ‚Auf der 3 ist der Puls zu hoch!‘“ Einmal sagt Jussi, der den Fußballern vom BVB die Daumen drückt, zu einer Ärztin: „Ich rede heute nicht mit dir!“ – „Wieso? Was habe ich gemacht?“ – „Du bist Bayern-Fan!“

Neben der Tatsache, dass Jussi gut kooperiert, nehmen Esther und Andy ihr christliches Umfeld als sehr hilfreich wahr. Beide haben christliche Arbeitgeber, die sie mit großer Selbstverständlichkeit unkompliziert von heute auf morgen freistellen. Ihr Hauskreis, eine Kleingruppe in ihrer Kirchengemeinde, leistet praktische Hilfe. „Gold wert“ sei das gewesen, sagt Esther. Als Jussi nach vier Wochen erstmals für ein paar Tage nach Hause darf, hat der Hauskreis das komplette Haus geputzt, damit alles möglichst keimfrei ist. „Das hätten wir unmöglich allein geschafft“, sagt Esther, zumal ja immer nur ein Elternteil zu Hause sein kann. Dass der Freundeskreis die ganze Zeit den Kontakt hält und nicht nur fürs Kind, sondern auch für die Eltern betet, schätzen Andy und Esther ungemein. „Du kannst ja nirgendwo mehr hin, es ist wie ein kompletter Lockdown für dich selbst, nur, dass draußen das Leben weitergeht“, sagt Esther.

Eine kleine Gebetserhörung

Eine Freundin aus dem Hauskreis arbeitet zufälligerweise auf der Station in der Kinderklinik, auf die Jussi kommt. Auch das hilft. Zusammen mit den Freunden, Bekannten und ihren Familien beten Andy und Esther viel. Einmal bekommt Jussi Fieber. Das ist schlecht, weil es die Therapie zurückwirft. „Ich habe gebetet, und das Fieber ging zurück“, sagt Andy. Dabei stellt er klar, dass natürlich nicht jedes Gebet erhört wird und es nicht unbedingt eine Beziehung zwischen „richtig“ oder „genug“ gebetet und dem Ausgang einer Situation gibt. „Aber das haben wir als Geschenk genommen“, sagt er.

Der hoffnungsvolle und optimistische Umgang von Müllers mit ihrer Situation bleibt nicht unbemerkt. An einem Abend kommt eine Schwester zu ihm: „Du, Andreas, du bist doch handwerklich so’n bisschen begabt. Im Nebenzimmer tropft die Dusche.“ Sie zögert. Und dann: „Das Kind hat eine Krankheit, die ihr gut kennt. Es täte denen gut, wenn ihr mal mit denen redet.“

Die Familie geht auf dem Zahnfleisch

An einem Samstag im November schwingt Jussi mit aller Kraft einen schweren Schlägel über den blanken Kopf und haut damit auf einen großen Gong. So feiern alle Patienten der Kinderkrebsstation, die die erste Therapiephase erfolgreich hinter sich gebracht haben: „Hoch die Hände, Chemoende“, steht auf einem Schild neben der runden Metallplatte.

Ein halbes Jahr später ist eine vierwöchige Familien-Reha angedacht. „Erst da haben wir gemerkt, wie sehr wir auf dem Zahnfleisch laufen“, sagt Esther. Die Diagnose selbst, die Trennungszeiten, der Schlafmangel, kein normales Familienleben: „Du kannst nicht allen gerecht werden. Ständig sitzt du zwischen den Stühlen und merkst erst später, wie sehr das alles geschlaucht hat.“ Die Familie muss die Reha, die im darauffolgenden März beginnt, nach zwei Wochen wegen Corona abbrechen. Sie soll wiederholt werden. Darauf freuen sich alle vier. Ihr größter Wunsch ist es, endlich wieder einen normalen Alltag zu führen.

An dem Abend, an dem Doktor Bello seine rote Mütze bekommt, sitzen die vier am Abendbrottisch. Jussi hampelt auf seinem Stuhl herum und stört sich gar nicht an den Ermahnungen seiner Eltern, erst zu beginnen, wenn alle sitzen, und sich nicht den ganzen Teller voller Gurkenscheiben zu laden. Er wippt hin und her, tritt heimlich unterm Tisch und verdreht die Augen dazu: ein ganz normaler Junge eben.

