Von der Bühne in die Quarantäne: „Mein Sohn versteht die Welt nicht mehr“

Statt eines Vortrags vor 7.000 Menschen warteten auf Patrick Knittelfelder 14 Tage Quarantäne. Mit seiner Frau konnte er sich nur durch die geschlossene Tür hindurch unterhalten.

Ein tolles Leben. Fast wie ein Vorzeigeleben. Nach außen kann es sich auf jeden Fall sehen lassen, siehe mein Profil bei Instagram: Hocherfolgreicher Volksschulschwänzer, schwerer Legastheniker, Firmengründer, Leiter der HOME Mission Base, Hotels, Immobilien & Restaurants, Autor. Vielleicht sollte man noch glücklicher Ehemann, beschenkter Vater und Vortragsredner dazu schreiben. Wobei man den Redner besser weglässt, denn damit ging das Drama los.

Einer baute eine Arche

Seit Wochen denke ich an eine Geschichte aus der Bibel. Da heißt es, die Leute aßen und tranken, gingen ihren Geschäften nach. Sie heirateten, zeugten Kinder. Auf heute übertragen: Sie pflegten ihre Insta- und Facebook-Profile, vertrauten auf eine wachsende Wirtschaft, freuten sich auf Champagner und die nächsten Festspiele. Nur einer baute – mitten in den Bergen – eine Arche. Und dann kam der Regen. Oder fast noch blöder: Es kam ein winzig kleines, nanometerkleines bescheuertes Virus. Und vieles was ich hatte, was meine Identität, meine Unternehmerpersönlichkeit ausmachte, ist nicht mehr, hängt am seidenen Faden oder ist von Staatshilfe abhängig.

130 Mitarbeiter in Kurzarbeit, 20 entlassen

Einer hat eine Arche gebaut. Doch das war nicht ich. Einer war vorbereitet und mich hat es von hinten erwischt. Noch vor knapp zwei Monaten zwei Hände voll florierende Firmen mit 150 Mitarbeitern. Jetzt 130 von ihnen in Kurzarbeit und 20 entlassen. Und seit sechs Wochen nur Ausgaben und so gut wie keinen Cent Umsatz.

Und trotzdem lebe ich. Bin immer öfter wieder gut drauf und fest davon überzeugt, dass es ein höheres Wesen gibt, das es nicht nur gut, sondern sogar sehr gut mit mir und uns allen meint. Dass es einen Gott gibt, der einen Plan hat. Und in dem Plan darf auch so etwas Blödes wie Corona vorkommen. Und nein, es ist keine Strafe Gottes. Genauso wenig wie damals AIDS, genauso wenig wie der große Tsunami eine Strafe war. Auch kein Erdbeben und kein Hochwasser. Auch nicht Tschernobyl. Und doch bin ich mir sicher: Gott will mir, Patrick, und uns allen ganz klar etwas sagen. Aber was?

Leben am Limit

Vor acht Wochen war die Welt noch schön und gut. Das heißt in meinem Fall: Ich habe ein Leben am Limit geführt. Auf mich selbst und meine Familie bezogen. Viel zu lange schon. Auf der einen Seite die Firmen mit all den täglichen Herausforderungen, die zehn Hotel und Restaurants mit sich bringen. Dazu noch einige Immobilien. Nicht die kleinsten an Größe und Sorgen. Auf der anderen Seite die Leitung eines der spannendsten kirchlichen Aufbruchprojekte. Jüngerschaftsschule (ein Ort, an dem man christliches Leben in Freiheit und Schönheit von Grund auf lernt), Medienhaus, Gebetshaus, eine Suppenküche für Menschen am Rande der Gesellschaft, ein wunderschöner Buchladen mit Café mitten in der Altstadt von Salzburg, Studios und einiges mehr. Eine wunderbare Familie und sogar noch ein paar Freunde. Und immer das Gefühl, überall ein bisschen zu wenig zu geben.

Riesiger Kongress

Dann noch diese große Konferenz in Deutschland. Über 7000 Menschen in einer Halle. Die mit Abstand allergrößte Halle, in der ich jemals sprechen würde. Ich reiste mit 20 meiner Mitarbeiter an. Im Hinterkopf den fixen Plan, mir gleich danach ein, zwei Wellnesstage in einem tollen Spa zu nehmen. Ganz alleine. Sehr ersehnt. Quasi eine Belohnung für den Kongress. Für die letzte stressige Zeit. Für das Viel-zu-viel der letzten Tage. Ach was, gleich für die letzten Jahre …

Konferenz abgebrochen

Dann ist es so weit: Ich stehe in der riesigen Halle, meinen Vortrag scharf und spitz vorbereitet. Soundcheck hinter mir. Dopamin, Testosteron und was weiß ich noch alles mit höchster Ausschüttung. Doch dann wie aus dem Nichts: Alle Sprecher sofort in einen Raum wegen Corona-Gefahr. Notfallplan. Halle geleert, Kongress beendet, alles zu. Rückreise isoliert, von Polizei und Gesundheitsamt zu Hause erwartet. Der Absonderungsbescheid nach dem Seuchengesetz noch in der Nacht zugestellt, 14 Tage Quarantäne. Alles ist sehr aufregend, die Polizei vor der Haustür. Ja, so war das damals. Vor ein paar Wochen. Da konnte man sich das noch leisten. Der erste Verdachtsfall in Salzburg.

14 Quadratmeter für 14 Tage

Meine Frau Dagmar richtet das Gästezimmer her. Wir begrüßen uns nur aus der Ferne. Mein Sohn Moritz, vier Jahre alt, versteht die Welt nicht mehr. Der Papi ist da und doch nicht da. Ja, genau. Da und doch nicht da. Was bin ich eigentlich? Da oder eigentlich weit weg von mir? Die ersten Tage und Nächte sind nicht gut. Gar nicht gut. Sehr viel besser sollte es auch nicht werden. Da sitze ich auf 14 Quadratmetern für 14 Tage. Vier Schritte in die eine Richtung, fünf in die andere. Die Polizei winkt mehrmals täglich vor dem Fenster. Ich sitze brav in meinem Zimmer. Meine Familie kümmert sich um mich, so gut es geht. Adrenalin und Dopamin sind immer noch da. Auf der Bühne konnten sie nicht heraus. In meinem Zimmerchen auch nicht. Und langsam keimt der Verdacht: Da kommt ein dickes Ende.

Gute Ratschläge überall

So viele schreiben mir, Freunde, Partner, Unbekannte. Jeder Zweite freut sich für mich: So schön, jetzt hast du so viel Zeit für fromme Gebete und Ruhe und, und, und … Am liebsten würde ich den Nächsten, der mir so einen Tipp gibt, eigenhändig erschlagen! Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so leere, zähe Zeit in meinem Leben gehabt zu haben.

Meine Büroarbeit geht weiter, so wie das Leben draußen weitergeht. Damals zumindest noch. Damit ist sie endlich da, die Ablenkung, die vieles leichter macht. Videocalls, E-Mails, Briefings, fast jeden Tag Interviews. Ja, noch vor ein paar Wochen war ein Verdachtsfall eine spannende Geschichte für die Medien. Bald ist das Adrenalin verdunstet, die Interviews sind alltäglich, die Polizei ist zu nett und die Arbeit Routine.

Ruhe – und doch nicht ganz

Moment mal – war da nicht meine große Sehnsucht nach Erholung? Nach Wellness und Spa, nach Rastmachen, Buch und Zeitung lesen, Ausschlafen … Das habe ich doch nun alles! Eigentlich. Da spreche ich so gerne davon, dass man nicht das Opfer seiner Umstände ist. Dass man sich überall zurechtfinden kann. Wie wichtig ein strukturierter Tag ist. Wie man seine Zeit nutzen kann. Da wird mir klar, wie weit ich eigentlich von dem entfernt bin, was ich predige. Stattdessen gerate ich ins Wanken und in tiefe Traurigkeit.

Tiefe Gespräche

Jeden Abend sitze ich in meinem Zimmer. Meine Frau sitzt auf dem Gang. Wir sprechen. Ganz anders als sonst. Es sind Gespräche auf Distanz und doch so nah. Vielleicht so nah wie schon lange nicht mehr. Das sind meine Anker. Jeden Tag. Die Zeiten, wo die Traurigkeit weicht. 14 Tage sind lang, länger, als ich gedacht hätte. Die Gespräche tun gut. Langsam ist das Ende in Sicht, die letzten Tage ziehen sich.

Lektion gelernt

Das Zimmer wird irgendwie kleiner. Ich auch. Meine Erwartungen an die Zukunft werden kleiner. Vielleicht gesünder. Ich freue mich über Bäume, die zu grünen beginnen. Das war nie mein Thema, jetzt aber doch. Und all die Leute die mir schreiben: Warum tun sie das? Mögen sie mich? Ich meine, mögen sie mich wirklich? So schlecht sind die Tipps auch wieder nicht. Vielleicht brauche ich einfach nur Zeit für mich. Habe ich genau das verlernt in den letzten Jahren? Familie, Firmen, Dienste, alles war wichtiger als ich selber. Ich habe die Lektion gelernt. In letzter Sekunde. Gerade noch.

Fünf Tage Freiheit

Der erste Tag in Freiheit. Die auflagenstärkste Zeitung hat ein Team geschickt, um mich auf den ersten Metern zu begleiten. Redakteur, Fotograf und Kameramann sind da. Sorry, bitte noch 15 Minuten warten! Wir haben gerade unser »Morning Prayer«, Gott, meine Mitbewohner und ich.

Fünf Tage in Freiheit, dann plötzlich der Lockdown in Österreich. In Salzburg noch einmal schärfer. Und der Lockdown sieht wirklich nach Lockdown aus: Alles ist zu, alles geschlossen. Fast alles steht still. Hektische Krisengespräche überall. Was sollen wir tun? Was wird geschehen? Unsere offizielle Kirche beauftragt uns, „Kirche in die Wohnzimmer“ zu bringen. Hektisch bauen wir aus den Studios aus, was wir glauben zu brauchen, richten neue Studios ein. Vier Stunden später riegeln wir uns ab. Selbstgewählte Quarantäne, um Fernsehen in Krisenzeiten machen zu können. Zwei Tage später ist unsere Quarantäne nicht mehr freiwillig. Massive Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land. Jeden Tag müssen wir der Polizei erklären, dass wir keine Versammlung sind, sondern mit 47 Menschen abgeriegelt unter einem Dach leben, um Kirche in die Wohnzimmer zu bringen. Die Menschen essen und trinken, sie heiraten, zeugen Kinder, machen Geschäfte und ein paar bauen eine Arche. Diesmal bin ich mit dabei.

Jeden Tag streamen

Gefühle, Stimmungen, Kämpfe und Ringen. Fragen, warum das Ganze geschieht und wann es endlich vorbei ist. Es ist wieder dasselbe Programm wie in meiner Quarantäne. Aber diesmal es geht deutlich besser. Statt 14 sind es nun 3000 Quadratmeter. Statt allein sind wir 47 und ich habe meine Lektionen gelernt. Jeden Tag reifen wir, jeden Tag streamen wir, jeden Sonntag machen wir Fernsehen und Radio, manchmal streiten wir, meist versöhnen wir uns wieder und kämpfen gemeinsam weiter.

Berufliche Grundlage weggebrochen

Vieles wird sich ändern. Lineares Denken vor, in und nach der Krise wird nicht ausreichen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir unmittelbar vor einer großen Veränderung stehen. Meine berufliche Grundlage ist binnen weniger Tage weggebrochen. Salzburg lebt hauptsächlich von Gästen aus dem asiatischen Raum, den USA, Deutschland und Italien. Unser Geschäftsmodell braucht eine Richtungsänderung. Meine finanzielle Zukunft braucht eine Richtungsänderung. Die halbe Welt braucht eine Richtungsänderung!

Wir können das!

