Happy End: So wurde Eremias aus Eritrea ein Teil von Alexanders Familie

Der Geflüchtete Eremias ist mittlerweile ein Dauergast bei Alexander. Jetzt erzählen beide, was ihre Freundschaft ausmacht.

Teil 1: Der familienlose Vater Eremias (35)

Vor zwei Jahren kam ich aus Eritrea nach Deutschland. Meine Frau und unsere zwei Söhne sind noch in Afrika. Ich vermisse sie sehr. Ich hoffe, dass sie bald alle Papiere bekommen, um nachzureisen. Bis dahin versuche ich, Geld zu verdienen, eine Wohnung zu finden und Deutsch zu lernen. Gott sei Dank habe ich Freunde gefunden, die mir helfen. Alexander ist einer von ihnen. Er übt mit mir Deutsch. Gemeinsam füllen wir Anträge aus, er begleitet mich zum Amt oder zu einem Vorstellungsgespräch. Es ist sehr anstrengend für mich, denn alles ist fremd und ungewohnt.

Im Flüchtlingsheim wohne ich mit vier Männern in einem kleinen Zimmer. An der Wand neben meinem Bett hängen die Fotos meiner Frau und unserer beiden Söhne. Mein Jüngster war ein Baby, als ich ihn zuletzt sah. Jetzt kann er laufen und sprechen. Manchmal telefonieren wir und dann höre ich meine Kinder plappern.

Gemeinsam deutsch lernen

Ich war sehr glücklich, als mich Alexander in seine Familie einlud. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder im Schulalter. Wir gingen gemeinsam in den Gottesdienst und aßen zusammen Mittag. Je besser wir uns kennenlernen, umso häufiger bin ich bei ihnen. Ich versuche, keine Mühe zu machen und will die Familienroutine nicht stören. Anfangs lehnten sie meine Hilfe ab, aber es ist kein gutes Gefühl, wenn ich meine Dankbarkeit nicht ausdrücken kann. Nun mähe ich den Rasen oder helfe in der Küche mit. Wenn die Kinder am Küchentisch Hausaufgaben machen, übe ich auch. Ich lese und schreibe in Deutsch. Die Kinder lachen, wenn ich etwas falsch ausspreche. Dann verbessern sie mich. Ich versuche, ihre Bücher zu lesen. Manche sind sehr lustig. Alexanders Frau sagt immer: „Wenn man Humor versteht, versteht man sehr viel.“

„Ich war das erste Mal in einem Kino“

Seit ich Alexanders Familie besuche, bin ich fröhlicher. Ich darf bei ihnen duschen und kann mir dabei Zeit lassen. Ich habe eine gute Internetverbindung, um mit meiner Familie in Afrika zu chatten. Bei schlechtem Wetter verbringe ich die Zeit auf ihrem Sofa. Es ist so gemütlich bei ihnen. Sie geben mir ein Gefühl von Heimat Alexander und seine Familie nehmen mich mit auf Ausflüge, zu Festen oder auf den Spielplatz. Ich freue mich schon darauf, meinen Kindern den See, den Wald oder die Stadt zu zeigen. Mit Alexander war ich das erste Mal in einem Kino. Ich habe nicht alles verstanden, aber die Bilder und die Stimmung waren großartig. Ich aß Popcorn aus einem Eimer.

Alexander schenkte mir sein altes Fahrrad. Wir haben es gemeinsam repariert. Ich bin ziemlich schlecht gefahren. Wir übten auf einem Weg und die Kinder flitzten mit ihren kleinen Rädern neben mir her. Wenn ich die Hoffnung verliere, bald mit meiner Familie vereint zu sein, macht mir Alexander Mut.

Teil 2: Der Familienvater Alexander (46)

Immer wieder kommen Flüchtlinge in unseren Ort. Es werden immer Helfer gesucht, und ich will gern helfen. Eremias lernte ich im Deutschkurs kennen. Er ist ein junger Familienvater. Ich stellte mir vor, wie schrecklich es sein muss, die eigene Familie nicht beschützen und versorgen zu können. Ich unterstütze Eremias, damit er möglichst schnell selbstständig wird. Die vielen Anträge und Behördengänge sind mühsam, aber jedes Dokument bringt uns ein Stück vorwärts. Er hat Aussicht auf eine Arbeitsstelle als Küchenhilfe in einem Hotel. Der Arbeitgeber würde ihm eine Dienstwohnung zur Verfügung stellen. Das wäre ein großer Fortschritt.

Als ich sah, wie Eremias in der Flüchtlingsunterkunft lebt, lud ich ihn zu uns ein. Anfangs behandelten wir ihn wie einen Gast. Er sollte sich einfach nur wohlfühlen. Aber wir merkten, dass er helfen will. Er will kein Gast sein, er möchte eher ein Hausfreund sein. Er ist sehr hilfsbereit. Also packt er im Garten mit an. Beim Rasenmähen erwischt er manchmal die Pflanzen meiner Frau. Jetzt stellt sie bunte Plastikhütchen hin, damit er weiß, was stehen bleiben soll. Wir lernen, die Dinge nicht zu eng zu sehen. Wenn etwas kaputtgeht oder misslingt, dann ist es so. Wir kauften für ihn Wäsche, aber er bestand darauf, sie selbst zu bezahlen. Ich muss lernen, ihn nicht zu betüddeln oder zu bedrängen.

„Immer wieder schreibt er RIP unter die Bilder“

Manchmal mache ich mir Sorgen, dass ihn unser Familienleben erst recht traurig macht. Als meine Schwiegereltern zu Besuch waren, suchte er den Kontakt zu meiner Schwiegermutter. Seine Großfamilie fehlt ihm und es scheint ihn zu trösten, dass er bei uns Anschluss hat.

Meine Söhne spielen gern mit Nerfs, diesen Spielzeugwaffen, die Schaumstoffpfeile abschießen. Durch Eremias verstehen sie, wie schrecklich Krieg und Flucht sind. Jetzt sind sie in einem Alter, in dem Shooter Games interessant werden. Sie sind sensibler geworden und lehnen die Spiele ab, die zu realistisch sind. Eremias zeigt uns die neuesten Fotos seiner Familie, spielt eritreische Musik vor oder wir suchen auf Google Earth sein Heimathaus. Er versucht, uns mit in seine Welt zu nehmen. Aber er erzählt nur wenig von seiner Flucht und was er in den unterschiedlichen Camps erlebt hat. Als katholischer Christ wurde er von Andersgläubigen schikaniert. Seine Art, den Glauben zu leben, hat mich sehr berührt. Auf Facebook teilt er immer wieder Traueranzeigen von Freunden aus seiner Heimat. RIP. Immer wieder schreibt er RIP unter die Bilder. Eremias lebt mit so viel Zerbruch, dass mir meine Probleme ganz klein erscheinen. Wir beten mit ihm. Meine Kinder spüren auch die Traurigkeit in ihm.

„Die Freundschaft macht uns bescheidener“

Eremias lädt uns auch zu sich ein. Dann hocken wir in dem kleinen Zimmer zwischen den anderen Männern. Er hat für uns gekocht und ist stolz, uns zu bewirten. Das Essen sieht seltsam aus. Ich kann die Zutaten nicht erkennen, aber es schmeckt erstaunlich gut. Mein ältester Sohn liebt die scharfen Speisen. Den Kindern gefällt es, dass sie mit den Händen essen dürfen. Sie stippen Fladenbrot in Soßen und dicke Suppen. Wenn mir das Essen zu scharf ist und ich einen roten Kopf bekomme, lachen die Männer.

Es ist schön, mit Eremias etwas zu unternehmen, das er nicht kennt. Wir sind mit ihm in die Berge gefahren, gingen ins Konzert und besuchten ein Schwimmbad mit Sprungturm. Dadurch entdecken auch wir immer etwas Neues. Nichts ist selbstverständlich. Es macht uns bescheidener. Die Freundschaft zu Eremias hat mir gezeigt, wie kostbar Familie ist. Die besten Träume und Wünsche nützen nichts, wenn man nicht in Frieden leben darf.

Protokoll: Susanne Ospelkaus

Langjährige Beziehung: Drei Tipps helfen, wenn im Bett die Luft raus ist

Je länger man verheiratet ist, umso unwichtiger wird Sex? Das ist kein Muss, sagt Sexualtherapeutin Cordula Kehlenbach.

Die Aussicht auf ein dauerhaft aufregendes Sexleben ist verlockend. Es soll vor allem lebendig sein, es soll sich etwas regen in Körper und Herz, die Beziehung soll in Bewegung bleiben. Mit Nervenkitzel, bitteschön. Wir haben glücklicherweise eine Ahnung, wie es sein könnte. Der Weg dorthin führt aber nicht über optimierte Techniken, Dessous oder Schönheitsoperationen. Sondern über …

1. Einzigartigkeit

Wir können heute viel lesen und hören über scheinbare Normalität in Sachen Sexualität. Dauernd Lust auf Sex zu spüren, fünf Stellungswechsel bei einer sexuellen Begegnung zu absolvieren (wozu eigentlich?) oder Spaß an Fesselspielen zu haben. Das Bild ist stark geprägt vom Internet mit seinen Fake News. Und macht vielen Menschen Stress. Aus „So kann man das machen“ ist ein „So muss man das machen“ geworden. Vor allem Männer stehen in der Gefahr, die Norm erfüllen zu wollen oder sogar einen Leistungssport aus dem Liebesspiel zu machen. Aus Spiel wird dann eine ernste, schlimmstenfalls abtörnende Sache. Welche Angst treibt einen in solchen Momenten? Den anderen zu enttäuschen? Vor der imaginären Konkurrenz schlecht dazustehen? Verlassen zu werden?