Stefanie Ramsperger arbeitet als freie Journalistin und Lektorin und leitet die Öffentlichkeitsarbeit des Jugendverbands „Entschieden für Christus“ (EC). Zuvor hat sie als Redaktionsleiterin und Redakteurin verschiedener Magazine gearbeitet. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Trauma nach Operation des Kindes: Hier bekommen Väter Hilfe

Mutter fragt sich nach OP verzweifelt: Wie kann ihr Mann mit der Angst um das Kind umgehen? Das rät ihr Expertin Hermine Nock.

„Wir haben nach der Geburt erfahren, dass unser Sohn einen Herzfehler hat. Er musste gleich operiert werden. Ich habe es mittlerweile ganz gut verarbeitet, aber mein Mann kommt nicht darüber hinweg. Er hat ständig Angst um unseren Sohn. Er hat das Trauma nicht aufgearbeitet und ist auch nicht der Typ, der über seine Gefühle redet. Wie kann ich ihm helfen?“

Wir hören in unserem Beratungsalltag sehr häufig, dass Mütter und Väter unterschiedlich mit „schlechten Nachrichten“ oder schwer krankem Familienzuwachs umgehen. Oft haben Mütter das Bedürfnis, darüber zu reden und Erfahrungen auszutauschen, während Väter im Internet aktiv sind oder sich in ihre Rolle als Ernährer zurückziehen. Auch sich aktiv Hilfe zu holen, scheint für Männer oft schwerer zu sein als für ihre Partnerinnen.

Männer leiden anders als Frauen

Manche leiden still, aber genauso intensiv – nur eben anders. Die Paarbeziehung gerät in den Hintergrund, die Eltern „funktionieren“ in der gemeinsamen Sorge um das herzkranke Kind. Für die Geschwister bleibt oft nicht mehr so viel Kraft und Zeit, wie diese es sich wünschen. Die sorgen sich ja auch und bräuchten viel Zuwendung und Erklärungen, warum jetzt alles so anders ist, seit das herzkranke Kind in die Familie kam. Ein Dilemma, für dessen Lösung die Familien Hilfe und Unterstützung brauchen.

Falls Sie es noch nicht getan haben, rate ich Ihnen, Hilfe über Eltern-Vereine in Anspruch zu nehmen. Bei Elterncoachings beispielsweise können Sie gemeinsam mit professionellen Coaches Ihre drängenden Fragen und Ängste besprechen und erhalten dort einen zuversichtlichen Blick in eine Zukunft mit dem oft chronisch herzkranken Kind. Und Sie lernen andere Eltern in ähnlichen Situationen kennen, mit denen Sie sich austauschen können. Coronabedingt tauschen sich Väter, Mütter und Coaches derzeit in Online-Seminaren aus, was den Vorteil hat, dass beide Eltern gleichzeitig anwesend sein können.

Angebote speziell für Väter

Die Eltern-Vereine verhelfen Ihnen auch zu einer Familienorientierten Reha (FOR). In Nachsorgekliniken können sich die belasteten Familien inklusive der Geschwister vier Wochen lang neu finden und Kraft tanken für den künftigen gemeinsamen Alltag. Dort gibt es auch Angebote speziell für Väter. Die Kosten trägt entweder die Renten- oder die Krankenversicherung.

Es gibt auch „Väter-Wochenenden“, die speziell die Bedürfnisse von Vätern ansprechen. In einem geschützten Raum können sie sich fallenlassen, sich jemandem anvertrauen und sich mit anderen Betroffenen austauschen. Hier können sie neue Methoden für den Umgang mit Rückschlägen erlernen und Kraft tanken.

Hermine Nock ist Geschäftsführerin beim Bundesverband Herzkranke Kinder e. V. 

Webtipps:

bvhk.de
kohki.de
herzkind.de
kindernetzwerk.de
evhk.ch
herznetz.ch

Facebookgruppe: „Eltern und Familien herzkranker Kinder“

Mit Kindern streiten: Auf diese fünf Punkte kommt es an

Gerade Konflikte mit den eigenen Kindern fordern Eltern stark. Um sie gut zu meistern, braucht es laut dem Therapeuten Daniel Gulden vor allem eines: Da sein.

Kennen Sie …

  • … lautstarken Zoff mit dem 14-Jährigen, der stundenlang vor dem PC sitzt und mit Freunden zockt? Und jede Ihrer Reaktionen sorgt für schlechte Stimmung?
  • … endlose Diskussionen mit der 13-Jährigen, die nicht einsehen will, dass sie um 22 Uhr zu Hause sein muss?
  • … Diskussionen mit dem 8-Jährigen, der sich konsequent weigert, seine Hausaufgaben zu machen?
  • … gegenseitige Vorhaltungen und Vorwürfe der Eltern, weil man sich nicht einigen kann, was für die 3-Jährige in Sachen Essen richtig, wichtig und angemessen ist?