Das ist für mich gleichzeitig Sorge und Hoffnung. Wer und vor allem wie sollen wir diese Neuausrichtung und Umgewichtung, diesen Paradigmenwechsel vollziehen? Von wo kommen neue Ideen, neue Projekte, neue Wertschöpfung? Die Antwort lautet: Von dir und von mir! Wir brauchen ein Klima, eine Umgebung, in der wir beginnen, etwas zu riskieren, unsere Zukunft in die Hand nehmen und die Komfortzone verlassen.

Patrick Knittelfelder leitet ein Unternehmen mit rund 150 Mitarbeitern in Salzburg und Graz in den Bereichen Hotellerie, Gastronomie und Immobilien und ist Geschäftsführer der »HOME Mission Base Salzburg«, wo er mit seiner Familie und 40 jungen Erwachsenen lebt.

Der Artikel erschien zuerst im Buch „Hoffnung – Zuversicht in Zeiten von Corona“ bei SCM Hänssler.

Opfer nach Vergewaltigung: „Ich fühlte mich schuldig und dreckig“

Die Musikerin Déborah Rosenkranz wird von ihrer Jugendliebe vergewaltigt. Es vergehen Jahre, bis sie erkennt: Sie ist nicht Schuld daran.

Eine Geschichte meines Lebens habe ich bisher noch nie mit jemandem geteilt. Eine einzige Freundin und mein jüngster Bruder wussten darüber Bescheid. Als erwachsene Frau schmerzt es, wenn man darüber nachdenkt, was einem als noch junge Frau angetan wurde. Es gab da Tony, meine erste ganz große Liebe. Er war der Typ „bad guy“ und saß deswegen auch schon im Gefängnis. Ich war recht konservativ geprägt. Dazu war ich noch völlig schüchtern und voller Komplexe, denn ich steckte noch in einer Essstörung fest. Jedes Wort aus seinem Munde legte ich also auf die Goldwaage.

Alkohol und Drogen

Er selbst war auf keinem guten Weg, trank sehr viel Alkohol und nahm Drogen, was ich in meiner Naivität nicht einmal bemerkt hatte. Er baggerte neben mir auch andere Frauen an, und ich dachte auch noch: „Das verstehe ich, sie sind ja schöner als ich. Solange er bei mir bleibt, ist das okay.“ Was für eine ungesunde Denkweise! Teilweise hörte ich tagelang nichts von ihm, bis er mit dem süßesten „Es tut mir leid!“ wieder vor mir stand. Ich hatte keine Ahnung, wie drogenabhängig er wirklich war …

Beziehung scheitert

Da ich voller Komplexe war, was meinen eigenen Körper anging, war es mir ein Leichtes, ihn körperlich auf Distanz zu mir zu halten. Natürlich hatte ich die Worte meiner Oma im Hinterkopf und ich hatte meine Werte fest vor Augen. Doch so oder so wollte ich mich nicht berühren lassen, da ich mich trotz Untergewicht fett und hässlich fühlte. Ihm aber wurde das irgendwann zu blöd und die Beziehung scheiterte tatsächlich an diesem Punkt. Lange habe ich ihm nachgetrauert. Wie oft saß ich auf einer Bank vor dem Restaurant seiner Eltern, einfach nur, um ihn kurz mal aus der Ferne zu sehen.

K.-O.-Tropfen im Drink

Jahre später trafen wir uns dann wieder. Ich war gerade dabei, meine Essstörung in den Griff zu bekommen, hatte wieder zugenommen und war völlig überrascht, dass er mich dennoch zurückwollte. Was ich wieder einmal durch meine Naivität nicht rechtzeitig bemerkt hatte, war, dass er sich nur das holen wollte, was er damals nicht bekommen hatte. An einem schönen Abend lud er mich großzügig zum Essen ein, war super charmant und füllte mich bewusst ab. Ich trank damals äußerst selten mal einen Schluck Alkohol, doch an diesem Abend goss er immer wieder nach. Wahrscheinlich um sicher zu gehen, das sein Plan aufgehen würde. Erst im Nachhinein verstand ich, dass er mir K.-O. Tropfen in mein Getränk gemischt hatte, denn ich war sehr schnell völlig weg.

Blut auf dem Bettlaken

Da man damals noch nicht so über das Thema K.-O.-Tropfen Bescheid wusste, geschweige denn sprach, hatte auch ich keine Ahnung davon. So war ich völlig ausgeknockt. An diesem Abend holte er sich unter Drogeneinfluss das, was er zuvor nicht bekommen hatte. Ich weiß nur, dass ich irgendwann in seiner kleinen Wohnung auf einer einfachen Matratze, die auf dem Boden lag, wieder zu mir kam und er mit einer blutenden Nase ins Bad rannte. Damals wusste ich noch nicht einmal, dass man das vom Koksen bekommt. Und ich sah Blut auf dem Bettlaken … Die Beziehung war beendet. Er hatte bekommen, was er wollte. Ich hatte mit dem Feuer gespielt und mich schwer verbrannt. Das, was ich so sorgsam bewahrt hatte, war mir genommen worden. Und ich schämte mich so fürchterlich, dass ich nicht mehr nach Hause wollte.

Fühle mich zerbrochen und unwürdig

Ich ließ mich von meiner damaligen Freundin abholen und blieb erst einmal bei ihr. Die nächsten Tage und Nächte weinte ich nur. Ich war so unfassbar leer, hatte solche Schmerzen und war am Ende. Natürlich hatte ich auch Angst, schwanger zu sein! Kurz darauf war Ostern. Ich musste mich an Karfreitag in der Kirche blicken lassen, sonst hätten meine Eltern Fragen gestellt. Und ich wollte auch so sehr hin! Ich wollte in die Nähe Gottes, doch ich traute mich kaum noch. Ich fühlte mich so zerbrochen, so unwürdig. Ich kam mir vor wie der größte Heuchler und Sünder auf Erden … ich hatte alles zerstört!

Leben an die Wand gefahren

Ich saß in einer der letzten Reihen, als der Pastor von Jesus erzählte, der für unsere Schuld ans Kreuz gegangen ist. Doch es tat einfach nur noch mehr weh zu hören, wie viel Schmerz Jesus für mich auf sich genommen hatte. Umsonst. Denn ich hatte alles vermasselt! „Déborah, für dich gilt das nicht mehr! Du hast diesen Zugang für immer verloren! Siehst du nicht, wie dreckig du bist? Wie ekelhaft? Da kannst du noch so lange unter der Dusche stehen. Jeder kann es dir ansehen! Du hast dein Leben an die Wand gefahren!“

Lügen im Kopf

Wer Missbrauch erlebt hat, versteht sehr schnell, wovon ich rede. Irgendwas passiert in unseren Köpfen, dass wir sofort denken: „Ich bin selbst schuld daran! Wahrscheinlich habe ich es provoziert“ bis hin zu: „Sooooo schlimm war es gar nicht!“. Deswegen habe ich auch nie darüber gesprochen, weil ich jahrelang dachte: „Es war doch meine Schuld!“ Nein, war es eben nicht! Punkt. So etwas darf nicht passieren, niemandem von uns! Dein Körper, deine Seele, DU bist so wertvoll! Und wenn du so etwas erlebt hast, dann wird es höchste Zeit, die Lügen in deinem Kopf zu zerstören, die dir sagen: „Du hast es nicht anders verdient!“

Die Wahrheit lautet: „Du bist unschuldig!“

Es tut mir so, so leid, wenn du Missbrauch erleben musstest, denn es ist etwas, dass dich dein Leben lang aus der Bahn werfen kann! Doch das muss es nicht! Du kannst und wirst wieder frei lächeln und vertrauen können, wenn du auch diese Situation mit der Wahrheit durchleuchtest! Und die Wahrheit lautet: „Du bist unschuldig! Du darfst wieder gesund werden!“ Selbst wenn du solch eine Situation provoziert haben solltest, selbst wenn du Fehler gemacht hast: Kein Mensch auf Erden hat ein Anrecht auf deinen Körper ohne deine Erlaubnis! Und das, was dir genommen worden ist, das möchte dir der, der dich erschaffen hat, wieder zurückgeben! Du bist nicht das, was dir passiert ist. Weil du was wert bist.

Déborah Rosenkranz ist Sängerin, Songwriterin, Autorin und Rednerin. Der Artikel stammt aus ihrem Buch „Sei es dir wert“.

Bücher machen klug: Mit diesen 7 Tipps wird ihr Kind zur Leseratte

Lesen ist für Kinder unglaublich wichtig. Aber oft sind für sie Smartphone und Co. interessanter. Diese 7 Tipps helfen verzweifelten Eltern.

1. Vorlesen

Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, fällt das Lesenlernen leichter. Außerdem kann man mit dem Vorlesen schon früh Rituale schaffen, die auch später, wenn das Kind selbst lesen kann, weitergeführt werden können. Und: Auch wenn Kinder schon selbst lesen können, lieben sie es trotzdem noch, wenn Mama oder Papa ihnen vorliest.

2. Gemeinsam lesen

Gerade für Leseanfänger sind spezielle Bücher toll, in denen das Kind den hervorgehobenen Text liest und Mama oder Papa den Rest, wie beispielsweise bei der Reihe „Lies mit mir!“ (SCM Verlag). Später kann man sich dann abwechseln: Eine Seite liest Mama oder Papa, eine Seite das Kind. Ein guter „Trick“ ist es auch, wenn der Vorleser an einer besonders spannenden Stelle aufhört – dann ist das Kind besonders motiviert, selbst weiterzulesen.

3. Rituale schaffen

Kinder lieben Rituale. Der Klassiker ist sicher die Gute-Nacht-Geschichte. Aber wie wäre es mit 20 Minuten lesen nach dem Mittagessen? Schön ist es, wenn es zum Lesen einen besonderen Ort gibt – vielleicht einen Sitzsack oder Opas Ohrensessel. Wichtig ist es, dass Lesen nicht unter Druck geschieht, sondern mit einer schönen, gemütlichen Atmosphäre verbunden ist.

4. Bücher entdecken

Entscheidend für die Motivation zum Lesen ist das richtige Buch. Hier muss man vielleicht ein bisschen ausprobieren. Mag das Kind lieber kurze Geschichten? Oder doch längere Erzählungen oder vielleicht Sachbücher? Welche Themen begeistern das Kind: Tiere, Maschinen, Entdecker, Fußball … Zu (fast) allem findet man das passende Buch. Für Kinder mit Lern- und Leseschwierigkeiten gibt es Bücher in einfacher Sprache, zum Beispiel die Reihe „Die Tigerbande“ (Neufeld Verlag) oder „leichter lesen“ (Ravensburger).

5. Bücherei erforschen

In Büchereien können Kinder nach Belieben stöbern und in Bücher reinlesen. Vielleicht entdecken sie ein Thema oder eine bestimmte Art von Buch, die sie bisher nicht kannten? Viele Büchereien bieten auch Vorlesestunden oder andere Aktionen an, die die Lust am Lesen wecken.

6. Mit Büchern spielen

Bücher sind nicht nur zum Lesen da. Warum nicht mal eine eigene Bücherei im Kinderzimmer aufmachen? Oder ausprobieren, wer den höheren Bücherstapel baut? Vielleicht können Bücher auch in die Lego- oder Schleichtierwelt integriert werden …

7. Comics und Zeitschriften wertschätzen

Nicht nur Bücher sind wertvoller Lesestoff. Gerade Kinder, denen das Lesen schwer fällt, finden vielleicht leichter Zugang zu Comics oder Zeitschriften. Da die Texte fast „nebenbei“ gelesen werden, ist die Hürde niedriger. So können Kinder gut ans Lesen herangeführt werden.

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Bochum.

„Wenn ich jetzt sterbe, höre ich nie wieder Bäume rauschen“: Till erzählt von seiner Angst vor dem Tod

Till Pfaff fürchtet sich unglaublich davor zu sterben. Jahrelang helfen nur Antidepressiva in höchster Dosis. Hier erzählt er seine Geschichte.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich habe Angst vor dem Tod.