In Wirklichkeit sind andere Dinge „normal“: Dass man beim Sex auch abgelenkt ist, dass manchmal etwas wehtut, dass Erregung nachlässt, dass Highlights die Ausnahme sind.
Wahr ist auch, dass jeder einmalig ist mit seinen Vorlieben, Bedürfnissen und Ideen. Und dass jedes Paar einzigartig und wunderbar ist in seiner Kombination. Das ist spannend – und aufregend. Da steckt Potenz(ial) drin. Vergesst die Norm. „Die anderen“ sind nicht hilfreich. Findet heraus, was euch gefällt, was ihr wollt und genießen könnt. Es wird nicht mit einem Fingerschnippen die große Erkenntnis kommen. Sondern man kann – wenn auch etwas aufgeregt – zulassen, sich bei jeder Begegnung ein Stückchen besser zu verstehen und zu akzeptieren.

2. Forschergeist und Mut

Ins Reich der Märchen gehört, dass ein guter Liebhaber der Geliebten alle Wünsche erfüllt – und vor allem die unausgesprochenen. Tatsache ist, dass man doch gar nicht wissen kann, was für den anderen gerade jetzt angenehm ist. Es sei denn, man beherrscht das Gedankenlesen. Möchte mein Partner heute erst geküsst werden oder zart gestreichelt? Erst an den Armen oder lieber gleich an der Brust? Je mehr man es richtig machen möchte, um so verkrampfter wird es. Ja, wir haben Erfahrungen und können empathisch sein. Dennoch gibt es reichlich Spielraum für Fehlinterpretationen. Bedeutet das Schweigen jetzt Genuss oder Langeweile? Manche Missverständnisse werden jahrelang nicht aufgeklärt. Dabei liegt der Experte für die Lust des Partners doch direkt neben einem. Sie könnte mich entlasten, indem sie mich wissen lässt, was jetzt guttut. Mit Worten oder indem sie zum Beispiel meine Hand nimmt und sie an die richtige Stelle legt.

Reden erscheint unerotisch? Da erscheint mir den Mund zu halten, Unangenehmes zu ertragen und viel Unsicherheit aber wesentlich unerotischer. Vor allem bringt es keine Erregung in die Sexualität, sondern Erstarrung.

Den anderen neugierig zu erforschen oder sich immer wieder erforschen zu lassen, braucht Mut. Ich weiß nicht, ob der Partner mir diesen Wunsch auch erfüllen möchte. Oder ist sie geschockt, empfindet er das als unangenehm oder lehnt es ab? Nichts zu brauchen oder zu sagen ist da viel ungefährlicher. Aber führt nicht zum besagten „aufregenden“ Sex.

3. Improvisation

Aufregende Lebendigkeit in der Sexualität kann sich nur entwickeln, wenn man nicht nach einem festen Plan Liebe macht, sondern improvisiert. Also nicht einem angeblich vorgegebenen Plan zu folgen (Küssen, Fummeln, Ausziehen…), sondern sich gemeinsam treiben zu lassen und das Schöne auszukosten. Vielleicht beginnt es einmal mit einer Hand- oder Augenmassage. Sich treiben und fallen lassen kann nur, wer vertraut, dass es schön wird und dass er jederzeit auch abbrechen kann. Dieses Kontrollbedürfnis ist hier sinnvoll. Denn nur wer eingreifen kann, wenn etwas schiefläuft, kann sich genießend dem hingeben, was schön ist.

Damit kann man den anderen natürlich enttäuschen. Aber wenn er sich getäuscht hat (dass eine Berührung oder Stellung angenehm sei), ist es doch nur liebevoll, ihn – freundlich – darauf hinzuweisen. Diese positive Art von Kontrolle kann man auch als notwendige Eigenverantwortung bezeichnen. Hinderliche Kontrolle ist dort nötig, wo man sich nicht traut, seine Bedürfnisse klar zu äußern. Oder wo man sich nicht drauf verlassen kann, dass der Partner die gewünschten Grenzen respektiert. Das kann an beiden Seiten liegen. Eines ist klar: Lust kann nur aus Sicherheit entstehen.

Improvisation schließt nicht aus, dass man sich dafür im Bett verabredet, dass man den Zeitraum für möglichen Sex plant. Die Lust muss nicht am Anfang stehen! Freude auf eine Zeit mit entspannter, liebevoller Körperlichkeit (mit Open End!) reicht aus und ist außerdem verlockender als ein Pflichtprogramm. Wie bei musikalischen Improvisationen ist es auch wichtig, dass jeder sein Instrument, also seinen Körper kennt und auf ihm spielen kann. Nicht perfekt, aber gut genug für das Zusammenspiel. So kann aufregende Musik entstehen.

Je mehr Mut, Ehrlichkeit und Vertrauen in euch beiden über die Jahre wachsen – nicht nur im Liebesleben –, umso mehr wird sexuelle Kreativität Raum bekommen. Fühlt euch frei von der Norm. Bleibt Forschende. Und macht, was ihr wollt! So kann euer Sexleben aufregend bleiben.

Dr. med. Cordula Kehlenbach ist Sexualtherapeutin in eigener Praxis in Krefeld. Einige Gedanken hat die Autorin dem Buch „Guter Sex geht anders“ von Berit Brockhausen entnommen.

Eltern fragen sich: „Sollen wir für die Wohnung unseres Sohnes bürgen?“

Eine Bürgschaft ist schnell abgeschlossen, kann aber weitereichende Folgen haben. Ein Rechtsanwalt gibt Tipps für Eltern.

„Unser Sohn hat uns gefragt, ob wir für seine neue Wohnung eine Bürgschaft übernehmen würden. Da unsere finanziellen Möglichkeiten begrenzt sind, fällt es uns schwer, ihm das zuzusagen. Was würde denn im schlimmsten Fall auf uns zukommen?“

Zunächst ist die Frage zu stellen: Geht es um die Miete oder den Kauf der Wohnung? Dann: Ist die Bürgschaft auf einen gewissen Teil beschränkt oder auf alles? Verfügen Sie über ein gewisses Vermögen? Besitzen Sie etwa ein belastungsfreies Haus, mehrere tausend Euro Rücklagen oder „nur“ eine kleine Rente und leben Sie zur Miete?

Was ist eine Bürgschaft?

In einem Bürgschaftsvertrag verspricht man als Bürge, dass man, falls die Person, für die man bürgt, eine Verbindlichkeit nicht zahlen kann, diese gegenüber dem Gläubiger ausgleichen wird. Dies ist üblich bei Kredit-, aber auch bei Mietverträgen – wie im Beispiel Ihres Sohnes. Der Umfang und das Risiko einer Bürgschaft ist vom Vertrag abhängig.
Bei Mietverträgen haftet man für alle Forderungen aus dem Mietvertrag, bei Darlehensverträgen für das gesamte Darlehen, wenn es schiefgehen sollte. Es gibt sogenannte Höchstbetragsbürgschaften. Dort kann man den Betrag, für den man im Zweifel haftet, festschreiben.

Die Höhe der Bürgschaft festschreiben

Wenn Sie also für einen Mietvertrag bürgen wollen, sollten Sie im Vorhinein die Höhe der Bürgschaft festschreiben. Ansonsten könnte es Ihnen passieren, dass der Sohn auszieht, seine Freundin aber nicht, und der Mietvertrag einfach weiterläuft. Dann könnte nach mehreren Jahren der Vermieter auf Sie zukommen und die offenstehenden Mietbeträge von Ihnen fordern. Dasselbe gilt auch für Kreditverträge. Wenn man unbeschränkt bürgt, kann tatsächlich das gesamte angesparte Vermögen verloren sein.

Wenn kein Vermögen da ist und man unterhalb der Pfändungsfreigrenze Einkommen hat, kann man auch unbeschränkt bürgen. Man bürgt zwar, kann aber zwangsweise nicht zur Zahlung geführt werden. Für jeden, der Einkommen, also laufende Einnahmen hat, hat der Gesetzgeber einen Mindestbetrag an pfändungsfreiem Einkommen festgeschrieben. In normalen Haushalten wird man nichts Pfändbares finden.

Reden Sie mit ihrem Kind!

Die Bürgschaft hat aber oft auch eine emotionale Seite, die ein Problem sein könnte. Erwartet Ihr Sohn, dass Sie als seine Eltern für ihn bürgen? Diesen Druck sollte man unbedingt aus der Situation herausnehmen. Vielleicht ist die Frage nach der Bürgschaft auch eine Möglichkeit, über die Fragen des finanziellen Ergehens Ihres Sohnes zu sprechen? Oft fehlt nämlich, insbesondere bei Mietverträgen, die sogenannte Bonität. Das ist oft ein Zeichen, dass irgendwelche Verträge schon geplatzt sind. Das Problem sollte man grundständig angehen und darüber sprechen. Aber auch dort: Bitte keinen Druck aufbauen, zuhören und Lösungsalternativen finden.

Wenn eine Wohnung eigentlich nicht finanzierbar ist (mehr als 30-50 Prozent des Einkommens dadurch gebunden werden), ist die Inanspruchnahme vorprogrammiert. Die Weisheit „Über Schulden spricht man nicht“ ist auch im verwandtschaftlichen Rahmen nicht sinnvoll. Schweigen ist dann nicht Gold.

Steffen Bundrück ist Rechtsanwalt in Bochum und vertritt als Fachanwalt für Insolvenzrecht hauptsächlich Menschen, die Verbindlichkeiten haben.

Helikoptermutter? Erst bei ihrem zweiten Kind kann Anna entspannen

Anna Koppri liest ihrem ersten Sohn jeden Wunsch von den Lippen ab. Erst beim zweiten Kind merkt sie: Das kann ein Fehler sein.

