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Pilgern – Eine Auszeit zum Auftanken

Pilgern ist seit Jahrhunderten Tradition und dennoch topaktuell. Melanie Schmitt, Leiterin der Pilgerstelle im Bistum Limburg, gibt Einblicke in eine  faszinierende Wanderleidenschaft.

Tage des Laufens liegen hinter uns, rauf und runter, über einen alpinen Pilgerweg in Österreich, von Kirchlein zu Kapelle, vom alten Wallfahrtsort im Tal zum Gipfelkreuz hoch oben. Am letzten Tag kostet mich jeder Schritt Kraft, die ich nicht mehr habe. Ich frage mich ernsthaft, wie ich heute die restlichen Höhenmeter nach oben schaffen soll, um dann auf der anderen Seite wieder abzusteigen. Warum mache ich das hier eigentlich? Tageund wochenlang durch die Gegend laufen, jeden Tag dasselbe. Pilgern – was soll das?

Gebahnte Wege

Seit Menschengedenken machen sich Männer und Frauen auf Reisen, bei denen es nicht allein darum geht, einen äußeren Weg zurückzulegen, sondern auch darum, sich auf einen inneren Weg zu begeben, in inneren Angelegenheiten unterwegs zu sein, auf ganzheitlicher Bewegungstour für Körper und Seele. Nicht bei jedem religiös motiviert, aber doch auf der Suche: nach sich selbst, nach anderen oder nach Gott.

Pilgern ist eine jahrhundertealte Tradition, ein Teil der spirituellen Praxis aller großen Religionen. Ob Jerusalem, Assisi, Rom, Mekka oder Santiago de Compostela – der äußere und der innere Weg verbindet alle Pilgerinnen und Pilger und ist doch gleichzeitig sehr individuell. So unterschiedlich die Anliegen und Gründe für eine Pilgerreise sein mögen – ob Abenteuerlust, Trauerbewältigung, bewusste Umkehr oder ein neuer Lebensabschnitt –, das Unterwegssein ist beim Pilgern wichtiger als das Ankommen. Und die Erlebnisse, Ereignisse und Begegnungen unterwegs machen das Besondere des Pilgerns aus.

Es ist faszinierend, auf uralten Wegen unterwegs zu sein, auf Pfaden, die Pilger schon Jahrhunderte zuvor gebahnt haben, in gesprochenen, gedachten, geatmeten und gelebten Gedanken und Gebeten, im steten Gehen und Gehen und Gehen.

Die pure Freiheit

Reduzieren, minimalisieren, daheim lassen, loslassen: Beim Pilgern geht es auch darum, die Komfortzone zu verlassen und sich nur mit leichtem Gepäck auf den Weg zu machen. Schließlich muss alles Hab und Gut getragen werden, jeden Tag, jede Minute des Weges. Ich erlebe diese Reduktion des Materiellen bei jeder Pilgertour als große Freiheit: Alles, was ich brauche, trage ich bei mir. Und das, so stelle ich jedes Mal fest, ist wirklich sehr wenig. Zumal es zum Pilgeralltag gehört, bei Ankunft in der Unterkunft die verschwitzten Klamotten mit der Hand durchzuwaschen. Drei Unterhosen und zwei Shirts reichen wochenlang.

Am Morgen ist alles schnell wieder im Rucksack verstaut. Ich brauche nicht lange zu überlegen: Das Wirrwarr auf dem Bett aus Wechselklamotten, Ladekabel, Pilgerpass, Haargummi, Tagebuch und Flip-Flops kommt einfach komplett in den Rucksack und weiter geht‘s. Alles, was ich brauche, trage ich auf dem Rücken. Ich kann gehen, wohin ich will, und habe alles Nötige bei mir. Welch unglaubliches Gefühl von Freiheit! Sich noch unterwegs von Ballast zu trennen und Teile der Ausrüstung wegzugeben, ist eine gängige Pilgererfahrung und für manchen sogar ein Ritual, verringert es doch im konkreten wie im übertragenen Sinn die Last auf den Schultern. So nehmen manche Pilgerinnen und Pilger von zu Hause einen Stein mit, der symbolisch für eine Last steht, für eine überstandene Krankheit oder eine schmerzhafte Trennung, und legen diesen Stein unterwegs ab.

Nicht nur in Sachen Gepäck ist Pilgern eine Reduzierung auf das Wesentliche: gehen – essen – schlafen. Der Pilgeralltag folgt einer erwartbaren Regelmäßigkeit.

Die reine Abhängigkeit

Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, nur mit dem Rucksack auf meinem Rücken, habe ich auf meiner Reise ausschließlich diese Dinge zur Verfügung. Keinen Fön, keine größere Lektüre, keine Spielesammlung. Zu Fuß bin ich außerdem nur in einem kleinen Radius mobil. Sollte ich am angepeilten Tagesziel keine Unterkunft finden, kann ich nicht mal eben weitere zehn Kilometer suchen gehen.

Hier beginnt nach meinem Empfinden der „Spirit“ des Pilgerns. Eben weil ich mich so bedürftig und abhängig mache, kann Gott seine Wunder-barkeiten deutlich auspacken und spielen lassen. Die Welt der Pilgernden ist voll von diesen Wundergeschichten, die Mut machen und Vertrauen schenken: Der Schuh meines Mannes ist zu eng. So kann er unmöglich weitergehen. Am Wegesrand im kleinen Dorf ist unversehens ein orthopädischer Schuhmacher, der den Schuh richtet. Oder: Beschwingten Schrittes sind wir ein ziemliches Stück dem falschen Pfad gefolgt. Nachdem wir unseren Irrtum bemerkt und ein Stück querfeldein gelaufen sind, finden wir uns plötzlich und überraschend auf unserem eigentlichen Weg wieder.

Wir erleben Geschichten des Versorgtseins und Getragenseins, aber auch Geschichten der persönlichen Herausforderungen. „Der Weg gibt dir nicht das, was du willst, sondern das, was du brauchst“, sagt man. Diese eindrücklichen Erfahrungen machen Pilgernde immer wieder. Ihr Weg ist ihnen ein Spiegel des Inneren. Der Weg schenkt uns die Kraft, ihn zu gehen, er leitet uns, sorgt für uns, führt uns über Umwege, bergauf und bergab, querfeldein und auch mal außerhalb der Karte, durch Sonne und Regen, über Asphaltwüsten und an blühenden Blumenwiesen vorbei. Vor mir sonnt sich ein Schmetterling. Er fliegt nicht davon. Ich darf ihm nahe sein, dem Schmetterling und dem Leben. So wird es beim Pilgern immer wieder vor allem um eines gehen: Bei sich zu bleiben und doch verbunden zu sein mit der Mitwelt – mit der menschlichen Mitwelt und mit der mehr-als-menschlichen Mitwelt.

Jeden Morgen neu aufmachen zum Pligern

Und so ist letztlich auch weniger die Frage der optimalen Outdoor-Ausrüstung entscheidend als vielmehr die Frage der inneren Ausrüstung: Pilgern schenkt uns viele hoch-heilige Momente. Und Pilgern verlangt Kondition und Ausdauer eher mental, denn körperlich sind viele Pilgerwege moderat im Anspruch. Doch die Herausforderung, sich jeden Morgen wieder neu aufzumachen ins Unbekannte und sich dem zu stellen, was innerlich in Bewegung gerät, verlangt Bereitschaft zur Hingabe ins Vertrauen.

Das merke ich besonders am letzten Tag in Österreich, als mich ernsthafte Zweifel überkommen, ob ich diese letzte Etappe schaffen werde. Mir fehlt die Kraft. Intensive Wandertage stecken mir in den Beinen. Wenn es mir gutgeht, fällt es mir leicht, dem Urgrund allen Seins dafür dankbar zu sein. Umgekehrt habe ich oft Mühe, um Hilfe zu bitten, wenn ich nicht allein weiterkomme, ob bei Menschen oder beim Ewigen. Hier oben in den Bergen kann mir kein Mensch beim Weitergehen helfen. Aber ich brauche Hilfe, ich brauche die Kraft zum Weiterkommen. Und ich bitte himmelhoch darum.

Nie zuvor habe ich diese Hilfe so körperlich erlebt. Es fühlt sich an, als schiebe mich eine unsichtbare Hand sanft bergauf – ich gehe und gehe und gehe. Klingt irre. Ich weiß. Fühlte sich auch irre an. Oben nehme ich mir einen kleinen glitzernden Stein mit. Er soll mich zu Hause an die unbeschreibliche Ruhe erinnern, die mit der Erkenntnis kommt, wie viel Kraft sich entfaltet, wenn ich in Verbundenheit immer weiter meinen Weg gehe.

Geht das auch etwas kürzer?

Der eigentliche Effekt des Pilgerns wird erst bei einem längeren Unterwegssein von mehreren Tagen spürbar. Und dennoch kann ich diese einmal gewonnene Erfahrung auch abrufen, wenn ich mich zu Hause einen halben Tag ausklinke und bewusst rausgehe, um zu pilgern. Mir hilft das, Anliegen zu klären. Ich erfahre die Natur als Spiegel, das Gehen als Meditation. Nicht umsonst heißt es, Pilgern sei Beten mit den Füßen. Am frühen Abend nähern wir uns unserem letzten Etappenziel, der Wallfahrtskirche von Heiligenblut. Wir können sie von weitem sehen und ich denke: Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein Regenbogen. Kurz darauf fängt es an zu nieseln und in dem Moment, als wir die Kirche erreichen, erscheint ein Regenbogen am Himmel und bleibt aufgespannt über dem Tal stehen. Wir sind angekommen. Und ich weiß, warum ich pilgern gehe, immer wieder.

Melanie Schmitt ist begeisterte Pilgerin und hat als Leiterin der Pilgerstelle im Bistum Limburg auch beruflich sehr viel mit einer Spiritualität des Unterwegsseins zu tun.

