Konzentrationstrainerin: „Es gibt eine Reizüberflutung in unserer Gesellschaft“ – So sollten Eltern reagieren

Manchen Kindern fällt es schwer, in der Schule aufzupassen. Was dahintersteckt und wie Eltern die Konzentrationsfähigkeit ihres Kindes fördern können, erklärt die Verhaltenstrainerin Susanne Henrich.

Frau Henrich, Sie helfen Kindern, sich besser zu konzentrieren. Wie stellen Sie das an?

Ich biete sogenannte Konzentrationskurse an, die an das Marburger Konzentrations- und Verhaltenstraining angelehnt sind. Die Kinder lernen etwa auf spielerische Weise durch lautes Denken, sich selbst Anweisungen zu geben, was sie als nächstes anstellen sollen. Das nennt man verbale Selbstinstruktion. Das machen wir Erwachsenen auch manchmal, etwa, wenn wir abgelenkt werden und vergessen, was wir tun wollten. In so einem Moment kann man mit sich selbst reden und aufzählen, was man gemacht hat, um sich dann daran zu erinnern, was man eigentlich machen wollte. Das läuft in unserem Gehirn ab, ohne dass wir laut darüber nachdenken müssen. Aber manchmal machen wir es eben auch laut. Das Training in meinen Kursen ist dafür ausgelegt, dass es den Kindern Spaß macht, denn wir lernen und konzentrieren uns natürlich auch viel besser, wenn es uns Spaß macht.

Kindern wird oft zu wenig Zeit zur Entspannung gegönnt

Was sind das für Kinder, die zu Ihren Kursen kommen?

Ich betreue Grundschulkinder, die zum Teil Schwierigkeiten mit ihrer Aufmerksamkeit haben, die sich beim Lernen nicht so gut konzentrieren können, sich leicht ablenken lassen und die nur langsam in der Schule mitkommen. Und auch solche, die ein bisschen schulmüde sind.

Was bedeutet schulmüde?

Die einfach ein bisschen gestresst sind vom Rhythmus der Schule. Sie müssen morgens früh aufstehen, sich anziehen, frühstücken, in die Schule fahren, sich dort lange konzentrieren und haben dann auch am Nachmittag noch Programm. Das ist für Kinder anstrengend. Sie nehmen auch selbst wahr, dass sie in der Schule nicht so mitkommen wie ihre Mitschüler, weil sie sich nicht so gut konzentrieren können, da ihnen immer etwas anderes im Kopf herumschwirrt. Das frustriert sie und drückt auf ihr Selbstbewusstsein. Sie denken dann häufig „Ich kann nichts“ oder „Ich kriege nichts hin“. Die Kinder, die zu meinen Kursen kommen, sind so toll, so schlau und haben so viele kreative Ideen. Sie müssen einfach nur lernen, aufmerksam zu sein, aber auch, sich zu entspannen. Das ist oftmals das Problem, dass den Kindern zu wenig Zeit zur Entspannung gegönnt wird.

Zu viel von allem

Es wird manchmal bemängelt, dass „die Kinder von heute“ sich immer schlechter konzentrieren können. Können Sie das bestätigen? 

Die Tendenz ist da, und ich glaube, dass es unterschiedliche Gründe dafür gibt. Zum einen machen wir uns mehr Gedanken darüber. Es gab in der Vergangenheit bestimmt auch Kinder, die sich leicht haben ablenken lassen, aber das wurde weder in der Schule noch in den Medien so stark thematisiert wie heute. Zum anderen gibt es aber auch ganz klar eine Reizüberflutung in unserer Gesellschaft, ein „zu viel“ an allem und gleichzeitig ein „zu wenig“ an Entspannung.

Meinen Sie, die Kinder haben zu volle Terminkalender? 

Es ist gut, wenn Kinder Hobbys haben. Zum Fußball gehen, ein Instrument lernen, sich verabreden. Ich bin selbst dreifache Mutter und kenne den Alltag mit Kindern. Nachmittagsprogramm ist nicht per se schlecht, aber man muss es nicht übertreiben. Auch um unserer selbst willen nicht, denn auch für uns Eltern ist es stressig, wenn wir unsere Kinder von einem Termin zum anderen fahren müssen. Dann bin ich als Mutter auch nicht entspannt, und das überträgt sich wiederum aufs Kind. Kinder brauchen nicht rund um die Uhr Aktivitäten. Das führt zur Reizüberflutung. Kinder brauchen die Chance, das Erlebte zu verarbeiten.

Achten Sie auf Bewegung!

Was können Eltern tun, um die Konzentrationsfähigkeit ihrer Kinder zu fördern? 

Grundsätzlich ist es gut, darauf zu achten, dass Kinder ausreichend und guten Schlaf bekommen, das heißt zum Beispiel, vor der Bettgehzeit keine Filme mehr zu gucken oder Videospiele zu spielen, die sie aufwühlen und die sie erst mal verarbeiten müssen. Achten Sie auf ausreichend Bewegung! Melden Sie Ihr Kind in einem Verein an oder gehen Sie mit ihm viel nach draußen – das schult gleichzeitig auch die Wahrnehmung. Es ist etwas anderes, ob man sich einen Film über Tiere und Wälder anguckt oder es draußen konkret erfährt, indem man sich auf eine Wiese setzt und das Gras unter seinen Füßen fühlt.

Spielt die Ernährung auch eine Rolle?

Ja. Wir wissen inzwischen alle, dass zu viel Zucker schädlich ist – nicht nur für unseren Körper, sondern auch für unsere Konzentration. Das bedeutet nicht, dass man Kindern grundsätzlich verbieten sollte, Zucker zu essen. Aber achten Sie auf das Maß! Achten Sie auch darauf, dass Ihr Kind viel trinkt. Und schaffen Sie Erholungsphasen und Zeiten der Entspannung. In meiner Kindheit saß ich oft am Fenster und hab Schneeflocken beobachtet. Wenn das fünf Minuten sind, ist das schon eine Entspannung. Wir als Familie handhaben es auch so, dass die Kinder, wenn sie von der Schule kommen und Mittag gegessen haben, sich erst einmal eine halbe Stunde lang auf ihren Zimmern zurückziehen, um zur Ruhe zu kommen, mit Lego spielen, ein Hörspiel hören oder einen Mittagsschlaf machen – jeder auf seine Art und Weise. Schaffen Sie eine Zeit, in der Ihr Kind einfach mal nichts tut, und haben Sie auch mal den Mut, Langeweile zuzulassen. Nichtstun muss man lernen.

Diese Familie kündigt die perfekte Wohnung – Grund ist ein jahrealtes Versprechen

Elisabeth und Jürgen Vollmer lieben ihr Zuhause. Jetzt sind sie ausgezogen, um ein Versprechen einzulösen.

„Wenn man etwas Besseres findet, muss man halt das Gewohnte zurücklassen“, kommentiert eine Bekannte die Nachricht, dass wir im Sommer umziehen werden. Auf die Antwort, dass wir das Bessere zurücklassen, kommt der zweite Erklärungsversuch: „Oder halt was Günstigeres.“ Doch auch günstiger ist die Wohnung nicht, die wir beziehen werden. Warum ziehen wir also um? Es gibt eine Menge Gründe, die dagegensprechen. Wir haben die beste Nachbarschaft, die wir je hatten, wohnen natur- und stadtnah mit aller Infrastruktur, die es braucht, und wir fühlen uns in dem Reihenhäuschen seit 15 Jahren pudelwohl. Es gibt aber auch den einen Grund, auszuziehen. Und der wiegt schwerer.

Fünf Jahre warten auf die richtige Wohnung

Als junge Familie mit drei Kindern zwischen ein und sechs Jahren sind wir bei unserem Umzug von Mannheim nach Freiburg zunächst in eine „Übergangswohnung“ gezogen. Schlecht geschnitten, zu teuer, aber etwas anderes war aus der Ferne nicht zu finden. Und so zogen wir ein. Optimistisch, dass wir bald etwas Besseres finden würden.

Wir suchten. Fünf Jahre lang. Unternahmen alles Menschenmögliche und beteten intensiv, dass Gott Türen öffnen würde. Es war eine harte Zeit. Unsere Spaziergänge durch den Ort waren immer mit wachem „Rollladenblick“. Wo auch immer wir den Eindruck hatten, dass ein Haus unbewohnt sein könnte, warfen wir einen netten Brief mit Familienfoto ein. Wer länger als fünf Minuten mit uns zusammenstand, wusste, dass wir auf der Suche waren. Wir gingen an vielen Häusern vorbei, bei denen wir wussten, dass darin nur ein „älteres Ehepaar“ wohnte, während wir uns in der engen Wohnung arrangieren mussten.