Antonin, mein jahrelang ersehntes Wunschkind – endlich ist er da. Natürlich möchte ich alles richtig machen. Deshalb habe ich mich in der Schwangerschaft ausführlich mit dem Mutterwerden und bedürfnisorientierter Begleitung (das Wort Erziehung mochte ich noch nie) befasst. Ich beherzige den Rat meiner Hebamme: Messe täglich sechsmal seine Temperatur, notiere mir die Stillminuten an jeder Brust, Farbe und Konsistenz seiner Ausscheidungen. Beim Wickeln habe ich stets eine Hand auf dem Kind, damit es nicht vom Tisch purzelt.

Immer an der Seite des Kindes

Schon bald liegt er jeden Abend pünktlich um 19 Uhr in seinem Bettchen, um die „richtige Zeit zum Einschlafen“ zu verinnerlichen. Niemals würde ich ihn allein in einem Raum lassen, es sei denn er schläft gerade und das Babyfon ist eingeschaltet. Wenn mein Baby meckert, bin ich sofort zur Stelle, nehme es hoch, schuckle, biete Brust oder Schnuller an – schließlich möchte ich, dass er eine sichere Bindung zu mir bekommt. Einige meiner Rezeptoren sind stets mit meinem Baby verbunden, und so fällt es mir in den ersten Monaten sehr schwer, abzuschalten. Wandle ich durch die Wohnung, um etwas zu erledigen, wird das mit ziemlicher Sicherheit durch ein Bedürfnis des Kindes unterbrochen.

Glanzfolie und Glöckchen zur Beschäftigung

Sobald er etwas wacher ist, bemühe ich mich, meinen Sohn bestmöglich zu beschäftigen. Der Spielebogen steht eigentlich ununterbrochen über dem kleinen Geschöpf, das so neugierig alles aufsaugt, das man ihm bietet. Bald reichen ihm die drei Figuren, die da baumeln, nicht mehr aus. So hänge ich auf Anraten der Hebamme ständig neues Spielzeug über ihm auf: knisternde Glanzfolie, Glöckchen … Meinen Tagesablauf gestalte ich nach den Schlaf-, Wach- und Essenszeiten meines Babys. Gegen 17:30 Uhr weint er viel, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten, weshalb ich um diese Zeit stets mit ihm zu Hause bin. Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Ich dachte, ich könnte ihn überall hin mitnehmen.

Fast eine Helikoptermutter

Naja, ich bin in Elternzeit, und die ist schließlich dazu da, meine ganze Energie in das neue Leben zu stecken. Klar mache ich auch Dinge, die mir Spaß machen. Zum Beispiel verbringe ich fast den ganzen Sommer mit ihm am See. Meine Freunde würden wohl nicht auf die Idee kommen, ausgerechnet mich als Helikoptermutter zu beschreiben. Doch dieses Kind ist mein absoluter Fokus. Ich achte darauf, dass er in seinem ersten Jahr möglichst kein Körnchen Salz zu sich nimmt und auch kein Sonnenstrahl ihn direkt trifft. Sein Vater und ich, beide sehr freiheitsliebende Individualisten, bekommen eine ganze neue Verbindung durch den gemeinsamen Fokus auf unser Kind.

Das zweite Kind ändert alles

Drei Jahre später ist Antonins kleiner Bruder Benjamin da. Dieses Ereignis erleben wir wesentlich unaufgeregter als die Ankunft des Ersten. Wir sind zwar genauso verliebt in das kleine Wesen, doch beschäftige ich mich wesentlich weniger damit, was ich nun alles richtig oder falsch machen könnte. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich um mein erstes Baby gekreist bin. Ständig habe ich mir Gedanken gemacht, ob ihm zu kalt, zu warm oder etwa langweilig sein könnte. Ständig hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, ein Bedürfnis zu übersehen oder ihm nicht gerecht zu werden. Ständig waren alle Augen und Erwartungen auf ihn gerichtet.

„Lass ihn ruhig meckern“

Mit meiner neuen Hebamme, die ich als tiefenentspannt und sehr ganzheitlich erlebe, lerne ich einiges, was ich gern schon bei Antonin gewusst hätte. Wir stehen am Wickeltisch, auf dem das neugeborene Menschlein liegt. Als Benjamin anfängt zu meckern, stecke ich routiniert meinen kleinen Finger in seinen Mund, um ihn zu beruhigen. „Lass ihn ruhig ein bisschen meckern. Das darf er, er möchte sich auch mitteilen. Wenn er immer sofort etwas in den Mund bekommt, erhält er die Botschaft, dass das unerwünscht ist,“ erklärt Susanne. Okay, so habe ich das noch gar nicht gesehen.

Das Kind braucht Zeit alleine

Weil Benja so ein ausgeglichener Knirps ist, lasse ich ihn manchmal allein im Wohnzimmer liegen – sofern der große Bruder gerade keine Gefahr für ihn darstellt. Der probiert gern mal aus, ob er ihn schon tragen kann. Ich schaue so gut wie gar nicht auf die Uhr, sondern gestalte ganz normal meinen Tag mit dem Großen, der coronabedingt gerade monatelang zu Hause ist. Das Baby kommt einfach immer mit.

Oft liegt Benja mehr als eine Stunde zufrieden auf einer Decke im Garten oder Wohnzimmer und unterhält sich mit den Bäumen oder der Wand. Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass sich so lange niemand mit ihm beschäftigt. Doch meine Hebamme bestärkt mich darin, einfach zu genießen, dass ihm das Liegen und Schauen schon ausreicht: „Es ist sogar wichtig für die Entwicklung der Kleinen, auch mal allein zu sein, ihre Umgebung wahrzunehmen und nicht ständig beschäftigt zu werden oder im Fokus zu sein.“ Den Spielebogen soll ich ihm frühestens mit sechs bis acht Wochen anbieten und dann auch immer nur mal für ein paar Minuten, um ihn nicht zu überfordern oder an zu viel Entertainment zu gewöhnen. Benja ist in diesen Spielzeug-Minuten tatsächlich immer völlig aus dem Häuschen und braucht danach eine Weile, um wieder runterzukommen. Sein liebstes Spielzeug sind schon seit Wochen seine kleinen Händchen und Füßchen.

Viel mehr Vertrauen – trotz weniger Aufmerksamkeit

Aus Gewohnheit biete ich ihm auch noch mit drei Monaten alle eineinhalb bis zwei Stunden die Brust an, wenn er meckert, so wie ich es aus seinen ersten Wochen kenne. Er trinkt meist ein paar Schluck, wendet sich dann ab und schreit oder verschluckt sich. Zuerst halte ich das für ganz normal. Aber als er ein paar Tage lang fast völlig das Trinken verweigert, frage ich meine Hebamme um Rat. Sie erklärt mir, dass Benja ein sicher gebundenes Kind ist und in diesem Alter höchstens alle drei bis vier Stunden Milch braucht. Nicht jedes Mal, wenn er an seinen Fingern lutsche, bedeute das, dass er Hunger habe. Ein echter Augenöffner für mich, und sobald ich ihren Rat beherzige, reguliert sich unsere Stillbeziehung wie von selbst. Erstaunlich, dass mein zweiter Sohn, der den Großteil des Tages mit sich allein auf einer Decke liegt, mehr Vertrauen zu haben scheint als mein erster, dem ich jedes Bedürfnis von den Augen abgelesen und sofort gestillt habe.

Corona schafft Routinen

Mit vier Monaten liegt Benjamin noch immer zufrieden auf seiner Decke. Natürlich nicht immerzu, er ist ein ganz normales Baby, das auch mal schreit. Doch der Corona-Lockdown bekommt ihm sehr gut. Immer dieselben Routinen und Umgebungen lassen ihn sich sicher und aufgehoben fühlen. Solange sein Bruder um ihn herum spielt und seine Eltern sich ihm zwischendurch immer mal zuwenden, ist seine kleine Welt im Lot.

Von meiner Hebamme lerne ich, dass es dem Kind auch Sicherheit vermittelt, wenn ich ihm jeweils nach etwa eineinhalb Stunden Wachphase wieder in den Schlaf helfe, sofern er nicht selbst dorthin findet. Jetzt mit vier Monaten könne es auch immer mal vorkommen, dass er dann schreit. Erstaunlich oft und immer wieder große Verwunderung bei unseren Freunden auslösend, schafft er es allerdings, ganz allein in den Schlaf zu finden. Seinen Nachtschlaf beginnt er, genau wie sein großer Bruder, gegen 21 Uhr, und dafür schläft er morgens auch bis acht oder neun (natürlich mit Stillunterbrechungen). Als Eltern können wir uns nicht über zu kurze Nächte beklagen. Manchmal frage ich mich, weshalb ich damals bei Antonin das Gefühl hatte, keine Zeit zu haben. Wenn ich jetzt nur Benjamin zu Hause hätte, hätte ich unglaublich viel Zeit für alles Mögliche.

Nachts schreien beide noch

Mein Dreijähriger wacht nachts immer mal auf und schreit dann fast wie ein Baby. Ich frage meine Hebamme, weshalb er das wohl tut. Sie vermutet, dass das damit zusammenhängt, dass wir immer sofort gesprungen sind und ihm etwas angeboten haben, wenn er sich als Baby gemeldet hat. Er habe dadurch noch nicht gelernt, sich selbst zu regulieren. Nachts greife er auf das Schreien zurück, um von uns reguliert zu werden. Auch Benja lassen wir natürlich nicht schreien, doch manchmal darf er sich ein bisschen beschweren und meckern, ohne dass wir ihm sofort etwas anbieten. Meist findet er einen seiner Finger und nuckelt daran, bis er sich wieder entspannen kann, oder ich rede ein bisschen mit ihm, was ihn auch schon beruhigt.