Erziehung gleicht einem Marathon. Oft machen sich Ohnmacht, Wut oder Resignation breit. Gute Vorsätze von liebevoller, verständnisvoller und partnerschaftlicher Erziehung sind wie weggeschmolzen. Wie kann Erziehung heute gelingen?

Die Psychologen Haim Omer und Arist von Schlippe beschreiben dies in ihrem Konzept der „Neuen Autorität“. Die Grundprämisse lautet: „Ich kann dich nicht zwingen, aber ich bleibe beharrlich.“ Ihr Ziel ist es, Eltern in unterschiedlichen Situationen zu unterstützen, „präsent“ zu bleiben oder die in Schieflage geratene Beziehung wiederherzustellen und zu entwickeln. Und zwar so, dass Eltern weder die eigene Position aufgeben noch mit Drohungen oder Strafen die Beziehung zu ihrem Kind gefährden. Dabei steht der Begriff der „Präsenz“ im Mittelpunkt. Präsenz beschreibt das äußere und innere Reagieren der Eltern auf das Verhalten des Kindes.
Präsenz ist die Folge innerer Haltungen, die Omer und von Schlippe so beschreiben:

  • Ich bin da! Ich bin an dir interessiert! Ich lasse mich nicht abschütteln! Ich möchte mit dir im Kontakt bleiben.
  • Ich bleibe da – auch wenn es (gerade) schwierig ist.
  • Ich kämpfe nicht gegen dich, sondern setze mich für eine wohlwollende Beziehung zu dir ein.
  • Ich kann dich nicht kontrollieren, aber ich kann und werde beharrlich bleiben.
  • Ich bleibe nicht allein.

So zeigt sich Präsenz

Aus diesen Haltungsaspekten, die in Präsenz sichtbar werden, haben Martin Lemme und Bruno Körner sechs Dimensionen formuliert, die den Begriff der Präsenz näher erläutern. Bevor Sie weiterlesen: Erinnern Sie sich an eine sich wiederholende oder einmalige schwierige Erziehungssituation. Eine Situation, in der Sie nicht so handeln konnten, wie Sie wollten. Oder in der Sie mit Ihrem Handeln oder dem Ergebnis unzufrieden waren. Ich lade Sie ein, sich diese konkrete Situation bei den folgenden Punkten jeweils vor Augen zu führen, um sie durch die Brille Ihrer Präsenz zu betrachten. Folgende Dimensionen sind dabei wesentlich:

1. Ich bin da und bleibe da.

Erinnern Sie sich: Wo genau waren Sie in diesem Konflikt? Welche Körperhaltung hatten Sie? Hat sich Ihre Körperhaltung verändert? Wie hoch war die Geschwindigkeit des Konfliktes – im Reden und Handeln? Waren Sie vielleicht abgelenkt und mit etwas anderem beschäftigt oder waren Sie ganz da?

Körperliche Präsenz beschreibt die Qualität und die Quantität der körperlichen Anwesenheit der Eltern. Dies ist geprägt durch drei Aspekte: (1) Körperliches Wohlbefinden – Eltern spüren ihre Kraft, fühlen sich wohl und stabil. (2) Geistige Klarheit – Eltern sind nicht abgelenkt. (3) Bereitschaft, sichtbar zu werden – Eltern suchen den Kontakt mit dem Kind.
Oft vermeiden Eltern aus Angst vor Konflikten kritische Situationen. Dies jedoch intensiviert die schwierige Situation. Um Körperpräsenz zu halten, ist es wichtig, gerade in kritischen Situationen einen wohlwollenden und beziehungsfördernden Kontakt zum Kind zu suchen. Dadurch zeigen Eltern: „Ich bin da – und bleibe da.“ Gleichzeitig sollte das elterliche Auftreten geprägt sein durch Zuwendung, Unterstützung und Beziehung.

Fragen zur Reflexion:

  • In welchen Momenten erlebe ich meine Energie wie und wo im Körper?
  • Bin ich in der Lage, mich ganz auf mein Kind zu konzentrieren – ohne Ablenkung?
  • Bin ich in kritischen Situationen für mein Kind sicht- und erlebbar?
  • Welche Botschaften sende ich durch meine Stimme, Körperhaltung und Mimik?