Das Versprechen

Dann geschah das Wunder: Über Freunde vermittelt konnten wir ein Reihenmittelhäuschen beziehen. Wir übernahmen umfangreiche Renovierungsarbeiten in Eigenleistung. Dafür konnten wir das Häuschen günstig mieten. Was für ein Geschenk! Wir genossen fortan Haus, Garten und Nachbarschaft. Und wir versprachen uns: Wenn unsere Kinder aus dem Haus sind, werden wir es anders machen. Dann ziehen wir hier aus und gönnen diesen Luxus einer jungen Familie mit Kindern!

Zu schön um auszuziehen

Nach und nach wurden unsere Kinder flügge. Zuerst bekam Jürgen ein abgelegtes Kinderzimmer als Arbeitszimmer, dann ich. Als unsere jüngste Tochter ihr Auslandsjahr in Peru machte, waren wir zwar nur noch zu zweit. Aber für uns war klar: Sie muss ein Zuhause haben, wenn sie – übergangsweise – zurückkommt. Aber letzten Sommer ist sie endgültig ausgezogen. Das dritte Zimmer wurde zum Fernseh- und Gästezimmer. Wir konnten Gastfreundschaft leben. Und den Balkon an diesem Zimmer hatten wir all die Jahre nie genutzt. Er hat einen wunderschönen Blick ins Tal! Wir lieben es, dort zu frühstücken. Aber dann gab es ja dieses Versprechen, das wir uns selbst gegeben hatten. Uns wurde bewusst: Wenn wir jetzt nicht ausziehen, werden wir es wahrscheinlich nie tun. Und so beschlossen wir im letzten Herbst, dass 2020 unser Umzugsjahr werden sollte. Zunächst hatten wir die Illusion, eine Eigentumswohnung kaufen zu können. Doch der Immobilienmarkt in Freiburg hat uns eines Besseren belehrt. Also haben wir begonnen, nach Mietwohnungen zu schauen. Doch auch da haben wir gemerkt, dass der Angebote wenige und der Interessenten viele sind.

Plötzlich geht alles ganz schnell

Am Ostermontag sind wir auf ein Angebot gestoßen. Zwar war es weder in unserer Wunschwohnlage, noch gab es die Dachterrasse, von der wir träumten. Aber sonst klang alles gut: 100 Quadratmeter, vier Zimmer, zwei Balkone, naturnahe Lage, ansprechende Fotos. Am nächsten Tag besichtigten wir die Wohnung. Die darin lebende Tochter des Vermieters war äußerst sympathisch, die Wohnung wirklich schön, und so erbaten wir eine Nacht Bedenkzeit. Völlig überrascht davon, wie schnell es jetzt gehen könnte. Ich ging durch unser Häuschen und fragte mich, warum wir hier eigentlich raus sollten. Es war so schön und so vertraut! So viele gute Jahre haben wir hier gelebt. Und doch: Als der Morgen kam, waren wir uns einig. Es ist schwer, aber es ist richtig, dass wir dieses Haus jetzt abgeben. Und so sagten wir zu.

Der Gang zu den Nachbarn war der Schwerste

Interessenten für unser Häuschen gab es viele. Die Wohnungsnot für junge Familien in Freiburg ist groß. Als wir meinen Neffen Johannes und seine Frau anriefen, lieferten sie ihre zwei Kinder bei meiner Schwester ab und machten sich auf den Weg, das Häuschen anzuschauen. Am Tag darauf teilten wir dem Vermieter unsere Kündigung mit und schlugen die Familie als Nachmieter vor. Wieder einen Tag später saßen wir zusammen im Garten und machten alles fest. Der Mietpreis ist weiterhin günstig, die junge Familie glücklich. Der Gang zu den Nachbarn, um ihnen unseren Wegzug mitzuteilen, war bisher das Schwerste. Es waren einfach gute Jahre, und da ist eine tiefe Beziehung gewachsen, die sich verändern wird.

Leider ohne Feuerschale

Dass nun mein Neffe und seine Familie unser Häuschen beziehen werden, macht es mir leichter zu gehen. Sie kommen aus einer engen Drei-Zimmer-Wohnung, und so können wir alle Möbel, die wir nicht mitnehmen können, stehen lassen. Die geschreinerte Eckbank mit dem großen Esstisch zum Beispiel und das Trampolin im Garten. Beides werde ich vermissen. Auf dem Trampolin liegen wir im Sommer gern und schauen nach Sternschnuppen. Auch die Feuerschale können wir nicht mitnehmen. Dabei liebe ich es doch so sehr, am Feuer zu sitzen und Stockbrot zu essen.

Ballast abwerfen

Neben aller Wehmut kommt auch vorfreudige Spannung auf. Wir gehen diesen Schritt zu zweit! Diese neue Wohnung werden wir nur für uns einrichten. Und wir werden vieles zurücklassen, das wir nicht mehr brauchen. Ballast abwerfen. Das atmet Freiheit! Und so ist es noch immer nicht leicht, und ich erwarte auch nicht, dass die nächsten Monate leicht werden. Aber es ist gut und richtig, auszuziehen und damit Raum für eine junge Familie zu schaffen. Das haben wir uns versprochen.

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt mit ihrem Mann in Freiburg.

Psychologe warnt vor Bullerbü-Komplex: „Eltern scheitern grandios an einem Idealbild“

Viele Familien sehnen sich nach einer heilen Welt wie der in Astrid Lindgrens Kinderbuch „Wir Kinder aus Bullerbü“. Psychologe und Buchautor Lars Mandelkow sieht darin eine Gefahr.

Was ist so schlimm an Bullerbü?
An Bullerbü ist erst mal gar nichts schlimm. Das ist ein wunderbares Kinderbuch. Ich habe es geliebt und meinen eigenen Kindern vorgelesen. Bedenklich ist allerdings, dass dieses Bullerbü-Bild bei vielen jungen Familien ein Idealbild geworden ist, dem manche hinterherstreben und dann grandios daran scheitern. Denn in unserer wirklichen Welt kann es nie so sein wie in Bullerbü. Ich kenne viele Familien, die versuchen, so einen pastellfarbenen Alltag hinzukriegen. Im rauen Alltag mit Schulterminen, Leistungsdruck etc. schaffen sie es aber nicht. Und meinen dann, sie hätten etwas falsch gemacht. Das ist schlimm an Bullerbü. Also nicht Bullerbü selbst, sondern die Art, wie es mehr oder weniger unbewusst instrumentalisiert wird.

Was sind denn Aspekte von Bullerbü, die Eltern gern in ihren Alltag integrieren würden?
Bullerbü ist die klassische heile Welt – diese drei Höfe, die in unberührter Natur in Schweden liegen. Es gibt keinen Arbeitsplatz, der weit entfernt ist. Alles ist zu Fuß zu erreichen. Die Kinder haben nichts weiter zu tun, als den ganzen Tag zu spielen. Und die Eltern bilden eine sanft lächelnde Kulisse. Alles ist ruhig und übersichtlich. Es gibt ein paar schöne Familienrituale, aber keine großen Konflikte. Es gibt nur wenig Beispiele von echten Problemen. Selbst der Tod und das Alter werden friedlich beschrieben. Es ist eine heile Welt. Auf ganz vielen Ebenen ist sie heil. Und das macht diese große Sehnsucht aus. Deshalb ist das so ein starkes Bild, weil sich viele Leute nach einer heilen Welt sehnen, sie aber nicht erleben.

Kinder brauchen entspannte Eltern

Sie fordern in Ihrem Buch „Der Bullerbü-Komplex“ Eltern auf, es „gut sein zu lassen“, und betonen, dass es reicht, „gut genug“ zu sein. Aber woher weiß ich, wann dieser Punkt erreicht ist?
Wenn man sich an dem Besten orientiert, ist es klar: Dann geht es immer aufwärts, immer das nächstbeste ist das Ziel. Sich an dem zu orientieren, das gut genug ist, ist eine Kunst. Sich mit etwas Durchschnittlichem nicht nur zu arrangieren, sondern es sogar besser zu finden als das ständige Streben nach dem Besseren – das ist eher ein Lebensraum als ein Zielpunkt. Wann kann ich beginnen, zufrieden zu sein? Wann habe ich das letzte Mal meine Kinder dafür gefeiert, dass sie eine Drei nach Hause gebracht haben? Wann habe ich mich selbst dafür gefeiert, dass mir eine Aufgabe „ganz gut“ gelungen ist? Und nicht „ganz großartig“? Es ist eine Haltungsübungssache, nicht immer nach oben zu gucken.

Was ist das Allerwichtigste in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern?
Wenn ich meine Kinder angucke und sie in meinem Blick Entspannung sehen, dann ist ganz viel erreicht. Wenn Kinder Eltern erleben, die entspannt sind mit sich selbst, mit der Familie, mit den Erwartungen, dann ist das etwas Zentrales. Wenn nicht dauernd die Unzufriedenheit im Vordergrund steht: „Hast du schon …? Bist du sicher, dass du nicht noch …?“ Wenn Unzufriedenheit und Unvollkommenheit immer im Fokus sind, kann das ein Gift sein in der Beziehung. Entspannte Eltern – das ist das, was Kinder am meisten brauchen.