Inzwischen ist Benja ein halbes Jahr alt, Antonin geht wieder in die Kita und dem Kleinen ist es manchmal ein bisschen zu ruhig mit Mama allein. Dann bemühe ich mich um etwas Entertainment, versuche das aber in Grenzen zu halten und habe recht viel Zeit für anderes. Selten gibt es Situationen, die mich beunruhigen, was am gesunden, ausgeglichenen Wesen von Benja, aber sicher auch an meiner inneren Entspanntheit liegt. Davon hätte ich mir bei meinem Großen ein wenig mehr gewünscht.

Anna Koppri liebt es, Mama zu sein und sich nebenher Gedanken über Gott und die Welt zu machen, zum Beispiel auf ihrem Blog: liebenlernenblog.wordpress.com

Frust beim Spielen: Das rät die Erzieherin, wenn das Kind nicht verlieren kann

Verlieren können Kinder lernen. Eltern sollten dabei vor allem darauf achten, was hinter der Aggression steckt, sagt Expertin Margrit Dietze.

„Mein Sohn (7) kann es nicht gut haben, wenn er beim Spielen verliert. Er wird richtig sauer und hat vor Wut und Enttäuschung auch schon ein paar Mal das Spielbrett vom Tisch geworfen. Wie können wir als Eltern angemessen darauf reagieren?“

Gemeinsames Spielen in der Familie ist wichtig. Es stärkt das Gemeinschaftsgefühl und ist ein wichtiges Lernfeld für das Leben. Im Spiel lernen Kinder, mit Frustration und Enttäuschung umzugehen. Es gibt jedoch Kinder, die mit der Frustration des Verlierens nicht gut umgehen können, und so wird aus dem schönen gemeinsamen Spiel nicht selten eine unschöne Situation für alle Teilnehmer.

Was steckt hinter den Gefühlsausbrüchen?

Wenn Ihr Sohn grundsätzlich ein Problem damit hat zu verlieren, können bestimmte Gefühle dahinterstecken, die sich im Spiel äußern. Wenn Kinder das Verlieren persönlich nehmen, sehen sie im Verlieren vielleicht eine Herabsetzung ihrer Person und reagieren dementsprechend. Vielleicht hat Ihr Sohn das Gefühl, nicht genug Anerkennung zu bekommen? Vielleicht sieht er in den anderen Spielteilnehmern eine Konkurrenz und fühlt sich unterlegen? Oder er ist Niederlagen nicht gewöhnt, da ihm Hindernisse zu schnell aus dem Weg geräumt werden?

Ruhig bleiben!

Wenn das Spielbrett vom Tisch gefegt wird, ist es für Eltern schwer, ruhig zu bleiben. Aber in dieser Situation ist genau das besonders wichtig! Vorwürfe helfen in dem Moment nicht, da der Frust über die Niederlage ein sehr schwer zu kontrollierendes Gefühl ist. Besser ist es, erst einmal abzuwarten, bis Ihr Sohn sich beruhigt hat. Besprechen Sie die Situation dann mit ihm, nehmen Sie seine Gefühle ernst und geben Sie ihnen Worte wie zum Beispiel: „Du warst gerade richtig sauer, weil du lieber gewinnen wolltest, richtig?“
Sprechen Sie aber auch darüber, welche Gefühle es in Ihnen auslöst, wenn Ihr Sohn sich so verhält – am besten in „Ich-Botschaften“. Vermeiden Sie unbedingt ironische Bemerkungen über das Verhalten Ihres Kindes.

Nicht gewinnen lassen!

Lassen Sie Ihr Kind beim nächsten Mal auf keinen Fall absichtlich gewinnen, um Wutanfälle zu vermeiden. Das merken Kinder und sind darüber noch frustrierter. Suchen Sie stattdessen gemeinsam mit Ihrem Sohn nach Alternativen, wie er sich bei Spielfrust verhalten kann, zum Beispiel: gegen einen Gegenstand boxen, aus dem Zimmer gehen, einen spielerischen Kampf mit Papa eingehen – je nachdem, welche Ideen Ihr Kind dafür hat.

Verstärken Sie das positive Verhalten Ihres Kindes im normalen Alltag durch lobende Anerkennung. Räumen Sie ihm Probleme nicht zu schnell aus dem Weg, sondern lassen Sie ihn selbst Lösungen finden. Nicht zuletzt: Seien Sie Ihrem Sohn ein Vorbild. Kinder beobachten genau, wie wir mit Frustration umgehen und wenden dieses Verhalten selbst an.

Margrit Dietze ist Erzieherin und Autorin für pädagogische Bücher und Kinderlieder und Pflegemutter.

Welchen Beruf soll mein Kind nach der Schule wählen? Diese Tipps können helfen

Die Jobwahl ist eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben. Aber was tun nach dem Schulabschluss? Berufsberaterin Heike Scherneck weiß Rat.

„Meine Tochter (16) zerbricht sich seit Monaten den Kopf darüber, was sie nach der Schule machen soll. Dass ihr Abschluss nun immer näher rückt, entspannt die Lage nicht gerade. Wie kann sie diese Entscheidung treffen und wie können wir ihr dabei helfen?“

Die Berufswahl zählt zu den wichtigsten Entscheidungen im Leben, und ich rate, möglichst frühzeitig damit zu beginnen, denn die Frage, welcher Beruf zu einem passt, ist gar nicht so leicht zu beantworten.

Was sind die beliebtesten Berufe?

Zunächst gilt es herauszufinden, was man kann und will. Was sind die persönlichen Stärken und Schwächen Ihrer Tochter, ihre Hobbys und Lieblingsfächer, welcher Beruf interessiert sie? Hier kann die Hilfe durch Familie und Freunde förderlich sein. Anschließend folgt ein Abgleich dieser Eigenschaften mit Berufsbildern. Zu den beliebtesten Ausbildungsberufen der letzten zehn Jahre gehören Kaufmann/-frau im Einzelhandel, Verkäufer/-in, Bürokaufmann/-frau, Handelsfachwirt/-in, Industriekaufmann/-frau, Bankkaufmann/-frau oder Medizinische/-r Fachangestellte/-r. Natürlich kann auch ein Studium in Erwägung gezogen werden.

Arbeitsagentur übernimmt Reisekosten

Ob Ausbildung oder Studium – es empfiehlt sich immer, die Unterstützung von Experten zu suchen. An den Schulen sprechen die Berufsberater das Thema in den Vorabgangsklassen an. Bei einem Praktikum können Berufsfelder kennengelernt und ausprobiert werden. Es gibt auch verschiedene Informationsquellen online, wie beispielsweise den „Berufe-Entdecker“ auf planet-beruf.de oder in der Schweiz berufsberatung.ch. Ich empfehle zudem ein individuelles Gespräch mit einem Berufsberater der Arbeitsagentur. Hier werden jahrelange Erfahrungen und Kenntnisse über den regionalen Arbeitsmarkt weitergegeben und auch Bewerbungs- und Reisekosten zu Vorstellungsgesprächen übernommen.

Worauf es bei der Bewerbung ankommt

Findet Ihre Tochter eine Stellenanzeige, die ihr gefällt, sollte sie darauf achten, ob der Arbeitgeber eine klassische Bewerbung mit Anschreiben, Lebenslauf, Passbild und Zeugnissen oder eine E-Mail-Bewerbung wünscht. Danach orientiert sich der Aufbau des Anschreibens. Die Berufsberatung bietet auch dazu Unterstützung an. Ich rate den jugendlichen Bewerberinnen und Bewerbern, sich vor einem Vorstellungsgespräch über den Ausbildungsbetrieb kundig zu machen. Meist hilft ein Blick auf die Homepage der Firma, aber auch ein Klick auf berufenet.arbeitsagentur.de ist gut, um Auskünfte über die Ausbildung zu erhalten. Auf Umgangsformen, Motivation und Kleidung sollte auch geachtet werden. Angemessene Kleidung heißt nicht immer Schlips und Kragen.

Gute Chancen trotz Corona

Durch die Corona-Krise kam es auf dem Ausbildungsmarkt zu Verschiebungen. Arbeitgeber waren bei der Einstellung von Jugendlichen zum Teil zurückhaltend. Aber aufgrund der demografischen Entwicklung und dem unveränderten Fachkräftebedarf sind die Chancen nach wie vor sehr gut. Besonders chancenträchtig sind weniger bekannte Ausbildungsberufe. Sollte Ihre Tochter trotz guter Vorbereitung keinen Ausbildungsplatz bekommen, gibt es verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten. Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen oder Einstiegsqualifizierungen, beides eine Art Jahrespraktikum, sind Beispiele dafür.

Heike Scherneck ist Berufsberaterin der Agentur für Arbeit Gießen.

Von Liedern und Tränen: Das erlebt eine Psychologische Beraterin auf der Isolierstation

Corona hat das Leben von Christina Ott grundlegend verändert. Als Beraterin steht sie Ärzten und Patienten zur Verfügung. Und hält auch mal die Hand zum Abschied.

Und wieder trete ich in voller Schutzmontur ans Bett einer schwer erkrankten Patientin. Eben wurde ihre Zimmernachbarin häppchenweise von mir gefüttert. Nun kann ich mich Frau W. zuwenden. Wir kennen uns schon. Heute wirkt die kleine Frau besonders zerbrechlich. Sie liegt schwach in ihren Kissen und schaut mich aufmerksam an. Die Sauerstoffmaske hat ihren Nasenrücken wundgescheuert. Ich greife behutsam ihre Hand. Unser Gespräch bringt uns zum Lied „Der Mond ist aufgegangen“. Frau W. freut sich, dass ich es auch kenne.