Opa schläft

Es ist der 22. September 1985. Ich bin sechs Jahre alt und gerade eingeschult worden, ein kleiner blonder Frechdachs, aufgeweckt und sensibel. Wir wohnen seit Kurzem neben Oma und Opa im alten Schweinestall ihres stillgelegten Bauernhofes. Mein lieber Opa, der mich immer mit in den Wald nimmt, auf die Pirsch mit seinen Jagdhunden, der mir die heimische Pflanzenwelt erklärt und mich bei seinen Freunden stolz präsentiert, mich liebevoll auf den Schoß nimmt, ist im Krankenhaus, weil er operiert werden muss. Nichts Schlimmes, soweit ich weiß. Ich soll mit den anderen Enkelkindern ins Zimmer meiner Schwester kommen. Meine Mutter und meine Tante wollen uns etwas erzählen. Wir sitzen auf dem Bett und hören gespannt zu: „Opa ist eingeschlafen. Er war zu schwach und hat die Operation nicht überstanden. Er ist tot.“

Es ist 2019, Weihnachten. Fünf Monate Online-Therapie liegen hinter mir. Meine Therapeutin hilft mir, mich meiner Angst vor dem Tod zu stellen. 34 Jahre voller Fragen: Wie ist der Tod? Wie fühlt es sich an, wenn ich keinen Körper mehr habe, den ich steuern kann? Geht es Opa und den anderen inzwischen verstorbenen Menschen, die ich lieb habe, gut? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Kommt die Seele durch den Sarg, wenn ich begraben werde?

Die Brust zugeschnürt

Niemand in meiner Familie oder meinem Freundeskreis kann sich vorstellen, dass ich unter Ängsten leide. Ich bin ein geselliger Typ, der gern feiert und Quatsch macht. Humor ist meine Superkraft! Das Gefühl der Machtlosigkeit überkommt mich jedoch, wenn ich allein bin.

Ich stehe als Erster auf dem Fußballplatz, bin etwa 18 Jahre alt und wärme mich auf. Plötzlich die Frage: Was, wenn ich jetzt sterbe? Ich stoße einen leisen Schrei aus, um der plötzlichen Beengung in meinem Brustkorb ein Ende zu machen. Meine Mitspieler kommen auf den Platz. Niemand merkt etwas.

Es ist 2007. Wir haben seit August eine Tochter. Meine Frau macht mich darauf aufmerksam, dass ich im Schlaf immer mehr seufzen und „jiffeln“ würde. Sie ist der erste Mensch, mit dem ich – immerhin 22 Jahre nach Opas Tod – über meine Angst spreche. Ich suche mir einen Therapeuten, der allerdings keinen Zugang zu mir findet und mich mit Beerdigungsritualen gleich in der zweiten Sitzung überfordert. Die Angst bleibt, die Therapie liegt für die nächsten Jahre brach, da mein Vertrauen in eine solche Maßnahme erloschen ist. Immerhin: Ich bekomme nun ein Antidepressivum, das die Symptome bekämpft und in der höchsten Dosierung zu helfen scheint.

Der Angst auf der Spur

Herbst 2019: Ich halte es inzwischen mit Humboldt, der gesagt hat: „Was dir Angst macht, das erforsche.“ Anna, meine Frau, und ich sind auf dem Heimweg von einem Besuch bei Freunden. Ich fasse den Mut, ihr endlich genauer zu erzählen, was mich bedrückt und ängstigt. Das hätte ich längst tun sollen. Wir sprechen darüber, wie wir uns den Tod vorstellen, wie wir bestattet werden wollen. Ein kleiner Knoten im Geflecht meiner Angst löst sich.

Ich bin Anfang 20, fahre allein mit dem Auto durch die Gegend, an einem Wald vorbei, in dem ich hin und wieder jogge. Aus dem Nichts kommt das beklemmende Gefühl, dass ich den Wald, wenn ich jetzt sterbe, nie wieder sehen, die Bäume bei Wind rauschen hören oder die Tannennadeln riechen könnte. Hilflosigkeit! Ich fahre an den Rand, schreie, flehe zu Gott. Mit Menschen teile ich meine Angst nicht. Ich will kein „Psycho“ sein!

Spätsommer 2008, das Telefon klingelt, der Pastor. Ich hätte doch eine besondere Verbindung zur Kirche, sagt er. Ob ich nicht Lust hätte, im Kirchenvorstand mitzuarbeiten, fragt er. Er hat ja einen ganz guten Draht „nach oben“, denke ich. Warum nicht, frage ich mich und sage zu. Der Einsatz in der Kirchengemeinde, die Gemeinschaft mit Menschen, die im Glauben verbunden sind, die vielen neuen Menschen in meinem Umfeld und vor allem die intensive Auseinandersetzung mit den Geschichten der Bibel geben mir Kraft. Die Angst ist noch da, aber auch eine neue Möglichkeit, mich ihr zu stellen. Ich kann im Laufe der Jahre die Dosierung meines Medikaments um die Hälfte reduzieren. Gott sei Dank!

Gespräch mit Oma

Mit meiner Mutter sitze ich im November 2019 an ihrem Wohnzimmertisch. Ich habe Fragen. Wie stelle ich die nur, ohne ihr das Gefühl zu geben, ihr Vorwürfe zu machen? Sie weiß, dass es um Opas Tod geht. Ich muss das aufräumen, Fragen loswerden. Meine Wahrnehmung der Situation 1985 scheint zu stimmen. Ich lerne, dass Oma nicht wollte, dass sich jemand – auch nicht die Kinder – vom toten Opa verabschiedet. Was, wenn sich das Bild des toten Opas an die Stelle der positiven lebendigen Erinnerungen gestellt hätte? Davor hatte sie Angst. Niemand hat das in Frage gestellt. Im Trauergottesdienst hatten Kinder damals nichts zu suchen. Tod – ein Tabuthema! Mein Angstthema!

Während meiner Therapie stoße ich auf kleine Texte, die mir Mut machen. In einem heißt es, dass man sich in einer fremden Stadt verloren fühlt. Aber wenn ich in dieser Stadt nur einen Menschen kenne, der mich an die Hand nimmt und mir die Stadt zeigt, dann bin ich nicht mehr verloren. So ist es auch mit dem Tod. Jesus wartet auf mich und nimmt mich an die Hand. Mir gefällt dieser Vergleich.

Sprechen hilft zu leben

Als Kind habe ich nicht viele Fragen gestellt. Ab und zu mal gefragt, wo Opa jetzt ist. „Mein lieber Opa!“, hab ich immer gesagt, gefehlt hat er mir schon, vielleicht mehr als den anderen Kindern. Auffällig ist, dass ich ansonsten eher unauffällig war. Ich habe das mit mir ausgemacht, allein. Nah am Wasser gebaut war ich während meiner gesamten Kindheit. Manchmal war ich besonders albern, habe „schwierige Situationen“ mit Humor überspielt. Das Tabu, über Angst und Tod zu sprechen, war für mich – aus heutiger Sicht – immer präsent. Endlich kann ich darüber sprechen. Ich bin erleichtert.

Charlotta ist inzwischen 12 Jahre alt. Sie verbringt auf eigenen Wunsch ein halbes Jahr in Frankreich, lernt dort nicht nur eine andere Sprache kennen. Sie ist so mutig! Ich bin stolz, dass meine Tochter so stark ist. Und wenn sie mal auf ein Problem stößt – 1.500 km von zu Hause entfernt –, dann betet sie.

Oma stirbt

Ich merke, wie ich ein Stück loslassen kann. Wenn ich jetzt von einem Bus überfahren werde, dann hinterlasse ich eine selbstbewusste Tochter, die ihren Weg durchs Leben finden wird. Das haben Anna und ich gut gemacht. Ich beschließe mit meiner Therapeutin, die Dosis meines Antidepressivums zu halbieren.

10. September 2011: Oma ist tot, friedlich eingeschlafen in ihrem Geburtshaus. Sie liegt in ihrem Pflegebett, starr, mit einem Lächeln im Gesicht. In den Gottesdienst möchte Charlotta nicht mitkommen. Sie hat Uroma ja schon „Tschüs“ gesagt, als Pastor Hansen sie zu Hause ausgesegnet hat. Das war schön. Und wenn doch noch einmal die Trauer zurückkommt, lässt sie es einfach raus, stellen wir später fest. Ich bin etwas neidisch.

Kein Antidepressivum mehr

Was mir wohl geholfen hätte damals? Ein persönlicher Abschied? Der Hinweis, dass ich mich an Gott wenden darf? Die Aufmerksamkeit meiner Familie? Die Begleitung meiner Trauer durch Fachkräfte?

2020 steht vor der Tür. Seit 12 Tagen nehme ich kein Antidepressivum mehr. Verlorene Emotionen kämpfen sich – manchmal unkontrollierbar – in mein Leben zurück. Sind das Tränen? Die habe ich lange nicht auf meinen Wangen gespürt. Ich habe Menschen um mich, die mich lieben und verstehen, mir zuhören.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich bin mutig.

Bräutigam: „Wegen Corona steht meine Hochzeit auf der Kippe.“

Dass ich wie geplant am 28. März heiraten kann, ist wegen des Coronavirus unwahrscheinlich. Trotzdem will ich nicht verzweifeln.

Gut ein Jahr lang haben meine Verlobte und ich geplant, beraten und uns vor allem gefreut – auf den sogenannten „schönsten Tag unseres Lebens“, unsere Hochzeit. Aktuell stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Dass wir nicht in der geplanten Kirche feiern dürfen, steht seit heute fest. Ob die anschließende Feier stattfinden kann – wir wissen es nicht. Und beim Standesamt dürfen Trauzeugen und Eltern nicht anwesend sein. Denn Veranstaltungen jeglicher Größe sind wegen des Coronavirus in Nordrhein-Westfalen eigentlich untersagt.

Der Gedanke ans Verschieben ist schrecklich

Und, seien wir ehrlich: Das fühlt sich schrecklich an. Ich weiß, ich habe gut reden. Schließlich steht bei mir nicht mein Beruf auf der Kippe. Ich muss also nicht um meine Existenz bangen. Auch zähle ich nicht zur Risikogruppe. Es gibt also andere, denen geht es zurzeit deutlich schlechter. Trotzdem ist die aktuelle Hochzeitssituation extrem bedrückend. Dass die Eheringe eventuell neu graviert werden müssen, ist noch das kleinste Problem. Schwerwiegender sind Fragen wie: Kriegen wir das sonst ausgebuchte Wunschrestaurant überhaupt noch an einem anderen Termin? Können dann noch alle Gäste kommen? Wer bleibt schlussendlich auf den Kosten sitzen? Was ist überhaupt ein realistischer Termin, auf den wir umdisponieren können? … Kurzum: So haben wir uns diesen ganz besonderen Tag nicht vorgestellt.

Warum ich?

Und ich kann mich dessen nicht ganz erwehren: Zeitweise frage ich mich, warum gerade uns beiden so etwas passieren muss. Wieso muss die Krise gerade jetzt voll über Deutschland hineinbrechen? Wieso haben wir nicht einfach ein anderes Datum wählen können? Hätten weniger drastische Maßnahmen nicht vielleicht doch gereicht? Rational weiß ich, dass diese Gedanken nicht produktiv sind. Es hätte alles anders kommen können – ist es aber nicht. Deswegen will ich die aktuelle Situation viel lieber als eine gute Schule begreifen.

Nicht die Herrscher der Welt

Wir Menschen haben nicht die Macht über alles. Krisen wie die jetzige lassen mir das bewusst werden. Und das ist gut so. Es hilft mir, demütig zu sein. Wir sind eben nicht immer die Herrscher dieser Welt, es gibt Grenzen. Im Umkehrschluss heißt das: Ich kann für viele Dinge dankbar sein, weil sie eben keine Selbstverständlichkeit sind. Hochzeiten feiern zu können zum Beispiel. Unglücksmomente wie dieser sorgen dafür, dass Alltägliches mich wieder glücklich macht. Im kleinen kennt jeder das Gefühl, wenn beispielsweise der Schnupfen nach Wochen endlich nachlässt. Wie viel größer wird unsere Freude sein, wenn wir dann endlich als Paar vor den Traualtar treten dürfen? Das wird ein Geschenk sein, für das ich schon jetzt Dankbarkeit üben kann.