Ist die Liebe sichtbar?

Es passiert aber wohl allen Eltern, dass sie mal die Beherrschung verlieren und ihr Kind anschreien.
Natürlich passiert es, dass Eltern ihre Kinder anschreien. Da muss man sich fragen, ob es das Grundmuster der Beziehung ist oder die Ausnahme. In den meisten Fällen ist es die Ausnahme, und Kinder können das durchaus wechseln. Es ist sogar gesund, wenn Kinder erleben, dass Mama oder Papa mal einen schlechten Tag haben. Wenn man sich fragt: Erleben meine Kinder eigentlich grundsätzlich, dass sie geliebt sind? Nicht 100 Prozent jeden Tag, aber regelmäßig, immer wieder an den meisten Tagen. Wenn man sie fragen würde: Lieben Papa und Mama dich? Und sie würden sagen: Ja. – Dann ist das gut genug. Es kommt auf den Grundton an. Ausnahmen sind normal. Wenn man sich diese Ausnahmen nicht gestattet als Eltern, kommt man schnell in die Überforderung. Ich habe den Eindruck, dass manche Eltern glauben, dass das nicht gestattet ist, weil sofort die psychische Krankheit der Kinder folgt oder ein Entwicklungsschaden.

Eltern haben in der Tat Angst, ihre Kinder könnten psychische Schäden davontragen, wenn sie etwas falsch machen oder dem Kind zu wenig Zuwendung geben. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Es ist nicht der Mangel an Zuwendung, der Kinder krank macht. Es ist der absolute Mangel.“ Aber wie kommt es dann, dass Jugendliche psychisch krank werden, die aus Familien kommen, in denen es eine gute Beziehung und Zuwendung gibt?
Ich finde diese Frage ganz wunderbar – nur falsch gestellt. Wenn Sie die Frage so stellen, klingt es so, als wäre die Ursache für psychische Schwierigkeiten von Kindern als Allererstes in der Familie zu suchen. Die Frage, so wie Sie sie stellen, stellen sich viele Eltern auch und denken sofort: „Ich bin schuld. Ich habe irgendwas nicht gut genug gemacht.“ Meistens gibt es aber eine gute Beziehung zwischen Kindern und Eltern. Also kann es nicht daran liegen. Psychische Schwierigkeiten treten mit normalen Schwankungen überall auf, ganz unabhängig von der Familie. Vor allem aber glaube ich, dass viel mehr Ursachen für psychisches Ungleichgewicht aus der Umgebung der Kinder kommen: aus den Medien, aus der Schule, aus anderen Erwartungen, die um die Familie herum zu suchen sind. Und die Eltern, die eigentlich eine gute Beziehung zu den Kindern haben, könnten viel Gutes tun, wenn sie diese gute Beziehung selbstbewusst leben und in den Vordergrund stellen: „Wir haben es gut zusammen, bei mir kannst du einen sicheren Hafen finden.“

Gnade ist das Zentrum

Im dritten Teil Ihres Buches stellen Sie den Begriff der Gnade in den Mittelpunkt. Warum?
Zum einen ist der Begriff Gnade das Zentrum meines christlichen Glaubens. Es ist eine Aufgabe, mit mir selbst gnädig zu sein. Die Aufgabe, miteinander gnädig zu sein. Je mehr Gnade, desto besser. Und nicht: Je mehr Bullerbü, desto besser. Wir brauchen keine heile Welt, sondern in der Welt, in der wir leben, brauchen wir die Gnade als tragenden Grund. Und der ist uns geschenkt. Der andere Grund, warum mir das wichtig war in meinem Buch: Ich dachte, es ist zu wenig, nur das Problem zu beschreiben und zu versuchen, eine Lösung zu skizzieren. Denn es braucht ja auch einen Grund, auf dem das Ganze steht. Man braucht einen Ausgangspunkt für diese ganzen Gedanken.

Wie kann Gnade in der Familie praktisch gelebt werden?
Gerade in Momenten, wo der Druck steigt oder sich das Leben schwierig anfühlt, kann man sich angucken, was Gnade bedeutet: Wenn die Kinder mir als Gnadengabe geschenkt sind, was bedeutet das für meine Beziehung zu ihnen? Wie wäre ich als Vater, wenn ich ein gnädiger Vater wäre? Wie wäre ich als Ehemann, wenn ich Gnade wichtig finden würde? Oft hat das mit Geduld, mit Vergebung und mit Humor zu tun. Wenn ich merke, ich schaffe es nicht, alle Erwartungen zu erfüllen, dann kann ich mich in schlechtem Gewissen versenken oder ich kann die Gnade greifen und sagen: Ich bin, wie ich bin. Gnade bedeutet, dass ich so sein darf. Das ist ein Ausgangspunkt dafür, den nächsten Tag anders zu gestalten, ein bisschen freundlicher mit mir selbst und anderen zu sein.

Das Interview führte Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.

Real Life Guys: YouTube-Star hat Krebs im Endstadium – Wieso er die Hoffnung nicht verliert

Die Ärzte geben dem YouTuber Philipp Mickenbecker (The Real Life Guys) noch maximal zwei Monate zu leben. Trotzdem sprudelt er im Video vor Lebensfreude.

Eigentlich bauen die Brüder Philipp und Johannes Mickenbecker U-Boote aus Badewannen, Seilbahnen und menschliche Drohnen. Am Wochenende zeigte Philipp seinen 1,2 Millionen Abonnenten eine ganz andere Lebensrealität auf: Er hat Krebs, bereits zum dritten Mal. „Der Arzt hat mir einfach gesagt, dass es sehr, sehr schlecht aussieht und dass der Tumor schon im Endstadium ist und dass er mir tatsächlich nur noch zwei Wochen bis zwei Monate zu leben gibt“, sagt er im Video.

Medizinisch aussichtslos, trotzdem hoffnungsvoll

Die Krankheit begleitet Philipp schon seit seiner Jugend. Zwei Mal schien der Tumor bereits besiegt. Drei Jahre lang konnte der YouTube-Star ohne Schmerzen leben. Die Geschichte seiner Heilung beschreibt er in seinem jüngst erschienenen Buch „Meine Real Life Story“ (Adeo-Verlag). Alles schien gut – bis die Schmerzen zurückkamen. Eine Untersuchung zeigte, wie schlecht es um den 23-Jährigen steht. Medizinisch gesehen gebe es keine Möglichkeit, den Krebs zu bekämpfen, erzählt er im Video. Trotzdem ist er voller Hoffnung.

„Auf übernatürliche Weise gesund geworden“

Der Grund: Philipp Mickenbecker ist nach eigener Aussage überzeugter Christ. Dass er den Krebs bereits zwei Mal überlebt hat, erklärt er sich durch das Handeln Gottes: „Ich lag damals ja wirklich im Sterben und bin da auf übernatürliche Art und Weise gesund geworden“, sagt er.  Er glaube, dass es jemanden gebe, der einen Plan mit ihm und „dieser ganzen Sache“ habe.

Schwester starb durch Unfall

Diese Überzeugung hatte Philipp nicht immer. Über Jahre fand er Kirche nach eigener Aussage einfach langweilig. Dann stirbt die Schwester der YouTuber bei einem Flugzeugabsturz. Es folgt die Krebserkrankung. „Durch diese schweren Zeiten haben wir zu Gott gefunden. Ich habe Gott als jemanden erlebt, der mich durchträgt, tröstet und Hoffnung schenkt.“ Auch darüber schreibt er in seinem Buch. Außerdem will er zukünftig darüber auf dem YouTube-Kanal „Life Lion“ erzählen.

Erster Schritt entscheidend

Den Hauptkanal „The Real Life Guys“ wollen die beiden Brüder übrigens so lange wie möglich weiterführen. Darin zeigen sie, wie sie aus Alltagsgegenständen ungewöhnliche Dinge bauen. Ihr neustes Projekt ist ein U-Boot aus einem Gastank. „Wir wollen unsere Zuschauer motivieren, ihre Ideen umzusetzen. Dabei ist der erste Schritt entscheidend. Wenn du nicht loslegst, bleibt es nur bei einer Idee“, sagte Philipp in einem Interview mit der Zeitschrift Teensmag.

Plötzlich ist Daniel todkrank: „Wir wussten nicht, ob wir unsere Hochzeit erleben“

Daniel und Miriam lieben sich und wollen heiraten. Doch dann diagnostiziert der Arzt Nierenversagen. Niemand weiß, ob Daniel die nächsten Tage überlebt.