 

WISSENSWERTES ZUM PILGERN

Nachgefragt bei Melanie Schmitt, Leiterin der Pilgerstelle im Bistum Limburg

Wie fange ich an, wenn ich Pilgern ausprobieren möchte?
Es müssen nicht gleich 800 Kilometer Jakobsweg sein. Es gibt auch in Deutschland und der Schweiz viele gut markierte Wege, wie zum Beispiel den Hildegard-von-Bingen-Weg oder den Lahn-Camino, die beide in etwa zehn Tagen gut zu bewältigen sind. Und viele regionale Pilgerwege, die zum Pilgern für einen Tag einladen. Manche Outdoor-App bietet die Vorauswahl „Pilgerweg“. Wenn man sich umschaut, entdeckt man vielleicht in der Nähe des Wohnortes Jakobsmuscheln oder andere Pilgerwegmarkierungen.

Was ist besser: allein pilgern oder in der Gruppe?
Das hängt davon ab, welches Erlebnis man sucht. Vom organisierten Kulturpilgern mit Rucksacktransport bis zur individuell gestalteten Tour ist alles möglich. Allgemein gilt: Man trifft in der Regel sehr schnell andere Pilgerinnen und Pilger und das immer wieder, weil die Wegstrecke und die Etappen oft ähnlich sind. Das ist auch so schön am Pilgern: die Gemeinschaft, die unterwegs entsteht, das gemeinsame Essen, Wäschewaschen, Blasenpflegen…

Welche Ausrüstung ist notwendig?
Ein Rucksack und gut eingelaufene Schuhe verstehen sich wahrscheinlich von selbst. Wer in Pilgerherbergen übernachten möchte, braucht einen einfachen, dünnen Schlafsack. Nicht zu vergessen: einen Pilgerpass. Auf den meisten Wegen berechtigt er zur günstigen Übernachtung in Pilgerherbergen und Klöstern und dient am Ziel als Nachweis des zurückgelegten Weges für den Erhalt einer Pilgerurkunde. Die bunte Stempelsammlung ist außerdem eine schöne Erinnerung.

Wo bekomme ich Infos?
Es gibt zahlreiche Pilgerweg-Vereine, wie die Jakobusgesellschaften, den Ökumenischen-Pilgerweg-Verein oder eben die Pilgerstellen der Bistümer. Daneben viele Regalmeter an Pilgerführern, die sehr zuverlässig sind, und natürlich die weiten Wege des Internets. Qualifizierte Pilgerbegleiterinnen und -begleiter bieten oft auch Touren zu Themen an, wie Trauerpilgern oder Fastenpilgern.

Eine göttliche Ruhezeit

Bisher dachte Miriam Koller, dass der Sabbat nichts mit unserem Leben heute zu tun hat. Doch als sie sich näher damit beschäftigt, stellt sie fest, wie sehr ein Ruhetag in der Woche das Leben bereichert.

Manchmal habe ich das Gefüh, dass Gott mir etwas Bestimmtes sagen will. Wenn mir ein Thema – scheinbar wie durch Zufall – immer und immer wieder über den Weg läuft, ich mich jedes Mal direkt angesprochen fühle und spüre, hier „stupst“ Gott mich gerade an. Vor Kurzem ging es mir so mit dem Thema „Sabbat“. In drei unterschiedlichen Büchern, die ich zeitgleich las, kam wie aus dem Nichts plötzlich in allen diese biblische Tradition zur Sprache. Zunächst dachte ich, das Thema beträfe mich im Heute nicht mehr, schließlich haben wir in unserer westlichen Welt den Sonntag als Ruhetag und ich arbeite an diesem Tag auch nicht. Und doch ahnte ich: Sabbat ist mehr als unser Sonntag und Gott will mich auf die Spuren dessen führen. Ich verschlang die besagten Bücher. Eines davon war „Das Ende der Rastlosigkeit“ von John Mark Comer. Was ich da las, entfachte ein Feuer in mir. Das wollte ich ausprobieren; das erleben, was diese Menschen hier beschrieben. Die „Sehnsucht Sabbat“ war in mir geweckt, und ich forschte weiter.

Mehr als nur ein Gebot

In der Bibel machte ich folgende Entdeckungen: Für Jesus, der uns ein Vorbild sein will, war der Sabbat ein fester Bestandteil seines Lebensrhythmus. Man kann aber noch sehr viel weiter zurückgehen in der Bibel, um der Wichtigkeit dieses Tages auf den Grund zu kommen. Genau genommen bis an den Anfang der Welt. Gott schuf die Welt in sechs Tagen und am siebten Tag ruhte er. Und in den Zehn Geboten hielt er seine Geschöpfe dazu an, es ihm gleichzutun. Der Sabbat schien für Gott also etwas ganz Essenzielles zu sein. Und wenn ich ehrlich in mich hineinlauschte, merkte ich, dass meine Seele sich eigentlich auch danach sehnt: einen Tag pro Woche wirkliche Ruhe!

Dann wurden jedoch andere Stimmen in mir laut: Du hast eine kleine Tochter, die auch sonntags bespaßt und bekocht werden will. Du hast sonntags Dienste in der Gemeinde. Und nie und nimmer schaffst du es, alles pünktlich zum Samstagabend fertigzuhaben: deinen Haushalt picobello fertig, das Essen für einen Tag vorgekocht, alle Arbeiten deiner To-do-Liste erledigt. Wie bitte soll ein Tag völliger Ruhe praktisch aussehen?

Sabbat – ein Verb

Eine Schlüsselerkenntnis war für mich die wörtliche Übersetzung des jüdischen Wortes „sabbat“. Es ist ein Verb und bedeutet „aufhören/innehalten“. Für mich frei übersetzt: liegen lassen, ganz aktiv liegen lassen! Ich beschloss: Ich probiere es einfach mal aus. Ich lasse am Vorabend unseres Sabbats alles stehen und liegen, atme tief durch und nehme wahr, welche Freiheit mir diese Akzeptanz gibt. Die Akzeptanz der Staubschicht auf meinen Regalen, des noch nicht zusammengelegten Wäschebergs, der noch unbeantworteten E-Mails. Ich darf jetzt einfach 24 Stunden aus dem alltäglichen Hamsterrad der Aufgaben und Erledigungen aussteigen, innehalten, aufhören, durchatmen, ausruhen, meine Hände in den Schoß legen und einmal nicht produktiv sein. Und kann mich dadurch tatsächlich neu für Gottes Gegenwart öffnen.

Wie geht es dann aber weiter? Was genau mache ich dann? Studierende, Rentner, Ehepaare mit großen Kindern – sie alle würden sich damit leichttun. Meine Tochter dürfte jedoch von der Vorstellung eines ganzen Tages des Nichtstuns weniger zu überzeugen sein … Wie kann Sabbat praktisch gelebt werden in einer jungen Familie?

John Mark Comer schreibt: „Am Sabbat tun wir nichts als ausruhen und Gott anbeten. Wenn ich Sabbat halte, prüfe ich alles, was ich tun will, an diesem Doppelraster: Ist es Ruhe und Anbetung?“ Als ich unseren Ruhetag unter diesem Blickwinkel begutachtete, fielen mir einige Dinge ein, die ich selbst mit kleinem Kind machen konnte: bewusstes Zeitnehmen, um in der Kinderbibel zu lesen, gemeinsames Musikmachen und Gott mit Liedern loben, für ihn tanzen, malen, lachen, reden, kuscheln, spielen, ein entspanntes Treffen mit engen Freunden, ein Spaziergang im Wald, ein gemeinsames Familien-Mittagsschläfchen und immer wieder am Tag bewusst Gespräche mit Gott führen – die Gebete ruhig laut ausgesprochen und gemeinsam mit dem Kind. Ich kann meiner Tochter so viel von klein auf mitgeben – warum nicht auch diese wichtige Praxis: einen Ruhetag pro Woche zu begehen, der dem Herrn geweiht ist und an dem wir ihm Dank bringen für die Fülle, die er uns in unserem Leben schenkt.

Zeit für Gott und Genuss

Und wenn die Kleine im Bett liegt, beginnt für mich eine ganz besondere Zeit. Ich mache mir schönes Licht an, öffne vielleicht eine Flasche alkoholfreien Sekt und mache es mir bewusst gemütlich – mit Gott: Ich lese in der Bibel, spreche intensiv mit ihm, versinke im Lobpreis und genieße es, seine Gegenwart zu spüren. Im trubeligen Alltag geht eine solche bewusste „Zeit mit Gott“ oft unter – leider. Umso mehr genieße ich es, dass ich nun am Sabbat einen festen Abend pro Woche extra dafür reserviert habe. Es tut mir und meiner Beziehung zu Gott so gut.

Mir ist inzwischen unser Ruhetag so zum Gewinn geworden, dass ich ihn nun fest in meinen Terminkalender einplane. Mal kann ich uns den Samstag, mal den Sonntag blockieren, je nachdem, welche Termine und Verpflichtungen anstehen. Es gab auch schon Wochen, in denen kein Sabbat möglich war, weil bereits das ganze Wochenende verplant war. Nach einem solchen Wochenende habe ich am Montagmorgen aber einen erheblichen Unterschied gespürt: Ich kam vor Erschöpfung kaum aus dem Bett, war ungeduldig und unzufrieden mit mir selbst. Ich stellte fest, wie sehr ich einen Ruhetag pro Woche tatsächlich brauche. Ich nahm meinen Kalender zur Hand und habe für die ganzen restlichen Wochen des Jahres gleich meine „Sabbat“-Eintragung gesetzt, damit mir das nicht noch öfter passiert.