Erst beginne ich die Melodie zu summen. Dann fange ich einfach zu singen an. Frau W. stimmt mit kurzatmigen Textfetzen ein. Ich verlangsame mein Tempo, bis wir ein Gleichmaß gefunden haben. Als ich mich im Text verhasple, sagt Frau W. geduldig: „Das macht nichts“. Mitten in der vorletzten Strophe – der Strophe vom Sterben – weiß ich nicht mehr weiter. Beim Singen für meine Kinder hatte ich sie immer übersprungen. Die letzte Strophe kommt dann wieder flüssig: „… verschon‘ uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“

Irgendetwas tun im Corona-Chaos

Eigentlich hatte ich den Beruf der Krankenschwester vor einem Jahr an den Nagel gehängt. Nach zahlreichen psychologischen Ausbildungen wollte ich einer anderen Leidenschaft folgen. Deshalb ging ich im April 2020 in die Selbständigkeit als Psychologische Beraterin, Referentin und Autorin. Doch Corona machte mir einen Strich durch die Rechnung. Der Start verlief eher holprig. Viele Aufträge mussten abgesagt werden. Im Herbst schnellte die Zahl der registrierten Coronafälle in unserem Landkreis Schmalkalden-Meinigen dann nach oben. Die Thüringer Landesregierung startete einen Aufruf, mit dem medizinisches Personal reaktiviert werden sollte. Das ließ mich etwas in die Tat umsetzen, was schon länger in meinem Hinterkopf präsent war.

Anfang Januar bot ich dem Elisabeth-Klinikum Schmalkalden meine Mitarbeit als Krankenschwester an. Ich wollte wenigstens irgendetwas tun können in dieser akuten Notlage. Damit kam der Stein ins Rollen: Mein psychologisches Know-how stach der Pflegedienstleiterin ins Auge, der zuständige Chefarzt setzte sich für eine Anstellung ein und der Verwaltungsleiter machte es möglich. So fand ich mich innerhalb weniger Tage auf der Isolierstation wieder. Als Krankenschwester mit spezieller Aufgabenstellung.

Im Schutzanzug ist Naseputzen unmöglich

Durch diese neue Arbeit hat sich mein  Leben verändert. Angesichts der harten Realität, in die ich nun mit eingebunden bin, ist ein Stück meiner Leichtigkeit verflogen. Dafür kam mehr Tiefgang dazu. Das erlebe ich als Bereicherung. Natürlich ist persönliches Erleben immer ganz anders als Vermutungen aus sicherem Abstand. Schon am ersten Tag hatte ich Grundlegendes zu lernen: Schutzanzug anziehen? Ja sicher. Und dabei nichts verkehrt machen. Es geht schließlich auch um meine Gesundheit. Also konzentrieren und jedes Detail beachten. Wer erst einmal im Isolierbereich ist, sollte für längere Zeit dortbleiben. Naseputzen? Ist nicht möglich. Ich frage eine routinierte Kollegin, wie sie das Problem löst. Sie zuckt die Schultern und antwortet pragmatisch: „Hochziehen“. Was die gute Kinderstube verboten hat, bleibt hier als einzige Option. Genauso wenig ist es im Isoliertrakt möglich, einen Schluck Wasser zu trinken oder zur Toilette zu gehen.

Persönlichen Bedürfnisse werden automatisch zurückgestellt, um Covid-19-Patienten zu versorgen. Die Schwestern der Station machen das seit Monaten. Obwohl ihre Erschöpfung spürbar ist, tun sie tagtäglich diese schwere Arbeit: Pflege unter widrigsten Umständen. Keine Schwester hat das während ihrer Ausbildung in dieser Form gelernt. Das Gleiche gilt für Ärzte. Auf ihnen lastet enorme Verantwortung. Und eine wirkliche Entlastung ist nicht in Sicht. Das Telefon klingelt und holt meine abschweifenden Gedanken abrupt wieder ins Stationsgeschehen.

Patienten müssen mit Folie abgedeckt werden

Eine neue Patientin wird angekündigt für das eben freigewordene Bett. Zwei Schwestern ziehen los. Beim ersten Mal erschütterte der Vorgang mich noch: Der infektiöse Patient muss mit Folie im Bett oder Rollstuhl abgedeckt werden. Für sein Gesicht bekommt er behelfsmäßig ein Loch eingerissen. Auf diese Weise von vermummten Schwestern abgeholt werden, bedeutet seelischen Stress für die Menschen. Sie kommen über die Notaufnahme, von anderen Stationen oder werden im ambulanten Bereich „rausgefischt“. Wenn sich dann die Tür der Isolierstation hinter dem Patienten schließt, ticken die Uhren anders. Das Personal lässt sich nur noch über die Stimme oder über die Art der Bewegung wiedererkennen. Den schnellen Sprung ins Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen, etwas nachzufragen oder auf die Klingel zu reagieren, gibt es auf der Isolierstation nicht.

Seltsame Behauptungen von Mitbürgern

Ärzte und Schwestern können nur ratlos den Kopf schütteln, wenn Mitbürger behaupten, es wäre alles nicht so arg und es gäbe keine Übersterblichkeit. Dabei wäre es doch ein Leichtes, Ärzte und Schwestern zu befragen, die tagtäglich mit dieser Thematik zu tun haben. Doch offensichtlich benutzen manche Menschen lieber andere Quellen. Solche Behauptungen reichen bis auf die Isolierstation. Schwestern erzählten mir, dass sie da schon krasse Episoden erlebt hätten. Es gab tatsächlich Patienten, die sich lächerlich machten über die notwendigen Schutzmaßnahmen. Das stelle man sich vor: Ausgerechnet die Menschen bekommen das an den Kopf geworfen, die sich selbst in Gefahr begeben, um die Ignoranten vor den schlimmsten Folgen zu schützen.

Corona ist fies

Meine eigene Sicht auf das Virus ist im letzten Jahr mitgewachsen. Ende März 2020 hatte ich mein druckfertiges Buch „Unvollkommen glücklich – Vom Mut, ich selbst zu sein“ um ein aktuelles Kapitel ergänzt. Darin geht es um Mut in unsicheren Zeiten und es gibt erste Coronabezüge. Schon damals flößte mir das Virus Respekt ein. Gleichzeitig waren Zuversicht und Gottvertrauen immer meine Begleiter. Auf der Isolierstation steht mir nun deutlich vor Augen, was ich vorher eher mit dem Kopf verstanden hatte: wie tückisch und unberechenbar dieses Virus ist. Und wie massiv es unseren Anspruch auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen hinterfragt. Ich erlebe nun ganz existenziell, was ich damals aus der psychologischen Perspektive so beschrieb: „Kaum etwas hilft uns mehr aus emotionaler Bedrückung, als etwas Sinnvolles tun zu können. Für uns und für andere.“

Als bunt zusammengewürfeltes Team funktionieren

Es fühlt sich einfach richtig an, hier zu sein als Ansprechpartnerin für medizinisches Personal. Die Ärzte nutzen dies im Rahmen von regelmäßigen Teamsupervisionen. Mit Schwestern ergeben sich die besten Gespräche beim gemeinsamen Arbeiten. Immer schwingen dabei persönliche Belastungen mit. Die eine hat Trouble in der Familie. Der andere macht sich Gedanken darum, wie sein Zwölftklässler demnächst das Abitur bewältigen wird. Leiharbeitskräfte sind weit weg von Zuhause und wissen nicht, wie sie die Freizeit in unserer derzeit „schlafenden“ Kleinstadt nutzen können. Unser Team auf der Isolierstation ist bunt zusammengewürfelt aus Pflegerinnen und Pflegern, die bereit gewesen sind, sich dort einsetzen zu lassen. Es stellt die Beteiligten täglich vor Herausforderungen, Hand in Hand zu arbeiten, ohne als echtes Team zusammengewachsen zu sein.

Ein Brief muss reichen

Ich komme mit einer unserer neuen Patienten, Frau Sch., ins Gespräch. Sie erzählt mir, dass ihr Mann ebenfalls im Haus liegt und noch gar nicht weiß, dass sie nun auch eingeliefert wurde. Nun will sie ihn besuchen – unmöglich. Ein weißes A4-Blatt hilft weiter. Die Patientin diktiert, ich schreibe. Gemeinsam suchen wir passende Worte, um den herzkranken Mann gleichzeitig informieren und beruhigen zu können. Der letzte Satz sprudelt aus Frau Sch. heraus: „Wir drücken uns gegenseitig die Daumen, dass wir noch viele schöne Stunden mit unseren Enkeln erleben können. Deine J.“ Anschließend bringe ich den Brief auf die andere Station. Ich darf ins Zimmer des Patienten. Er liegt zusammengerollt in seinem Bett. Die Langeweile lässt er gern unterbrechen. Nachdem ich den Brief vorgelesen habe, reiche ich ihn Herrn Sch. Er steckt das gefaltete Blatt mit einer raschen Bewegung unter sein Kopfkissen. In seinen Augen schimmern Tränen.

Ich möchte es den Menschen leichter machen

Natürlich gibt es Situationen, in denen auch ich nicht weiß, was ich sagen oder tun soll. Dann gebe ich trotzdem, was ich habe: ein offenes Ohr, ein weites Herz und den einen oder anderen weiterführenden Gedanken. Ich mag den Leitspruch der Pastorin Monika Deitenbeck-Goseberg, die kurz vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland verstarb. Sie sagte immer wieder: „Wir sind dazu auf der Welt, um es anderen leichter zu machen zu leben, zu lieben, zu leiden und zu glauben.“ Wie weise. So zeigt sich Christsein von der besten Seite. Deshalb bin ich gern dabei. Ich möchte es Menschen leichter machen – Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten, Schwestern und den Verantwortlichen des Hauses. In unserer Menschlichkeit sind wir alle gleich bedürftig nach Zuspruch, Wertschätzung und Unterstützung. Als der Verwaltungsleiter unter seine Mail den kurzen Satz schrieb: „Schön, dass Sie bei uns sind“, war das eine echte Bestätigung für mich.