Sie kennen sich seit ihrer Geburt. Daniels Mama ist Miriams Patentante, ihr Papa sein Patenonkel. Schon als Zweijährige kann man sie gemeinsam auf einem Foto in die Kamera lachen sehen. 500 Meter Luftlinie haben sie in dem kleinen sächsischen Dorf ihrer Kindheit voneinander getrennt, aber erst in der Kirchengemeinde haben sie sich mit 14 und 16 Jahren besser kennengelernt. Sie konnten so gut miteinander sprechen, dass sie stundenlang chatteten. Buchseiten hätten sie füllen können mit all den Worten, die zwischen ihnen getauscht wurden.

Diagnose: Nierenversagen

Auf einem Festival 2007 sind sie schließlich zusammengekommen. Miriam stellte dafür allerdings eine Bedingung: „Wir kommen nur zusammen, wenn du mich heiratest.“ Und Daniel konterte: „Ich will im Ausland von meinem Glauben erzählen, da musst du mitkommen.“ Ende 2009 bekam Daniel plötzlich nacheinander verschiedene Symptome: Husten, Bindehautentzündung und Gelenkentzündungen. Als er zum Arzt ging, stellte dieser fest, dass er kurz vor dem Nierenversagen stand. Es folgten zahllose Untersuchungen und eine dreiwöchige Spurensuche. Schließlich stellten die Ärzte eine Autoimmunerkrankung fest, die zu multiplen Entzündungen führt. Ohne Behandlung, wäre er zwei Wochen später vermutlich einfach tot umgefallen.

Der Körper am Ende

Die gemeinsame Zukunft war plötzlich total ungewiss. Sie hatten keine Ahnung, ob sie nun heiraten sollten oder jemals Kinder bekommen würden. Sie wussten nicht mal, wie viele Tage Daniel zu leben hatte. Trotz allem entschieden sie schließlich, den ungewissen Schritt in ein gemeinsames Leben zu wagen. Während Daniel im Krankenhaus war, widmete Miriam sich den Vorbereitungen. Am Tag der Hochzeit hofften alle nur, dass Daniel den Tag überstehen würde. Sein Körper war am Ende. Die Flitterwochen gingen an die Ostsee, dort war er eigentlich nur krank. „Ich hatte einen anderen Mann geheiratet, als ich kannte“, erzählt Miriam. „Durch die Medikamente war er persönlichkeitsverändert. Außerdem war er überhaupt nicht leistungsfähig. Nach zehn Minuten Spaziergang musste er sich erst mal wieder ausruhen.“ „Wir mussten in dieser Zeit lernen, Menschen zu enttäuschen, weil keine Kraft mehr da war“, fügt Daniel hinzu. Für beide war die Zeit der Krankheit eine Zeit, in der sie gemeinsam krank waren. Jeder litt auf seine eigene Weise. Ändern konnte man daran nichts.

Immer glücklich

Trotz allem zweifelte Miriam nie an ihrer Entscheidung für Daniel. Beide waren immer glücklich. Auch die Frage, ob sie es schaffen würde, durchzuhalten, stellte sie sich nie. In Krisenzeiten war die einzige Überlegung: „Was kann ich tun, damit es Daniel besser geht?“ 2011 entschieden sie sich, gemeinsam eine theologische Ausbildung zu machen. Das „European Theological Seminary“ befand sich im Schwarzwald, in einem Luftkurort. Die Natur, die vielen Spaziergänge, auch das Gebet, bewirkten, dass es Daniel immer besser ging. In der nächsten Kreisstadt gab es einen Arzt, der ausgerechnet auf Daniels Autoimmunerkrankung spezialisiert war. Hier konnte er sich ambulant behandeln lassen und drei Jahre später tatsächlich die Medikamente absetzen. Sein Immunsystem hatte sich erholt, es gab keinerlei Krankheitsanzeichen.

Ein kleines Wunder

In den darauffolgenden Jahren wurden sie Eltern. Doch mit der Zeit wurden Daniels Nierenwerte wieder schlechter. Die Autoimmunerkrankung war nicht wiedergekommen, dennoch brauchte er eine Nierentransplantation. Mit zwei Kindern und zehn Jahre später, machte ihm diese Nachricht viel mehr zu schaffen. Anfang März 2010 kam er zum ersten Mal ins Krankenhaus. Zehn Jahre später sollte das Erstgespräch zur Nierentransplantation stattfinden. Anfang März 2020 bekam Daniel seine aktuellen Blutwerte − sie waren wie durch ein Wunder plötzlich viel besser, sodass eine Transplantation nicht mehr nötig war.

„Die Krise hat uns zusammengeschweißt“

„Wenn man dreimal pro Woche ans Sterben denken muss, und schon mal kurz davor war, dann verändert das dein ganzes Leben“, sagt Daniel. „Wir brauchen nicht so viel Zeit und Geld. Wir leben bewusster und sind für viele kleine Dinge dankbar. Stundenlanges Spazierengehen gehört beispielsweise dazu.“ „Wir wären ohne einander nicht die, die wir jetzt sind“, fügt Miriam hinzu, „wir sind die glücklichste Familie auf der Welt.“ Und dabei lachen beide herzlich. „Die Krise hat uns zusammengeschweißt. Die Krankheit ist ein Teil von uns und gehört nicht nur zu Daniel. Wenn man Krisen von außen hat, braucht man innen keine mehr.“ „An den schlimmsten Tagen haben wir einen Cappuccino getrunken, dabei aus dem Fenster gesehen und uns gesagt: „Das Leben ist schön.“ Das Positive zu sehen, hat uns immer sehr geholfen“, erinnert sich Daniel.

Stark trotz Schwachheit

Beide verarbeiten die Krankheit auch durch ihre Kunst. Daniel hat in den vergangenen 12 Jahren 80 Lieder geschrieben. Miriam malt und zeichnet. Durch ihre Künste begegnen andere Menschen ebenfalls Gott. Daniel lebt seinen Glauben dort, wo er gerade ist. Im Krankenhaus genauso wie in der Gemeinde, wo er arbeitet. Beide merken: Auch in ihrer Schwachheit können sie etwas bewirken. Ohne den Schmerz könnten sie nicht das weitergeben, was sie zu geben haben. Sie wissen, dass alles zerbrechlich ist und dass sie nicht absehen können, wie viel Leid noch auf sie zukommen wird. Aber sie investieren viel Kraft und Energie, um immer das Gute zu suchen, sich auf den anderen einzulassen und im Gespräch zu bleiben. Und das nun schon seit zehn Jahren.

Wir können etwas bewirken!

Die Herausforderungen unserer Welt – wie Klimawandel oder Ungerechtigkeit – können uns lähmen. Tamara von Abendroth lenkt den Blick auf das, was Menschen erreichen und verändern können. Und dabei sind auch kleine Schritte von großer Bedeutung.

Richten wir unser Augenmerk auf den Klimawandel, das Artensterben, die andauernden Kriege und das Leid vieler geflüchteter Menschen, könnte man fast vergessen, wie viele positive Wendungen die Menschheit schon erleben durfte. Ohne Frage, es gibt noch viel zu tun. Aber es wurde auch schon vieles erreicht.

Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte waren die Menschen weltweit noch nie so gesund, noch nie war die medizinische Versorgung besser als in der heutigen Zeit. Noch nie gab es so wenige Menschen, die an Hunger gestorben sind. Und noch nie waren der Anteil an Menschen, die in absoluter Armut leben, und die Kindersterblichkeitsrate so niedrig. Noch nie war der Anteil an Analphabeten so gering. Noch nie waren Menschen weltweit so gebildet. Die Verwendung der Substanzen, welche die Ozonschicht angreifen, wurde erfolgreich reduziert. Das Ozonloch schließt sich wieder. Flüsse wie der Rhein, der Main und die Elbe konnten von schweren chemischen Verunreinigungen gesäubert werden. Drei Viertel aller Atomsprengköpfe wurden vernichtet. Die Liste der positiven Wendungen ist lang und könnte mit weiteren Fakten fortgeführt werden. Der verstorbene schwedische Wissenschaftler Hans Rosling hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese Daten und Fakten zusammen mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter in dem Buch „Factfulness“ zu veranschaulichen.

Viele kleine Schritte

Wenn man sich dieser positiven Errungenschaften bewusst wird, steht es ganz gut um die Aufträge, die Gott uns anvertraut hat: die Schöpfung zu ordnen, sie zu bewahren und weiterzuentwickeln. Mit anderen Worten: sich für eine zukunftsfähige und gerechte Welt einzusetzen. Eine Welt, in der alle Menschen ihr Leben in Würde leben können.