„Genuss“ ist auch noch ein wichtiger Bestandteil unseres Ruhetags: Den Sabbatabend beginnen wir ganz feierlich mit einem besonderen Essen bei Kerzenschein. Wir lesen einen Psalm zusammen, ich spreche meiner Tochter einen Segen zu, wir genießen Traubensaft und Challa-Brot – das traditionelle jüdische Zopfbrot, das daran erinnert, dass Gott in alle Wochentage eingeflochten ist – und danken für Gottes Versorgung. Hinterher gibt es einen besonderen Nachtisch, zum Frühstück am nächsten Morgen Obstsalat, den alle gemeinsam schnippeln. Zum Mittag gibt es ein Wunsch-Lieblingsessen, im Winter nachmittags Tee mit Lebkuchen, im Sommer mal ein Eis mit Schokostreuseln. Wir wollen uns bewusst etwas gönnen und nebenbei die strahlenden Kinderaugen genießen. Und so wird der siebte Tag der Woche zu einem richtigen kleinen „Feiertag“ – mitten im Alltag. Oder wie ein Urlaubstag. Was habe ich mich früher immer quälend von Urlaub zu Urlaub gehangelt … Nun erlebe ich es als einen Quell der Energie, das jetzt einmal pro Woche erleben zu dürfen, und empfinde solch eine Dankbarkeit meinem Schöpfer gegenüber, dass er das so perfekt für uns Menschen eingerichtet hat.

Ausklinken aus der Welt

Was bedeutet Sabbat für mich noch? Kein Kaufen und kein Verkaufen an diesem Tag – auch kein Onlineshopping, kein Essengehen, keinen Lieferservice anrufen. Gezielt nichts unterstützen, das andere Menschen dazu zwingt, an diesem Tag arbeiten zu müssen und keinen Ruhetag zu haben – egal, ob wir samstags oder sonntags unseren Sabbat halten.

Und dann noch das, was für mich die einschneidendste und gleichzeitig gewinnbringendste Übung wurde: Ich schalte mit Beginn des Sabbats mein Handy aus. Ja, so richtig. Für einen kompletten Tag. Auch alle anderen Multimedia-Geräte bleiben am Sabbat bei uns aus. Es ist immens, welchen Effekt das auf mich und uns hat. Erst dadurch fiel mir zum Beispiel auf, wie viel Zeit ich pro Tag mit meinem Handy verbringe (eigentlich: verschwende). Es fühlt sich an wie ein „Ausklinken“ aus dieser lauten Welt. Und auch wenn es anfangs schwer ist, das auszuhalten, diese neue Ruhe in unserer Wohnung und in meinem Kopf – sie ist so unglaublich wohltuend für mich.

Die schönste Erfahrung, die ich machen durfte, war, dass dieser eine Ruhetag pro Woche auch meine restlichen Wochentage verändert hat. Ich komme nicht mehr so sehr an meine Grenzen. Vermutlich lebe ich am Wochenbeginn noch aus der Kraft heraus, die ich am vergangenen Sabbat schöpfen durfte. Und für die letzten Tage der Woche gibt mir die Vorfreude auf den bevorstehenden Sabbat den nötigen Energieschub. Christina Schöffler hat in ihrem Buch „Slow living – Aus der Ruhe leben“ ein wunderschönes Gedicht veröffentlicht. Es beschreibt genau das, was ich Woche für Woche fühle, und was der Grund dafür ist, warum ich unser neues liebgewonnenes Ritual des Sabbats nicht mehr aus unserem Alltag streichen möchte:

Aus dem Nähkästchen
Das Leben reißt und zerrt,
sechs Tage die Woche,
dann hole ich am Sonntag meinen Flickkorb,
nehme einfach den Faden, der gerade obenauf liegt,
und lege ihn in Gottes Hände.
Und dann beobachte ich,
wie er die zerrissenen Teile
Stich für Stich wieder zusammenfügt.
Und während es draußen schon dunkel wird
und er die letzten Fäden abschneidet,
breitet sich sein Schalom in mir aus.
„So, das müsste halten, zumindest bis zum nächsten
Sonntag!“, sagt Gott lächelnd
und legt das Leben zurück in meine Hände.

Christina Schöffler, aus: „Slow living – Aus der Ruhe leben“ (Gerth Medien)

Miriam Koller lebt und arbeitet in Weinstadt in der Nähe von Stuttgart. Sie ist Buchhändlerin in einer christlichen Buchhandlung und Mutter einer Tochter im Kindergartenalter.

Getrennte Schlafzimmer – Warum sie die Beziehung retten können!

Wenn das Bett zu voll wird schlafen viele junge Paare in getrennten Betten, um die Nachtruhe zu retten. Aber es gibt noch mehr Gründe, warum Familien zu „Schlafnomaden“ werden.

Laut einer Umfrage 2019 in Großbritannien schlafen 40 Prozent der britischen Paare getrennt. In Deutschland könnten die Zahlen ähnlich sein. Aufgrund von Vorurteilen ist das Thema häufig tabu.

Doch schon genetische Unterschiede zwischen Frauen und Männern bedingen unterschiedliche Schlafbedürfnisse. Laut der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin leiden Frauen etwa 1,5-mal häufiger unter Schlafstörungen als Männer. „Frauen haben vor allem ab der Geburt von Kindern eher den leichten ‚Ammenschlaf‘, bei dem man alles hört. Deshalb sehen sie getrenntes Schlafen oft als Chance für (wieder) guten und erholsamen Schlaf, die Männer sehen es als Vorwand für eine Trennung“, sagt Schlafexpertin Christine Lenz.

Freiwillige Schlafscheidung

Vor allem für Familien mit (Still-)Babys und jüngeren Kindern, die nachts oft aufwachen, kann getrenntes Schlafen zumindest zeitweise praktisch sein. So erleben es zum Beispiel Marie und Viktor: „Seit der Geburt unserer Tochter (1,5 Jahre) schlafen wir immer mal wieder phasenweise getrennt. Vor allem in Schreiphasen aufgrund der Zähne oder wenn sie krank ist. Mein Mann schläft dann in seinem Büro und ich bleibe im Ehebett mit dem Kind, da nur ich stillen kann. Wir sind so nicht beide nach der Nacht völlig kaputt, mein Mann ist fit für den Arbeitsalltag und ich kann mich mittags notfalls mit hinlegen“, berichtet die Mutter.

Auch Michèle und David empfinden getrenntes Schlafen für sich und ihre drei Kinder manchmal als praktisch. „Mit dem Abstillen zogen die Kinder von unserem Schlafzimmer ins Wohnzimmer und Kinderzimmer um. Wir gehen jeden Abend als Paar gemeinsam schlafen. Unsere Kinder wachen noch mehrmals pro Nacht auf. In der Regel schläft beim wiederholten Ins-Bett-Bringen der Kinder jemand in deren Zimmer ein. Daher ist morgens noch höchstens eine Person im Schlafzimmer. Wir haben bewusst Kinderbetten angeschafft, in denen auch ein zusätzlicher Erwachsener bequem schlafen kann. Für uns als Familie ist dies momentan die beste und entspannteste Lösung“, erzählen sie.

Getrenntes Schlafen wegen der Kinder ist für das Paar häufig einfacher. „Wenn es die Umstände von außen einfach erfordern, wird man als Paar nicht in Frage gestellt. Das hat nichts mit der Qualität der Beziehung zu tun“, erklärt Paartherapeutin Christine Geschke.

Doch für jüngere Kinder kann die Entscheidung der Eltern, getrennt zu schlafen, beängstigend sein. „Das kann von den Kindern als Gefahr für eine Trennung gewertet werden. Da ist offene Kommunikation wichtig und den Kindern in Ruhe zu erklären, dass man sich vor allem gemeinsam für getrennte Schlafzimmer entschieden hat, damit jeder zur Ruhe findet und dass es nichts mit Trennung zu tun hat. Diese Angst sollte man auch transparent benennen“, so Geschke weiter.

Beziehungsretter getrennte Schlafzimmer?!

Ausreichender und erholsamer Schlaf ist eine wichtige Voraussetzung für physische und psychische Gesundheit. Das am Tag Erlebte wird verarbeitet, es finden Stoffwechselprozesse und Zellerneuerung statt. Der gesamte Organismus regeneriert sich, das stärkt die Abwehrkräfte. Laut einer Studie der Universität Berkeley von 2013 können sich unausgeschlafene Menschen zudem emotional weniger in die Perspektive ihres Partners versetzen, was zu weniger Kommunikation und vermehrten Konflikten in der Beziehung führt. „Je ausgeschlafener man ist, desto wohlwollender kann man auch mit den Schwächen des Partners umgehen. Wenn man schlecht geschlafen hat, ist man sehr intolerant und der liebevolle Blick aufeinander geht verloren“, ergänzt Geschke. Somit ist gesunder Schlaf auch wichtig für gesunde Beziehungen.

Das Nähe-Bedürfnis beim Schlafen ist individuell. „Manche Paare brauchen physische Nähe, um sich geborgen zu fühlen. Andere Paare müssen sich frei bewegen können. Man muss auf einen gemeinsamen Nenner bei der Nähe-Distanz-Gleichung kommen“, weiß Geschke.

Den Wunsch nach getrennten Betten, um ruhiger zu schlafen, sollte man wertschätzend äußern und dem Gegenüber die Angst vor einem Beziehungsende nehmen. Bei der Einrichtung getrennter Schlafplätze sollte auf die Bedürfnisse von beiden Partnern geachtet werden. Es sollten keine Ungerechtigkeiten entstehen, indem der eine im komfortablen Doppelbett und der andere auf dem Klappsofa schläft.