2. Ich kann handeln.

Erinnern Sie sich: Hatten Sie das Gefühl, wirksam und erfolgreich handeln zu können? Konnten Sie gegebenenfalls auf alternative Handlungsweisen (Plan B oder C) zurückgreifen?

Handlungspräsenz oder pragmatische Präsenz beschreibt die Fähigkeit der Eltern, in kritischen Momenten handlungsfähig zu bleiben und/oder verschiedene Handlungsweisen parat zu haben. Hilfreich ist es, wenn Eltern ihr Handeln unabhängig vom Verhalten des Kindes gestalten können. In manchen Situationen wissen Eltern oft nicht, wie sie konkret wirksam handeln können, oder sie haben nur eine Lösung parat, die jedoch vom Handeln des Kindes abhängt. Dadurch entstehen entweder überhitzte Konflikte, die mit Zwang und Drohung einhergehen, oder Resignation: Eltern schmeißen die Flinte ins Korn.

Eltern können ihre Handlungspräsenz stärken, wenn sie auf wiederkehrende kritische Momente einen Wenn-Dann-Plan für das eigene Verhalten erstellen. So ein Wenn-Dann-Plan könnte lauten: „Wenn ich mich durch das Verhalten des Kindes unter Druck fühle, achte ich auf meinen Atem und verringere mein Sprechtempo.“ Sollten Eltern von einem Verhalten überrascht werden, können sie sich vornehmen, nicht sofort und endgültig zu entscheiden, sondern ihre Reaktion aufzuschieben und zu vertagen.

Fragen zur Reflexion:

  • Wann erlebe ich eine hohe Handlungspräsenz? Wann eine niedrige?
  • Fühle ich mich in meinem Handeln sicher und wirksam? Verfüge ich über verschiedene Handlungsmöglichkeiten?

3. Ich habe meine Emotionen im Blick.

Erinnern Sie sich: Wie emotional haben Sie sich in der Situation erlebt? Konnten Sie Ihre Gefühle in dem Moment wahrnehmen und regulieren? Konnten Sie sich von den Gefühlen Ihres Kindes distanzieren?

Emotionale Präsenz beschreibt die Fähigkeit der Eltern, rechtzeitig aus Konflikten auszusteigen und die eigenen Gefühle und Reaktionen zu regulieren. Eltern handeln unabhängig von aufwallenden Gefühlen. Das heißt nicht, dass sie keine Emotionen mehr zeigen dürfen, sondern dass sie aus Emotionsspiralen aussteigen können. Folgende Schritte können hilfreich sein, um die emotionale Präsenz wiederherzustellen:

  • Aussteigen: Sollten in einem Konflikt „wunde Punkte“ angerührt werden und die Gefühle „hochkochen“, ist es hilfreich, sich und dem Gegenüber eine Pause zu gönnen. Dabei hilft es, durchzuatmen oder ein Thema bewusst aufzuschieben: „Ich höre, was du sagst. Ich bin damit nicht einverstanden. Ich mache mir Gedanken und komme darauf zurück.
  • Beruhigen: Eltern lernen Strategien, wie sie sich beruhigen können. Folgendes könnte dabei helfen: langsames (Aus-)Atmen, ein Spaziergang, Kontakt zu vertrauenswürdigen Menschen.
  • Darauf zurückkommen: In einem günstigen Augenblick sollten Eltern das Gespräch mit ihren Kindern wieder aufnehmen, um die Situation zu klären. Möglicherweise müssen sich Eltern auch bei ihrem Kind entschuldigen.

Fragen zur Reflexion:

  • Wie gelingt es mir, meine Emotionen rechtzeitig wahrzunehmen?
  • Inwieweit gelingt es mir, „heiße“ Situationen zu vertagen und auf günstigere Momente zu verschieben?
  • Was genau führt mich zum Verlust meiner Selbstkontrolle? Sind es immer wieder ähnliche Situationen?
  • Welche Möglichkeiten habe ich, mich selbst zu beruhigen? Was hilft mir dabei?

4. Ich handle, wie ich es will.

Erinnern Sie sich: Haben Sie in dieser Situation so gehandelt, wie Sie es wollten? Waren Sie im Nachhinein von Ihrem Handeln überzeugt? Wenn Ihnen ein Fehler unterläuft, wie gehen Sie dann mit sich um?