Eine Welt, in der die ökologischen Grenzen respektiert werden und die Umwelt für zukünftige Generationen bewahrt wird. Eine Welt des friedlichen Zusammenlebens, der demokratischen Teilhabe und ohne Diskriminierung. Eine Welt, in der die Wirtschaft den Menschen dient, mit fairen Arbeitsbedingungen und gerechter Entlohnung. Die entsprechenden Aufgaben für solch eine Welt kosten Kraft, Einsatz und Mut. Im Lauf der Menschheitsgeschichte haben sich schon viele Menschen diesen Aufgaben gewidmet. Und widmen sich ihnen bis heute. Es sind die vielen kleinen Schritte, die etwas bewirken. Unsere Schritte. Ein Blick in das Buch von Hans Rosling macht deutlich, dass unsere Anstrengungen, die Schöpfung zu bewahren, absolut lohnenswert sind. Denn wir können etwas bewirken.

Es lässt sich festhalten, dass der Fortschritt, den die Menschheit in den letzten Jahrzehnten erreicht hat, enorm ist. Es wird deutlich, dass der Mensch das nötige Handwerkszeug von Gott geschenkt bekommen hat, um die Schöpfung zu bewahren. Wir können die Fortschritte und positiven Wendungen erhalten. Sie weiter ausbauen und weiterentwickeln.

Wir können aber die Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten gemacht wurden, auch wieder verkommen lassen. Sie sind nicht selbstverständlich.

Chancen und Elend

Wir leben in einer globalisierten Welt, sind weltweit miteinander vernetzt. Familie und Freunde können sich gegenseitig besuchen, obwohl sie auf zwei verschiedenen Kontinenten wohnen. Ich darf die landschaftliche Fülle Indonesiens kennenlernen und dort vor Ort die Sprache lernen, weil es eine Kooperation zwischen den Universitäten in Deutschland und in Indonesien gibt. Ich darf die Schönheit und Vielfalt der Menschen in Paraguay kennenlernen, weil junge Menschen aus Deutschland und Paraguay ein Freiwilligenjahr in dem jeweils anderen Land absolvieren dürfen.

Wie so oft im Leben hat auch die Globalisierung zwei Seiten: Eine schöne Seite voller Chancen und neuen Perspektiven. Und eine Kehrseite voller Elend und Ungerechtigkeit. Fest steht, dass die Dinge, die ich im Hier und Jetzt kaufe, anziehe und esse, Auswirkungen auf die Menschen und die Umwelt weltweit haben. Diese Auswirkungen können die Schöpfung bewahren oder zerstören. Chancen und Elend liegen nah beieinander.

Die Chancen der Globalisierung werden deutlich, wenn ich an meine Freundschaften denke, die ich in Paraguay gewonnen habe. Oder wenn ich an die medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse denke, die weltweit eingesetzt werden können. Ich gewinne neue Perspektiven, wenn ich die atemberaubend schöne Pflanzenvielfalt in Indonesien sehe, Schildkröten und Delfine in freier Natur. Und wenn ich die Worte der dort lebenden Menschen höre, die mit wenig Besitz ein zufriedenes und erfülltes Leben führen.

Das Elend wird deutlich, wenn ich an die Tagelöhner in Indonesien denke. Ihnen wurde die Existenzgrundlage als Kleinbauern genommen, weil ausländische Investoren Anbauflächen gekauft haben, um auf diesem Land Pflanzen für den Export anzubauen. Die Ungerechtigkeit wird deutlich, wenn ich an die Menschen denke, die unter lebensgefährlichen Bedingungen Rohstoffe für unsere Handys aus den Kobaltminen im Kongo fördern. Oder die in Bangladesch für einen Bruchteil des Existenzminimums in Zwölf-Stunden-Schichten Kleidung für uns nähen.

Gleichgewicht herstellen

Es gibt ein Ungleichgewicht in dieser Welt. Das Ungleichgewicht zwischen dem Globalen Norden (den sogenannten Industriestaaten) und dem Globalen Süden (den sogenannten Entwicklungsländern) wird an ganz alltäglichen Dingen deutlich. Zum Beispiel an den Bananen im Supermarkt. Zu jeder Jahreszeit bekommen wir die süßlich gelbe Frucht. Die Banane ist so alltäglich, dass man fast vergessen könnte, dass sie eine rund 10.000 Kilometer lange Reise hinter sich hat, bevor sie in unserem Supermarktregal landet. Am Anfang der Reise stehen Menschen, die unter unwürdigen Bedingungen ihr Geld verdienen müssen, um zu überleben. Sie arbeiten zumeist als Tagelöhner und verdienen zwischen acht und zwanzig Dollar pro Tag. Sie sind durch synthetische Düngemittel und Pestizide ohne Schutzkleidung einem großen Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Bis heute berichten Nichtregierungsorganisationen über Arbeitsrechtsverletzungen auf den Bananenplantagen – etwa wegen Pestizidvergiftungen und der Unterdrückung von Gewerkschaften.

Das Ungleichgewicht, welches in der Welt existiert, lässt sich nicht allein durch Konsumverhalten steuern. Das Konsumverhalten eines jeden Menschen ist aber ein wichtiger Hebel gegen das Ungleichgewicht, denn der Bedarf steuert das Angebot. Wir leisten einen großen Beitrag, wenn wir überwiegend lokale und saisonale Produkte wählen. Und wenn wir fair gehandelte Produkte bevorzugen. Wenn wir die Wegwerfmentalität von Mode nicht unterstützen und auf bewussten Konsum achten.

Für ein weltweites Gleichgewicht braucht es die Kombination aus bewusstem Konsumverhalten und politisch nachhaltigen Entscheidungen auf struktureller Ebene. Beispielsweise müssen politische Entscheidungen dafür sorgen, dass Wirtschaftskonzerne, die im Ausland produzieren, in ihren Arbeitsbedingungen Menschen- und Arbeitsrechte wahren. Viele Menschen sind durch vielfältige Ideen auf dem Weg, die Schöpfung zu bewahren. Diverse Organisationen setzen sich für Themen ein, die Menschenrechte stärken und die Umwelt schützen. Diese Organisationen kann man unterstützen, meist bieten sie Newsletter und Arbeitsgruppen an.

Fürchtet euch nicht!

Eine Ursache für das Ungleichgewicht in dieser Welt ist wohl die Angst, zu wenig zu bekommen, zu wenig bedeutsam zu sein. So entstehen Rücksichtslosigkeit, Unterdrückung, Machtgier und Ausbeutung. Gott hat uns ein wichtiges Instrument an die Hand gegeben, um dem etwas entgegenzusetzen: „Fürchtet euch nicht. Ich bin allezeit bei euch.“ Wir brauchen keine Angst zu haben! Eine der für mich stärksten Zusagen Gottes. Mit dieser Zusage im Gepäck dürfen wir mit einer begründeten Hoffnung den stillen Wundern auf die Sprünge helfen.

Tamara von Abendroth arbeitet in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Berlin.

 

Klaus Mayer: Dieser Mann überlebte die Nazis und brachte die Chagall-Fenster nach Mainz

Monsignore Klaus Mayer (97) ist es zu verdanken, dass Marc Chagall die Fenster der Pfarrkirche St. Stephan in Mainz gestaltete. Dabei wäre es beinahe ganz anders gekommen. Denn Mayer stand 1945 auf der Deportationsliste der Gestapo.

Pfarrkirche St. Stephan, Mainz. Als Stille-Ort thront sie über der pfälzischen Landeshauptstadt. Ich habe mir die Pole-Position in der Kirchenbank gesichert. Während ich mir die kalten Hände warmhauche, gleitet mein Blick fasziniert über die blau-bunten Kirchenfenster. Marc Chagall, der „Meister der Farbe und der biblischen Botschaft“, predigt durch diese zu mehr als 200.000 Besuchern im Jahr.

Ein surrendes Geräusch reißt mich aus der Stille. Neben mir parkt ein Rollator. Ich blicke in große, wache Augen. Zwei warme Hände fassen nach den meinen. Verschmitzt lachend begrüßt mich Monsignore Klaus Mayer: „Schön, dass Sie da sind! Hatten Sie eine gute Fahrt? Punkt zehn fangen wir an.“ Spricht’s und verschwindet mit seinem Gefährt schlurfend hinter einer Säule.

Meditation, die 4.032.

Zwölf Minuten später ist das Mikrofonkabel gelegt, haben sich die Reihen neben und hinter mir gefüllt. Die Gehhilfe steht zusammengefaltet vor den Altarstufen. Der 97-jährige (!) Priester begrüßt die Besucher zur Meditation der Chagall-Bilder. Es ist seine 4.032. Andacht. Der soeben noch gebeugt gehende Mann blüht freistehend auf. Mit der Leidenschaft eines scheinbar Dreißigjährigen nimmt er die Besucher mit in die Bilder voll Bewegung, in das Mysterium, in die Farbsymphonie des Glaubens.