Unterschiedliche Schlafrhythmen oder Hobbys, denen man gern abends, wenn die Kinder schlafen, noch nachgehen möchte, stören den jeweils anderen bei getrennten Schlafplätzen weniger. Anne, die normalerweise mit Mann und der zweijährigen Tochter im Familienbett schläft, berichtet: „Mein Mann verlagert vor allem am Wochenende seine Freizeit gern auf die Nacht und genießt dann seine Ruhe auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer. Oft schläft er beim Filmeschauen dort ein. Ich sage ihm gute Nacht, bevor ich zu Bett gehe. Unter der Woche schläft er wieder bei uns im Familienbett, denn mir fehlte die körperliche Nähe in der Nacht.“

Schlafexpertin Lenz unterstreicht das: „Einsam und allein zu schlafen, ist für uns als Menschen eigentlich nicht gut. Viele schlafen besser in Gesellschaft anderer, weil sie sich dann sicherer und nicht so allein fühlen. Es ist eine Gratwanderung zwischen erholsamem und ruhigem Schlaf allein und dem emotionalen Wohlbefinden der Person damit.“

Nähe außerhalb des Schlafzimmers

Laut Experten können getrennte Schlafzimmer Sexualität manchmal wieder aufregender machen. Natürlich eher nicht, wenn der jeweils andere im Kinderzimmer schläft. Dennoch: Sex kann auch außerhalb des Ehebettes stattfinden. „Die körperliche Nähe muss nicht auf der Strecke bleiben, wenn man getrennt schläft. Vielleicht ist man nicht mehr so spontan oder hat nicht mehr sein Liebesnest wie früher, aber man muss sich auf diese Weise neu Gedanken machen, wie man Intimität auf allen Ebenen schafft“, erzählt Anne.

Um trotz getrennter Schlafplätze die körperliche und auch innerliche Verbundenheit zueinander nicht zu verlieren, können Paare durch Kleinigkeiten wie gegenseitige Nachrichten oder eine Umarmung vor dem Verlassen des Hauses im Alltag Nähe zueinander suchen. Unsere Expertinnen empfehlen feste Rituale. „Sich zum Beispiel abends oder morgens gegenseitig im Bett zu besuchen und noch ein bisschen zu kuscheln. Oder an einem festen Tag eine Verabredung mit dem Partner ausmachen. Zum Beispiel zusammen essen oder tanzen gehen und danach noch kuscheln. So wird die Beziehung nicht vergessen“, rät Christine Lenz.

Flexibel bleiben

Vor allem Familien mit jüngeren Kindern müssen sich im Alltag ständig neu anpassen. Manchmal auch im Schlaf. Lisa und Per (Namen geändert) bezeichnen sich und ihre zwei Kinder selbst als „Schlafnomaden“ und erzählen: „Unsere Wohnung hat ein Zimmer zu wenig, wir haben kein eigenes Schlafzimmer. Entsprechend hatten wir schon in verschiedensten Gruppierungen die Betten verteilt: alle im Familienbett, jeder mit einem Kind in je einem Raum, Kinder im Durchgangszimmer, Eltern im Kinderzimmer … Als die Kinder uns phasenweise viel in der Nacht brauchten, durfte ein Elternteil auch immer mal wieder Pausen machen und eine Nacht nebenan allein durchschlafen – ein Luxus und eine Liebeserklärung in Elternsprache. Wir passen uns den jeweiligen Bedürfnissen an. Unsere Kinder sind mit dieser Flexibilität vertraut. Solange wir Eltern in der Nähe sind und sie einen schönen Schlafplatz haben, ist alles gut.“

ERFAHRUNGSBERICHT JOHANNA, ZWEI KINDER (4 UND 2 JAHRE)

Als unser Sohn auf die Welt kam, schlief er bei uns und unsere Tochter schon im eigenen Zimmer. Wenn sie nachts aufwachte, kümmerte sich mein Mann um sie, doch manchmal wachten dann auch unser Sohn und ich auf. Durch das nächtliche Stillen machte für mich jedes weitere „unnötige“ Wachsein einen Unterschied. Mit der Zeit verlor ich tagsüber schneller die Nerven. So kam die Idee, unserem Schlaf Priorität zu geben und getrennt zu schlafen. Jeder kümmert sich nachts nur um ein Kind und kann sonst durchschlafen. Das entlastete mich sehr.

Unsere Ehe hat gar nicht darunter gelitten. Im Gegenteil. Wir mussten richtig kommunizieren lernen. Welche Bedürfnisse haben wir? Welche Kompromisse sind für uns machbar? Was dient uns als Familie? Sex war nochmal ein extra Thema, an dem wir bewusst gearbeitet haben. Wir lernten, wie wir unsere Liebestanks als Ehepaar trotz getrennter Schlafplätze und Kleinkindphase füllen können. Unsere Gründe waren sehr pragmatisch. Wir wollten in dieser Phase das Bestmögliche für alle rausholen. Echtes Wohlbefinden ist wichtiger als „Das gehört sich so“. Das habe ich selbst damals erst verstanden. Vorher dachte ich, wer nicht im gleichen Bett schläft, hat eine riesige Ehekrise. So ist es auf keinen Fall. Vielleicht sogar im Gegenteil.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin. Sie lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

 

 

Keine Kraft mehr, sich selbst etwas Gutes zu tun

Elternsein ist anstrengend. Kaum eine Mutter oder ein Vater macht das mit links. Hochsensible Menschen sind allerdings besonders herausgefordert in dieser Lebensphase. Von Melanie Vita

Eltern werden bedeutet, sich einer neuen Lebensphase zu öffnen und gewohnte Strukturen hinter sich zu lassen. Das ist wohl für alle Eltern eine Herausforderung. Hochsensible Eltern sehen sich dabei vor besondere Schwierigkeiten gestellt. Strategien, die für ihre innere Balance wichtig sind, wie Rückzugsmöglichkeiten, Stille und Reizreduktion, sind weniger möglich. Die persönliche Zeit wird knapper, Eindrücke, Gefühle und Reize werden intensiver, und nicht selten fühlt man sich einfach erschöpft.

So zum Beispiel bei der fiktiven Ann, Mutter von drei Kindern. Sie hat sich entschieden, ganz für die Kinder da zu sein und gab ihre Berufstätigkeit auf. Sie liebt ihre Familie über alles. Dennoch hat sie Momente, in denen sie sich vor Erschöpfung am liebsten unter der Decke verkriechen würde und das Gefühl hat, nur noch für die täglichen Aufgaben zu funktionieren. Wäsche machen, kochen, Kinder chauffieren, bei den Hausaufgaben helfen, alle Kinder ins Bett bringen – die Liste ist lang. Dabei sagt doch jeder, dass alles gut laufe bei ihr. Ihre Kinder entwickeln sich prächtig, ihr Mann unterstützt sie, und sie kann ihre zur Verfügung stehende Zeit voll für die Familie nutzen. Viele beneiden sie darum. Darf sie da erschöpft sein?

Ungenügend in Job und Familie

Tom hat einen Job in gehobener Position mit viel Verantwortung und ist Vater von Zwillingen, absolute Wunschkinder. Seit die Kleinen auf der Welt sind, hat er das Gefühl, niemandem mehr gerecht werden zu können. Im Büro bleibt vieles liegen. Und wenn er abends nach Hause kommt, erwarten ihn zwei Rabauken, die ihn voll vereinnahmen. Während er zu Hause das Gefühl hat, zu wenig Zeit und Liebe zu investieren, bleibt im Job einiges auf der Strecke. Dabei ist Tom jemand, der sich gern zu 100 Prozent engagiert, sich in Themen, Dinge und auch Beziehungen voll und ganz vertieft. Aber das Bedürfnis nach Ruhe wird immer stärker. Wie machen das andere Väter?

So wie Ann und Tom geht es vielen Müttern und Vätern. Besonders hochsensible Eltern werden sich hier wiederfinden. Sie starten optimistisch in die neue Lebensphase, investieren all ihre Liebe und ihre Fähigkeit der vollen Hingabe an etwas. Mit der Zeit merken sie aber, dass ihre Kräfte schwinden. Wenn Eltern bei der Lösungssuche auf das Thema Hochsensibilität stoßen, fällt ihnen nicht selten ein Stein vom Herzen. „Jetzt verstehe ich endlich, warum es mir so geht“, ist einer der meistgehörten Sätze in meiner Beratung.

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensible Menschen nehmen Sinneseindrücke viel intensiver wahr als andere. Nichts prallt einfach an ihnen ab. Was sie beobachten, spüren und wahrnehmen, wollen sie verarbeiten, durchdenken, verstehen: Warum ist mein Kind resigniert von der Kita gekommen? Wieso kann mein Jüngster nicht mehr durchschlafen? Welche Beweggründe hat meine Große, nicht mehr in die Teensgruppe zu wollen? Warum ist meine Frau so angespannt?

Eine hohe Sensibilität lässt sich anhand folgender Merkmale (nach E. Aron) erkennen:

Verarbeitungstiefe
Tom sitzt am Schreibtisch und überlegt, wie er seine Kinder während des Homeschoolings unterstützen, wie die Arbeitsaufteilung zwischen seiner Frau und ihm lösen, wie er zeitgleich das knifflige Problem in seiner Firma beheben kann. Dabei analysiert er die jeweiligen Situationen von allen Seiten und durchdenkt jedes Detail.

Was sich bei Tom zeigt, ist die Fähigkeit, viele Informationen und Einzelheiten aufzunehmen, zu durchdenken und daraus nachhaltige Schlüsse zu ziehen. Logisches und auch weitblickendes Denken liegen ihm.

Überreizung
Es ist spätabends. Ann sitzt am Küchentisch und ist ausgepowert. Von früh bis spät organisiert, macht und tut sie. Sie kümmert sich um den Haushalt, die Kinder, den Ehemann und ihr kirchliches Ehrenamt. Abends, wenn es still wird im Haus und die Kinder endlich schlafen, wäre die Zeit, sich selbst etwas Gutes zu tun. Aber dafür fehlt Ann meist die Kraft.

Durch die herausstechenden Merkmale wie die Verarbeitungstiefe, die starken Gefühle und die ausgeprägte sensorische Wahrnehmung kommt es schneller als bei anderen zu einem Overload.

Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt

Emotionale Intensität
Ann kämpft mit den Tränen. Ihre Tochter ist in der Kita gestürzt, weint und hat Schmerzen. Das Mitgefühl übermannt Ann regelrecht und sie gibt sich Mühe, stark zu sein, um trösten zu können. Kurze Zeit später kommt ihre Große mit einer guten Klassenarbeitsnote nach Hause – die Freude ist übergroß. Tage wie diese kosten Ann viel Kraft, weil sie emotional stark gefordert ist, egal in welcher Richtung.