Alles dient dem Guten

Und auch darüber hinaus kann ich aus dieser Situation etwas lernen. Als Christ bin ich der festen Grundüberzeugung, dass alles dem Guten dient. Wieso also nicht auch der potenzielle Ausfall der Hochzeit? Vielleicht wäre der 28. März ein Regentag geworden. Vielleicht hätte sich jemand angesteckt und wäre ernsthaft krank geworden. Vielleicht … In meiner Vergangenheit durfte ich immer wieder erleben, dass auch aus schlechten Situationen etwas Gutes entstehen kann. Hätte mich meine vermeintliche Wunsch-Universität wegen eines formalen Fehlers im System nicht abgelehnt, hätte ich niemals meine heutige Verlobte kennen gelernt. Hätte ich den Job bekommen, den ich mir als Jugendlicher gewünscht habe, wäre ich heute nicht in einem Beruf, der mich erfüllt. „Die Wege des Herrn sind unergründlich“, heißt es so schön. Das durfte ich bisher immer wieder erleben. Wieso nicht auch bei meiner Hochzeit? Dieses positive Denken lerne ich jetzt – wenn auch ein wenig auf die harte Tour.

Der Nicht-Hochzeitstag

Den 28. März wollen meine Verlobte und ich im Zweifel übrigens zum Nicht-Hochzeitstag deklarieren. Wer sagt, dass man nicht auch den, sobald man wieder darf, feiern kann? Es ist ein schöner Gedanke, unseren Kindern Jahr für Jahr zu erzählen, wie ihre Eltern beinahe geheiratet hätten. Und es dann zum Glück so bald wie möglich nachgeholt haben.

Warum Sie Ihr Kind nicht vor den Hürden des Lebens bewahren sollten

Hausaufgaben sind blöd, der Klavierunterricht nervt? Eltern sollten ihren Kindern trotzdem nicht zu viel Last abnehmen, rät Pädagogin Stefanie Diekmann.

„Das ist so blöd mit dem Theaterstück. Immer üben wir die gleiche Stelle. Den Mist-Text kann ich mir nicht merken. Ich geh‘ da nicht mehr hin!“, mault Piet. Sein Vater Mario schaut müde auf und zuckt mit den Schultern. „Dann lass es halt!“

Später grübelt Mario, ob diese Reaktion richtig war. Hätte er das Klavierspielen damals nicht aufgegeben, könnte er jetzt in der Kirchengemeinde Musik machen. Er hatte zu dem Zeitpunkt als Kind keine Lust dazu. Wollte lieber kicken gehen. Er hat viel gemeckert, und seine Mutter hat ihm irgendwann erlaubt, zu Hause zu bleiben. Nicht selten denkt er an dieses Aufgeben. Er hat die Hürde nicht genommen, sondern Anstrengung vermieden. Hilft er Piet, wenn er ihn aus dem Theaterprojekt aussteigen lässt?

Nicht alle Hürden aus dem Weg räumen

Kinder und Jugendliche dürfen lernen, Hindernisse zu überwinden – auch wenn dies mit Aufwand und inneren Schmerzen verbunden ist. Alle Gefühle kennenzulernen, hilft der Seele, sich weiterzuentwickeln und erwachsen werden zu können. Kinder und Jugendliche dürfen erfahren, wie sich Schmerz und Trauer, Forderung und Anstrengung anfühlen. Zum Erreichen der Ziele gehört ebenfalls dazu zu akzeptieren, dass sie phasenweise unglücklich sind oder auch mal weinen.

Wenn ein Kind sich im Schwimmkurs oder beim Erlernen kniffeliger Kartenspiele anstrengt, greift es die Herausforderung spielerisch auf. Es durchlebt dabei Frust, Mut, Freude, Größenwahnsinn, Zorn – und alles das ist Leben. Wenn aber ein 9-Jähriger vor Wut den Ball in die Dornen schießt, weil er beim Kicken mit Freunden unterliegt, scheint das Verlieren nicht oft geübt worden sein. Wenn eine 16-Jährige aus der Kirchenband aussteigt, weil sie gebeten wird, das Solo eifriger zu üben, hat sie sich wohl bisher zu selten anstrengen müssen.

Annahme ist der Schlüssel

Anstatt kritische Themen zu meiden und nicht mehr Karten zu spielen, Kuchen zu backen, Mathe zu üben, weil es beim Scheitern fiese Gefühle gibt, sind Trost, Annahme und Begleitung des Kindes oder Jugendlichen Schlüssel, um in Hindernissen nicht aufgeben zu müssen.

Kinder und Jugendliche checken in Herausforderungen schnell ab, ob ihre Eltern ihnen zutrauen, das Problem zu lösen. So wäre der Satz: „Piet, du schaffst es. Du hast bestimmt eine Idee, wie du dir den Text draufschaffen kannst“, eine echte Ermutigung.

Eltern sollten sich zurücknehmen

Eltern, die ihren Kindern alle Hürden aus dem Weg räumen, erleichtern ihnen keinesfalls das Leben. Sie verschieben die Auseinandersetzung mit dem Bewältigen von Schwierigkeiten lediglich auf einen späteren Zeitpunkt. Dabei ist es unerlässlich, dass Kinder und Jugendliche lernen, mit Misserfolgen umzugehen.

Viele Eltern greifen so schnell ein, dass das Kind oder der Jugendliche die Situation gar nicht richtig erleben kann. Oft ist es so, als würde das Hindernis des jungen Menschen zum Hindernis der Eltern. Wir Eltern hüpfen gern über Hindernisse, die gar nicht unsere sind. Es ist also unser Job, bei Hindernissen in die Hände zu klatschen und zu rufen: „Hurra. Mein Kind lernt jetzt etwas Wesentliches. Und ich bin dabei!“

Eigene Lösungen finden

Als unsere Tochter 16 war, gab es am Elternabend vor der anstehenden Klassenfahrt einen kollektiven Aufschrei. Die Jugendlichen sollten sich selbst versorgen: planen, einkaufen, kochen. Fast alle waren sich einig: Das geht gar nicht! Aufgelöste Eltern steckten ihren Kindern bei der Abreise Geld für einen Döner pro Tag zu. Aber ich habe das Konzept gefeiert! Das Team um unsere Tochter hatte sich bei uns getroffen und eine ihrer Freundinnen sagte: „Natürlich kann ich nicht kochen. Meine Mutter nervt das voll, wenn sie mir was erklären muss.“ Tatsächlich haben die Mädchen kaum gewusst, wie sie die Mahlzeiten planen sollen. Ich habe ein paar Fragen in den Raum geworfen und merkte, als sie Feuer fingen: schnell raus! Ich habe nämlich großes Talent, meine Ideen so lange auszuschmücken, bis meine Teens ergeben nicken und ihre eigenen Ideen verwerfen. Aber wenn mein Kind ein Hindernis bewältigen soll, muss ich es aushalten, dass nicht meine Strategien die Lösung sind.

Es gibt die Tendenz zu glauben, dass das Leben schmerzfrei sein soll. Diese Vorstellung nimmt unseren Kindern die Möglichkeit, von ihren eigenen, überraschenden Erfahrungen zu lernen, Hindernisse – oft schmerzvoll – zu überwinden und die Folgen ihres Handelns zu begreifen.

Begleiten statt kontrollieren

Wir Eltern verfallen hier oft zu sehr in die „Vor-Sorge“: Ich sorge mich schon im Vorhinein vor der Niederlage, die durch eine Hürde droht. Ich sorge mich schon vorher vor Wut, Enttäuschung oder Traurigkeit, bevor mein Kind überhaupt eine Krise formuliert. Ich taste schon vor dem Lauf den Puls meines Hürdenläufers. Mein Fehlermelder ist aktiviert, noch lange bevor die erste Hürde krachend auf die Lebensbahn meines Kindes niedergeht.

Wir dürfen das Kontrollieren aufgeben und Begleiter werden. Ohne zu bewerten, wie der Lauf über die Hürden nun richtig zu gewinnen sei. Eine hilfreiche Grundhaltung ist die Frage: „Tue ich das, weil es meinem Kind zugute kommt oder um mich selbst zu beruhigen oder zu trösten?“

Mario versucht sich zu erinnern, was ihm geholfen hätte, durchzuhalten. Erstaunlicherweise fällt ihm dazu, neben dem Aufmuntern, auch strenge Gelassenheit ein. Er will Piet gönnen, Teil des Erfolges beim Theater zu sein. Will ihm ermöglichen zu erleben, warum es gut ist, sich anzustrengen.

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und arbeitet als Bildungsreferentin in einer Baptistengemeinde. Sie lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

„Weihnachten war Überleben“: Bruder nimmt sich an Heiligabend das Leben

Das Weihnachtsfest ist für den Gospelsänger Chris Lass mit einer Familientragödie verknüpft: Sein Bruder begeht am Heiligen Abend Suizid. Doch Chris findet einen Weg aus der Trauer – und bricht dabei mit allen Traditionen.

Das Weihnachtsfest 1999 war in vielerlei Hinsicht gewöhnlich. Das Wirtschaftsmagazin „Brand Eins“ titelte „Oh, My Holy Creditcard!“ und das Orkantief „Lothar“ verhagelte so manchem Feierwütigen die besinnlichen Abendstunden. Nicht so Familie Lass: In Bremen saß Chris mit seiner Familie im 17 Uhr-Weihnachtsgottesdienst, voller Vorfreude auf den Kartoffelsalat mit Bockwurst – den besten der Welt, klar! –, holte Oma zur Bescherung ab und zeigte, was er so im Klavierunterricht gelernt hatte. Christmas as usual also. So unbeschwert wie an diesem Abend sollte es trotzdem nicht wieder werden. Denn als sich Olli, Chris’ großer Bruder, an diesem Abend verabschiedete, ahnte noch keiner, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen würden. Olli nahm sich in dieser Nacht das Leben.

Nie wieder so wie früher

Für den 15-jährigen Chris bedeutete es das Ende des kindlichen Weihnachten, wie er es kannte. Beim ersten Weihnachtsfest nach Ollis Tod hofften noch alle, es würde wie immer. Aber daran war angesichts der traurigen Erinnerung nicht zu denken. „So eine Situation verwirrt einfach alle“, sagt Chris heute mit Blick auf damals. Irgendwie hatte jeder seine Strategie, mit der Situation umzugehen. Die Familienrollen wurden neu verhandelt. Die Eltern kämpften mit der Trauer, Chris fühlte sich verantwortlich, für den „anwesenden Teil der Familie“ Atmosphäre zu schaffen. „Da fing ich an, zum jungen Erwachsenen zu werden und hab mir gesagt: Sorg dafür, dass es für deine Eltern angenehm wird. Für dich wird’s eh nicht geil.“

Einer fehlt immer

In den Folgejahren wurden die Rituale zu Ankern, an denen sich die Familie festhielt. Aber der Charakter von Weihnachten hatte sich ein für allemal gewandelt. „Weihnachten war kein fröhliches Fest mehr. Weihnachten war Überleben. Du kannst dich mental überhaupt nicht darauf einstellen, bis du das 2-3 Mal erlebt hast. Du guckst in die Runde und da fehlt halt jemand.“ Äußerlich änderte sich nicht viel, aber Olli war Jahr für Jahr mit im Raum – ob man über ihn sprach oder nicht. In dieser Zeit lernte Chris – eigentlich, wie er sagt, ein „sehr emotionaler Mensch“ –, seine Gefühle zu kontrollieren und den Raum zu geben, der ihnen zusteht. „Ich versuche mich da zu disziplinieren: Wenn ich nicht in dem Raum bin, in dem die Emotion wohnt, dann darf die auch nicht da sein. Also: Ende November ist noch nicht die Zeit, traurig zu sein. Denn es ist noch nicht Weihnachten.“ Den Advent über gibt er seinem Weihnachtsschmerz keinen Raum, spielt Gospelkonzerte und Firmenfeiern mit „Jingle Bells“ und „Chestnuts Roasting on an Open Fire“. An Weihnachten selbst sieht er den Schmerz in den Augen seiner Mutter. Weihnachten zerbricht in fröhliche Oberflächlichkeit und familiäre Traurigkeit.