Auf der Deportationsliste

Rückblende. Februar 1945. Eine Deportationsliste macht in Mainz die Runde. Auf ihr steht auch der 22-jährige Klaus Mayer. Er ist Halbjude. Der Vater ist nach Argentinien geflohen. Die Mutter hat ihren Sohn bisher mit vielen Winkelzügen vor der Gestapo in Sicherheit gebracht. Doch jetzt scheint der Abtransport unausweichlich. In der Nacht auf den 27. Februar 1945 klinken englische Bomber ihre todbringende Fracht über Mainz aus. 1.209 Menschen sterben. Um Seuchen zu verhindern, verbietet der im Gesundheitsamt zuständige Arzt Transporte. Dadurch gewinnt Klaus Zeit. Er taucht unter. Am 20. März hält ein Panzer der Alliierten direkt vor seinem Versteck. Er öffnet die Haustür, grüßt die Panzerbesatzung und gibt sich als „Half-Jew“ zu erkennen.

Nach 17 Jahren Wiedersehen mit dem Vater

15 seiner Familienangehörigen wurden ermordet oder nahmen sich das Leben. 1950 kommt es nach 17 Jahren zu einem tränenreichen Wiedersehen mit dem Vater. Klaus studiert inzwischen katholische Theologie. 1965 wird er Priester in der Kirche St. Stephan. Der Notverglasung sieht man die Kriegsschäden noch an. Mayer ist überzeugt: Kirchenfenster haben einen hohen Verkündigungswert. Er bekommt ein Buch des Künstlers Marc Chagall in die Hand. Darin: Fotografien seiner Fenster in der Hadassah-Synagoge in Jerusalem und der Kathedrale von Metz. Der Priester fängt Feuer: Wenn jemand Kirchenfenster mit Strahlkraft erstellen kann, dann dieser französische Jude mit russischen Wurzeln. 1973 schreibt Mayer dem 86-Jährigen einen Brief. Der Chef des Glasateliers, Charles Marq, antwortet ihm wenige Wochen später: „Chagall habe den Brief bekommen. Er bedanke sich dafür, das sei eine sehr interessante, aber auch sehr verantwortliche Aufgabe, die viel Zeit und Überlegung bräuchte. Hätten Sie es eilig, sollten Sie sich ruhig an einen anderen Künstler wenden.“

Keine Begegnung gewünscht

Mayer ist von der Nicht-Absage beseelt. Hartnäckig bleibt er dran. Er muss Überzeugungsarbeit leisten, denn der Jude Chagall hatte sich nach den Gräueln der Nazidiktatur vorgenommen, nie wieder etwas für Deutschland zu gestalten. Der Ateliermeister lässt sich nach Mainz einladen. Ein Jahr später bittet Chagalls Frau Vava um einen kleinen Film, da der Künstler aufgrund seines hohen Alters nicht mehr reisen könne. Den fertigen Bildstreifen will Klaus Mayer persönlich nach Saint-Paul-de-Vence bringen. Doch per Post erhält er eine Absage: Der Film sei für Chagall sehr interessant, aber für eine Begegnung sei es noch zu früh.

Chagall: Liebenswürdig, bescheiden, unverbindlich

Pfarrer Klaus Mayer ist unbeirrt. „Da dachte ich mir, das mach ich jetzt nicht mit. Das ZDF hatte viel Geld in den Film investiert, ich wollte ihn nicht der Post anvertrauen. So teilte ich ihm mit, ich käme allein, er bräuchte mich nicht zu empfangen, wenn er das nicht für gut hielte.“ An der Haustür empfängt ihn Vava Chagall. Sie führt ihn in den Salon. Schlurfend tritt von hinten der weltberühmte Künstler heran. Er fasst den Deutschen an der Hand und drückt ihn in einen großen Ohrensessel. Er selbst setzt sich auf ein kleines Holzbänkchen und hört zu. Marc Chagall ist liebenswürdig, sehr interessiert, äußerst bescheiden, aber auch unverbindlich. Mayer bekommt kein Ja, aber es entwickelt sich eine Freundschaft zum Ehepaar Chagall.

Zu Besuch bei Helmut Kohl

Daheim erklären ihn Freunde, Kollegen und Politiker mit seinem Ansinnen für verrückt. Doch dies stört ihn nicht. Stattdessen kümmert er sich schon mal um die Frage der Finanzierung. Er spricht bei Ministerpräsident Helmut Kohl vor, dem späteren Bundeskanzler. Als überzeugter Europäer ist der von dieser Idee angetan, gibt aber auch zu verstehen, dass er nicht an ein Gelingen glaube. Seinen Ministerialbeamten weist er jedoch an: Wenn Chagall diesen Auftrag übernehmen sollte, wird das Land Rheinland-Pfalz die Kosten für das erste Fenster übernehmen.

Am 30. Dezember 1976 landet ein Brief im Pfarrbüro St. Stephan. Darin teilt Vava Chagall mit, dass ihr 90-jähriger Mann an einem Fenster für die Kirche in Mainz arbeite. Bis zu seinem Tod im März 1985 folgen acht weitere Fenster zur biblischen Heilsgeschichte. Charles Marq vollendet das mit fast 180 Quadratmetern größte Glaskunstwerk der Welt mit weiteren neun Fenstern.

Der lebende Gottesbeweis

Marc Chagall wird zum Mainzer Bilderprophet, ohne die Stadt jemals betreten zu haben. Priester Klaus Mayer übersetzt seine „singenden Farben“. 42 Jahre nach seiner ersten Meditation sitzt er als lebender Gottesbeweis auf seinem Rollator auf den Altarstufen von St. Stephan. Er versteht es, den gebannten Besuchern die 18 Blautöne (von denen Chagall neun erst erfand), die Engel, die Heiligen und den Gekreuzigten, meist mit friedvollen und sanften Gesichtszügen dargestellt, zu erklären und in deren Leben zu übersetzen. Er nimmt die Suchenden und Zweifelnden mit hinein in die Bibel, das Geheimnis Gottes, den Anfang und die Vollendung der Weltgeschichte, die Erde und den Himmel. Der Priester macht Lust auf die Herrlichkeit Gottes. Nach einer Andacht kommt ein Mann auf ihn zu: Herr Pfarrer, gestern noch wollte ich mir das Leben nehmen, hier habe ich wieder Lebensmut geschöpft. Eine Frau schreibt ihm: Hier in St. Stephan im Blick auf die Fenster habe ich meinen verlorenen Glauben wiedergefunden.

Genau die richtige Botschaft

Die Andachtsbesucher sind von der Wanderung in den Ost- und Westchor wieder zurück im Mittelschiff der Kirche. Die Beine des 97-Jährigen scheinen müde, aber aus seinem Mund, seinen Augen sprudelt Lebendigkeit, Lebensfreude und Hoffnung. Mit einem Gebet beendet er seine 90-minütige Andacht. Spontaner Applaus. Menschen stehen auf. Eine Frau schnäuzt ins Taschentuch. Ein Mann im Rollstuhl lässt sich ein Segenswort zusprechen. Jemand drückt berührt seine Hand und sagt: Danke, dies war genau die richtige Botschaft für mich. Ich erlebe hautnah die Mission des Priesters: „Die Bilder machen Menschen froh!“

Papst Franziskus lächelt

Zehn Minuten später sitze ich dem Vater der Chagall-Bilder in der kahlen Sakristei gegenüber. Gedämpft dringt der Lärm der Stadt herein. Der Putz bröckelt von der Wand. Papst Franziskus lächelt aus einem Bilderrahmen. Er lacht in meine letzte Frage und die Antwort von Monsignore Klaus Mayer hinein. Wie lange wollen Sie noch die Chagall-Meditationen durchführen? „Solange ich noch krabbeln kann, muss ich dies tun. Ich bin dazu berufen. Viele Menschen haben doch heute keinen Boden mehr unter den Füßen. Ich will ihnen den Glauben und die Gute Nachricht verkündigen. Und dann stehe ich hier als alter Mann für Völkerverständigung. Ein Jude, der nie mehr etwas in und für Deutschland gestalten wollte, ließ sich durch meine Beharrlichkeit gewinnen, die Fenster einer christlichen Kirche zu gestalten. Das ist doch die Botschaft, die unsere Welt braucht, die wir zu verkündigen haben, damit wir nicht wieder mit Nationalismus geplagt und von ihm heimgesucht werden.“

„Ich war in meinem Leben noch nie so krank“: Gesamte Familie mit Covid-19 infiziert

Das Coronavirus hat Familie Müller* voll erwischt. Zeitweise konnte sich Mutter Heike nur auf allen Vieren ins Bad schleppen. Doch in Erinnerung behält sie nicht die Tage im Fiebertraum, sondern die Solidarität der Nachbarn.

Es ist ein Anruf, der Heike Müller* zum ersten Mal stocken lässt: Bei ihrem Hausarzt geht nur der Anrufbeantworter ran. Die Praxis sei geschlossen, weil es Covid-19-Fälle im Team gegeben habe. Tatsächlich hat Heike dort in der Woche zuvor noch ein Rezept abgeholt – und seit Tagen mit Kopf- und Gliederschmerzen zu kämpfen. „Bis zu dem Telefonat habe ich mir überhaupt gar keine Gedanken gemacht“, erzählt sie.