Hochsensible erleben Emotionen sehr intensiv. Sie haben ein außergewöhnliches Gespür dafür, wie es anderen geht, und fühlen stark mit.

Sensorische Feinfühligkeit
Tom hat schon immer ein feines Gehör. Eine Stärke, die seinem musischen Talent entgegenkommt. Er hat eine Vorliebe für leise Töne und Harmonien. Steigt der Lärmpegel zum Beispiel durch das Schreien der Kinder, fühlt er sich gestresst.

Hochsensible nehmen Sinneswahrnehmungen jeglicher Art wie durch einen Verstärker wahr und fühlen sich von Reizen schneller gestört als andere. Die Konzentration auf Wesentliches ist dann erschwert.

Hochsensibilität – Segen und Fluch

Hochsensible Eltern bringen für das Begleiten von Kindern eine Menge Fähigkeiten mit. Dazu gehören insbesondere ein gutes Einfühlungsvermögen sowie ein ausgeprägtes Gespür für Bedürfnisse, woraus gute Entscheidungen zum Wohl des Kindes getroffen werden können. Die Entfaltung des Potenzials hängt dabei stark von der inneren Balance, dem Wahren eigener Bedürfnisse und dem Grad der Selbstfürsorge ab.

Hochsensible Eltern verlieren den Zugang zu ihren Stärken, wenn sie durch Stress und Hektik aus dem Gleichgewicht kommen. Dabei können Übergänge wie die Geburt eines Geschwisterkindes, der Eintritt des Nachwuchses in die Kita oder die Einschulung des Kindes genauso kräftezehrend sein wie die tägliche Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und ohne Unterlass Ansprechpartner für alle Familienmitglieder zu sein. Eigene Bedürfnisse geraten ohne bewusste Abgrenzung schnell in den Hintergrund. Das Haushalten mit den eigenen Kräften ist elementar, um einem Ausbrennen vorzubeugen und zu gewährleisten, dass all die Talente einer oder eines Hochsensiblen zum Zug kommen.

Das sind die Alarmzeichen

Um in Balance zu leben, ist es wichtig, eigene Bedürfnisse und persönliche Grenzen ernst zu nehmen. Hochsensible Eltern dürfen sich selbst die Erlaubnis geben, nicht nur auf das Wohlergehen der Familienmitglieder zu achten, sondern auch auf sich selbst. Wer gibt, darf auch empfangen. Es ist das Prinzip einer Waage. Sind die Schalen einseitig gefüllt, kommt das Gleichgewicht abhanden und die innere Ruhe geht verloren.

Doch wie erkenne ich, dass ich nicht mehr im Gleichgewicht bin? Gibt es Anzeichen? Die zuverlässigsten Warnsignale sendet unser Körper. Haben Sie ein super Gedächtnis und von einem Moment auf den anderen sind Sie vergesslich? Zeigen sich Kopf-, Magen- oder Rückenschmerzen? Schlafen Sie schlecht oder sind Sie wider Erwarten unkonzentriert? Sind Sie gereizt oder niedergeschlagen, obwohl Sie eigentlich eine Frohnatur sind? Das kann ein Hinweis darauf sein, dass es dringend Zeit ist für Selbstfürsorge.

Überlebensstrategien für hochsensible Eltern

1. Sich selbst Wertschätzung entgegenbringen
Ein wichtiger Schritt ist die Selbstfreundlichkeit. Fragen Sie sich: Wie rede ich mit mir? Wie sehen meine inneren Gespräche aus? Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob Ihre Reaktion auf ein verbranntes Mittagessen diese ist: „Wie blöd bin ich, sowas kann auch nur mir passieren“ – oder ob Sie das dahintersteckende Signal erkennen und freundlich mit sich sind: „Dass mir das Essen verbrannt ist, ist ein Zeichen, dass ich mich dringend mal hinsetzen und mir eine wohltuende Tasse Tee gönnen sollte.“ Jede Form von Selbstkritik raubt Kräfte.

2. Auf seine Bedürfnisse achten
Achten Sie auf Ihre Bedürfnisse. Sie müssen nicht die Supermama oder der Superpapa sein, die/der alles bewerkstelligt, ohne müde zu werden und Hilfe anzunehmen. Ihre Kinder lernen von authentisch gelebten Grenzen mehr als von Perfektion. Fragen Sie sich: Was brauche ich, damit es mir gut geht? Welche Art der sinnvollen Unterstützung kann ich annehmen?

Austausch tut gut

3. Kontakt zu Gleichgesinnten suchen
Sie denken, Sie sitzen allein im Boot? Weit gefehlt. Man geht davon aus, dass ca. 15-20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel sind. Damit muss es auch in Ihrem Umfeld hochsensible Eltern geben. Auch andere sind überwältigt von den unterschiedlichsten Herausforderungen. Beugen Sie der Isolation vor und suchen Sie Gleichgesinnte. Der Austausch wird Ihnen guttun.

4. Äußere Belastungsfaktoren verringern
Delegieren Sie Aufgaben, wo immer es möglich ist. Setzen Sie Grenzen, lernen Sie, Nein zu sagen. Auch andere können die Kuchenspende fürs Schulfest übernehmen. Viel wichtiger ist, dass Sie Ihr Gleichgewicht behalten, um gut für sich und Ihre Familienmitglieder sorgen zu können und einer Entkräftung vorzubeugen.

Ein Kaffee zur Entspannung

5. „Tankstellen“ suchen
Wie tanken Sie auf? Welche Momente geben Ihnen Kraft? Als Eltern haben Sie selten die Möglichkeit, sich lange Auszeiten zu ermöglichen. Umso wichtiger sind die kleinen Auszeiten und Entspannungsmomente. Notieren Sie sich einmal, was Ihnen guttut. Ist es das kurze Innehalten am Fenster, um Sonne zu tanken? Ein Kaffee oder Tee zwischen den Pflichten? Musik beim Kochen? Oder regelmäßig frische Blumen auf dem Esstisch?

Zu guter Letzt
Es gibt immer wieder Ausnahmesituationen, in denen diese Impulse nicht greifen. Vielleicht, weil Ihre volle Präsenz und Unterstützung in einer familiären Situation dringend gefordert ist. Um körperlich und seelisch gesund durch solche Situationen zu kommen, ist es wesentlich, immer wieder für kurze Momente der Entspannung zu sorgen.

Melanie Vita ist Diplomsozialpädagogin (FH), Lerntherapeutin (IFLW) und Buchautorin. Sie berät hochsensible Kinder, Jugendliche, Eltern und Erwachsene in ihrer Privatpraxis „Hochsensibel leben“. hochsensibel-leben.de

Buchtipps

Brigitte Küster: Hochsensibilität. Den eigenen Weg finden (SCM Hänssler)
Brigitte Schorr: Hochsensible Mütter (SCM Hänssler)
Anja Bätscher: Fein, aber oho! Hochsensibilität besser verstehen und als Gabe begreifen

Von der Bühne in die Quarantäne: „Mein Sohn versteht die Welt nicht mehr“

Statt eines Vortrags vor 7.000 Menschen warteten auf Patrick Knittelfelder 14 Tage Quarantäne. Mit seiner Frau konnte er sich nur durch die geschlossene Tür hindurch unterhalten.

Ein tolles Leben. Fast wie ein Vorzeigeleben. Nach außen kann es sich auf jeden Fall sehen lassen, siehe mein Profil bei Instagram: Hocherfolgreicher Volksschulschwänzer, schwerer Legastheniker, Firmengründer, Leiter der HOME Mission Base, Hotels, Immobilien & Restaurants, Autor. Vielleicht sollte man noch glücklicher Ehemann, beschenkter Vater und Vortragsredner dazu schreiben. Wobei man den Redner besser weglässt, denn damit ging das Drama los.

Einer baute eine Arche

Seit Wochen denke ich an eine Geschichte aus der Bibel. Da heißt es, die Leute aßen und tranken, gingen ihren Geschäften nach. Sie heirateten, zeugten Kinder. Auf heute übertragen: Sie pflegten ihre Insta- und Facebook-Profile, vertrauten auf eine wachsende Wirtschaft, freuten sich auf Champagner und die nächsten Festspiele. Nur einer baute – mitten in den Bergen – eine Arche. Und dann kam der Regen. Oder fast noch blöder: Es kam ein winzig kleines, nanometerkleines bescheuertes Virus. Und vieles was ich hatte, was meine Identität, meine Unternehmerpersönlichkeit ausmachte, ist nicht mehr, hängt am seidenen Faden oder ist von Staatshilfe abhängig.

130 Mitarbeiter in Kurzarbeit, 20 entlassen

Einer hat eine Arche gebaut. Doch das war nicht ich. Einer war vorbereitet und mich hat es von hinten erwischt. Noch vor knapp zwei Monaten zwei Hände voll florierende Firmen mit 150 Mitarbeitern. Jetzt 130 von ihnen in Kurzarbeit und 20 entlassen. Und seit sechs Wochen nur Ausgaben und so gut wie keinen Cent Umsatz.

Und trotzdem lebe ich. Bin immer öfter wieder gut drauf und fest davon überzeugt, dass es ein höheres Wesen gibt, das es nicht nur gut, sondern sogar sehr gut mit mir und uns allen meint. Dass es einen Gott gibt, der einen Plan hat. Und in dem Plan darf auch so etwas Blödes wie Corona vorkommen. Und nein, es ist keine Strafe Gottes. Genauso wenig wie damals AIDS, genauso wenig wie der große Tsunami eine Strafe war. Auch kein Erdbeben und kein Hochwasser. Auch nicht Tschernobyl. Und doch bin ich mir sicher: Gott will mir, Patrick, und uns allen ganz klar etwas sagen. Aber was?