Neuer Raum, neues Glück

Dann kommt Sandra in sein Leben und mit ihr der Wunsch, der bedrückenden Tradition ein Schnippchen zu schlagen. Der Wandel kommt mit einer Banalität: einem Raumwechsel. „Das ist ja einfachste Psychologie: Wenn du in den Raum gehst – also ganz im Sinne des Wortes –, dann hat dieser Raum Macht über dich. Du kannst nicht in die Kirche gehen und so tun, als wärst du in einer Disko. Der Raum diktiert dir, wie du dich benimmst. Da haben wir uns gedacht: Lass uns doch mal komplett diese Mechanik aushebeln und woanders hingehen.“

Bye Tradition

Weihnachten 2012 wird ihr Wendepunkt. Sandra und Chris entscheiden sich, Weihnachten diesmal anders zu feiern, und laden seine Eltern zum Abendessen in ein kleines Hotelrestaurant ein. Der Raum, der für gut 30 Personen Platz bietet, ist spärlich gefüllt. An einem zweiten Tisch sitzt ein Paar, außerdem noch ein Typ allein. Über allem der Geist der Weihnacht und Musik zwischen Sinatra und Remixes von Christina Aguilera. Die Stimmung: heiter. „Du beobachtest erstmal die anderen. Warum sind die denn wohl hier? Jeder, der Weihnachten in einem Hotel feiert, hat seinen Grund.“ Schnell kommt man ins Gespräch mit dem Kellner, der revanchiert sich mit einer 1A-Führung durchs Hotel. Chris isst Ente mit Rotkohl – wie der Papa. Und jeder fragt sich: Warum gab es über all die Jahre eigentlich Würstchen mit Kartoffelsalat? Familie Lass erlebt das erste Weihnachten in Freiheit.

Mehr tiefe Musik

Gleichzeitig häufen sich die Ereignisse, die Chris ins Nachdenken über den Wert des Weihnachtsfestes und der Weihnachtslieder bringen. Auf Betriebsweihnachtsfeiern spielt er als Chorleiter jahrelang „ganz stumpfe Weihnachtsmusik“, bis ihm einer aus dem Chor zurückschreibt: „Boah, ist aber schon ein bisschen flach, oder?“ Eine satte Ohrfeige. „Das tat mir richtig weh, weil mir bewusst war, dass die Songs, die wir spielten, mehr Entertainment als Theologie waren. Ich wusste gerade selbst nicht, wie ich diesen inneren Konflikt in mir auflösen sollte, und jetzt wurde voll mit dem Finger drauf gezeigt.“ Andererseits erlebt Chris die Kraft der Weihnachtshymnen, als eine Frau auf Umwegen erst in ein Gospelkonzert von Chris gelangt und dann in der Krise eben diesen Ort wieder aufsucht, an dem sie diese Form von Verbundenheit mit Christen erlebt hatte. Chris und sein Chor werden zu ihrer Taufe eingeladen, auf der sie dann die volle Story erfahren. „Da wurde mir bewusst: Die Frau kam in die Kirche, weil auf dem Plakat ganz schlicht ‚Weihnachtsgospel‘ draufstand. Das war nicht irgendwie tief, aber es war der Beginn ihrer Reise. Mir hat das Mut gemacht. Die Dinge müssen nicht immer ‚deep‘ sein, damit sie am Ende ‚deep‘ werden können.“

Weihnachten als Lebensthema

Für Chris ist das einer der Auslöser zu sagen: Weihnachten ist eines der Themen, zu denen er mehr beitragen kann, als er vermutet. Weil er sich an den Kern des „frohen Fests“ heranrobben musste. Und das tut er dann auch. So, wie es ihm am besten liegt: musikalisch. Seit 2010 ist er hauptberuflich im Musikbusiness unterwegs, arbeitet als Songwriter, Produzent, Sänger und Chorleiter. Zum Weihnachtsfest 2016 bringt er schließlich sein eigenes Weihnachtsgospelalbum heraus – teils mit bekannten Gospelsongs, aber es sind drei Eigenkompositionen dabei, in denen er sich mit dem Kern von Weihnachten auseinandersetzt. „Ein Kind wurde für dich und mich geboren“, heißt es im Song „Have you heard?“. Und: „Es bringt uns Hoffnung, die uns freimachen kann.“ Frei. Auch von der Trauer.

Weihnachten zelebrieren

Und jetzt? Chris und Sandra laden beide Eltern zu sich nach Hause ein. Chris wird vorher noch das Auto durch die Waschstraße schieben und den besten Anzug aus dem Kleiderschrank holen. „Früher dachte ich: Ich zieh mir doch jetzt keinen Anzug an, wenn ich gleich eh auf der Couch lande.“ Heute setzt er bewusst einen Kontrast zum Alltag. Kulinarisch bedeutet das Rehrücken oder Rumpsteak statt Bockwurst und Kartoffelsalat. „Damit werde ich mich nicht mehr zufrieden geben.“ Dafür aber mit „Feliz Navidad“. Denn Weihnachten ist inzwischen auch biografisch ein richtig frohes Fest.

Motorradunfall in Peru: „Ich habe meine Tochter verloren, aber nicht meinen Glauben.“

Vor einem Jahr starb Lara Barthel während eines Auslandsaufenthaltes. Ihre Mutter Anja schreibt darüber, wie sie diese schreckliche Zeit durchgestanden und was ihr geholfen hat.

Im Sommer 2018 empfinde ich eine ganz neue, ungewohnte Leichtigkeit. Meine Kinder sind jetzt 13, 17 und 18 Jahre alt. Im September möchte ich eine Ausbildung zur PTA beginnen, nachdem ich mich 18 Jahre lang außer Minijobs fast ausschließlich um Kinder und Haushalt gekümmert habe.

Alles ist gut

Ich bin stolz auf Lara, unsere älteste Tochter, die nun ihr Abitur, ihren Führerschein, große Lust auf das Leben und eine Menge Pläne hat. Am 23. August bringen wir sie zum Flughafen. Sie möchte für ein Jahr in einem Projektzentrum in Peru arbeiten. Dafür hat sie extra Spanisch gelernt. Sie wird sich dort für die Rechte der indianischen Völker, sozial benachteiligte Kinder und den nachhaltigen Umgang mit der Natur einsetzen und ist voller Vorfreude und Tatendrang. Lara kommt gut in Peru an, lebt sich prima in ihrer neuen Umgebung ein, hat weder Heimweh noch sonstige Schwierigkeiten. Sie meldet sich selten, schickt kaum Fotos, und ich möchte ihr nicht mit meiner Anhänglichkeit auf die Nerven gehen. Am 19. September, sie ist inzwischen seit vier Wochen in Peru, ruft sie mich zum ersten Mal per Videoanruf an. Auch ihre Geschwister sind da, und wir können über eine Stunde mit ihr sprechen. Es geht ihr ausgesprochen gut. Darüber bin ich sehr glücklich. Das Leben erscheint mir spannend und unbeschwert. Doch es sollte das letzte Mal sein, dass wir miteinander sprechen können.

Polizisten vor der Tür

Zwei Tage später ist es mit dieser Unbeschwertheit vorbei. Um 23:45 Uhr klingelt es an der Haustür. Mein Mann ist in Rom auf Klassenfahrt, die beiden Kinder schlafen schon. Ich öffne das Fenster und sehe zwei Polizisten. Im ersten Moment denke ich, dass ich falsch geparkt oder aus Versehen ein Auto angefahren habe. Sie fragen, ob ich Frau Anja Barthel sei und ob sie hereinkommen können.

Mir wird etwas komisch, aber noch befürchte ich nichts wirklich Schlimmes. Als sie im Hausflur stehen, fragen sie mich, ob ich eine Tochter namens Lara habe, die in Peru arbeitet. Vielleicht wurden bei Lara Drogen entdeckt, denke ich. Oder es gibt politische Unruhen. Aber mein Herz klopft schon gewaltig, und ich bekomme Angst. Dann sagen sie den fürchterlichen Satz, den ich nur aus Filmen kenne: „Wir haben eine traurige Nachricht für Sie …“ Es fängt in meinen Ohren an zu rauschen, meine Knie werden weich, ich hebe abwehrend die Hände und sage immer wieder „Nein, nein, nein …“ Ich weiß, was jetzt kommt. Nun weiß ich es sicher. Und da sagt der Polizist: „Ihre Tochter Lara hatte einen Motorradunfall. Sie ist tot.“

Im Schockzustand

Alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich versuche, meine Augen aufzureißen, weil ich glaube, mich in einem Alptraum zu befinden. Ich fühle mich wie gelähmt und stumm. Ich kann mich nicht erinnern, was dann geschieht. Irgendwann sitzen meine Schwiegereltern bei uns im Wohnzimmer. Sie erscheinen mir um Jahre gealtert. Irgendwann kommen Nachbarn rüber, dann meine Freundin. Sie bleibt die ganze Nacht bei mir. Ich bin in einem absoluten Schockzustand. Die folgende Nacht ist die schlimmste meines Lebens. Ich schlafe nicht eine einzige Minute. Irgendwie erzähle ich es den anderen beiden Kindern. Ganz schonungslos.

Endlose Traurigkeit

Die folgenden Tage erlebe ich wie in Trance. Das Haus füllt sich, es kommen Freunde und Familie. Man stellt mir Essen und Trinken hin, sagt, ich solle schlafen. Aber ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht essen. Ich kann nicht denken. Als mein Mann am Samstagmittag von der Klassenfahrt nach Hause kommt, wirft er sich auf den Boden und weint laut. Wir liegen uns mit den Kindern in den Armen und fallen in eine endlose Traurigkeit und Verzweiflung. Ich bin noch zu erstarrt, um richtig zu weinen. Man bringt mir Beruhigungsmittel, aber ich will sie nicht nehmen. Ich will alles, was jetzt kommt, ganz genau spüren, auch wenn es noch so weh tut.

Motorradunfall

Die ersten Tage übernehmen enge Freunde und Nachbarn Telefonate mit Versicherungen, Botschaft und Beerdigungsinstitut. Ich schaffe es auch nicht, entfernt wohnende Angehörige und Freunde über Laras Tod zu informieren. Meine Familie aus Süddeutschland trifft ein und kümmert sich. Mein Schwager findet über Facebook ein Video, in welchem von einem peruanischen Radiosender über den Unfall in Villa Rica berichtet wird. Lara befand sich als Beifahrerin auf einem Motorrad. Wegen eines entgegenkommenden LKWs wich die Fahrerin aus, wobei Lara gegen den LKW geschleudert wurde. Durch den Aufprall erlitt sie einen Genickbruch. Sie war sofort tot. Die Fahrerin überlebte schwerverletzt.

Ich sehe den riesigen LKW auf dem Bildschirm des Laptops, und ich sehe mein totes Kind auf der Straße liegen. Es ist furchtbar. Viele Menschen stehen dort herum, und mitten auf der Straße liegt mein Kind. Tot. Und ich kann nicht bei ihr sein. Wie soll ein Mensch das ertragen?

Zum allerletzten Mal

Die folgenden Tage lebe ich darauf hin, Lara noch einmal wiedersehen zu können. Am Abend des 2. Oktober kommt Laras Körper bei unserem Bestatter an. Wir wollen sie gern selbst ankleiden und in den Sarg betten. Doch nachdem der Bestatter den Zinksarg geöffnet hat, kommt er persönlich bei uns zu Hause vorbei und rät uns davon ab, Lara noch einmal zu sehen. Sie ist nun schon zwölf Tage tot, musste quer über die Anden transportiert werden und durch den Genickbruch und die anderen Verletzungen sei ihr Körper nicht in einem Zustand, den man uns zumuten möchte. Aber ich muss mein Kind sehen, um ihren Tod zu begreifen! Es ist mir egal, wie Lara aussieht. Wir einigen uns darauf, dass die Bestatter Lara ankleiden und sie so herrichten, dass wir uns am nächsten Tag von ihr verabschieden können.