Plötzlich Fieber

Als dann auch noch ihr Mann Fieber bekommt, verstärkt sich die Ahnung des Paares, dass sie sich mit dem Virus angesteckt haben könnten. Zu diesem Zeitpunkt Mitte März befindet sich die Familie aus der Nähe von Tübingen bereits in häuslicher Isolation. Deshalb unternehmen Heike und ihr Mann zwei Tage lang nichts. „Aber am Freitag war das mit dem Fieber so irre, dass wir die Vertretung unseres Hausarztes angerufen haben“, sagt die zweifache Mutter. Der Arzt schickt sie ins Corona-Testzentrum in Tübingen.

Über 40 Grad Fieber

Vater und Mutter Müller lassen sich testen. Und tatsächlich: Sie haben sich angesteckt. Was in den folgenden Tagen passiert, daran kann sich Heike rückblickend nur noch verschwommen erinnern: „Ich war in meinem Leben noch nicht so krank.“ Zehn Tage lang hat sie über 40 Grad Fieber. Wirklich kritisch ist der Zustand bei ihr und ihrem Partner nie – beide haben zu keinem Zeitpunkt Atemnot – wohl aber ist die Zeit nervenzehrend. Auf das Klo kann Heike sich zeitweise nur auf allen Vieren schleppen – wortwörtlich. Sie schläft kaum und wenn doch, plagen sie Fieberträume.

Sportliche Familie

Und auch bei den Kindern machen sich Symptome bemerkbar. Matteo (12) hat Husten und Fieber. Und Noa-Marie (15) hustet und fühlt sich mitunter sehr schlapp. Besonders hart trifft Corona die Familie Müller, weil diese sonst ziemlich fit ist. „Ich hatte meinen Lebtag ein einziges Mal Grippe“, erzählt Mama Heike. Doch der Virus wirft sie aus der Bahn. Die Frage nach dem „Warum ich?“ stellt sich Heike aber nicht. „Ich habe mir eher gedacht: Es wird schon alles seinen Sinn haben“, sagt die Christin.

Von überall her Hilfe

Was Heike Müller aus den Krankheitswochen besonders in Erinnerung bleibt, ist dann auch nicht das Fieber-Delirium. Es ist die Solidarität ihrer Nachbarn. „Eigentlich dachte ich, die ziehen jetzt ein Stacheldraht um unser Haus, machen ein rotes Kreuz an die Tür und schreiben darauf ‚Bannzone‘.“ Das Gegenteil geschieht. Die Müllers erfahren eine „wahnsinnige Welle an Hilfsbereitschaft“. Auf eine Whatsapp-Nachricht an die Nachbarschaft, in der sie von der Quarantäne berichten, bekommen sie innerhalb weniger Minuten „überwältigend viele“ Antworten. Bekannte bieten an, den Hund auszuführen, Brötchen zuzubereiten und einkaufen zu gehen. „Das fand ich unfassbar“, resümiert die 47-Jährige.

Die Kinder werden zu Helden

Und auch die beiden Kids werden angesichts der bettlägerigen Eltern zu Überlebenskünstlern. Noa-Marie organisiert per Smartphone Helfer, die Essen besorgen. Die beiden kochen Nudeln und versorgen die Eltern mit Tee. Für die Mutter ist das ein wahrer Segen. Denn Essen zubereiten hätte sie in den schlimmsten Krankheitstagen nicht können. „Ich bin so stolz auf meine Kinder, dass die das hingekriegt haben“, sagt sie.

150 Masken

Fünf Wochen lang bleibt Heike Müller krankgeschrieben. Als der Nebel sich langsam löst, fragt sie sich, wie sie den Nachbarn etwas von dem Engagement zurückgeben kann, das sie ihrer Familie entgegenbrachten. Zu dem Zeitpunkt gibt es in Deutschland kaum Masken zu kaufen. „Und ich kann nähen. Also habe ich rumgefragt, wer denn eine Maske braucht.“ 150 Stück näht Heike schlussendlich.

Mehrere Masken liegen aufeinander.

Rund 150 Masken hat Mama Müller* genäht. Foto: privat

Als die Müllers schließlich wieder das Haus verlassen dürfen, ist das eine Erleichterung: „Das war fantastisch“, erzählt die Mutter: „Ich habe noch nie erlebt, dass die Kinder so heiß drauf waren, als erstes mit dem Hund Gassi zu gehen.“ Mittlerweile ist die Familie wieder genesen – zum Großteil zumindest. Auch fünf Monate nach dem Lockdown fühlen sich die Familienmitglieder noch erschöpft.

„Es war nie einfacher, Leben zu retten“

Im Nachhinein hat die überstandene Infektion zumindest etwas Gutes: Für die Forschung ist Familie Müller hochinteressant. Aktuell nehmen die Baden-Württemberger an einer Studie teil, die untersucht, inwieweit Kinder an der Verbreitung von Covid-19 beteiligt sind. Außerdem haben sie hautnah erfahren, was dieser Virus zu tun imstande ist. Ihre Masken tragen sie voller Überzeugung: „Es war nie einfacher, Leben zu retten“, sagt Heike Müller.

*Der Nachname wurde von der Redaktion geändert.

Die Süßigkeiten-Falle: Ernährungsberaterin gibt 14 Tipps, wie Kinder sie vermeiden

Zu viele Süßigkeiten sind schädlich für die Gesundheit. Was aber tun, wenn Kinder sie immer wieder fordern? Ernährungswissenschaftlerin Elke Decher erklärt, was Eltern tun können.

„Wir erlauben unseren Kindern (3 und 5) Süßes nur an Geburtstagen und anderen besonderen Anlässen. Für sie schien es lange okay, aber jetzt ist es ständig Thema – auch durch das ständige Ansprechen von anderen wie ihren Großeltern. Was können wir tun, damit unsere Kids nicht mehr so viel Wind darum machen?“

Dass Kinder Süßes lieben, ist völlig normal. Entwicklungsgeschichtlich sind wir Menschen auf süß gepolt! Die Muttermilch schmeckt bereits, durch den enthaltenen Milchzucker, leicht süß, und sogar das Fruchtwasser im Mutterleib hat einen süßlichen Geschmack und wird gern von den Babys getrunken.

Zucker hat Suchtpotenzial

Leider haben Süßigkeiten und die darin enthaltenen Zucker „Suchtpotenzial“. Wir gewöhnen uns sehr schnell an den Süßgeschmack und brauchen immer mehr davon, um es als angenehm zu empfinden. Zucker ist in unendlich vielen Lebensmitteln enthalten. Schaut man auf die Zutatenliste verschiedener Süßwaren und süßer Getränke, dann verbergen sich oft eine große Anzahl verschiedener Zucker darin, mit so wohlklingenden Namen wie Saccharose, Maltose oder Dextrose. Alle gehören der Gruppe der sogenannten „niedermolekularen Kohlenhydrate“ an, die dem Körper sehr schnell als Energiequelle zur Verfügung stehen, die aber leider nichts anderes als „leere Kalorien“ enthalten.

Zu viel Zucker macht krank

Bei Süßigkeiten kommt neben Zucker auch häufig ein hoher Fettanteil dazu, wie in Chips oder Erdnussflips. Kalorienbomben pur! Wer viel Zucker isst, ist häufiger von Zahnkaries, Übergewicht und daraus entstehenden Zivilisationskrankheiten wie Diabetes betroffen. Manche Kindergartenkinder leiden heute schon unter dem früher als „Alterszucker“ bezeichneten „Typ-II-Diabetes“. Deshalb ist es sinnvoll und gut, Kinder möglichst lange zuckerfrei oder zuckerarm zu ernähren. Generelle Verbote vermeiden! Der Umgang mit Süßigkeiten und Snacks will gelernt sein. Dazu ein paar Tipps:

  • Erklären Sie Ihren Kindern, warum sie Süßes in Maßen essen sollten.
  • Vermeiden Sie generelle Verbote im Umgang mit Süßigkeiten.
  • Legen Sie gemeinsam eine „süße Wochenration“ fest.
  • Süßigkeiten eignen sich sehr gut als Abschluss einer Mahlzeit (anschließend die Zähne putzen!).
  • Planen Sie bewusst Nachtische oder auch mal eine süße Zwischenmahlzeit am Nachmittag ein, wie ein Stück Kuchen oder Kekse.
  • Feste Naschzeiten erhöhen den Genuss, denn Vorfreude ist die schönste Freude.
  • Regelmäßige Mahlzeiten beugen Heißhunger auf Süßes vor.
  • Achten Sie auf bewusstes Genießen, wie nur im Sitzen zu naschen. Das trägt auch zur besseren Kontrolle bei.
  • Seien Sie Vorbild.
  • Bieten Sie süße Getränke wie Säfte und Limonaden nur zu besonderen Anlässen an.
  • Bevorraten Sie Süßes nur in kleinen Mengen.
  • Sagen Sie Verwandten und Freunden, dass Sie keine Süßigkeiten als Geschenke oder Mitbringsel für Ihre Kinder möchten.
  • Bieten Sie attraktive Alternativen an: Studentenfutter, Reiswaffeln, selbstgemachtes Popcorn, Salzstangen, Obstspieße, Rohkoststicks …
  • Eine Portion extra wie etwa eine Handvoll Gummibärchen (30 g) und eine Handvoll Chips (25 g) ist Genuss und etwas Besonderes!