Leben am Limit

Vor acht Wochen war die Welt noch schön und gut. Das heißt in meinem Fall: Ich habe ein Leben am Limit geführt. Auf mich selbst und meine Familie bezogen. Viel zu lange schon. Auf der einen Seite die Firmen mit all den täglichen Herausforderungen, die zehn Hotel und Restaurants mit sich bringen. Dazu noch einige Immobilien. Nicht die kleinsten an Größe und Sorgen. Auf der anderen Seite die Leitung eines der spannendsten kirchlichen Aufbruchprojekte. Jüngerschaftsschule (ein Ort, an dem man christliches Leben in Freiheit und Schönheit von Grund auf lernt), Medienhaus, Gebetshaus, eine Suppenküche für Menschen am Rande der Gesellschaft, ein wunderschöner Buchladen mit Café mitten in der Altstadt von Salzburg, Studios und einiges mehr. Eine wunderbare Familie und sogar noch ein paar Freunde. Und immer das Gefühl, überall ein bisschen zu wenig zu geben.

Riesiger Kongress

Dann noch diese große Konferenz in Deutschland. Über 7000 Menschen in einer Halle. Die mit Abstand allergrößte Halle, in der ich jemals sprechen würde. Ich reiste mit 20 meiner Mitarbeiter an. Im Hinterkopf den fixen Plan, mir gleich danach ein, zwei Wellnesstage in einem tollen Spa zu nehmen. Ganz alleine. Sehr ersehnt. Quasi eine Belohnung für den Kongress. Für die letzte stressige Zeit. Für das Viel-zu-viel der letzten Tage. Ach was, gleich für die letzten Jahre …

Konferenz abgebrochen

Dann ist es so weit: Ich stehe in der riesigen Halle, meinen Vortrag scharf und spitz vorbereitet. Soundcheck hinter mir. Dopamin, Testosteron und was weiß ich noch alles mit höchster Ausschüttung. Doch dann wie aus dem Nichts: Alle Sprecher sofort in einen Raum wegen Corona-Gefahr. Notfallplan. Halle geleert, Kongress beendet, alles zu. Rückreise isoliert, von Polizei und Gesundheitsamt zu Hause erwartet. Der Absonderungsbescheid nach dem Seuchengesetz noch in der Nacht zugestellt, 14 Tage Quarantäne. Alles ist sehr aufregend, die Polizei vor der Haustür. Ja, so war das damals. Vor ein paar Wochen. Da konnte man sich das noch leisten. Der erste Verdachtsfall in Salzburg.

14 Quadratmeter für 14 Tage

Meine Frau Dagmar richtet das Gästezimmer her. Wir begrüßen uns nur aus der Ferne. Mein Sohn Moritz, vier Jahre alt, versteht die Welt nicht mehr. Der Papi ist da und doch nicht da. Ja, genau. Da und doch nicht da. Was bin ich eigentlich? Da oder eigentlich weit weg von mir? Die ersten Tage und Nächte sind nicht gut. Gar nicht gut. Sehr viel besser sollte es auch nicht werden. Da sitze ich auf 14 Quadratmetern für 14 Tage. Vier Schritte in die eine Richtung, fünf in die andere. Die Polizei winkt mehrmals täglich vor dem Fenster. Ich sitze brav in meinem Zimmer. Meine Familie kümmert sich um mich, so gut es geht. Adrenalin und Dopamin sind immer noch da. Auf der Bühne konnten sie nicht heraus. In meinem Zimmerchen auch nicht. Und langsam keimt der Verdacht: Da kommt ein dickes Ende.

Gute Ratschläge überall

So viele schreiben mir, Freunde, Partner, Unbekannte. Jeder Zweite freut sich für mich: So schön, jetzt hast du so viel Zeit für fromme Gebete und Ruhe und, und, und … Am liebsten würde ich den Nächsten, der mir so einen Tipp gibt, eigenhändig erschlagen! Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so leere, zähe Zeit in meinem Leben gehabt zu haben.

Meine Büroarbeit geht weiter, so wie das Leben draußen weitergeht. Damals zumindest noch. Damit ist sie endlich da, die Ablenkung, die vieles leichter macht. Videocalls, E-Mails, Briefings, fast jeden Tag Interviews. Ja, noch vor ein paar Wochen war ein Verdachtsfall eine spannende Geschichte für die Medien. Bald ist das Adrenalin verdunstet, die Interviews sind alltäglich, die Polizei ist zu nett und die Arbeit Routine.

Ruhe – und doch nicht ganz

Moment mal – war da nicht meine große Sehnsucht nach Erholung? Nach Wellness und Spa, nach Rastmachen, Buch und Zeitung lesen, Ausschlafen … Das habe ich doch nun alles! Eigentlich. Da spreche ich so gerne davon, dass man nicht das Opfer seiner Umstände ist. Dass man sich überall zurechtfinden kann. Wie wichtig ein strukturierter Tag ist. Wie man seine Zeit nutzen kann. Da wird mir klar, wie weit ich eigentlich von dem entfernt bin, was ich predige. Stattdessen gerate ich ins Wanken und in tiefe Traurigkeit.

Tiefe Gespräche

Jeden Abend sitze ich in meinem Zimmer. Meine Frau sitzt auf dem Gang. Wir sprechen. Ganz anders als sonst. Es sind Gespräche auf Distanz und doch so nah. Vielleicht so nah wie schon lange nicht mehr. Das sind meine Anker. Jeden Tag. Die Zeiten, wo die Traurigkeit weicht. 14 Tage sind lang, länger, als ich gedacht hätte. Die Gespräche tun gut. Langsam ist das Ende in Sicht, die letzten Tage ziehen sich.

Lektion gelernt

Das Zimmer wird irgendwie kleiner. Ich auch. Meine Erwartungen an die Zukunft werden kleiner. Vielleicht gesünder. Ich freue mich über Bäume, die zu grünen beginnen. Das war nie mein Thema, jetzt aber doch. Und all die Leute die mir schreiben: Warum tun sie das? Mögen sie mich? Ich meine, mögen sie mich wirklich? So schlecht sind die Tipps auch wieder nicht. Vielleicht brauche ich einfach nur Zeit für mich. Habe ich genau das verlernt in den letzten Jahren? Familie, Firmen, Dienste, alles war wichtiger als ich selber. Ich habe die Lektion gelernt. In letzter Sekunde. Gerade noch.

Fünf Tage Freiheit

Der erste Tag in Freiheit. Die auflagenstärkste Zeitung hat ein Team geschickt, um mich auf den ersten Metern zu begleiten. Redakteur, Fotograf und Kameramann sind da. Sorry, bitte noch 15 Minuten warten! Wir haben gerade unser »Morning Prayer«, Gott, meine Mitbewohner und ich.

Fünf Tage in Freiheit, dann plötzlich der Lockdown in Österreich. In Salzburg noch einmal schärfer. Und der Lockdown sieht wirklich nach Lockdown aus: Alles ist zu, alles geschlossen. Fast alles steht still. Hektische Krisengespräche überall. Was sollen wir tun? Was wird geschehen? Unsere offizielle Kirche beauftragt uns, „Kirche in die Wohnzimmer“ zu bringen. Hektisch bauen wir aus den Studios aus, was wir glauben zu brauchen, richten neue Studios ein. Vier Stunden später riegeln wir uns ab. Selbstgewählte Quarantäne, um Fernsehen in Krisenzeiten machen zu können. Zwei Tage später ist unsere Quarantäne nicht mehr freiwillig. Massive Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land. Jeden Tag müssen wir der Polizei erklären, dass wir keine Versammlung sind, sondern mit 47 Menschen abgeriegelt unter einem Dach leben, um Kirche in die Wohnzimmer zu bringen. Die Menschen essen und trinken, sie heiraten, zeugen Kinder, machen Geschäfte und ein paar bauen eine Arche. Diesmal bin ich mit dabei.

Jeden Tag streamen

Gefühle, Stimmungen, Kämpfe und Ringen. Fragen, warum das Ganze geschieht und wann es endlich vorbei ist. Es ist wieder dasselbe Programm wie in meiner Quarantäne. Aber diesmal es geht deutlich besser. Statt 14 sind es nun 3000 Quadratmeter. Statt allein sind wir 47 und ich habe meine Lektionen gelernt. Jeden Tag reifen wir, jeden Tag streamen wir, jeden Sonntag machen wir Fernsehen und Radio, manchmal streiten wir, meist versöhnen wir uns wieder und kämpfen gemeinsam weiter.

Berufliche Grundlage weggebrochen

Vieles wird sich ändern. Lineares Denken vor, in und nach der Krise wird nicht ausreichen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir unmittelbar vor einer großen Veränderung stehen. Meine berufliche Grundlage ist binnen weniger Tage weggebrochen. Salzburg lebt hauptsächlich von Gästen aus dem asiatischen Raum, den USA, Deutschland und Italien. Unser Geschäftsmodell braucht eine Richtungsänderung. Meine finanzielle Zukunft braucht eine Richtungsänderung. Die halbe Welt braucht eine Richtungsänderung!

Wir können das!

Das ist für mich gleichzeitig Sorge und Hoffnung. Wer und vor allem wie sollen wir diese Neuausrichtung und Umgewichtung, diesen Paradigmenwechsel vollziehen? Von wo kommen neue Ideen, neue Projekte, neue Wertschöpfung? Die Antwort lautet: Von dir und von mir! Wir brauchen ein Klima, eine Umgebung, in der wir beginnen, etwas zu riskieren, unsere Zukunft in die Hand nehmen und die Komfortzone verlassen.

Patrick Knittelfelder leitet ein Unternehmen mit rund 150 Mitarbeitern in Salzburg und Graz in den Bereichen Hotellerie, Gastronomie und Immobilien und ist Geschäftsführer der »HOME Mission Base Salzburg«, wo er mit seiner Familie und 40 jungen Erwachsenen lebt.