Lara ist längt fort

Als ich Lara im Sarg liegen sehe, erkenne ich sie nicht wieder. Sie sieht nicht schlimm aus, nur ganz anders. Wir haben drei Tage hintereinander viel Zeit, um uns von ihr zu verabschieden. Ich kann sie sehen und anfassen und begreife, dass das der Körper meines Kindes ist. Aber Lara ist längst fort. Ich erkenne ihre Hände, ihr Muttermal am Bauch, ihre Augenbrauen. Aber ihr Körper ist mir fremd. Ich streichle über ihre wunderschönen, blonden Haare, ihr Gesicht. Es ist kaum etwas „kaputt“ an ihrem Körper, sie hat nur ein paar Schürfwunden und eine Verletzung am Ohr. Sie ist eiskalt. Alles an ihr ist schwer. Ich bin froh, dass ich mich so von ihr verabschieden kann, ihr noch mal nah sein kann. Dass ich sie noch mal berühren kann. Zum allerletzten Mal.

Und gleichzeitig ist so offensichtlich, dass Lara schon längst nicht mehr in diesem Körper ist, dass sie längst woanders ist, an einem schöneren Ort. Ich spüre, dass es ihr dort gut geht. Es wird mir nicht so schwerfallen, diese Hülle von ihr zu beerdigen. Die Vorstellung, mein Kind in die dunkle, kalte Erde hinunterzulassen, erschien mir zuvor unerträglich. Ich dachte, die Beerdigung könnte ich nicht überstehen. Doch nun weiß ich, dass ich es schaffen werde.

Ort des Trostes

Die nächsten Tage sind ausgefüllt mit den Vorbereitungen für die Beerdigung und den Abschiedsgottesdienst. Am Tag der Beerdigung bin ich ganz ruhig. Und ich bin überwältigt, als ich die vielen Menschen – etwa 500 – wahrnehme, die gekommen sind, um Lara auf ihrem letzten Weg zu begleiten.

Während des Abschiedsgottesdienstes vergieße ich keine einzige Träne. Danach wird Laras Sarg zu uns nach Hause gebracht. Von dort wird er von engen Freunden und Verwandten zum Friedhof getragen. Als der Sarg in die Erde hinuntergelassen wird, werde ich mir zum ersten Mal dieser Endgültigkeit bewusst. Der Schmerz ist kaum zu ertragen. Lara ist tot. Nie wieder wird sie zu uns nach Hause zurückkehren. Wir müssen uns nun von ihr verabschieden. Für immer.

Wir werden es gemeinsam durchstehen

Wir werfen Blütenblätter und Physalis hinunter auf ihren Sarg. Mein Mann, Mila, Silas und ich. Dann gehen wir zur Seite und bleiben neben Laras Grab stehen. Viele Menschen kommen zu uns, nehmen uns in den Arm und wünschen uns viel Kraft, diesen schweren Verlust zu überstehen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das durchstehen würde. Aber nun fühle ich mich getröstet. Jede einzelne Umarmung gibt uns Trost und Kraft, und ich bin zuversichtlich, auch wenn wir das Schlimmste erfahren müssen, was Eltern passieren kann: Wir werden es gemeinsam durchstehen.

Bei uns zu Hause hat die gesamte Nachbarschaft ein Zusammenkommen organisiert. Dort stehen Pavillons vor dem Haus, Tische und Bänke. Es gibt reichlich Essen und Trinken, und es sieht alles schön und einladend aus. Die Sonne wärmt uns mit ihren letzten, herbstlichen Sonnenstrahlen. Man meint, sie hätte ihre allerletzten Kräfte genau für diesen Tag aufgespart, um uns in unserer Trauer und unserem Schmerz zu wärmen. Es wird viel geredet und viel geweint. Und trotz all dieses ungeheuerlichen Schmerzes und der endlosen Trauer empfinden wir unser Zuhause mit all den nahestehenden Menschen und dieser liebevollen Nachbarschaft als einen Ort des Trostes und der Hoffnung.

Erinnerungen teilen

Was mir sehr geholfen hat, ist ein Buch von Roland Kachler („Meine Trauer wird dich finden“), der selbst einen Sohn durch einen Unfall verloren hat. Es erleichterte mich zu lesen, dass die Liebe niemals aufhört und ich weiter eine Beziehung zu Lara haben kann. Und so zweifle ich nicht mehr an meinen Gefühlen, sondern lasse sie zu, weil sie richtig sind. Außerdem hilft mir meine Familie, für die es sich lohnt, weiterzumachen. Ich habe noch zwei Kinder, die ich liebe und die mich brauchen. Und einen Mann, der mich liebt und den ich liebe. Außerdem freue ich mich über meine kleine Nichte Lina, die im Dezember geboren wurde und die zum Gedenken an unsere Tochter mit zweitem Namen Lara heißt.

Was mich trägt, ist die Hoffnung, dass wir Lara eines Tages wiedersehen. Ich habe meinen Glauben an Gott nicht verloren. Ich weiß nicht, warum Gott den Unfall nicht verhindert hat, aber ich vertraue ihm, dass er weiter für uns sorgt. Wenn alles nur glatt liefe auf dieser Welt, dann würde Gott uns nur wie Marionetten in einem Puppenspiel unsere Rollen spielen lassen. Ich habe mich für Gott entschieden, und ohne diese Entscheidung und ohne die Hoffnung, Lara wiederzusehen, könnte ich nicht weiterleben.

Menschen sind da

Was mich tröstet, sind all die lieben Menschen, die mich immer wieder anrufen und besuchen, die uns Mittagessen oder Kuchen vorbeibringen, die uns auf der Straße ansprechen und uns nicht aus dem Weg gehen. Die Verkäuferin aus dem Bioladen, die mich einfach in den Arm nimmt. Die Kieferorthopädin meiner Kinder, die mit einem Blumenstrauß vor unserer Tür steht und mir zum 42. Geburtstag gratuliert, den ich vergessen habe. Die Freundinnen von Lara, die mir so viel Schönes von Lara erzählen, was ich noch nicht wusste. Meine Nachbarin, die mir täglich eine Nachricht schreibt und mich mit guten Ratschlägen verschont.

Was es etwas leichter macht, ist, dass Lara keine Angst hatte, dass sie sofort tot war und nicht gelitten hat, und dass sie in den letzten Wochen ihres Lebens glücklich war.

An Laras Grab

Was mir gut tut, ist eine gute Balance zwischen Alleinsein und Zusammensein mit Menschen, die mir nahe stehen. Es hilft mir auch, über Lara zu sprechen und mich an schöne Erlebnisse mit ihr zu erinnern, auch wenn es gleichzeitig schmerzt. Ich bin auch gern an Laras Grab und mache dort alles schön. Nahe fühle ich mich Lara dort nicht. Ich kann auch nicht mit ihr reden. Aber ich zeige ihr meine Liebe, indem ich etwas einpflanze und schöne Blumen niederlege. Lara ist in meinem Herzen und überall um mich herum. Im Wind, in der Wärme der Sonne. Bei Gott. Eine konkrete Vorstellung davon habe ich nicht, aber ich habe das Vertrauen, dass es ihr bei Gott gut geht.

Was den Schmerz lindert? Der Schmerz kann durch nichts gelindert werden, er wird mich mein Leben lang begleiten. Ich will ihn auch gar nicht loswerden, weil ich mich durch ihn mit Lara verbunden fühle. Ich glaube nicht, dass ich einmal wieder richtig glücklich werde. Zu viel wurde mir genommen. Ich freue mich über Mila und Silas und meinen Mann und gute Freunde. Aber ich glaube nicht, dass ich jemals wieder tiefes Glück empfinden kann.

Ein besserer Mensch

Was sich verändert hat: Es kamen neue Menschen in unser Leben, und andere sind verschwunden. Zu sehr hat es mich verletzt, dass einige Menschen sich nie wieder gemeldet haben. Kleinigkeiten regen mich nicht mehr auf. Früher habe ich mich ständig geärgert oder aufgeregt, doch nun nehme ich diese Dinge gar nicht mehr wahr. Ich bin langsamer, aufmerksamer, geduldiger, demütiger, nachsichtiger und verständnisvoller geworden. Eigentlich bin ich ein besserer Mensch geworden und finde es tragisch, dass ich dies erst wurde, nachdem ich mein Kind verloren habe.

Was verletzt, sind Menschen, die uns aus dem Weg gehen, als hätten wir eine ansteckende Krankheit, und Leute, die meinen, uns Ratschläge geben zu müssen.

Briefe an Lara

Die Zukunft ist ungewiss. Ich habe zu viel verloren und habe niemals im Leben die Sicherheit, dass nicht noch ein weiterer Verlust folgt. Ich habe Angst. Wenn mein Sohn den Motorradführerschein hat, werde ich immer Angst haben, wenn er unterwegs ist. Aber ich will ihn mit meiner Angst auch nicht behindern, Dinge zu tun, die er gerne tun möchte. Ich habe Angst vor dem Zeitpunkt, an dem auch unsere jüngste Tochter auszieht und ihre eigenen Wege geht. Angst vor Einsamkeit. Aber ich vertraue weiter auf Gott, dass er mich trägt und mir einen Weg zeigt, den ich gehen kann. Meine Ausbildung zur PTA werde ich nicht fortsetzen. Mir fehlt die Kraft dazu. Ich brauche viel Zeit und Ruhe, schlafe und lese viel, und ich schreibe Briefe an Lara und schreibe meine Träume auf. Diese intensive Zeit der Trauer ist wichtig für mich. Ich möchte sie mir nehmen. Mein Mann hat fünf Wochen nach Laras Tod wieder angefangen zu arbeiten. Ihm tut die Ablenkung gut. Die Kinder sind eine Woche nach Laras Tod wieder zur Schule gegangen. Sie wollten das und es tut ihnen gut, eine Tagesstruktur und Aufgaben zu haben.

Die Liebe ist das Wichtigste

Der Glaube an Gott ist wichtig, und das Vertrauen, dass er es gut mit uns meint. Auch wenn wir manches nicht verstehen. Und die Hoffnung ist wichtig. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben, und dass wir Lara eines Tages wiedersehen. Aber die Liebe ist das Wichtigste im Leben. Und das Füreinanderdasein. Das habe ich gelernt.

Für die Liebe lohnt es sich zu leben. Denn sie hört niemals auf. Sie bleibt bis in alle Ewigkeit.

Anja Barthel ist seit 20 Jahren verheiratet und Mutter von drei Kindern. Sie ist gelernte ländliche Hauswirtschafterin, zur Zeit Hausfrau und Mutter und lebt in Velbert.

Darum geben wir bis Klasse 9 keine Noten – So arbeitet Deutschlands Vorzeigeschule

Die Evangelische Schule Berlin Zentrum gehört zu Deutschlands erfolgreichsten Reformschulen. Uli Marienfeld, der stellvertretende Schulleiter, erklärt im Interview mit Family, wie Kinder besser lernen können und wie wichtig dafür gute Schulen sind.

 

Herr Marienfeld, Sie haben jetzt 35 Jahre Berufserfahrung als Lehrer und Schulleiter an fünf Schulen. Was haben Sie in dieser Zeit über das Lernen gelernt?

Dass Lernen möglich ist. Dass Lernen Spaß macht und eigentlich alle Menschen lernen wollen. Die Neugier, mit der Kinder auf die Welt kommen, geht – nicht nur entwicklungsbedingt, sondern auch durch ungeschickte Arrangements und Strukturen – leider oft an der Schule verloren. Doch sie kann wiederentdeckt werden.