Abschied von Frau W.

Als ich Frau W. beim nächsten Dienst wieder aufsuche, liegt sie im Sterben. Leise singe ich ihr noch einmal das Lied vor – „Der Mond ist aufgegangen.“ Ich habe den Text inzwischen aufgefrischt. Frau W. öffnet die Augen und wendet mir ihr Gesicht zu. Später will sie nur noch, dass ich still bei ihr bleibe und ihr die Hand halte. Zwischendurch sagt sie ein paar Mal: „Du bist ein liebes Mädchen!“ Gerührt antworte ich ihr: „Und Sie sind eine freundliche Frau.“ Ihre Hand hält mich fest, sobald ich eine kleine Bewegung mache, um mich leise zu entfernen. Ich schmunzle und bleibe noch länger sitzen. Später frage ich sie: „Darf ich Ihnen noch einmal die Lippen anfeuchten?“ „Gerne.“ Ihre Hand löst sich. Mit einem Stielschwämmchen wische ich Frau W. vorsichtig über die Lippen. Dann streichle ich sie zart und verlasse mit einem Segensgebet im Herzen leise das Zimmer.

Christina Ott ist Psychologische Beraterin. 2020 hat sie ihr Buch „Unvollkommen glücklich – Vom Mut, ich selbst zu sein“ (Francke) veröffentlicht.

„Ballte seine Hand zur Faust“: Leonies Traummann wird ihr Albtraum

Schläge, Verbote und Misstrauen bestimmen ein halbes Jahr lang die Beziehung von Buchautorin Leonie Hoffmann*. Dann kann sie wie durch ein Wunder fliehen.

Gerade hatte ich mein Abitur abgeschlossen und war beflügelt von einem nie da gewesenen Freiheitsgefühl. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ihn, der mir diese große Freiheit mit all ihren Möglichkeiten innerhalb weniger Monate wieder nahm – und beinahe mein junges Leben.

Ich traf ihn auf einer Sommerparty in meiner Heimatstadt: Alex. Dieser Mann gab mir alles, wonach sich mein junges Herz gesehnt hatte: tiefe Liebe und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Die ersten Monate mit ihm schwebte ich im siebten Himmel. Ich glaubte, in ihm tatsächlich den Richtigen gefunden zu haben.

Alex wird rasend vor Eifersucht

Seine „abgöttische Liebe“ zu mir hatte jedoch eine unangenehme Begleiterscheinung. Was ich anfangs als schmeichelhaftes Nähebedürfnis interpretierte, entwickelte sich zunehmend zu einer besitzergreifenden Eifersucht. Wenn mein Blick zufällig den eines anderen Mannes streifte, konnte dieses „Vergehen“ ausreichen, um einen schönen Abend in hitzigen und tränenreichen Diskussionen enden zu lassen.

Doch diese zunehmenden kleinen Dramen änderten nichts an meinen großen Gefühlen für Alex. Ich war diesem Mann einfach hoffnungslos verfallen und ohne es zu merken, rutschte ich immer mehr in eine emotionale Abhängigkeit von ihm. Denn Alex schaffte beides: meine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung zu stillen und gleichzeitig durch subtile Kritik meine ohnehin schon großen Selbstzweifel zu nähren. So wurde ich buchstäblich süchtig nach diesem guten Gefühl, das scheinbar nur er mir geben konnte.

Ein Umzug aus Panik

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion zog ich nach nur drei Monaten Beziehung in seine spärlich eingerichtete Wohnung. Alex sagte, dies sei die einzige Chance, unsere Beziehung zu retten, nachdem ich mit einer Lappalie „sein Vertrauen endgültig zerstört habe“. Um mir wieder vertrauen zu können, wollte er mich eine Zeit lang kontrollieren – und ich ließ mich darauf ein. Denn der Gedanke, ihn sonst zu verlieren, versetzte mich in blanke Panik. Außerdem wusste ich ja, dass ich ihm treu war, und hoffte, endlich wieder zu unserem Anfangsglück zurückkehren zu können, wenn er sich auf diese Weise selbst davon überzeugen könnte.

Ein paar Tage später eskalierte die Situation zum ersten Mal bei einem seiner nun täglichen Verhöre. So war Alex der festen Überzeugung, ich hätte in meinem gerade begonnenen Studium einen anderen Mann kennengelernt. „Sag mir endlich die Wahrheit!“, schrie er mich immer wieder an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Eisblau und eiskalt. Dieselben Augen, in denen ich früher so viel bedingungslose Liebe gesehen hatte. Zunächst packte er mich nur fest an den Schultern und drückte mich gegen die Wand. Dann schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch mal. Und noch mal. Immer fester. Schließlich ballte er seine Hand zur Faust. In meinem Kopf begann es zu hämmern.

„Du hast dieses Monster aus mir gemacht“

Irgendwann ließ er von mir ab und brach in Tränen aus – scheinbar entsetzt über sich selbst. Nach wenigen Augenblicken kehrte jedoch die Anklage zurück: „Du hast dieses Monster aus mir gemacht! Das gerade wäre niemals passiert, wenn du einfach immer ehrlich zu mir gewesen wärst. Ich bin zu so etwas doch nur fähig, weil ich dich so unendlich liebe.“ Damit hatte er mich. „Vielleicht habe ich es ja verdient, so behandelt zu werden?“, fragte ich mich: „Vielleicht liebt er mich tatsächlich mehr als ich ihn – wenn ich ihn so zum Ausrasten bringe?“

Heute weiß ich, dass nichts davon wahr ist. Nichts, rein gar nichts rechtfertigt Gewalt in einer Beziehung. Damals zog ich es dennoch ernsthaft in Erwägung. Eine Tatsache, die mich im Nachhinein schockiert. Genauso wie der Umstand, dass sich meine Gefühle für diesen Mann offensichtlich nicht totschlagen ließen. So traf ich die größte Fehlentscheidung meines Lebens: Ich blieb. Monate später sagte mir meine Therapeutin: „Wenn man nach dem ersten Schlag nicht geht, geht man auch nicht nach dem zweiten oder dritten.“ Das ist die traurige Wahrheit. Umso wichtiger ist es deshalb, eindeutige Grenzüberschreitungen in einer Beziehung als solche wahrzunehmen und sich vor Augen zu halten: Auch die scheinbar grenzenloseste Liebe muss Grenzen haben, die niemals überschritten werden dürfen. Denn ist dies erst einmal passiert, gibt es kaum noch einen Weg zurück.

Zwischen Küssen und Schlägen

Die sechs Monate zwischen dem ersten und dem letzten Schlag vermischen sich in meiner Erinnerung zu einer zähen grauen Masse. Meine beängstigende Erkenntnis aus dieser Zeit: Man gewöhnt sich an alles. Erschreckenderweise gab es zwischendurch sogar immer noch Momente, in denen es mir gelang, mich so in den Augenblick zu versenken und alles andere auszublenden, dass unsere „Liebe“ die einzige Realität war. Der ganze Horror schien dann unwirklich. Es waren jene Momente, in denen ich sein „wahres Ich“ wieder zu erkennen glaubte. In diesen Momenten fühlte ich mich darin bestätigt, dass er „ja eigentlich ganz anders“ war.

Ja, noch immer konnte Alex mir das Gefühl geben, ihm alles zu bedeuten, die schönste und tollste Frau der Welt zu sein. In solchen Momenten war es unvorstellbar, dass sich der Schalter jemals wieder umlegen würde. Dass sich die Hände, die mich eben noch so zärtlich streichelten, irgendwann wieder zu Fäusten ballen und brutal auf mich einschlagen würden. Dass mich derselbe Mund, der mich eben noch anstrahlte und liebevoll küsste, irgendwann wieder anschreien, bespucken oder so bestialisch beißen würde, dass Muskeln dabei durchtrennt wurden. Aber es passierte. Immer wieder. In immer kürzeren Abständen. Denn genauso funktioniert die Abwärtsspirale der Gewalt.

„Ich hatte alles – außer Selbstvertrauen“

Ich log meine Eltern und Freunde mehrfach an, ignorierte etliche Nachrichten und Anrufe. Kümmerte mich von heute auf morgen nicht mehr um mein Pflegepferd und gab die Leitung meines Jugendkreises ab. Ich erschien zu einem lange geplanten Konzert meiner Band einfach nicht. Und das alles, weil ich nicht durfte. Ich hatte mehrfach buchstäblich Todesangst in Alex‘ Nähe, aber log lieber zwei Polizisten an, anstatt mit ihnen zu gehen und den ganzen Wahnsinn endlich zu stoppen.

Das alles ist nun zwölf Jahre her. Wie oft habe ich seitdem an diese Zeit zurückgedacht und mir immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Wie konntest du nur?“ Mittlerweile habe ich meine Antwort gefunden: Ich konnte mir alles nehmen lassen, weil ich als 19-jährige Abiturientin eigentlich alles hatte – außer einem gesunden Selbstvertrauen. Ich sehnte mich nach einem Partner, der mir genau das geben könnte – der mich sehen und erkennen würde, wie ich wirklich war, und mich genauso lieben würde. Und dann traf ich ihn, der mir nur all das nehmen konnte, weil er mir vorher alles gab. Heute wage ich zu behaupten, dass ausnahmslos jeder in so eine Abhängigkeit geraten kann, der nicht in seiner wahren Identität gefestigt ist und weiß, wer er ist und wie unglaublich viel wert er ist, vor allem in den Augen Gottes.