Der Artikel erschien zuerst im Buch „Hoffnung – Zuversicht in Zeiten von Corona“ bei SCM Hänssler.

Machtkämpfe mit dem Sohn

„Mein Sohn (7) und ich rasseln in Alltagssituationen immer wieder so heftig aneinander, dass sofort Streit und eine übermäßig aggressive Reaktion meines Sohnes folgen. Was kann ich tun, um Stellung zu beziehen, ohne in einen Machtkampf zu schlittern?“

Ich finde es prima, dass Sie aus dieser Streitspirale herauswollen und sich fragen, was Sie tun können. Dadurch zeigen Sie sich in Ihrer Rolle als Eltern handlungsfähig.

KURZE VERSCHNAUFPAUSE

Reagieren Sie ruhig, besonnen und klar. Bleiben Sie sich Ihrer Rolle als Mutter oder Vater bewusst. Suchen Sie erst nach einer kurzen Verschnaufpause das Gespräch mit Ihrem Sohn über seine Reaktion auf die erlebte Situation. Das ist effektiver als eine Klärung während des Streites. Erklären Sie Ihrem Kind, wo Ihre Grenzen sind und was es tun kann, um besser zu reagieren. Fragen Sie ihn auch, was ihn so aufgeregt hat, und nach hilfreichen Ideen für die nächste Situation.

Es könnte auch hilfreich sein, die Situation mit Abstand zu betrachten und sich zu fragen: Wie würde ich in Ruhe und Gelassenheit reagieren? Auf welche Lösungsideen würde ich kommen? Spannend könnte auch sein, ein Verhaltenstagebuch zu führen. Notieren Sie für einige Zeit nach den Konfliktsituationen: Wann traten sie auf und wie liefen sie ab? Was war vorher? Gibt es ein sich wiederholendes Muster? Was könnte das Ursprungsproblem sein? Wie habe ich reagiert? Mit Hilfe dieser Beobachtung sind häufig konstruktive Lösungen des Problems in Sichtweite.

FREIRAUM ZUGESTEHEN

Kinder müssen im Laufe ihrer Entwicklung folgende Grundfertigkeiten erlernen, die sie auf ein eigenständiges Leben vorbereiten:

– Miteinander reden: So lernen Kinder, eigene Bedürfnisse, Meinungen oder Ideen mit Sprache und Gestik zum Ausdruck zu bringen. Ebenso lernen sie, auf Anweisungen von Erwachsenen zu hören und diese zu befolgen. Hierzu gehört auch, dass sie erlernen, durch ihr Handeln Situationen zu beeinflussen und somit Selbstwirksamkeit zu erfahren.

– Selbstständigkeit erwerben: Mit zunehmendem Alter wollen Kinder ihren Lebensraum erweitern, selbstständiger und unabhängiger von den Eltern werden. Es fordert uns heraus, unseren Kindern den Freiraum zur Eigenständigkeit auch in wachsendem Maße zuzugestehen.

– Aufgaben und Probleme selbst lösen: Kinder brauchen den Freiraum, Fragen zu stellen, eigene Ideen und Lösungen zu entwickeln und diese auch auszuprobieren. Auch wenn wir Eltern manches für unmöglich halten, ist es dennoch wichtig, auch die Teillösungen zu feiern oder Scheitern zu akzeptieren.

– Den Umgang mit Gefühlen lernen: Eigene Gefühle wahrzunehmen und sie angemessen zum Ausdruck zu bringen, ist für Kinder nicht immer leicht – insbesondere, wenn die Gefühle intensiv erlebt werden. Diese Lernfelder fordern uns Eltern manchmal ganz schön heraus. Auftretende Schwierigkeiten mit dieser Brille zu sehen, kann uns aber dabei helfen, die Frustration unserer Kinder zu verstehen und sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Unsere Kinder brauchen Zeit und Raum, um sich zu entwickeln.

Sandra Schreiber ist Beraterin und Systemischer Elterncoach im „LebensRaum Gießen“.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

 

„Gaga“ im Kopf

Eine Frage ist Elisabeth Vollmer besonders wichtig geworden.

„Sie müssen nicht erschrecken, wenn Ihre Tochter beim Aufwachen ziemlich desorientiert ist. Der Medikamentencocktail, den sie gekriegt hat, lässt die Kinder beim Aufwachen manchmal ziemlich gaga wirken. Aber das geht vorbei.“ Glücklicherweise hatte mich der Anästhesist mit diesen Worten auf Tabeas Zustand vorbereitet. Aber selbst damit war es noch gruselig genug, meine 14-jährige taffe Teenagertochter so desorientiert zu erleben – „gaga“ traf es ziemlich gut. Neben all dem mehr oder weniger sinnlosen Geblubber, das sie dabei äußerte, kam eine Frage ungefähr alle zwei Minuten klar und deutlich: „Mama, bist du da?“ – und wurde von mir selbstverständlich und liebevoll in gleicher Häufigkeit positiv beantwortet.

Der Zustand ging wie prognostiziert vorbei. Das Ganze ist schon eine Weile her, und eigentlich hatte ich es fast vergessen. Bis ich neulich nachts im Bett lag. Unüberblickbare Problemberge in unterschiedlichen Lebensfeldern, Überforderung, Frust, Chaos in Herz und Kopf – ziemlich „gaga“ lag ich wach. Da kam mir dieser Satz von Tabea in den Sinn: „Mama, bist du da?“ Davon ausgehend formte sich die Frage an Gott: „Du fürsorglicher, liebevoll kümmernder Mama-Papa-Gott, bist du da?“

Und auch wenn ich keine Antwort hörte, so war mir doch das Bild Gottes, der an meinem Bett steht, meine Hand hält und mir zusagt, dass er da ist, plötzlich tröstend nahe. So breitete ich mein ganzes Chaos Stück für Stück aus – immer wieder mit der Frage: „Bist du da – auch in dieser Chaosfacette?“ Und obwohl ich in dieser Nacht in keiner einzigen Problemlage eine Lösung gefunden habe, so hat es mir doch gut getan, mich zu vergewissern, dass Gott in all dem da ist und ich konnte – nach einiger Zeit – einschlafen.

Das hat mir so geholfen, dass ich es seitdem immer wieder übe. Nicht nur nachts, sondern auch sonst. Manchmal eher nebenbei im Alltag oder auch ganz bewusst in einer Pause, die ich mir gönne. Ich schaue mir mein Leben an und vergewissere mich, dass Gott in allem mit mir ist. Nicht nur, wenn ich ziemlich gaga, sondern auch wenn ich grade über etwas oder jemanden froh und dankbar bin.

Diese schlichte, kleine Übung tut mir gut, entlastet mich und ist mir in letzter Zeit zu einer Tankstelle geworden. Und während ich darüber nachdenke, warum das so ist – schließlich habe ich für die meisten Probleme noch immer keine Lösung gefunden! – fällt mir ein, dass Gott sich in der Begegnung mit Mose am Dornbusch „Jahwe“ nennt, was auch als „Der ich bin da“ übersetzt wird. Die Erfahrung ist also nicht neu. Auch wenn bei mir nicht der Dornbusch brennt. Gott weiß, dass wir ihn brauchen. Er weiß auch, dass es uns guttut, zu wissen, dass er da ist. Er vergewissert es uns so gerne, dass er für uns da ist, dass er es sich sogar in den Namen geschrieben hat. Und so frage ich weiter, immer wieder: „Bist du da?“ Und ich vertraue, dass er antwortet. Immer wieder, selbstverständlich und liebevoll: „Ja! Ich bin da!“

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.

 

 

 

 

 

Mein Sohn schläft nicht…

„Unser Sohn (8) kann schlecht einschlafen. Wie können wir ihm helfen, abends besser zur Ruhe zu kommen?“

Mit Ihrer Frage sind Sie nicht allein, sondern treffen ein Thema, das viele Eltern irgendwann beschäftigt: Sie sehnen sich abends nach Ruhe und ihrem verdienten Feierabend, und auch die Kinder benötigen ihren Schlaf. Wenn ihr Sohn ein Kind ist, welches nicht alleine zur Ruhe kommt, ist Ihre Aufgabe und Herausforderung, das zu erkennen und zu akzeptieren. Wenn Sie sich darauf einstellen und ihm liebevoll und wertfrei begegnen, können sie Raum für einen guten Umgang mit der Situation schaffen. Vielleicht war er schon als Baby ein unruhiger Schläfer und brauchte bei jedem Nickerchen Ihre Hilfe? Vielleicht ist er insgesamt eher temperamentvoll und aktiv? Oder auch sehr sensibel und nimmt mehr Reize auf, als er verarbeiten kann? Probieren Sie verschiedene Strategien aus, die ihm abends helfen können: ein Bad mit ätherischen Ölen wie zum Beispiel Lavendel, dem man eine beruhigende Wirkung zuschreibt. Auch ein Gebet, beruhigende Musik, Stilleübungen, eine Wärmflasche im Bett, eine besondere Lampe mit warmem Licht, eine Massage oder eine Geschichte können helfen. Es gibt viele Möglichkeiten. Bestimmt finden Sie etwas, das zu Ihnen passt.

TAGESABLAUF
Darüber hinaus ist es wichtig, einen Blick in Ihren Alltag und auf den Tagesablauf zu werfen. Eventuell ist Ihr Sohn ein Kind, welches besonders anhand von Wiederholungen und Strukturen Orientierung erhält. Achten Sie darauf, dass Sie bestimmte Rituale in Ihren Tag integrieren. Unterziehen Sie Ihre Woche einer kleinen „Stressanalyse“: Gibt es ausreichend Zeiten, in denen alle abschalten und runterkommen können? Gibt es Phasen am Tag, an denen nichts passiert? Erlebt Ihr Sohn auch einfach mal Langeweile? Ist Ihr Wochenprogramm zu umfangreich? Bekommt er genügend Bewegung, ist er ausreichend an der frischen Luft? Achten Sie auch darauf, dass Sie den Abend als ruhige Phase im Tagesablauf markieren. Für Ihren Sohn ist es hilfreich, wenn klar ist, wann er ins Bett gehen soll und was davor passiert.