Ich liebe es, diese Neugier zu wecken und glaube, dass man als Lehrer ganz viel bewegen kann. So wie Eltern zu Hause dafür sorgen, dass Kinder vertrauensvoll in die Welt blicken, können auch Schulen Wege bereiten, die Kinder befähigen, Gestalter des Lebens zu werden. Mir ist wichtig, ihnen zu vermitteln: Du bist gewollt. Du kannst diese Welt entdecken. Du hast Begabungen. Und wenn du hinfällst, dann helfen wir dir, wieder aufzustehen. Es geht im Leben nicht um Perfektion. Es geht um Neugier und darum, unsere Welt in Gemeinschaft zu gestalten.

 

Was sind Grundvoraussetzungen für gelingendes Lernen in der Schule?

Ich glaube, dass allen Menschen Beziehungen guttun. Und Kindern hilft es, wenn Schulen beziehungsorientiert arbeiten – im Gegensatz zu mechanischer Wissensvermittlung. Das bedingungslose Ja zu jedem Kind ist fundamental. Ich möchte vermitteln: Es ist gut, dass du da bist. Ich sehe dich. Ich nehme dich wahr, spreche dich beim Namen an. Im Gegensatz dazu ist es Gift, wenn Kinder hören: Aus dir wird nichts. Du hast hier nichts zu suchen. Lass mich in Ruhe. Oder was auch immer einem rausrutschen mag. Solche Urteile wirken viel tiefer als jede noch so gute methodische Unterrichtsreihe. Das sind die Botschaften, die bis ins Unterbewusstsein eindringen. Und besonders Kinder, die von Hause aus wenig Vertrauen haben, zutiefst verunsichern. Von daher ist Schule für mich in erster Linie ein Ort von gelebten Werten. Es ist wichtig, eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen.

Auch Heterogenität bezüglich Begabungen, Interessen, sozialen und ethnischen Hintergründen, ist für mich eine Grundvoraussetzung für gelingendes Lernen. In Schulen wird oft versucht, eine vermeintliche Homogenität herzustellen. Dies führt dazu, dass 25 Schüler und Schülerinnen über einen Kamm geschoren werden. Es wird nicht wahrgenommen, dass sie alle Individuen sind, die auf unterschiedliche Weise aufblühen können und wollen. Schule ist gefordert, unterschiedliche Lernformen anzubieten, Mut zu machen und Neugier zu fördern. Das Grundverständnis, dass Schule Potenziale entfaltet und nicht dafür da ist zu selektieren, ist mir wichtig. Ich mag auch den Begriff der Resonanz. Es geht nicht um die Weitergabe von möglichst viel (totem) Wissen, sondern darum, dass etwas in Schwingung gebracht wird, dass sich Staunen, Begeisterung und Leidenschaft entwickeln können.

 

Welche Kompetenzen werden Schüler und Schülerinnen in Zukunft brauchen?

Vor allem geht es um Teamfähigkeit, Resilienz, Durchhaltevermögen, Kreativität und Eigenverantwortung. Dann sicher auch um ein gesundes Basiswissen in Mathe, Deutsch, Fremdsprachen, Verständnis für historische Zusammenhänge und kulturelle Unterschiede und vieles andere mehr. Doch vor allem ist Neugier wichtig – und die Bereitschaft sich in neue Situationen hineindenken zu wollen. Keiner hat eine Ahnung, wie die Lebens- und Arbeitswelt in zehn, geschweige denn in dreißig Jahren aussehen wird. Das Smartphone ist gerade mal zwölf Jahre alt. Es gab eine Welt davor, und es wird eine Welt danach geben. Wie diese aussieht, können wir nicht wissen. Doch wir können gemeinsam lernen zu unterscheiden: Wo brauche ich persönliche Begegnung? Was kann ich auf digitalem Weg machen lassen? Im Mittelalter wusste jeder, was er einmal machen würde, weil es dasselbe war, das der Großvater auch schon gemacht hatte. Das geht definitiv nicht mehr. Wir sollten junge Menschen dazu befähigen, mutig in neue, unsichere Situationen hineinzugehen.

 

Und wie kann Schule das am besten fördern?

Indem sowohl Schüler und Schülerinnen als auch Lehrer und Lehrerinnen ganzheitlich betrachtet werden und etwas von der Vielfalt reflektieren, die in dieser Welt sowieso vorhanden ist. Anstatt in isolierten Räumen auf isolierte Weise isolierte Fächer zu lehren, sollte man rausgehen, sich die Natur anschauen, im Regen nass werden und ganzheitliche – also auch körperliche und emotionale – Erfahrungen machen. Ich halte eine Kombination aus einer geschulten, fachlichen Perspektive, verbunden mit ganzheitlichen Begegnungen miteinander und der Welt für notwendig. Es ist gut, zentrale Abschlussprüfungen zu haben, doch der Weg dahin sollte sich, je nach Lebensraum und Bedürfnissen, stark unterscheiden dürfen. Bei aller Normierung von Prüfungen sollte Schulen auch Freiheit zugestanden werden, selbst zu gestalten. Da arbeiten in der Regel 20 bis 100 Akademikerinnen, die eine Menge studiert haben. Man sollte ihnen durchaus zutrauen, gemeinsam vernünftige Lehrpläne und -methoden für ihre Schule zu entwickeln.

 

Seit eineinhalb Jahren arbeiten Sie als stellvertretender Schulleiter der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Was überzeugt Sie am Konzept dieser Schule?

Dass wir mutig sind! Wir träumen und überlegen, was möglich ist. Und dann machen wir es einfach. Unsere Schüler und Schülerinnen schicken wir am Anfang der 8. bis 10. Klasse drei Wochen lang auf „Herausforderung“. Sie überlegen sich vor dem Sommer, woran sie Freude haben, formulieren es schriftlich und werden gecoacht. Dann gehen sie zu Beginn des Schuljahres in Kleingruppen – begleitet von Studierenden – in Brandenburg Kanu fahren, in Süddeutschland eine Radtour machen oder auf einen Bio-Bauernhof, um dort mitzuarbeiten. Sie lernen, in dieser Zeit mit 150 Euro auszukommen. Sie erfahren auch, dass es untereinander nicht immer so harmonisch ist, wenn man drei Wochen zusammen ist. Dadurch lernen sie das echte Leben kennen. Von den etwa 300 Jugendlichen, die wir jedes Jahr losschicken, brechen manche früher ab. Das kann passieren. Der Umgang mit dem Scheitern ist Teil des Lernprozesses.

Vieles in unserer Arbeit zielt darauf, individuelle Lernwege zu ermöglichen. Darum geben wir bis Klasse 9 keine Noten, sondern erstellen Zertifikate, die ganz bewusst reflektieren: Was hast du gut gemacht? Was kannst du? Was können deine nächsten Schritte sein? Wir haben viele fächerübergreifende Formate. Wir arbeiten häufig im Team, durchmischen uns immer wieder neu. Das hat den Vorteil, dass sich immer mehrere Kolleginnen und Kollegen um ein Projekt kümmern. Und wir evaluieren, feiern dankbar, was gelungen ist und notieren, was wir beim nächsten Durchgang verändern wollen. Wir investieren als Pädagoginnen und Pädagogen – mit Einverständnis der Eltern – drei bis fünf bezahlte Studientage pro Jahr in die Entwicklung des Unterrichts und der Schule insgesamt. Wenn man möchte, dass sich Dinge verändern, braucht man auch Zeit dafür. Dadurch machen wir kein Schuljahr genauso wie das letzte. Das ist anstrengend. Aber es ist deutlich gesünder als die Haltung: Es war vor 20 Jahren schon nicht gut, aber uns sind ja die Hände gebunden.

 

Das heißt, Sie haben den Mut, Zeiten anders zu füllen, als es im Lehrplan vorgegeben ist? Und gleichzeitig das Vertrauen, dass am Ende die Prüfungen geschafft werden?

Genau! Die Präambeln der Bildungspläne sind oft mit weitem Horizont formuliert, und die Ziele des Zentralabiturs durchaus sinnvoll. Wir waren einfach mutig, uns modernen Ansätzen zu stellen und Wege neu zu gehen. Am Anfang war es eine reine Überzeugungssache. Doch unsere Erfahrung lehrt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Das Abitur 2018 hatte einen Schnitt von 1,89 und in diesem Jahr war es 2,07. Das ist weit über dem Berliner Landesschnitt (2,4, Anm. d. Red.). Und wir sind davon überzeugt, dass das, was unsere Schülerinnen und Schüler mitnehmen, weit über diese Dezimalzahl hinausgeht.

 

Was könnte man, auch mithilfe der Anregung von Eltern, leicht an anderen Schulen übernehmen?

Jedes Jahr kommen ca. 1.000 Pädagoginnen und Pädagogen aus ganz Europa zu uns. Und unsere Schülerinnen und Schüler erzählen ihnen, wie Schule läuft. Tendenziell gibt es ja in der Grundschule und in der Sekundarstufe 1 noch eher Spielräume. Doch je weiter es „nach oben“ geht, desto dünner wird die Luft. Da kann gerade das, was hier in der Oberstufe gemacht wird, für viele richtungsweisend sein. Auf unserer Homepage der „Neuen Oberstufe“ kann man sich die Ideen anschauen und davon übernehmen, was für die eigene Situation passt. Wir haben zum Beispiel Tage für die Vermittlung von Lern- und Arbeitskompetenzen eingeführt, bieten aber auch Workshops mit lebenspraktischen Themen an. Wir bringen den Kindern bei, wie sie einen Handyvertrag ausfüllen oder einen Mietvertrag abschließen können. Das kann ganz einfach an jeder Schule installiert werden.

 

Wie können Eltern ihre Kinder am besten in Sachen Schule unterstützen?

Das Wichtigste ist, in einem guten Dialog mit der Schule zu stehen und dass man versucht, mit den Lehrerinnen und Lehrern zu reflektieren: Was läuft gut? Und was sollte sich ändern? Kinder merken, wenn Eltern und Lehrer an einem Strang ziehen. Wenn Eltern Gutes als selbstverständlich und ohne Dank mitnehmen, dann aber über Schule maulen, ohne sich für Verbesserungen einzusetzen, bringen sie ihre Kinder in die Rolle der „armen Opfer, die die Ungerechtigkeit der Welt passiv erleiden müssen“. Man muss nicht alles gut finden. Aber es hilft, sich so zu verhalten, dass bei den Kindern ankommt: „Hey, das ist eine Herausforderung. Wo liegt darin eine Chance für dich? Lässt sich eventuell etwas an den Umständen verändern?“ Und bloß keine Panik, wenn mal eine schlechte Note nach Hause gebracht wird! Wenn man ehrlich ist, hat man die selbst auch gehabt. Darum dem Kind nicht noch mehr Druck machen. Viel wichtiger ist doch, dass es Freude in der Schule hat.

 

Wann sind denn Ihrer Ansicht nach Sorgen berechtigt?

Wenn Kinder wirklich nicht wissen, was sie wollen, wenn sie dauerhaft antriebslos sind, wenn sie permanent nur am Handy sind, keine Freunde haben, nicht über die Themen reden, die sie wirklich bewegen, wenn sie ein Stück weit verloren sind. Dann sind Sorgen berechtigt. Spielsucht und Internetabhängigkeit sind leider keine Seltenheit mehr. Das sind Dinge, die wirklich relevant sind. Und man sollte nicht scheuen, sich kompetenten Rat und auch therapeutische Hilfe zu holen. Ich hoffe, dass Freundeskreise, Nachbarschaft, Sportvereine oder auch Gemeinden Orte sind, an denen Kinder – auch in Peergroups – ein Gegenüber finden. Dort können sie sich entdecken, merken, wofür ihr Herz schlägt und Leidenschaft entwickeln. Eltern sollten gerade isolierten Kindern diese Erfahrungsräume öffnen und anfangen, sich wirklich für ihr Kind zu interessieren, herauszufinden, was das Kind kann und möchte. Und ihm zugestehen, dass es anders sein darf und andere Interessen hat, als die Erwachsenen sich das manchmal vorstellen. Kinder sind gottgeschaffene, eigenständige Persönlichkeiten mit ganz eigenen Möglichkeiten. Die zu entdecken und zu fördern ist die Aufgabe von Eltern und Lehrerinnen und Lehrern.