Der Wendepunkt

Das Ende dieser Schreckenszeit kam dann wie ein Wunder: Es war Karfreitag. Alex hatte mir erlaubt, den Fernseher anzuschalten, und es lief „Ben Hur“. Die Karfreitag-Tradition meiner Familie! Der Gedanke durchbohrte mich, ob ich jemals wieder Ostern mit ihnen feiern würde, ob ich sie überhaupt noch einmal sehen würde. Seit Monaten hielt Alex mich inzwischen in seiner Wohnung gefangen und hatte mir alle Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt genommen. Und endlich hatten die immer mehr eskalierende Gewalt und die immer selteneren schönen Momente die Hoffnung in mir totgeschlagen, dass sich jemals nochmal etwas ändern würde. Ich wollte nur noch weg, doch hatte inzwischen jede Hoffnung auf eine Befreiung aufgegeben. Alle Rettungsversuche meiner Angehörigen waren ins Leere gelaufen, und ich befürchtete, dass sie mittlerweile wirklich glaubten, dass ich den Kontakt nicht mehr wolle – wie Alex es sie durch Nachrichten in meinem Namen immer wieder wissen ließ.

Plötzlich stehen die Eltern vor der Tür

Ich ging ins Bad und schaute durch das kleine Dachfenster in den strahlenden Frühlingshimmel. Er wirkte friedlich und gleichzeitig erschreckend leer. Ich wagte seit Langem wieder ein Gebet zu Gott, dem ich in der Beziehung mit Alex ebenfalls den Rücken gekehrt hatte: „Gott, wenn du mich mittlerweile nicht ganz abgeschrieben hast, dann bitte hole mich hier raus, und ich will dir mein Leben lang dienen!“ Wenig später klingelte es. Nach allen gescheiterten Rettungsversuchen standen sie noch einmal vor unserer Wohnungstür: meine Eltern. Denn warum auch immer stand an diesem Tag die Haustür sperrangelweit offen. Alex drohte mir mit einem Besenstil und befahl mir, leise zu sein. Sie sollten denken, niemand sei zu Hause. Dann schubste er mich ins Schlafzimmer und schlug auf mich ein. Meine Eltern hörten, dass wir da waren. „Wir wollen euch nur zu einem Eis einladen und reden“, sagte mein Vater in unfassbarer Sanftmut. Da platzte Alex der Kragen. Er ließ von mir ab, riss die Wohnungstür auf und ging auf meine Mutter los. Ich rannte ihm hinterher.

Mein Vater gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich diesen kurzen Augenblick, in dem die Tür offen war, nutzen sollte. Während er zwischen Alex und meine Mutter ging, drängelte ich mich an ihnen vorbei. In die Freiheit. Meine Eltern eilten hinterher. „Wenn du jetzt gehst, siehst du mich nie wieder!“, rief Alex mir nach. Was früher seine schlimmste Drohung war, wurde nun zur Befreiung. Ostern verbrachte ich mit meiner Familie. Die Sonne schien. Die Welt blühte. Und wir feierten nicht nur Jesu Auferstehung von den Toten.

Bis zur Anzeige vergehen Jahre

Nun war ich zwar körperlich wieder frei, aber der Weg in die innere Freiheit sollte noch ein langer werden. Natürlich gab Alex nicht sofort auf. Erst nachdem ich alle Nachrichten von ihm ignorierte und dann mit einer Anzeige drohte, ließ er mich in Ruhe. Aufgrund von Alex‘ massiven Morddrohungen zeigte ich ihn nicht sofort an. Nach Monaten in permanenter Angst hatte ich einfach keine Kraft mehr.

Doch als ich eineinhalb Jahre später erfuhr, dass eine andere Frau in der Beziehung mit Alex ebenfalls Opfer von Gewalt wurde, wagten wir gemeinsam diesen Schritt. Er wurde verurteilt und saß jahrelang in einer geschlossenen forensischen Klinik ein.

Brecht das Schweigen!

Heute ist mein Leben schöner, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Gott hat mich zurück ins Leben und in die Freiheit geführt – eine Freiheit, die nirgendwo sonst zu finden ist. So habe ich die befreiende Kraft der Vergebung erfahren und inzwischen nicht nur mir selbst, sondern auch Alex von ganzem Herzen vergeben können, auch wenn ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm möchte. Ich kann wieder unbeschwert leben – sogar lieben und vertrauen, was ich niemals für möglich gehalten hätte.

Mein Tipp an Betroffene ist so simple wie schwer: Bitte brecht das Schweigen und holt euch Hilfe, solange es noch möglich ist! Kämpft euch zurück in die Freiheit, die euch zusteht und für die ihr geboren wurdet, erinnert euch an euren Wert und eure unantastbare Würde, die euch nichts und niemand nehmen darf.

*Leonie Hoffmann ist ein Pseudonym. Die vollständige Geschichte ist im Buch „ÜberWunden“ (Gerth Medien) aufgeschrieben. Teile des Artikels erschienen zuerst in der Zeitschrift LYDIA 2/19.

Unerfüllter Kinderwunsch: „Habe mich nicht als ganze Frau empfunden“

Anna Koppri hat für ihr Buch „Wir – mit oder ohne Wunschkind“ mit Paaren gesprochen, die keine Kinder bekommen können. Im Interview erzählt sie, was es bedeutet, wenn der Wunsch nach einem Kind zum alles beherrschenden Thema wird.

Du schreibst in deinem Buch, dass es schwer „nachfühlbar“ ist, was Paare erleben, die sich ein Kind wünschen, aber keins bekommen. Kannst du die Dynamik, die sich da entwickelt, trotzdem mal beschreiben?

Ich denke, das ist eine ähnliche Dynamik wie bei anderem, das man ganz dringend herbeisehnt. Viele sehnen sich ja lange nach einem Partner – und es wird drängender, je älter sie werden. Bei mir war es so, dass ich mein Leben lang schon Mutter werden wollte und dann dachte: So, jetzt ist endlich der Zeitpunkt erreicht. Ich bin ein Jahr verheiratet, jetzt dürfen die Kinder kommen. Doch Monat um Monat ist keins gekommen. Irgendwann haben sich alle meine Gedanken um dieses ersehnte Kind gedreht. Wenn ich durch die Straße gelaufen bin, hab ich nur noch Kinder gesehen. Schon nach wenigen Monaten dachte ich: Was ist, wenn das bei mir überhaupt nicht klappt? Was ist, wenn sich dieser Lebenstraum niemals realisieren lässt?

Mir wurde immer klarer, dass ich das nicht in der Hand habe. Selbst wenn ich medizinische Hilfe in Anspruch nehmen würde, wäre nicht gegeben, dass sich meine Sehnsucht jemals erfüllen wird. Alle anderen Dinge haben in meinem Leben immer mehr an Bedeutung verloren. Ich habe mich gefragt: Wenn ich nie erleben darf, mein eigenes Kind im Arm zu halten, was hat das Leben dann noch für einen Sinn für mich?

Wie hat dein Mann das empfunden?

Den hat das weniger mitgenommen. Mein Mann hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, bald Vater zu werden. Gleichzeitig wollte er sich als Künstler und Musiker finden und Projekte realisieren. Deshalb hatte er auch ein bisschen Respekt vor der Verantwortung, eine Familie zu gründen.

Briefe an das ungeborene Kind

War das schmerzhaft für dich, dass du die Sehnsucht nach einem Kind bei ihm zunächst nicht so gesehen hast?

Ich fühlte mich mit diesen starken Gefühlen grundsätzlich sehr alleine und unverstanden. Das fand ich sehr schmerzhaft. Es war aber auch unser gemeinsames Projekt. Wir haben alles Mögliche versucht, um die Fruchtbarkeit zu steigern. Manchmal habe ich mich meinem Mann gegenüber auch schlecht gefühlt, weil ich dachte, ich will jetzt unbedingt meinen Wunsch durchdrücken. Als ich dann das erste Mal schwanger war und das Baby nach ein paar Wochen verloren habe, hat er auch sehr getrauert. Seitdem war ein Kind noch mehr unser gemeinsamer Wunsch.

In deinem Buch schreibst du, dass du dich gerade in dieser Verlustphase deinem Mann sehr nahe gefühlt hast.

Ja, er hat sich in dieser Zeit auch frei genommen. Wir sind zusammen spazieren gegangen, haben darüber gesprochen und Briefe an das Baby geschrieben. Es war für mich sehr wohltuend, dass er diesen Verlust so stark empfunden hat und das ausdrücken konnte. Aber es kann auch ganz anders laufen. In meinem Buch beschreibt eine Frau, dass es ihr geholfen hat, sehr intensiv Tagebuch zu schreiben. Ihrem Mann hat sie manchmal die Tagebucheinträge zu lesen gegeben. Dadurch hatte sie das Gefühl, sich ihm mitteilen zu können, weil das in Gesprächen schwieriger war. Es ist wichtig, dass ich dem anderen seine eigene Art zu trauern zugestehe.

Der unerfüllte Kinderwunsch ist wie sieben Jahre Gefangenschaft

Für das Buch hast du einige Paare gefunden, die Ähnliches erlebt haben.

Ich habe auf einem christlichen Festival einen Workshop zum Thema Kinderwunsch und Fehlgeburt angeboten. Es hat total gut getan, sich mit anderen Paaren auszutauschen. Wir haben uns unsere Geschichten erzählt und zusammen geweint. Manche hatten das Gefühl: Endlich ist da mal jemand, der mich versteht! Da wurde mir klar: Ich möchte unbedingt ein Buch über dieses Thema schreiben, damit sich Menschen in ihrer Not nicht so alleine fühlen.

Du zitierst in deinem Buch eine Autorin, die die Jahre mit dem unerfüllten Kinderwunsch als sieben Jahre Gefangenschaft beschreibt.