ATMOSPHÄRE IN DER FAMILIE
Manchmal finden Kinder nicht in den Schlaf, weil abends aller Trubel und alle Ablenkungen von ihnen abfallen und dann Sorgen und Ängste in ihr Bewusstsein gelangen. Als Eltern sollten Sie sich auch fragen, wie viel Ruhe von Ihnen selbst ausgeht. Wenn wir permanent auf unsere Handys schauen, abends noch schnell die Mails checken oder mit den Gedanken schon beim nächsten Tag sind, dann ahmen unsere Kinder uns nach. Womöglich quält Ihr Kind sich auch mit etwas, das in der Familie dringend angesprochen werden muss. Lassen Sie sich hier nicht verunsichern: Unsere Familien haben alle Herausforderungen, Ecken und Kanten und ihre schwierigen Punkte. Wenn diese Dinge offengelegt und nicht tabuisiert werden, kann eine Familie gut damit umgehen. Auch Ärger in der Schule oder Streit mit Freunden kann Kindern den Schlaf rauben. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie geruhsame Abende!

Anne Schultz-Brummer ist Diplom-Pädagogin, familylab-Trainerin und arbeitet als Kita-Fachberaterin in Hamburg. Sie ist verheiratet und hat drei Söhne.

Den Takt selbst bestimmen

Das Dossier zum Thema „Ruhe“ in der aktuellen Family und FamilyNEXT ist mir persönlich sehr wichtig. Ich merke, dass ich ohne bewusste Ruhezeiten meinen Alltag nicht bewältigen kann. Und dass ich immer wieder das Tempo rausnehmen muss.

Einen wesentlichen Impuls, wie ich das praktisch umsetzen kann, habe ich beim Reiten bekommen. Ich reite ein eher phlegmatisches Schulpferd, das aber manchmal, vor allem gegen Ende der Reitstunde, eine Art Renntrab einlegt. Wahrscheinlich weil es hofft, dass die Stunde dann schneller rumgeht …

Beim Leichttraben muss der Reiter im Takt des Pferdes im Sattel aufstehen und sich wieder hinsetzen. Wenn meine liebe Merrie nun losrennt, gibt es einen bewährten Tipp der Reitlehrer: Langsamer aufstehen! Wenn ich mich nicht seinem Tempo anpasse, sondern selbst ein ruhigeres Tempo wähle, wird auch das Pferd wieder etwas langsamer. Funktioniert nicht immer (Merrie kann ganz schön stur sein), aber immer öfter.

Irgendwann fiel mir auf, dass man dieses Prinzip auch auf das Leben anwenden kann. Der Alltag gibt oft einen zackigen Takt vor: Noch schnell dieses erledigen, jenes organisieren, Kind 1 hierhin bringen, mit Kind 2 Vokabeln lernen … Wenn ich merke, dass es mir zu schnell wird, versuche ich, einen Gang zurückzuschalten. Ich will mich nicht an den Takt des Alltags anpassen, ich will ihn – soweit das möglich ist – selbst bestimmen. Ich will mir mein Lebenstempo nicht von anderen oder vom Alltag vorgeben lassen.

Wie das praktisch geht: Jetzt in der Adventszeit heißt das für mich zum Beispiel, die Weihnachtsdeko eine Nummer kleiner ausfallen zu lassen. Nicht jede Woche Plätzchen zu backen (die ja nicht mal eine Woche überleben …), für das Adventskaffeetrinken nur einen einfachen Blechkuchen zu backen. Und beim Weihnachtseinkauf gehe ich einfach mal einen Schritt langsamer. Ich höre dem Straßenmusiker zu, nehme die unterschiedlichen Gerüche wahr und stelle mir vor, ich sei im Urlaub in einer fremden Stadt …

Bettina Wendland
Redakteurin Family/FamilyNEXT

So was wie Stille

Bei Familie Diekmann geht es oft laut zu. Umso mehr sind sie bemüht, immer wieder Oasen der Ruhe für die ganze Familie zu schaffen.

Unser Tag ist laut, wild und bunt. Das macht uns als Familie aus. Jeder, der uns kennt, grinst über meine laute Art zu lachen, die schnellen Wortgefechte bei Diskussionen und den frotzeligen Ton zwischen uns. Nicht immer tut uns unser kraftfordernder Tag gut. Oft ächzen wir und sehnen uns nach einer Oase der Ruhe. Wir lieben daher Pausenzeiten – als ganze Familie. Nach jedem Mittagessen um 14 Uhr verschwinden wir alle in unseren Zimmern und ruhen eine Zeit lang. Die, die lange Schule haben oder berufliche Termine, verzichten darauf. Alle anderen atmen bewusst durch – bei einem spannenden Hörspiel, handyfrei beim Stillliegen, Schlafen oder Musikhören. Nur eine halbe Stunde später röchelt die Kaffeemaschine und wir treffen uns in der Küche. Nun werden Fragen aus der Schule oder zum weiteren Tag besprochen. Wir brauchen diesen kleinen Stopp am Tag, um zu spüren, wer wir sind. Um uns zu erinnern und zu vergewissern. Nicht selten ist das auch eine Chance, für die weiteren Schritte des Tages zu beten.

ATEMHOLEN BEI GOTT
Seit unsere Kinder im Grundschulalter sind, versuchen wir in unregelmäßigen Abständen, Neues über Gott zu entdekken. Wir sind keine Familie, die das einmal pro Woche tut. Immer wieder befinden wir uns aber an einem Punkt, wo wir fünf uns zum Kuscheln auf dem Sofa treffen. Zur Ruhe zu kommen, ist in Familien eine echte Aufgabe und auch bei uns ist es immer wieder Thema. Wir wollen uns bewusst für Gottes Kraft öffnen. Wir wollen gut über unsere Herausforderungen denken und reden, anstatt über Stress zu jammern. Immer wieder entscheiden wir uns für ein Frühstück im Schlafanzug mit Vorlesen und Rückenkraulen oder sogar ein Abendmahl als Familie. Ich vermisse dabei allerdings die „würdige Andacht“ unserer Kinder. Sie sind schnell wieder im Alltag. Ich aber sehne mich nach einem tiefen Atemholen mit ihnen bei Gott. Highlights gibt es dennoch: Als alle Kinder noch im Kindergarten- und Krabbelalter waren, haben wir als Familie gesungen. Manchmal fünf Minuten, manchmal fünfzehn. Henrik konnte sich diese Pause am frühen Abend einrichten und hat mit einem Kind auf dem Schoß Wunschlieder aus dem Family-Liederbuch gespielt. Nach einem kurzen Gebet gab es Abendbrot. Mir haben diese Zeiten bei Gott geholfen, mein aufgewühltes Ich für den Tagesendspurt ins Lot zu bringen.

BESONDERER MOMENT
Einmal haben wir eine Gebetsrunde gestartet und uns von Gott ein Wort für das neue Jahr gewünscht. Ein Experiment. Werden wir etwas hören oder spüren, wenn wir einige Minuten still sind? Können wir alle Gedanken zurückschieben, die nicht mit dem Gebet zu tun haben? Die Kinder haben sich auf das Wagnis eingelassen. Nach der Stille hat jeder einen Moment lang innegehalten und sein Wort notiert. In einer Austauschrunde hat jeder sein Wort vorgestellt. Es kamen einige Worte, die passend werden sollten in diesem Jahr. Ein Kind hatte nichts für sich entdecken können – auch über dieses Ergebnis haben wir gesprochen. Dieser kleine Moment war besonders, und wir Eltern hätten ihn gerne noch länger festgehalten. Diese Stille-Übung hat uns miteinander und mit Gott verbunden. Meine Ideale für Ruhe und Stille als Familie mit Gott loszulassen, ist bis heute schwer für mich. So sind unsere Kinder beim abendlichen Beten im Urlaub ratzfatz fertig. Da bin ich kaum mit meiner Wahrnehmung bei Gott angekommen.

DER LIEBEVOLLE BLICK GOTTES
Da wir zappelig sind, können wir leichter zur Ruhe kommen, wenn wir körperlich beteiligt sind. Im Kindergartenalter haben unsere Kinder beim Beten die Tennisballmassage geliebt. Da wurde ihr Körper von Fuß über Beine, Rücken, Kopf bis zurück zum anderen Fuß mit kräftigem Druck abgerollt. Die Vorgabe war, dabei nicht zu sprechen. Einfach die leisen Tönen des Atmens zu hören. Am Ende der Ruhephase habe ich oft einen Segen gesprochen, und nicht selten ist ein Kind dabei eingenickt. Was ich gerade gerne übe, ist der liebevolle Blick Gottes. Ich habe diesen Gedanken im Gebetshaus Augsburg kennengelernt. Ich atme bewusst ein und aus. Manchmal ist mein Sohn dabei, manchmal alle. Wir stellen uns vor, welche Blicke von Menschen auf uns ruhen. Welche Erwartungen von diesem Tag drängen. Es gibt einen Punkt in meiner Vorstellung, der wie durch einen Spot hell erleuchtet ist. Dort ist nun mein Platz. Ich stelle mir vor, dass Gott mich hier liebevoll ansieht als seine Tochter. Ich lasse mich von ihm ansehen. Von ihm. Voller Liebe. Ich trete nicht schnell und zappelig wieder aus dem Licht. Ich halte es aus. Ruhe ist Raum, das Innere zu spüren. Es gibt viele Wege, wie Familien diese Stille für sich entdecken können: in die Sternennacht schauen, beim Hören einer Geschichte oder beim schaumigen Vollbad in eine Kerze blicken … Stille ist ein spannender Weg voller Entdeckungen.

family_16_6_ds-pdf-adobe-acrobat-pro-dcStefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.