Das Interview führte Anna Koppri.

Klosterbier im Plattenbau: Wie junge Familien in Amsterdam ein modernes Kloster bauen

Es gibt Orte, die sind schön und schrecklich zugleich. So wie das Amsterdamer Viertel Bijlmermeer. Ein Viertel voller Geschichten und Mythen. Wer dorthin zieht, muss einen guten Grund haben. So wie die Familien, die in eines der Hochhäuser gezogen sind, um ein modernes Kloster zu errichten. Das Porträt einer besonderen Gemeinschaft an einem besonderen Ort.

Der See und die Stadt

Das Wasser war eine ständige Bedrohung. Als wieder ein mal ein Tropfen das Fass zum Überlaufen brachte und die Deiche dem Druck nicht mehr standhielten, legte man den See trocken. Doch der bahnte sich immer wieder seinen Weg zurück, Jahrhundertelang. Wegen drohender Überflutungen wollte niemand dort wohnen. Der nasse Boden war für Bauern nutzlos. Schließlich schüttete man eine meterdicke Sandschicht über die traurige Landschaft und gründete ein neues Stadtviertel von Amsterdam, das „Bijlmermeer“.

Vor 50 Jahren kamen die ersten Bewohner. Sie sollten den „modernen Menschen“ in der „Stadt der Zukunft“ verkörpern. Plattenbauten, die wie Honigwaben in einer grünen Wüste lagen, streng getrennt von Arbeitsplätzen, Einkaufsmöglichkeiten und Autoverkehr. Wohnen im Naherholungsgebiet, das hatte der Architekt sich ausgemalt. Doch wer wollte ernsthaft aus dem zehnten Stock nach unten laufen, um stundenlang seine Füße im Teich baumeln zu lassen und unter den Pappeln im Schatten zu liegen? Außer dem: Die parkähnlichen Anlagen waren so groß, dass die Landschaftsgärtner mit der Pflege nicht hinterher kamen. Nach Feierabend verzogen sich die Bewohner in die eigene Wohnung oder blieben im Zentrum von Amsterdam. Bijlmer, wie der Stadtteil auch genannt wird, verkam zur Geisterstadt. Erst nur nach Sonnenuntergang, bald auch tagsüber. Wer konnte, zog weg. Es blieben die Drogen, die Kriminalität, der Verfall.

Der Baum und das Flugzeug

Wie viele Menschen am 4. Oktober 1992 starben, ist nie geklärt worden. 43 Todesopfer fand man, aber vielleicht lag unter dem Schutt noch ein Mensch ohne Aufenthaltserlaubnis begraben. Bijlmer war ein beliebter Zufluchtsort für Leute, die anonym bleiben wollten. In der Abenddämmerung stürzte ein israelisches Frachtflugzeug über dem Viertel ab. Wie ein großer Finger bohrte es sich vertikal durch ein Hochhaus und machte es buchstäblich dem Erdboden gleich. Chaos brach aus. Während Einsatzkräfte versuchten, das zu retten, was nicht mehr da war, kam es zu panikartigen Ausschreitungen und Plünderungen. Zwanzig geheimnisvolle Männer in weißen Anzügen ließen Beweismaterial verschwinden. Anwohner klagten über Gesundheitsbeschwerden, die auf Radioaktivität zurückgeführt wurden. Über die Ladung des Frachtflugzeugs wird bis heute spekuliert. Heute erinnert „der Baum, der alles gesehen hat“ an das Unglück. Anwohner haben in seinem Schatten selbstgemachte Mosaike in den Grund gelegt. Auf einer Mauer neben dem Baum liest man Zitate von Augenzeugen: „Eine schwarze Wolke mit Sternen drin“ oder „Ich sah sie eine Woche vor dem Unglück noch auf dem Spielplatz“.

Auch 25 Jahre nach dem Unglück bleiben Spaziergänger dort stehen und werden still. Einmal im Jahr fliegen keine Flugzeuge über Bijlmer und müssen einen Umweg nehmen, um Amsterdam-Schiphol zu erreichen. Neben dem Denkmal liegt eine dreckige Matratze. Wahrscheinlich hat ein Obdachloser sie dort liegen gelassen.

Noch immer macht Bandenkriminalität das Viertel unsicher – Anwohner erzählen beim Spaziergang von bewaffneten Überfällen, Liquidationen und Razzien und weisen die Tatorte wie Sehenswürdigkeiten an. Gleichzeitig gibt es auch positive Entwicklungen. Über 150 christliche Gemeinschaften sorgen für Licht im Dunkel. Unter oft ärmlichen Umständen versammeln sie sich, auch in Kellern und Parkhäusern. Dort empfangen sie Junkies, vermitteln bei häuslicher Gewalt, beten für die Nöte in ihrer Umgebung. Die Polizei weiß diese Nachbarschaftshilfe zu schätzen, die Christen unkompliziert und ohne großes Publikum leisten. Etwas mehr Aufmerksamkeit bekommt ein echtes Kloster, das seit zwei Jahren hier angesiedelt ist.

Die Burg und das Kloster

Das „Kleiklooster“ liegt in der „Kleiburg“, einem Hochhaus, das direkt neben der Absturzstelle des Flugzeugs steht. Es überstand das Unglück unbeschadet, doch der Zahn der Zeit nagte so sehr am Beton, dass der Abriss drohte. Bis ein Team von Architekten den hässlichen Riesen für einen symbolischen Euro kaufte. Die Fassade wurde renoviert und die Wohnungen günstig verkauft. Einzige Auflage an die Käufer: die Wohnungen innerhalb eines Jahres wieder bewohnbar machen. Wer wollte, durfte mehrere Einheiten neben- oder übereinander aufkaufen, die Zwischenwände rausbrechen und Treppen bauen.

Das Interesse übertraf alle Erwartungen. Das Hochhaus war vor dem Abriss gerettet und verwandelte sich in ein echtes Schmuckstück. Kleines Sahnehäubchen auf der Erfolgsstory: Nach der Oper in Oslo, dem Neuen Museum in Berlin und der Nationalbibliothek in Paris ging der Mies-van-der-Rohe-Preis, immerhin der wichtigste europäische Architektenpreis, 2017 an die unscheinbare Kleiburg in Bijlmer.

Der Balkon und das Bier

Auf dem sechzig Meter langen Balkon des Kleikloosters wuchert ein provisorischer Gemüsegarten. Kinderspielzeug liegt wild verstreut herum. Acht erwachsene Bewohner versuchen, Farbe ins Grau zu bringen – sechs Kinder helfen Ihnen erfolgreich dabei. Seit sie die Trennwände auf dem Balkon rausgebrochen haben, ist der Zutritt zum Alltag der Klosterbewohner nur eine Terrassentür entfernt. Ihre Privatzimmer kuscheln sich an ein gemeinsames Wohn- und Esszimmer, eine Kapelle und drei Gästezimmer, die zurzeit als Notunterkunft fungieren.

Eine der hier lebenden Frauen sitzt mit ihrer Sozialarbeiterin am riesigen Esstisch und redet beschwörend auf sie ein, ihre beiden kleinen Kinder turnen gelangweilt auf dem Sofa rum. Ein „Geburtskollektiv“ gesellt sich zu ihnen: Hebammen sprechen mit ein paar Frauen aus der Nachbarschaft über Tragetücher, Probleme beim Stillen, Erziehungsfragen. Andere Organisationen bieten Sprachunterricht und Hausaufgabenhilfe an, klären über gesunde Ernährung auf oder über den Ausstieg aus der Prostitution. Im noch leeren Erdgeschoss wird bald ein kleiner Laden eingerichtet, in dem Bauern aus dem Umland ihre Waren anbieten können. Bisher stehen hier nur erstaunlich viele Kisten mit Bier.

Bier?

Tatsächlich braut man hier Klosterbier. So wie die Augustiner, Paulaner, Franziskaner in Deutschland. Jetzt wird auch in Amsterdam ganz traditionell Lebensfreude und Betriebswirtschaft zusammengebracht – irgendwie muss sich das Kleiklooster ja finanzieren. Der Geschäftsführer Martijn ist ehemaliger Pastor, der aus Leidenschaft für das Handwerk seinen alten Job an den Nagel gehängt hat. Der Braumeister Thomas ist Liebhaber, der schon lange in seiner kleinen Küche Bier braute – jeweils 200 Liter für Festivalbesuche mit seinen Freunden. Inzwischen ist sein Hobby zu einer professionellen und erfolgreichen Angelegenheit geworden. Zwar wirkt die kleine provisorische Lagerhalle mit Braukesseln und Lokal ein bisschen verloren zwischen den Hochhäusern. Doch die Bewohner von Bijlmer sind stolz auf „ihr“ Bier. In der Mittagspause und nach Feierabend ist die Brauerei gut besucht. Aus dem Zapfhahn an der Theke fließen die Sorten „Licht“ und „Finsternis“ zusammen – wenn man zu tief ins Glas schaut, kann man die Schöpfungsgeschichte nachlesen. Und man schmeckt die Atmosphäre dieses abschreckenden und anziehenden Viertels.

Das Leid und der Trost

Auch in dem Kleiklooster vermischen sich viele Lebensentwürfe. Die Singles sind nicht alleinstehend. Die Kinderlosen kümmern sich mit um den Nachwuchs der anderen. Zölibat und Mönchskutten kennt man hier nicht. Abt Johannes kichert beim Gedanken daran. Auch ein Gelübde zur lebenslangen Bindung ist noch nicht gesprochen worden. Was macht das Kloster dann zum Kloster? Gottesdienst, Gemeinschaft und Gastfreundschaft. Leute aus der Nachbarschaft kommen hierher und finden Hilfe – manchmal nur, weil sie ihren Schlüssel abgeben wollen, um nicht auf den Monteur warten zu müssen. Manchmal aber auch, weil sie Schutz vor der Welt da draußen suchen, die es nicht gut mit ihnen meint. Gemeinsame Gespräche, Mahlzeiten und Gebete helfen ihnen genauso viel wie den Klosterbewohnern selbst. Denn auch sie sind in gewisser Hinsicht Bedürftige. So wie Johannes, der eine Lebensform suchte, in der er seinen Glauben leben konnte, oder besser gesagt musste. Denn als introvertierter Mensch war er nicht automatisch gastfreundlich, und seine Gebete gingen oft im Lärm seines eigenen Lebens unter. Also erschuf er sich mit dem Kloster einen Kontext, der ihm half, so wie Jesus in enger Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zu leben.

Auch für Jefta ist das Kloster zu einem Zufluchtsort geworden. Er weist auf eine brachliegende Wiese, auf der bis vor kurzem ein Parkhaus stand. Mehr als 100 Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis hausten hier unter erbärmlichen Zuständen. Zusammen mit Freunden wusch er ihre Wäsche, brachte sie zu Ärzten, suchte nach besseren Wohnräumen. Jetzt, da das Parkhaus weg ist, sitzt er auf dem Klosterbalkon und starrt in die Bäume, in denen der Wind rauscht. Neben ihm steht eine Kerze von Amnesty International, die bis zum Stumpf runtergebrannt ist. Jeftas Bedürfnis nach Gottes Hilfe brennt währenddessen mächtiger denn je. In der Kapelle des Klosters hat jemand die Tageslosung aus dem 2. Korintherbrief auf eine Tafel geschrieben: „Gepriesen sei Gott, der uns in all unserer Not tröstet. Wie uns nämlich die Leiden Christi überreich zuteil geworden sind, so wird uns durch Christus auch überreicher Trost zuteil.“

Das Fenster ist mit Holzbrettern zugenagelt. Nur ein ausgefrästes Kreuz ermöglicht den Blick nach draußen: auf die Bierbrauerei; auf die leerstehenden Gebäude, in denen Gottesdienste abgehalten werden; auf den Baum, der alles gesehen hat auf den zugeschütteten See. Hoffnung schimmert aus der Kapelle in die Nachbarschaft.

Anna-Maria Fennema hat das Kleiklooster besucht und den besonderen Charme dieses Ortes in sich aufgesogen.