Überzeugungs-Präsenz meint das konkrete Verhalten der Eltern, das mit ihren Werten, Vorsätzen und Grundüberzeugungen übereinstimmt. Im Eifer des Alltags erleben Eltern immer wieder, dass das Handeln von den eigenen Werten und Vorsätzen abweicht. Dies führt dazu, dass sie sich selbst oder einander verurteilen und abwerten. Ihre Präsenz wird dadurch geschwächt. Eltern, die klare Grundüberzeugungen haben und wissen, wie sie diese im Alltag umsetzen können, erleben sich wirkungsvoll und zeigen Stärke. Zur Stärkung der Überzeugungs-Präsenz ist es hilfreich, sich seiner inneren Überzeugungen bewusst zu werden und diese positiv zu formulieren.

Fragen zur Reflexion:

  • Bin ich mit dem, was ich bisher tue oder getan habe, einverstanden? Oder stelle ich mein eigenes Handeln in Frage?
  • Ist das, was ich in kritischen Situationen tue, auch das, was ich tun will?
  • Inwieweit kann ich den Haltungen von Omer/von Schlippe (s.o.) zustimmen? Welche Haltung fällt mir leicht, welche schwer?

5. Ich bleibe nicht allein.

Erinnern Sie sich: Hatten Sie das Gefühl, auf ein unterstützendes Netzwerk zurückgreifen zu können, oder fühlten Sie sich allein? Wissen Sie, an wen Sie sich wenden können, wenn eine Situation brenzlig wird?

Unter systemischer Präsenz oder Wir-Präsenz versteht man das gegenseitig stärkende und unterstützende Handeln verschiedener Erziehungspartner: (getrennt lebende) Eltern, Tanten, Großeltern, Erzieherinnen, Lehrer … Alle Beteiligten bilden ein Bündnis für das Kind und gestalten eine positive Beziehung zum Kind.

Eltern erleben sich präsent, wenn sie durch ein gutes Netzwerk Unterstützung finden. Ein Netzwerk von Unterstützern funktioniert nur dann, wenn Offenheit, Wertschätzung und Echtheit das Miteinander prägen.

Fragen zur Reflexion:

  • Welche Menschen unterstützen mich in kritischen Situationen?
  • Wen könnte ich um Unterstützung bitten? Wie und wann gestalte ich die Kontaktaufnahme in der kritischen Situation?

6. Ich habe eine gute Absicht.

Erinnern Sie sich: Was war die Absicht Ihres Handelns? Ging es Ihnen um die Beziehung zum Kind oder darum, dass Sie sich durchsetzen? Wem hat Ihr Handeln gedient? Hatten Sie in der Situation die Entwicklung des Kindes im Blick?

Mit Absichtspräsenz beschreibt man den Fokus oder die Absicht des konkreten Handelns. Die Ausgangsfrage lautet: Welches Ziel verfolge ich durch mein Tun, und woran wird mein Kind dieses erkennen? Das oberste Ziel des Handelns ist die Herstellung einer stabilen und vertrauensvollen Beziehung. In schwierigen Situationen ist es herausfordernd, die Absicht des eigenen Handelns klar im Auge zu behalten.

So kann die Absichtspräsenz gestärkt werden:

  • Eltern erleben sich stärker, wenn sie eine „gute“ Absicht haben, die eine positive Beziehung im Blick hat. Eine destruktive Absicht führt durch Fremd- oder Selbstvorwürfe zumeist zu einer inneren Schwäche. Deshalb stärkt es die Absichtspräsenz, wenn Eltern dem Kind positive Beziehungsangebote machen und die Bereitschaft signalisieren, ihm zuzuhören. Sollte der Kontakt abgebrochen sein, ist die erste Frage: Wie komme ich mit meinem Kind neu in Kontakt?
  • Fehler sind unvermeidlich. Es zeugt von Stärke, wenn Eltern für ihr Fehlverhalten um Entschuldigung bitten können.

Fragen zur Reflexion:

  • Wem dient mein Handeln?
  • Welche Absicht verfolge ich in schwierigen Erziehungssituationen? Geht es um „Sieg und Niederlage“ oder um eine positive Beziehung zu meinem Kind?
  • An welchen Gesten oder Handlungen erlebt mein Kind diese Absicht?
  • Woran kann mein Kind erkennen, dass es mir am Herzen liegt und dass ich Interesse an ihm habe?

Daniel Gulden ist Systemischer Therapeut, Supervisor und Coach für (Neue) Systemische Autorität. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Kaisersbach: beziehungs-weise.biz