Man wünscht sich so sehr ein Kind und hat es nicht in der Hand. Man kann weder mit Fleiß, noch mit Sorgfalt oder irgendwelchen Anwendungen erreichen, dass sich der Wunsch erfüllt. Die Frau hat nur noch ganz bestimmte Tees getrunken und verschiedene Lebensmittel nicht mehr gegessen und natürlich den Sex entsprechend getimt. Ich habe Dokumentationen gesehen über Menschen, die um die ganze Welt gereist sind, um Kinderwunschbehandlungen in Anspruch zu nehmen, die in Deutschland nicht erlaubt sind. Dafür sogar Kredite aufgenommen haben. Es kann passieren, dass sich die sozialen Kontakte immer weiter reduzieren, weil man sich nicht verstanden und gesehen fühlt.

Loslassen ist schwierig

Eine Frau namens Marion beschreibt in deinem Buch, dass es für sie ein wichtiger Schritt in die Freiheit war, damit zu beginnen, den Wunsch nach dem Kind loszulassen. Muss man sich zum Loslassen entscheiden oder kommt das von allein?

Das ist schwierig zu beantworten. Ganz abschließen lässt sich dieser Prozess wohl nie. Das höre ich von allen, die ihren Kinderwunsch ein Stück innerlich loslassen mussten: Der Schmerz kann immer wieder aufflammen. Ich denke, es hilft, wenn man Begleitung in Anspruch nimmt oder den Austausch mit anderen Betroffenen sucht. Es ist sicherlich gesund und sinnvoll, wenn man sich ein Limit setzt. Viele haben gesagt, dass es ihnen geholfen hat, sich vor einer Behandlung ganz klar zu sagen: Wir versuchen drei künstliche Befruchtungen. Wenn es nach der dritten nicht geklappt hat, dann soll es so sein und wir versuchen loszulassen.

Natürlich ist es in diesem Prozess sehr hilfreich, wenn ich vertrauen kann, dass Gott es gut mit mir meint, selbst wenn ich das im Moment nicht so empfinde. Und in einigen Geschichten ist es passiert, dass irgendwann Pflegekinder ins Leben gekommen sind oder doch noch Schwangerschaften möglich waren. Den Kinderwunsch loszulassen ist allerdings unglaublich schwierig, auch, weil ein ganzes Lebenskonzept damit zusammenhängt. Jeder muss seinen eigenen Weg finden.

Marion erzählt auch, dass sie zu sich selbst gefunden hat, als sie begann, den Kinderwunsch loszulassen. Sie hat angefangen, zu malen und Gitarre zu spielen.

Wäre ihr Leben so gelaufen, wie sie das geplant hatte, wäre sie vielleicht gar nicht oder erst viel später an diesen Punkt gekommen. Gerade wenn man sehr früh heiratet und Kinder kriegt, hat man tatsächlich nicht die Zeit, sich so intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Darüber reden kann helfen

Für manche ist das Thema „Kinderwunsch“ Scham besetzt. Du bist sehr offen damit umgegangen.

Ja, das bin ich. Irgendwann habe ich das ein bisschen bereut, weil ständig Leute nachfragten und gute Tipps gaben. Trotzdem würde ich jedem empfehlen, sich zumindest sehr vertrauten Personen gegenüber zu öffnen, um die Last nicht allein mit sich herumzuschleppen. Scham besetzt – ich habe auf jeden Fall erlebt, dass ich mich nicht als ganze Frau empfunden habe. Als ich dann Schwangerschaften verloren habe, dachte ich: Mein Körper funktioniert nicht, wie er funktionieren soll. Ich fand schön, was Christina Brudereck in meinem Buch dazu sagt: „Ja, das stimmt. Ich bin dann nicht ganz, aber kein Mensch ist ganz und kein Mensch hat alles, was er sich wünscht.“

Versöhnt mit der Vergangenheit

Du hast mittlerweile zwei Kinder. Wie lebst du jetzt Freundschaft zu Menschen, die sich Kinder wünschen?

Dieses Gefühl, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen, hat schon begonnen, als ich schwanger war und es so aussah, dass ich das Kind behalten würde. Durch meine eigene Geschichte kenne ich ja viele Leute, die mit dem Thema zu tun haben. Ich fand es nicht einfach, damit umzugehen. Ich habe versucht, möglichst offen zu fragen: „Wie geht es dir gerade damit? Möchtest du drüber sprechen?“ Für das Buch habe ich Paare interviewt und war selbst gut sichtbar schwanger. Das habe ich möglichst angesprochen, um den Gesprächspartnern den Raum zu geben, auch zu sagen: „Ja, das ist nicht leicht!“ Ich finde es durchaus ratsam, dieses Thema anzusprechen, wenn man mit den Emotionen umgehen kann, die dann vielleicht kommen.

Was hat dich bei den Paaren, die in deinem Buch zu Wort kommen, besonders beeindruckt oder berührt?

Ganz besonders berührt haben mich die beiden, die ihr Kind in der 37. Schwangerschaftswoche verloren haben – das lang ersehnte Kind! Vor diesem Gespräch hatte ich Respekt. Doch die beiden waren total versöhnt mit dem Ganzen. Mittlerweile haben sie weitere Kinder bekommen, aber schon nach dem Tod ihres ersten Babys haben sie gesagt: Das ist nicht Gott, der uns unser Kind weggenommen hat. Es ist Gott, der uns hilft, den Verlust zu bewältigen. Und er trägt uns da durch.

Vielen Dank für das Gespräch!

Anna Koppri, 1982, ist Sozialpädagogin, Systemische Familientherapeutin und freie Autorin. Ihr Buch „Wir – mit oder ohne Wunschkind“ ist bei Gerth Medien erschienen.

Mutter verunsichert: Darf wirklich jeder mit meinem Kind schimpfen?

Darf eine Nachbarin bei der Erziehung meines Kindes mitreden? Erziehungswissenschaftlerin Daniela Albert erklärt, was in Ordnung ist und was nicht.

„Letztens schimpfte eine Nachbarin mit meinem Sohn (3). Der wurde daraufhin noch frecher, also griff ich ein und erklärte ihm die Situation. Später fragte mich die Nachbarin, ob es okay sei, dass sie da mal was sage. Man sagt, ‚Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf‘, aber wer darf bei der Erziehung eigentlich mitreden?“

Das berühmte Dorf, das man braucht, um ein Kind großzuziehen, wird sehr gern in Erziehungssituationen herangezogen. Leider nicht immer in der Art, in der es eigentlich gemeint war. Es handelt sich dabei nämlich um ein afrikanisches Sprichwort, und es geht um das Aufwachsen in engen, familiären Gemeinschaften. Alle Kinder und Erwachsenen kennen sich sehr gut und leben in engerer Verbundenheit miteinander, als wir es heute mit unseren Nachbarn tun. In diesen Gemeinschaften gibt es einen Konsens über Normen und Werte, nach dem alle leben. Auch in Erziehungsfragen.

Gleiche Werte sind Voraussetzung

Enge Verbundenheit und gleiche Wertvorstellungen sind Grundvoraussetzungen dafür, dass jemand in die Erziehung unserer Kinder eingebunden wird. Heute wachsen wir nicht mehr in so engen, natürlich gegebenen Gemeinschaften auf. Die Menschen, die bei der Erziehung mitreden dürfen, suchen wir uns selbst aus. Dass wir mit ihnen ein vertrauensvolles Verhältnis pflegen, Werte teilen und vor allem, dass sie auch unseren Kindern nah genug sind, dass diese sich von ihnen begleiten lassen können, ist dabei wichtig.

Reaktion ist normal

Dies scheint in Ihrem Fall nicht da gewesen zu sein, und das erklärt auch die Reaktion Ihres Sohnes. Was Sie als „noch frecher werden“ beschreiben, ist für mich ein Ausdruck dafür, dass die Ansprache der Nachbarin für ihn nicht in Ordnung war. Er hat wahrscheinlich versucht, sich vor der Einmischung einer Person, die ihm nicht vertraut genug war, zu schützen. Ihr Sohn hat eine sehr gesunde Reaktion gezeigt, indem er erst einmal seine persönlichen Grenzen gewahrt hat.

Persönliche Grenzen aufzeigen

Das bedeutet aber nicht, dass es grundsätzlich falsch ist, wenn andere unseren Kindern etwas sagen, was ihnen nicht passt, auch wenn sie ihnen nicht so nahestehen. Wenn ein anderes Kind mit seinem Verhalten unsere persönlichen Grenzen verletzt, darf das angesprochen werden. Hier muss man zwischen Miterziehen und dem Setzen persönlicher Grenzen unterscheiden. Wer miterziehen darf, das entscheiden Sie. Das Recht, die eigenen Grenzen zu kommunizieren, hat dagegen jeder. Gerade kleine Kinder sind aber häufig überfordert, wenn fremde Personen mit ihnen schimpfen, und verstehen oft gar nicht, was sie gerade falsch gemacht haben. Deshalb finde ich Ihre Reaktion – eingreifen und Ihrem Sohn erklären, was die Nachbarin gestört hat – genau richtig. Wir als Eltern tragen bei so kleinen Kindern die Verantwortung dafür, dass sie die Grenzen anderer Menschen wahren.

Sprechen Sie noch mal mit Ihrer Nachbarin über die Situation und erklären Sie, dass Ihr Sohn noch zu klein ist, um zu verstehen, was falsch gelaufen ist, und dass er sie auch noch nicht gut genug kennt, um von ihr anzunehmen, wenn sie „mal was sagt“. Schlagen Sie ihr vor, stattdessen mit Ihnen zu sprechen, wenn sie etwas am Verhalten Ihres Sohnes stört.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Kaufungen. Sie bloggt unter eltern-familie.de.