Elke Decher ist Diplom-Ernährungswissenschaftlerin und unterrichtet Ernährung, Hauswirtschaft und Gesundheits- und Naturwissenschaften an einem Berufskolleg.

Deutsche Familie in Südafrika: Treffen waren im Lockdown nur im Geheimen möglich

Familie Nellessen gehört in Afrika zu den Privilegierten. Der Lockdown bedeutete für sie trotzdem einen Einschnitt. Mutter Britta erzählt von heimlichen Kaffeekränzchen – und der Armut vor der Haustüre.

Die afrikanische Sonne scheint mir ins Gesicht, während ich mit meiner Freundin Andi auf dem Parkplatz vor dem großen Shoppingcenter stehe. Heimlich natürlich, versteckt zwischen unseren beiden Autos, am Rand des großen Parkplatzes. Private Treffen sind in Südafrika immer noch verboten [Stand Mai, Anm. d. Red.], wir zählen Woche sieben des nationalen Lockdowns, der hier deutlich strenger ausfällt als etwa in Deutschland. Die ersten fünf Wochen durften wir noch nicht einmal unser Grundstück verlassen, außer zum gelegentlichen Einkaufen mit Maske. Keine Freunde treffen, nicht einmal zu zweit spazieren gehen, ach was … gar nicht spazieren gehen!

Alles spielt sich nur in und um die eigenen vier Wände ab. Immer mit den gleichen Menschen, der lieben Familie, den wohlerzogenen Kindern und dem perfekten Ehemann. Full House. Großes Haus, großer Garten, beheizter Pool, was will man mehr. Ach ja, und ein volles Portemonnaie natürlich, wenn die Vorräte ausgehen, kauft man halt was nach. Alles kein Problem. Für uns.

Nicht für die Isolation gemacht

So, und da bin ich also, auf dem Parkplatz mit meiner Freundin, schlürfe meinen Kaffee und drücke mich schön unauffällig gegen meine Fahrertür. Heute musste ich eigentlich gar nichts einkaufen. Bin aber trotzdem hier. Ich musste einfach mal raus zu Hause, raus aus den vier Wänden, mal jemanden live und in Farbe sehen, auch mal jemanden in den Arm nehmen. Habe ich gestern übrigens auch schon gemacht mit meiner Freundin Sue. Sue lässt einen Tag später dann, trotz Corona-Krise, ihre Hüfte operieren und ist innerlich unruhig. Meine Güte, der Mensch braucht das doch, dass ihn mal jemand in den Arm nimmt, mal die Tränen abwischt und man sich mal ohne Maske ins Gesicht schaut. Das zweite Mal flossen die Tränen, als wir zusammen gebetet haben, da auf dem Parkplatz zwischen den Autos, als wir gemeinsam diese OP in einer total verrückten Zeit Gott anbefohlen haben. Ich bin nicht für die Isolation gemacht, schluchzte Sabine bereits letzte Woche, am selben Ort.

Eine sechsköpfige Familie lächelt in die Kamera.

Familie Nellessen, Foto: Privat

Ich frage mich, ob die Parkplatzwächter mich unterdessen wiedererkennen. Sagen tun sie nichts … Ich gebe immer ordentlich Trinkgeld, vielleicht liegt es daran. Parkplatzwächter? Ja, die gibt es hier überall in Südafrika vor den Supermärkten. Sie bewachen nicht nur aus Sicherheitsgründen den Parkplatz, sondern helfen mir auch beim Einkaufswagenschieben, beim Einladen ins Auto und beim Ausparken, selbst wenn links und rechts alles frei ist. Sie sind ausgesprochen höflich, grüßen mich mit „Hello Mami“ und ernähren ihre Familie mit dem Trinkgeld, dass ich ihnen dann gebe.

Kein Homeschooling in Blechhütten

Seit dem Lockdown vor sieben Wochen ist das natürlich komplett weggefallen. Genauso wie für sämtliche Straßenverkäufer, die Obst, Telefonkabel oder Sonnenbrillen an der Ampel anbieten. Die Damen, die Maiskolben über einem Feuer in der Blechtonne rösten, die Jungs, die an der Ampel meine Windschutzscheibe putzen wollen oder mit einer großen Mülltüte bewaffnet die Hände aneinanderlegen und darum betteln, mir gegen Kleingeld meinen Müll aus dem Auto abnehmen zu dürfen – sie alle haben seit nunmehr sieben Wochen so gut wie nichts, kein Einkommen, nichts von der Hand in den Mund, nichts für ihre Kinder, nichts für sich selbst. In den Townships kontrolliert das Militär die Ausgangssperre und greift mit Härte und Gewalt durch, damit die große Masse versteht, dass es ernst ist. Menschen sterben an der Gewalt. Das Elend wächst. Kein Sozialstaat fängt hier auf. In den vollen Blechhütten findet auch kein Homeschooling statt – wie auch, wenn man keinen Internetzugang hat. Und wo das Essen knapp wird, da bleibt für Datenpakete kein Geld übrig …

Der Mensch lebt auch vom Brot

So langsam füllen sich Johannesburgs Straßen wieder, nicht, weil es große Lockerungen gegeben hätte, nein. Die Menschen können nicht mehr. Der Präsident hat zwar kleinere Hilfspakete versprochen – wir reden hier über umgerechnet 20 Euro pro Person pro Monat –, aber auf dem Weg zu meinem Shoppingcenter stehen die Menschen wieder an den Ampeln und am Straßenrand und betteln, knien nieder, führen ihre Hand zum Mund, als würden sie essen, falten ihre Hände und schauen flehentlich über ihre Maske. Mir bricht es das Herz, aber es sind einfach zu viele. Dem ein oder anderen reiche ich etwas aus dem Fenster, für die anderen hoffe ich, dass andere dasselbe tun.

„Ich bin nicht für die Isolation gemacht“, hat Sue gesagt. Wie wahr, wer ist das schon? Andi hatte vorgestern ihren ersten richtigen Durchhänger. Wir leben alle in der Ungewissheit, auch in der Uninformiertheit, in der Isolation, sehnen uns nach Kontakten, Gesprächen und Nähe. Der Mensch lebt eben nicht nur von Brot allein. Aber eben auch von Brot. Und das haben viele Menschen hier nun mal nicht.

Keine Supermutti

Ich fühle mich hin- und hergerissen, voller eigener innerer Gegensätze. Ich weiß genau, wie gut wir es als Familie haben, hier in der Sicherheit unserer bewachten Wohnanlage, mit dem gefüllten Kühlschrank und dem sicheren Arbeitsplatz meines Mannes. Im Angesicht der Lebenssituation anderer müsste mir eigentlich jede Klage im Halse stecken bleiben. Tut sie aber nicht. Manches kommt raus. Zu viel? Ich bin schließlich keine Supermutter, die jeden Tag aufs Neue voller Elan und Energie ihre vier Kinder beschult, das Haus putzt, weil sie so dankbar für ihr schönes Zuhause ist, und voller Überzeugung täglich stundenlang gesundes Essen kocht. Supermutti hat auch ihre persönlichen Durchhänger und Krisen, und Supermutti hat nur noch einen sehr dünnen Geduldsfaden … Und eine laute Stimme. Und Supermutti vermisst ihr Leben.

Durchhalten ist angesagt, Gegensätze aushalten. Und noch etwas zählt für mich: ausruhen bei Gott, um Kraft bitten bei Gott, um Weisheit bitten. Jeden Tag neu anfangen, dankbar sein für das Leben. Und das sonst so Selbstverständliche neu schätzen lernen. Und dankbar sein, dass ich eine Adresse „da oben“ habe, bei der ich und diese ganze verrückte Welt gut aufgehoben sind, inklusive aller Gegensätze.

Britta Nellessen, 44, lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern seit 2018 in Johannesburg, Südafrika. In ihrem deutschen Leben wäre sie Lehrerin an einem Bochumer Gymnasium. Für ihr südafrikanisches Leben hat sie ihre Elternzeit noch einmal verlängert, um das Abenteuer Familie zu meistern.